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Neujahrsblues

Der schrecklichste Tag im Jahr ist in jedem Fall der 1. Januar. Neujahr! Zeit der Ernüchterung, der Katerstimmung und der guten Vorsätze. Jetzt rennen wieder alle ins Fitnessstudio und machen Diät.

Das ist doch Bullshit!

Schlecht gelaunt lehnte sich Lyra ans Waschbecken und begutachtete einen Pickel, der sich über den Jahreswechsel gebildet hatte. Dann streckte sie ihrem Spiegelbild energisch die Zunge heraus. Sie war siebzehn, zu klein, zu dick, zu hässlich und ihre Eltern gingen ihr tierisch auf die Nerven.

Eigentlich hätte sie gestern mit Mommy and Daddy auf diese bescheuerte Firmenfeier gehen sollen. Mit Glitzerkleid und Hochsteckfrisur! Natürlich hatte es einen Riesenkrach gegeben, als Lyra in ihrer schlabbrigen Jogginghose verkündete, dass sie keine Lust auf solchen Mainstreamscheiß hätte und am sauteuren Buffet dieses kommerziellen Happenings gar nicht so viel essen könne, wie sie angesichts der angepassten Spießer kotzen müsse.

Ein Lächeln huschte nun über ihre Lippen, während sie an das knallrote Gesicht ihres Vaters dachte, der nach ihrer gestrigen Ansprache gepumpt hatte wie ein Maikäfer. Der Herr Chefarzt verlor tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde seine Fasson. Und seine holde Gattin verschluckte sich am Champagner, den sie sich zur Auflockerung gönnte. Als wenn das bei ihr etwas nützen würde. Miriam war so locker wie Wolframstahl. Lyra hatte ihre Mutter noch nie etwas Unüberlegtes tun sehen. Im Gegenteil! Immer brav nicken und machen, was von ihr erwartet wird. Dabei bestand sie ihr Medizinexamen mit summa cum laude und war in der Familie Hertzberg mit Abstand die Intelligenteste – wenn auch nur angeheiratet. Ihr Vater hingegen präsentierte sich stets als Gockel, der in seiner Klinik und von seiner Mama zum Tyrannen erzogen wurde. Ein Tyrann, der nicht etwa brüllte oder polterte, sondern sich eiskalt im Griff hatte, normgerecht in die Gesellschaft passte und diese Tugend selbstredend von all seinen Mitmenschen abverlangte.

Umso mehr bereitete es Lyra immer wieder einen Höllenspaß, ihre Eltern aus der Reserve zu locken. Schließlich war es die einzige Möglichkeit, so etwas wie Aufmerksamkeit von ihnen zu erhalten. Gestern durfte Lyra sich nun mit der geschwollenen Halsschlagader ihres Vaters und dem Hustenanfall ihrer Mutter zufriedengeben. Mehr war nach ihrem Statement über die verachtenswerte Dekadenz der weißen Kittelträger nicht drin gewesen. Okay, es folgte natürlich ein Vortrag ihres Vaters über die Wichtigkeit dieses Berufes, weil ebenjener es schließlich ermögliche, dass Lyra ein Leben ohne Entbehrungen genießen könne. Eine Ohrfeige hätte ihr besser gefallen, wäre damit doch wenigstens ein winziger Millimeter des Eispalastes gebröckelt, in dem sie sich gefangen fühlte. Deshalb hatte es auch gestern wenig Sinn gehabt, den beiden zu erklären, dass ihr all das scheißegal sei und sie einfach keine Lust hätte auf dicke Hose und gute Laune, nur weil es Papa verlangte, Mutti es schön finden würde und es vor allem am Silvesterabend einfach so Usus sei.

Usus! Wie Lyra dieses Wort und die dazugehörigen eingetretenen Pfade verabscheute. Nur weil man etwas schon immer so gemacht hat, heißt das ja noch lange nicht, dass es auch so bleiben muss. Doch ihre Eltern sahen das komplett anders. Ganze zwölf Minuten brauchten die beiden, bis sie sich am gestrigen Abend wieder im Griff hatten. Aufgebrezelt, eine schwere Parfumwolke hinterlassend, waren sie gegangen … ohne die abtrünnige Tochter.

Während Lyra nun darüber sinnierte, warum die Menschen an Silvester regelmäßig ausflippten und ausgerechnet an diesem einen Abend im Jahr unbedingt in Partylaune verfielen, musterte sie sich weiter im Spiegel. Ihre Mutter lag ihr schon seit Wochen in den Ohren, dass sie diese Frisur ganz furchtbar fände. Dabei hatte Lyra ihr gesamtes Taschengeld einem namhaften Frisör in den Rachen geworfen, der ihr die langen und von Natur aus goldbraunen Haare rabenschwarz und an den Spitzen knallblau färbte. Er war jeden Cent wert. Zumindest glaubte Lyra das und natürlich ihre beste Freundin Emily.

Streng genommen ihre einzige Freundin.

Für kichernde Mädelsabende und kollektives Fußnägellackieren hatte Lyra nämlich nichts übrig. Sie war ein selbsternannter Outlaw und hörte lieber Marylin Manson oder Muse, las dabei Mangas und verschlang alles, was mit Fantasy und Horror zu tun hatte. Obwohl das mit den Comics tatsächlich aufhören sollte, schließlich würde sie in diesem Jahr volljährig werden und ihr Abi machen. Bei diesem Gedanken durchzuckte sie eine Idee.

Aufgeregt schaute sich Lyra im Badezimmer um, durchwühlte ein paar Schubladen und hielt schließlich eine Schere in der Hand. Nicht nur die Comics sollten ab sofort der Vergangenheit angehören, es musste sich grundlegend etwas ändern. Mit funkelnden Augen drehte Lyra das silberne Werkzeug zwischen den Fingern, griff dann mit der linken Hand die Spitze und ließ die Schere pendeln … wie ein Damoklesschwert. Nicht für den Höfling nach Cicero, sondern für den Tyrannen. Das Sinnbild der Gefahr in einer scheinbar komfortablen Welt.

»Euch werde ich es zeigen!«, murmelte sie zynisch, als der kalte Stahl durch die erste Strähne glitt. Radikal trennte die Schere (das Damoklesschwert) die Gegenwart von der Zukunft. Schnitt für Schnitt fielen Frust und Enttäuschung von ihr ab. Grinsend schaute sie dabei zu, wie ihre Vergangenheit nach und nach, Strähne für Strähne zu Boden fiel.

»Es wird sich etwas ändern, und zwar gewaltig!« Zufrieden bewunderte Lyra dreißig Minuten später ihr emanzipatorisches Werk. Kein einziges Haar schmückte mehr ihren Kopf. Für das Finish hatte Pappis Rasierapparat gesorgt.

»Vielleicht fällt so irgendjemandem mal auf, dass ich kein Püppchen bin, das man beliebig ankleiden, frisieren und zurück ins Regal stellen kann.«

Das süße Gefühl der Freiheit durchströmte sie wie der Geruch nach frischgebackenem Apfelkuchen. Lyra freute sich schon auf die verdatterte Miene ihrer Mutter und die verspannte Reaktion ihres Vaters ...

Der beste Tag im Jahr ist in jedem Fall der 1. Januar.

Zeit der Veränderung und des Neubeginns.

#1 MondZauber: VERWANDLUNG

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