Читать книгу #1 MondZauber: VERWANDLUNG - Mari März - Страница 11
Lästerecke
Оглавление»Eigentlich wollte ich nie mehr mit dir reden, du doofe Kuh.« Sie saßen nebeneinander im Biologieunterricht. Frau Mohrenstein war wohl krank. An ihrer Stelle stand die Vertretung am Lehrertisch und erklärte gerade den Ablauf der Mitose. Dabei zeichnete sie irgendwelche Zellen an die Tafel. Lyra war ein bisschen traurig darüber, dass ihre »richtige« Biologielehrerin nicht da war. Sie hatte Frau Mohrenstein sehr gern. Dennoch freute sie sich, wieder in der Schule zu sein … weit weg von ihrer schrecklichen Großmutter, dem langweiligen Kulturprogramm und dem ätzenden Essen.
Emily rammte ihr den Ellenbogen in die Seite. »Hey, ich rede mit dir!«
Lyra schaute zur Seite und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. Sonst wirkte das immer, um Emily zum Lachen zu bewegen. Heute nicht. Sie schien tatsächlich sauer zu sein. Na ja, eigentlich war das auch kein Wunder. Lyra hatte nicht ein einziges Mal zurückgerufen, obwohl Emily mehrmals täglich eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen hatte. Nur wie sollte sie ihrer besten Freundin erklären, was gerade mit ihr passierte? Sie konnte sich selbst kaum einen Reim darauf machen, warum sie in der letzten Woche nicht nur das Nachbarklavier durch ein Telefon gehört hatte, sondern mittlerweile auch ihre Eltern belauschen konnte, die sich zwei Stockwerke tiefer flüsternd zankten.
Solange die Unterrichtsstunde nicht vorbei war, hatte Lyra noch etwas Zeit, sich eine passende Antwort einfallen zu lassen. Allerdings hegte sie wenig Hoffnung, denn genau darüber grübelte sie schließlich schon die letzten acht Tage. Emily schob ihr einen Zettel über die Schulbank.
Hast du eine andere?
Lyra hatte sowieso keine Nerven für die Zellteilung, die gerade an der Tafel stattfand. Deshalb spielte sie das Spiel mit und strich die Frage durch. Emily faltete das A4-Blatt so, dass die eben gestellte Frage nicht mehr zu sehen war. Stattdessen schrieb sie auf das blanke Stück Papier:
Hast du deine Sprache verloren?
Auch diese Frage verneinte Lyra mit einem dicken Strich ihres Kugelschreibers. Ihre Freundin setzte ein drittes Mal an zu schreiben, als es klingelte. Die Stunde war vorbei. Und nun?
»Lästerecke!«, war das Einzige, was Lyra spontan einfiel. Emily nickte. Bei diesem Ort handelte es sich um die Mädchentoilette hinter dem Bio-Vorbereitungsraum. Sie lag in entgegengesetzter Richtung zum Treppenhaus und wurde darum nur selten von den übrigen Schülerinnen genutzt. Lehrer verirrten sich schon gar nicht in diesen verwahrlosten Winkel des Schulgebäudes. Deshalb war hier der ideale Ort, um über ihre ätzenden Klassenkameraden oder aber Gott und die Welt zu lästern. Kurz nachdem Emily und Lyra auf dieses Gymnasium gewechselt waren, hatten sie dieses Kleinod entdeckt und sofort für sich in Beschlag genommen. Seither nutzten sie ihre Lästerecke, wenn in irgendeiner Form Klärungsbedarf bestand.
Lyra war als Erste im weiß gekachelten Heiligtum angekommen. Resigniert stemmte sie die Hände auf das alte Waschbecken und sah in den Spiegel. Was ihre Großmutter nur an ihrer Brille auszusetzen hatte? Die Frau hatte echt keine Ahnung. Das große schwarze Designerteil war verdammt teuer gewesen. Jetzt schob Lyra mithilfe ihres Zeigefingers das stylische Gerät zurück auf ihre Nasenwurzel und grinste ihrem Spiegelbild zu, als …
Nein!
Nicht schon wieder!
Der imaginäre ICE raste durch ihr Hirn. Da war es wieder, das Gefühl, als würde ein Vulkan in ihrem Innern explodieren. Ihr wurde heiß und sie bekam kaum Luft beim rasant ansteigenden Takt ihres Herzschlags. Hektisch schleppte sie sich zum Fenster, tastete nach dem Griff und riss daran. In tiefen Zügen pumpte sie die klare Winterluft in ihre Lungen wie eine Ertrinkende.
»Also, wenn du jetzt immer noch behauptest, dass mit dir alles in Ordnung ist, dann flipp ich aus!«
Emily knallte die Toilettentür mit dem Absatz ihres Stiefels ins Schloss und trat näher. Die Wut, die eben noch in ihren Augen zu lesen war, machte nun Platz für die Furcht, welche ihr jetzt deutlich im Gesicht stand.
»Ganz ruhig atmen, Lyra! Alles wird gut. Ganz ruhig atmen!«
Lyra hatte den Eindruck, als hätte sie vergessen, wie das ging: ATMEN. Energisch gab sie ihrem Gehirn die Anweisung, den Brustkorb zu dehnen, um das lebenswichtige Gasgemisch in ihren Körper zu lassen. Sie konzentrierte sich so sehr, als säße sie in einer Matheklausur. Und es wirkte. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken und hockte nun vor dem geöffneten Fenster. Der Heizkörper wärmte ihren Rücken. Langsam entspannten sich ihre Muskeln. Sie hatte keine Kraft mehr, danach zu fragen, was gerade geschehen war.
»Süße, du solltest wirklich mal zum Arzt gehen. Das geht so nicht weiter, verdammt!« Mütterlich legte Emily ihre Hand auf Lyras Stirn.
Daran hatte sie auch schon gedacht. Bei der Sache gab es allerdings einen riesengroßen Haken: Lyra hasste Ärzte. Schließlich waren sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater und insbesondere ihre Großmutter Mediziner. Wenn sie auch nur ansatzweise zu Hause ihre »Anfälle« schildern würde, käme vor allem Regina höchstwahrscheinlich auf die Idee, Lyra direkt auf die Intensivstation oder gleich in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Doch das ging nicht. In den nächsten Tagen wurden die letzten Klausuren vor den Abi-Prüfungen geschrieben. Lyra konnte es sich schlichtweg nicht leisten, jetzt krank zu werden.
Mit zusammengekniffenen Lippen, die eigentlich ein Lächeln formen sollten, schaute sie hoch zu ihrer Freundin. Die wiederum stand kalkweiß vor ihr und streichelte unbeholfen über ihre Haarstoppel. Dann sah Lyra etwas in den Augen ihrer Freundin, das nun auch ihr Angst machte: ENTSETZEN.
»Lyra, … was … was … was ist mit deinen Augen?«, wimmerte Emily.
Entgeistert starrte Lyra ihre Freundin an und fragte zögerlich: »Was soll damit sein?«
Emily glotzte sie an, als würde der Leibhaftige vor ihr hocken. Dann stammelte sie unverständliches Zeug. Tränen bildeten kleine Rinnsale, die nun über ihre bleichen Wangen liefen.
Ungeduld stieg in Lyra auf. »Was … ist … mit … meinen … Augen?«
»Schau doch in den Spiegel! Ich kann es dir nicht beschreiben. Das musst du selber sehen«, schrie Emily ängstlich und half Lyra beim Aufstehen.
Nur mühsam kam sie auf die Beine und stellte sich wieder vor das Waschbecken. Erst jetzt bemerkte sie, dass die dunklen Risse, die sich sonst scharf vom hellen Porzellan des Waschbeckens abhoben, nun verschwommen waren. Auch der Wasserhahn glänzte wie auf einem überbelichteten Foto. Langsam hob sie ihren Kopf und machte sich bereit, ihrem Spiegelbild zu begegnen. Sie rechnete damit, dass der übermäßig verwendete Maskara verwischt war oder sich dicke rote Adern durch das Weiß ihres Augapfels gezogen hatten. Vielleicht litt sie an spontanem Bluthochdruck oder so. Wie zur Bestätigung spürte sie den immer noch viel zu hohen Puls in ihren Ohren rauschen.
Lyras Gesicht war nun parallel zum Spiegel vor ihr ausgerichtet. Hier hatte eine unsichtbare Hand inflationär Weichzeichner verwendet. Warum war alles so verschwommen? Langsam zog Lyra mit dem Zeigefinger die Brille von der Nase. Der obere Teil ihres Blickfeldes wurde klar. »Was ist das für eine verdammte Scheiße?«
»Siehst du? Ist das nicht unglaublich?« Emily war dicht hinter sie getreten. Aufmerksam verfolgte sie, wie Lyra die Brille nun gänzlich von der Nase schob. Beide Mädchen schauten gebannt in den Spiegel.
»Ich kann sehen! Ich kann wieder SEHEN!«
Hinter ihr schnaufte Emily wie ein Dampfkessel, aus dem gerade jeglicher Druck entwich. »Schätzchen, konzentrier dich! Dass du sehen kannst, weiß ich. Aber WAS siehst du?«
Neugierig starrte Lyra in den Spiegel und bewunderte die scharfen Konturen des Waschraums, die im Glas vor ihr reflektiert wurden. »Du verstehst das nicht, Emily. Ich kann OHNE meine Brille sehen. Das konnte ich das letzte Mal mit fünf oder so.«
Ihre Freundin stand jetzt neben dem Waschbecken, lehnte sich an die Wand und zeigte auf den Spiegel. »Kann ja sein, Süße. Aber das ist nicht das Gruseligste an der Sache. Schau genau hin! WAS siehst du?«
Lyra hatte Mühe, sich auf ihr zweites Ich zu konzentrieren, das sie aus dem Spiegel anstarrte. Um Emily einen Gefallen zu tun, schluckte sie ihre Freude über die neu gewonnene Sehkraft hinunter und räusperte sich. »Ich sehe mich. Klar und deutlich. Ohne Brille. Wofür habe ich eigentlich über hundert Euro ausgegeben? Gibt es so was wie Spontanheilung bei Kurzsichtigkeit?«
»LYRA!!! Schau hin, sonst knall ich dir eine!«
»Ja, ist schon gut. Ich bin ganz bei der Sache. Also, ich sehe mich. Und … ach, du heilige Scheiße!!!«
Emily nickte eifrig. »Haben wir es endlich, Fräulein. Großartig! Und, was sagst du?«
Gänsehaut überzog Lyras Rücken wie ein eiskaltes Spinnennetz. Die Erkenntnis ließ ihre Knie weich werden. Dann rückte sie noch näher an den Spiegel heran: »Das ist echt cool, oder? Wie geht das? Sieht aus, als würde ich Kontaktlinsen tragen. Aber da sind keine.«
Wie um dies zu beweisen, rieb sich Lyra über die geschlossenen Augenlider, bis der Maskara tatsächlich schwarze Schatten hinterließ. Dann öffnete sie erneut die Augen. Das Dunkel der verschmierten Wimperntusche machte das Sonderbare noch deutlicher: Die einst dunkelbraune Iris hatte sich in ein helles Gelbgrün verwandelt.
»O.M.G. Wie geht das? Ist das Grüner Star oder so was? Emily, du bist doch die Bio-Leuchte!«
Als ihre Freundin gerade etwas entgegnen wollte, zuckte Lyra zusammen und lauschte in die Stille. »Da kommt jemand!«
»Hä?« Konzentriert starrte Emily ins Nirgendwo. Bis auf das tropfende Geräusch des alten Wasserhahns konnte sie nichts hören.
Der Knall einer Tür, die unsanft aufgestoßen wurde, zerriss die vermeintliche Stille. »Hey, ihr beiden Transusen. Seit zehn Minuten ist Unterricht. Herr Müller hat mich losgeschickt, euch zu suchen. Ich habe echt andere Sachen zu tun, als euch blöden Kühe vom Klo zu holen.«
Jenny, die arroganteste Tussi der 12b, schüttelte gerade trotzig ihre blondgefärbte Mähne, als sie mitten in der Bewegung innehielt. Da war etwas in ihren Augen, das Lyras Instinkt weckte und sie wissen ließ, dass Jenny zukünftig mehr Ärger machen würde, als sie es jetzt schon tat. Doch der durchdringende Blick der Blondine war noch nicht alles. Als hätte sie sich verbrannt, griff sie sich irritiert in den Ausschnitt und tätschelte einen klobigen Kettenanhänger, den sie seit neuestem trug. Einen Wimpernschlag später hatte sie sich wieder im Griff und fragte im bekannt gehässigen Tonfall: »Sag mal, Hertzberg, was ist mit deinen Augen passiert?«
Lyra und Emily schauten sich an und antworteten dann synchron: »Kontaktlinsen, Jenny. Was denn sonst?«
* * *
»Emily, ich kann so nicht zurück in den Unterricht.«
Jenny wackelte vor ihnen den Gang hinunter. Die Absätze ihrer Booties hinterließen klackernde Geräusche auf dem alten Steinfußboden. Die beiden Mädchen blieben etwas zurück. Emily zog Lyra am Arm und bedeutete ihr, stehenzubleiben.
»Okay, was soll ich sagen? Durchfall, Übelkeit, Grippe?«
»Bei wem haben wir jetzt?«
»Lyra, konzentrier dich! Wir haben Mathe. Der Müller ist bestimmt schon extrem sauer. Also, los! Lass dir was einfallen!«
Genervt wirbelte Jenny herum und warf ihre blonden Haare über die Schulter. Im Sonnenlicht, das durch die Flurfenster strahlte, glitzerten winzige Partikel. Es sah fast aus, als würde Jenny stauben.
»Ladies! Soll ich den roten Teppich ausrollen?« Mit verschränkten Armen blieb sie stehen und beobachtete wie eine Hydra ihre Beute. Der Absatz ihres rechten Schuhs klackerte unheilverkündend auf dem zerschrammten Fußboden.
Lyra drehte ihr den Rücken zu, als könne sie so verhindern, dass die Hydra verstand, was sie jetzt sagte: »Der Müller ist doch ein verklemmter Heini. Sag dem einfach, dass ich Menstruationsprobleme habe und nach Hause gegangen bin.«
Emilys bis eben noch kalkweiße Wangen färbten sich rosa. »Was soll ich?«
In Lyras Hirn ratterte es wie in einem Uhrwerk. »Ja, genau so! Dann stellt der wenigstens keine weiteren Fragen, sondern ist noch peinlicher berührt als du und der Rest der Klasse. Du musst es ja auch nicht brüllen. In den ersten zwei Bankreihen sitzen eh nur die unterentwickelten Streber. Dann los jetzt!«
Ihre Freundin war schon im Begriff zu starten, als Lyra sie zurückhielt. »Ach, Emily! Kannst du nach der Schule zu mir kommen? Du hast mehr Erfahrung im Onlineshopping. Irgendwie muss ich an braune Kontaktlinsen kommen und irgendjemanden finden, der mir in meine Brille Fensterglas bastelt.«
Emily nickte stumm und trabte schließlich zu Jenny, die immer noch ihren Sensorblick draufhatte. »Und, was ist mit der Gräfin von Hertzberg? Kneifen die neuen Kontaktlinsen oder krabbelt die Glatze?«
Emily ignorierte Jennys Bemerkung, drehte sich noch einmal zu Lyra um und zwinkerte ihrer Freundin zu. Bis später, ich schaffe das.
Davon war Lyra überzeugt. Sie stellte sich gerade vor, wie Emily mit rosa Pausbäckchen und dem unschuldigsten Blick der Welt Herrn Müller die vereinbarte Ausrede ins Ohr säuselte. Das Gesicht vom Müller wäre gerade unbezahlbar, aber Lyra hatte weitaus wichtigere Dinge zu erledigen, als sich über die verklemmte Reaktion eines Mittvierzigers zu amüsieren, der krampfhaft so tat, als wäre er ein cooler Typ.