Читать книгу Es war 1001 Mal - Margarete Wenzel - Страница 7
Dschinroku
Оглавлениеaus Japan
In einem fernen Land lebte vor Zeiten ein Bauer, der drei Söhne hatte. Die beiden ältesten lebten wie ihr Vater, dachten wie er und bestellten die Felder mit Sorgfalt. Der jüngste, Dschinroku, war anders. Er träumte immer wieder vor sich hin, hüpfte und summte und äußerte allerlei versponnene Gedanken. Wo er nur konnte, lauschte er Geschichten. Wenn das Wandertheater in die Gegend kam und im ausgetrockneten Flussbett eine Bühne errichtete, war Dschinroku vom ersten Moment an dort. Hatte er kein Geld, um den Eintritt zu zahlen und das Stück anzusehen, dann verkaufte er einen Topf, eine Pfanne oder sonst etwas Brauchbares aus dem Haushalt. Das trieb seinem Vater die Zornesröte ins Gesicht.
Eines Tages, als alle drei Söhne bereits erwachsen waren, rief der Vater sie zu sich, gab jedem drei Silberstücke, die er erspart hatte, und schickte sie in die Welt hinaus, damit sie Erfahrungen sammeln und sich im Leben beweisen sollten.
Zu dritt zogen sie los. Aber sobald sie den väterlichen Hof hinter sich gelassen hatten, begann Dschinroku gedankenverloren hinter den beiden Brüdern her zu zockeln und diese sprachen zueinander: „Was sollen wir mit dem da anfangen? Der stört uns nur und bringt das Geld durch. Wir müssen schauen, dass wir ihn baldmöglichst loswerden“, und sie nickten einander zu.
Als es Abend wurde, entzündeten sie ein Lagerfeuer und legten sich nieder. Sobald aber Dschinroku eingeschlafen war, machten sich die beiden Brüder ohne ein weiteres Wort wieder auf den Weg.
Beim Erwachen hörte Dschinroku dennoch zwei Stimmen neben sich. Das mag uns verwunderlich erscheinen, ihn jedoch wunderte es nicht. Er war überzeugt, seine Brüder säßen neben seinem Lager, und wiegte sich in seinen Träumen. Dabei stieg ihm von der Feuerstelle her ein nahrhafter Duft in die Nase.
Als er die Augen öffnete, staunte er nicht schlecht, denn seine Brüder waren nirgends zu sehen. Stattdessen saßen zwei Bettler am Lagerfeuer. Einer von ihnen rührte im Topf.
„Ah, siehe da! Unser Schützling erwacht“, rief er. „He, Jüngling, bist du von allen guten Geistern verlassen? Weißt du nicht, dass es hier im Wald wilde Tiere, Räuber und allerlei Gefahren gibt?“
Der andere brach ein Stück Brot in drei gleich große Teile. „Als wir dich hier mutterseelenallein am erlöschenden Feuer liegen sahen, dachten wir, wir setzen uns her und behüten dich. Schau, wir haben auch eine heiße Suppe gekocht.“
Da saßen die drei am Feuer, unterhielten sich über das Wandern und die Welt und ließen sich das Morgenessen schmecken. Dschinroku spürte in der Tasche die drei Silberstücke, holte sie hervor und sagte: „Seht nur, wie gut sich die Dinge manchmal fügen hier draußen in der Welt, das ist fast wie in den Geschichten, die ich so liebe. Was für ein Glück, dass ihr vorbeigekommen seid und für mich gesorgt habt, als ich hier in der Wildnis ganz allein am Feuer schlief. Und wie gut: Ich habe hier drei Silberstücke und wir sind ebenfalls drei. Also soll jeder von uns eines bekommen.“
Die Bettler freuten sich herzlich, als sie die Münzen in Händen hielten, denn mit ihnen waren sie sicher, nie wieder Hunger leiden zu müssen.
„Zum Dank für das Wertvolle, das du uns gegeben hast, wollen wir dir auch etwas geben, das du brauchen kannst“, meinte daraufhin der eine. „Hier, nimm diese Nadel. Sie fädelt dir alles auf, was du auffädeln willst. Alles, hörst du?“
„Und dieser Faden“, setzte der andere fort, „wird immer so lang sein, wie du es brauchst.“
Sorgsam steckte Dschinroku die Gaben ein. Dann gingen die drei noch ein Stück Wegs zusammen, bevor sie freundlich voneinander Abschied nahmen.
Der Weg war lang. Dschinroku ging. Ihm wurde dabei gründlich langweilig. Da traf er einen Händler, der einen Sack auf dem Rücken trug und der die gleiche Richtung hatte. Da gingen sie zusammen und leisteten einander Gesellschaft.
„Mein Freund“, sagte der Händler, als sie eine Weile über dies und das geredet hatten, „mir scheint, du liebst Geschichten. Sicher hast du auch einige zu erzählen.“
„Ach“, seufzte Dschinroku, „da hast du gerade meinen wunden Punkt getroffen. Wie viele Geschichten ich auch höre und genieße, ich kann sie nicht erzählen. Das finde ich schade, aber so ist es nun mal.“
„Wie gut, dass du mich getroffen hast“, lächelte da der andere. „Weißt du, ich bin ein Geschichtenverkäufer.“
Dschinroku, der zwar noch nie von diesem Beruf gehört hatte, aber aus den Geschichten wusste, dass es vieles gibt, was man irgendwann einmal zum ersten Mal hört, horchte auf.
Der Geschichtenverkäufer schwang den Sack von der Schulter und setzte ihn auf den Boden. Er schaute hinein, ohne ihn allzu weit zu öffnen.
„Jaaa“, strahlte er schließlich, „ich habe da genau das Richtige für dich. Für ein Silberstück kann ich dir die allerfeinste Geschichte verkaufen und die wirst du erzählen können.“
Dschinroku reichte ihm sein Geld. Der Händler hob ihm den Sack ans linke Ohr. Da spürte Dschinroku erstaunt, wie es aus dem Sack leise zu rauschen und in ihn hinein zu brausen begann. Das ging eine ganze Weile so, bis es endlich ausklang.
„Viel Glück!“, wünschte der Geschichtenverkäufer, schulterte seinen Sack wieder und verabschiedete sich.
Dschinroku fühlte sich sonderbar. Leicht benommen ging er seiner Wege. Es schien in seinem ganzen Körper zu prickeln, zu wispern, zu plaudern und – das ist schwer zu beschreiben – zu geschehen.
Als er sich einigermaßen an das Geschichtengefühl in seinem Körper gewöhnt hatte, kam er in eine Stadt, deren Fürst einen Wettbewerb ausgerufen hatte: Wer ihm eine Geschichte erzählen könne, die endlos lang und wirklich wahr sei, so hatte er verkünden lassen, der solle reich belohnt werden. Ohne zu zögern machte sich Dschinroku auf zum Palast.
„Hast du denn auch gehört“, fragte der Wächter, bei dem er Einlass begehrte, „dass jenen, die es versuchen und denen es nicht gelingt, der Kopf abgeschlagen wird? Der Fürst will nicht, dass jeder Dahergelaufene ihm seine Zeit stehlen kann.“
„Aber das tue ich ja auch nicht“, begütigte Dschinroku, der so etwas schon aus vielen Geschichten kannte und der, seit der Sack des Geschichtenverkäufers ihn berührt hatte, von närrischer Zuversicht getrieben war.
Er wurde also eingelassen. Des Fürsten Familie versammelte sich, um zu lauschen, und Dschinroku begann: „Es war einmal eine tausend- und abertausendjährige Eiche, die auf einer großen Wiese wuchs. Der Stamm war so dick, dass dreiunddreißig große Männer ihn nur mit Mühe umfassen konnten. Die Eiche war dreihundertdreiunddreißig Meter hoch.“
„Halt!“, rief der Fürst. „Das ist nicht erwiesen! Wahr und wirklich muss die Geschichte sein!“
„Aber das ist sie, Herr“, erwiderte Dschinroku seelenruhig. „Der König jenes Landes nahm es mit der Wahrheit so genau wie ihr. Er befahl, ein dressierter Affe solle in den höchsten Wipfel des Baumes klettern und eine Schnur herabhängen lassen. Der Oberhof-Rechenmeister maß dann unter den Augen des Königs und aller Minister die Länge der Schnur und schrieb das Ergebnis ins verbürgte goldene Buch, wo ihr es nachlesen könnt. Die Eiche reckte ihre Zweige so weit, dass sie auf den gegenüberliegenden Seiten in die angrenzenden Länder reichten. Von einem Ende des Gezweigs zum anderen waren es dreitausenddreihundertdreiunddreißig Meter.“
„Beweise es!“, unterbrach der Fürst abermals.
„Edler Fürst, nichts einfacher als das: In jenem Land nördlich des Baumes lebte eine weise Frau. Sie sammelte Wissen. Sie versorgte sich mit Seilen und Haken, sicherte sich gut und kletterte durch den ganzen Baum, von einer Seite zu anderen. Sie hatte heilende Kräuter dabei, die sie den Herrschern der anderen Länder schenkte, damit sie ihr wohlgesonnen seien, obwohl sie in ihr Land eindrang. Mit einem Stab maß sie die Meter und schnitt für jeden gemessenen Meter eine Kerbe hinein. Eines Tages brachte sie der Königin des Landes all ihr Wissen und diese richtete eine Schule ein, in der bis auf den heutigen Tag der Maßstab aufbewahrt und das Wissen der weisen Frau gelehrt wird. Den Ort kann ich auf Wunsch benennen.“
Dschinroku warf einen Blick zum Fürsten und dieser nickte ihm zu, er solle weiter erzählen.
„Die Eiche, euer Wohlgeboren, trug dreihundertdreiunddreißigtausendreihundertdreiunddreißig Eicheln. Im Herbst reiften sie. Die erste fiel am Stamm entlang geradewegs herab und wurde vom kleinsten aller Frischlinge gefressen, der daraufhin zum größten aller Eber heranwuchs. Die zweite Eichel fiel ins Meer, wo sie lange an der Oberfläche dahinschwamm, von sanften Winden getrieben, bis ein blau und gelb geringelter Fisch sie verschluckte. Er wurde nach drei Tagen und drei Nächten von einem Mädchen mit schwarzen Zöpfen geangelt. Als sie ihn ausnahm, fand sie die Eichel und pflanzte sie vor das Haus ihrer Eltern, wo sie noch heute der Familie im Sommer wunderbaren Schatten gibt. Die dritte Eichel …“
„Deine Geschichte ist wirklich lang. Ich will dir glauben, dass sie endlos ist, und wenn wir wollen, werden wir Zeit finden, ihr weiter zu folgen“, sprach der Fürst. „Aber ob diese Geschichte auch wirklich ganz und gar wirklich ist, müssen wir noch prüfen.“
„Wenn ihr Tatsachen wünscht, Herr“, erwiderte Dschinroku, „so wollt ihr vielleicht noch wissen, dass der Eichenbaum dreimillionendreihundertdreiunddreißigtausendreihundertdreiunddreißig Blätter hatte. Ich habe sie selbst und eigenhändig gezählt, so wahr ich hier vor Euch stehe.“
„Das behauptest du“, wandte die Prinzessin ein. Dschinroku schaute sie sich genau an und was er sah, gefiel ihm gut. Die Prinzessin hatte bereits beim Zuhören einen erfreulichen Eindruck von ihm gewonnen und was ihre Augen den seinen sagten, das ging nur sie beide etwas an.
„Wollt ihr es sehen?“, schmunzelte Dschinroku. „Soll ich euch zeigen, wie ich es gemacht habe?“
Die Blicke, die auf ihm ruhten, waren Antwort genug. Er griff in die Tasche und förderte Nadel und Faden zutage. „Mit diesen beiden“, erklärte er, „fädelte ich alle Blätter, während ich sie zählte, auf und deshalb bin ich sicher, dass ich jedes Blatt der Eiche genau einmal gezählt und keines ausgelassen habe.“
Ein Tumult brach los: „Ha, das kann nicht sein!“, „Was soll der Unsinn!“, „Mit Nadel und Faden? Will der Schneider uns zum Narren halten?“
Der Wirbel legte sich, als die klare, warme Stimme der Prinzessin erklang: „Wir werden sehen. Wie heißt du, guter Mann?“
„Dschinroku“, antwortete dieser und verneigte sich.
„Dschinroku, dort draußen im Schlosspark sind Blätter genug. Zähle sie für uns, dann werden wir sehen, ob deine Geschichte wirklich wahr sein kann.“
Dschinroku warf Nadel und Faden in die Luft. Sie fuhren durchs offene Fenster, sausten zwischen den Bäumen des Palastgartens hin und her und fädelten, unter den staunenden Blicken der Fürstenfamilie, die Blätter der Parkbäume eins nach dem anderen auf. Aber plötzlich erklangen genau dort, wo die Nadel am Werk war, ein Schrei und ein dumpfes Geräusch. Der Fürst blickte beunruhigt. Er befahl der Palastwache nachzusehen, wer da verbotenerweise in seinem privaten Garten war.
Bald darauf kehrten die Wachen mit einem Gefangenen zurück. Er wurde befragt und verriet schließlich, dass er den Auftrag gehabt hatte, die ganze Fürstenfamilie zu töten.
Nachdem er den Wachen befohlen hatte, den Kerl in den Kerker werfen, nahm der Fürst Dschinroku beiseite. „Das nenne ich eine wirklich wahre und wirksame Geschichte!“, rief er begeistert. „Sie hat wahrhaftig mir und meiner ganzen Familie das Leben gerettet! Weißt du, mein Freund, bei all den Dampfplauderern und Lügenbaronen, denen wir in letzter Zeit lauschen mussten, hatte ich wirklich schon beinahe die Hoffnung verloren. Aber du hast dir die versprochene Belohnung mehr als verdient. Nimm sie entgegen und sei unser Gast. “
Dschinroku blieb bei Hofe und lernte dort allerlei, das ihm gefiel. Er bekam die Gelegenheit, seine endlose Geschichte weiterzuerzählen. Die Prinzessin und er kamen einander immer näher und ihre Liebe wuchs. Das taten auch ihre Kinder und Enkel.
Ihr fragt, ob die Geschichte inzwischen ein Ende gefunden hat? Wir wollen es nicht hoffen, so bleibt das Ende offen.