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Mündlich Erzählen

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Wer Geschichten lauscht, pflegt und ordnet dabei die eigenen Erlebnisse.

Wer Geschichten lauscht, sieht, was es in der Welt und im Menschenleben gibt und wo sich Motive wiederholen.

Wer Geschichten erzählt, begreift Folgerichtigkeiten und Zusammenhänge, geht ins Detail und spürt aus den Reaktionen der Zuhörenden, wie die Erzählung runder und besser wird.

Erzählen ist also eine kluge, anspruchsvolle Tätigkeit. Aber sie ist zugleich vergnüglich. Geschichten werden einfach zur Unterhaltung erzählt.

Um zu erzählen und zuzuhören, kommen Menschen zusammen und nehmen sich Zeit. Dabei entsteht ein Austausch über das Leben im Allgemeinen und über Erlebnisse im Besonderen. Individuelles wird mit Allgemeinmenschlichem verglichen und es zeigen sich Übereinstimmungen.

Wer traditionelle Geschichten (Mythen, Volksmärchen …) kennt, „blickt über den Tellerrand“, schaut in den Erfahrungsschatz früherer Generationen und anderer Kulturen. Wer sich auf diese erprobten Stoffe einlässt, kann sie nützen, um sich zu orientieren und eigenständig den Weg durchs Leben zu finden, wie es die Märchenheldinnen und -helden tun. Jedes Mal, wenn die gleiche Geschichte in einem konkreten Leben wirksam wird, wird sie neu interpretiert und „mit Wirklichkeit gefüttert“, sodass sie weiterleben kann. Die mündlichen Geschichten eines Kulturkreises bilden also ein mehrdimensionales Gefüge, das identitätsstiftend und orientierungsfördernd wirkt.

Die meisten Märchen und Weisheitsgeschichten, die in diesem Buch aufgeschrieben sind, entstammen nicht einem spezifischen gemeinsamen Kulturkreis, sondern einer individuellen „Wiederbelebungs-Aktion“, die vor einem hohen und breiten Regal voller Bücher mit Märchen aus aller Welt begann.

Diese Bücher sind entstanden, weil Menschen in verschiedenen Ländern mündliche Volksmärchen sammelten und aufschrieben. Dazu suchten sie Erzählerinnen und Erzähler auf und notierten deren Stoffe. Sie verfolgten dabei meist kein mündliches, sondern ein literarisches oder ethnologisches Interesse. Sie passten die mündlichen Erzählungen zum Teil sehr massiv schriftlichen Anforderungen an und ließen die spezifische Erzählsituation sowie die Individualität der oder des Erzählenden oft links liegen.

Ich las eine große Menge solcher ursprünglich mündlicher Stoffe, die in der schriftlichen Überlieferung überlebt hatten und in unsere Kultur gereist waren. Sie alle waren stark überformt worden. Ich nahm sie vor dem Hintergrund meiner mündlichen Erfahrung wahr und filterte sie im Hinblick auf konkrete Erzählsituationen. Ich wählte einzelne aus. Jeden dieser Stoffe lernte ich sorgfältig anhand innerer Bilder, erforschte die Dynamik der Handlung, befragte Erfahrungswerte und recherchierte zu historischen und kulturellen Tatsachen. Ich schlüpfte in die Rollen der Märchengestalten, um sie besser kennenzulernen. Erst dann ging ich mit der vertraut gemachten Geschichte in eine Erzählsituation.

Von da an prägten meine eigenen Beobachtungen als Erzählende und die Reaktionen der Zuhörenden die weitere Gestaltung der Geschichten. Das Vertrautwerden mit einer Geschichte ähnelt dem Kennenlernen eines Menschen. Immer wieder entdeckt man Eigenarten und tritt mit der Geschichte in Dialog.

Das Wieder-mündlich-Machen eines verschriftlichten Stoffes ist zu vergleichen mit dem Kochen eines Gerichtes nach dem Kochbuch. Als Rezept bleibt die Geschichte duft- und leblos. Nur durch persönliche Erfahrung, Herbeiholen der Zutaten, Herstellen der notwendigen Bedingungen, durch Nachschaffen und Abschmecken kommen wir dem ursprünglichen Geschmackserlebnis wieder nahe.

Erst nachdem die Geschichten einst zwischen Buchdeckeln persönlich gefunden, wieder lebendig gemacht, mit anderen Geschichten und realen Lebenssituationen der Gegenwart in Berührung gebracht und von heutigen Menschen neu erlebt worden waren, wurden sie im Ton dieser neuen Mündlichkeit aufgeschrieben. Wer sie liest, bekommt einen Hauch von mündlicher Erzählsituation, eine Kostprobe von aktuellem Mit-Geschichten-Leben in die Hand.

Es war 1001 Mal

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