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Die Erkenntnis

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Als sie die Tür aufschloss, horchte Lyra ins Haus. Erleichtert stellte sie fest, dass sie allein war. Diese neuen Fähigkeiten hatten auch etwas Praktisches. An das außerordentlich gute Gehör musste sie sich noch gewöhnen und irgendwie lernen, die unwichtigen Nebengeräusche auszublenden. Es nervte einfach, wenn sie nachts nicht schlafen konnte, nur weil drei Straßen weiter zwei Katzen miteinander rauften, im Nachbarhaus der Fernseher lief oder ihre Eltern sich stritten. Auch wenn sie im Flüsterton irgendwelche Unnettigkeiten zischten, Lyra verstand dennoch jedes einzelne Wort, das eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt war.

Doch in diesem Augenblick war sie froh, besser hören zu können als ein Hund. Glücklich über ihr Alleinsein streifte sie sich ihre schwarzen Stiefel von den Füßen, hängte ihre schwarze Jacke an den Haken, warf ihre dunkelgraue Mütze zum ebenfalls dunkelgrauen Schal auf den Küchentisch und ging zum Kühlschrank. Dort fand sie einen halbleeren Saftkarton, aus dem sie nun genüsslich trank. Tomatensaft! Früher hatte sie sich ausschließlich von Cola Light ernährt. Sie wusste, dass Zuckerersatzstoffe zumeist das Gegenteil von dem bewirten, was sich übergewichtige Menschen erhofften. Ihre Mutter hatte unzählige Vorträge über die Insulinproduktion in ihrem Körper und das künstlich erzeugte Hungergefühl nach dem Genuss von Saccharin & Co. gehalten. Kurzum: Lyra wusste, dass künstliche Süßstoffe fett machten und schlecht für ihre Drüsen waren. Dennoch war es wie eine Sucht gewesen, von der sie spontan geheilt war, nachdem sie ihren ersten »Anfall« hatte.

Seither trank sie Tomatensaft, und das in rauen Mengen. Miriam war anfänglich sehr argwöhnisch, freute sich aber schließlich über die scheinbare Erkenntnis ihrer Tochter, sich gesünder zu ernähren. Dass Lyra in nur wenigen Wochen knapp zehn Kilo abgenommen hatte, schob ihre Mutter auf genau diesen Umstand. Lyra war sich hingegen nicht sicher, ob es tatsächlich so einfach war. Bisher war sie an Diäten und Kalorienzählen nicht interessiert gewesen. Aber nun, um einige Zentimeter der schwabbelnden Schicht an ihren Hüften erleichtert, war sie ganz glücklich über die Tatsache, dass die Hosen am Bund nicht mehr kniffen und auch die Ärmel ihrer Shirts lockerer saßen. Sogar die Körbchen ihres BHs wurden langsam zu groß, was sie ebenfalls positiv bewertete. Vielleicht passte sie bald in eine 85C? Wer brauchte schließlich solche riesigen Hupen, außer irgendwelche notgeilen Typen, die als Kind von ihrer Mutter zu wenig gestillt worden waren.

Lyra hatte den Karton leergetrunken und wischte sich Reste des roten Saftes von der Oberlippe. Sie zerquetschte das Tetrapack auf Briefmarkengröße und warf es in den Verpackungsmüll. Gelangweilt schnappte sie sich einen Apfel aus der Obstschale und schlenderte ins Wohnzimmer.

Dort schaltete sie den riesigen Smart-TV ein, der die halbe Wand einnahm, und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Bis Emily kam, würden noch Stunden vergehen. Ihr Vater war im Krankenhaus und schnippelte an menschlichen Körpern herum, ihre Mutter versorgte um diese Uhrzeit einsame Senioren in ihrer Allgemeinarztpraxis. Lyra hatte also alle Zeit der Welt, um mal so richtig zu faulenzen.

Es krachte, als sie genüsslich in den Apfel biss. Saft spritzte an ihren Mundwinkeln vorbei. Noch vor drei Wochen hatte Regina penetrant Standpauken gehalten, dass sie mehr Obst und Gemüse essen soll. Das sei schließlich gut für die Zähne und vor allem das Zahnfleisch. Blablabla. Eine Familie, die aus lauter Ärzten bestand, konnte manchmal eine echte Plage sein. Seit einigen Tagen faszinierte Lyra allerdings das Gefühl, wenn ihre Zähne in etwas Hartes und Saftiges bissen. Es war einfach fantastisch, wenn sie in ihrem Mund auf Widerstand stieß, den ihre Zähne mühelos durchbrechen konnten. Hartes Brot oder Nüsse entsprachen ebenfalls diesen Anforderungen, allerdings waren die nicht so schön saftig. Deshalb hielt sich Lyra vornehmlich an Äpfel, Birnen, Gurken und Fleisch.

Jetzt legte sie die Füße auf den Couchtisch und zappte durch das Fernsehprogramm. Neben den üblichen Realityshows, die sie einfach nur zum Kotzen fand, gab es jede Menge Kochshows, Mord und Totschlag im Assi-TV sowie Krieg, Zerstörung und Epidemien in der Welt. Auf SIXX stoppte sie ihren Zeigefinger, der bisher wild auf den Programmknopf der Fernbedienung getippt hatte. Hier lief aber auch nur eine bescheuerte Hochzeitssendung. Also schaltete Lyra in die Online-Videothek und klickte auf eine Folge von Vampire Diaries.

Manchmal träumte sie davon, so zu sein wie Nina Dobrev. Okay, der Charakter war ziemlich langweilig und schrecklich selbstgerecht. Aber so schön und schlank, geliebt von gleich zwei grandios aussehenden Typen, mit übermenschlichen Kräften ausgestattet und …

Wie vom Blitz getroffen sprang sie von der Couch. Auf der großen Scheibe des Fernsehers ließ Stefan seine spitzen Zähne gerade genüsslich im Hals einer wunderschönen jungen Frau versinken. Lyra schüttelte den Kopf, schaltete den Fernseher aus und rannte die Treppe nach oben. In ihrem Zimmer angekommen, knallte sie die Tür hinter sich zu. Die Wand schien zu wackeln, Putz bröckelte aus einem Riss neben dem Rahmen. Ihre neu erworbene Kraft war nicht das Einzige, was sie gerade an die Hauptdarsteller der zahlreichen Horrorfilme und Fantasy-Serien erinnerte.

Mit klopfendem Herzen setzte Lyra sich an ihren Laptop und trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, bis die W-LAN-Verbindung hergestellt war und der Internetbrowser endlich startete. Ihre Hände schwebten unsicher über der Tastatur. Was sollte sie ins Suchfeld eingeben … und was hoffte sie zu finden?

Derselbe Instinkt, der ihr scheinbar in den letzten Wochen die Scheuklappen vor die Augen gesetzt hatte und die seltsamen Dinge im Nebel der Ignoranz verblassen ließ, war nun dafür verantwortlich, dass Lyra den Laptop einfach zuklappte.

Was, wenn mir nicht gefällt, was ich erfahre?

Wütend warf sie sich aufs Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. Wie allein konnte sich ein Mensch fühlen? Wie einsam machte das ANDERS sein?

* * *

»Hallo? HAAALLLOOOO!«

Lyra erwachte aus einem traumlosen Schlaf und öffnete verwirrt die Augen. Sie sah das Regal mit unzähligen Fantasy-Büchern, die Barbie-Kollektion auf dem obersten Brett – allesamt mit schwarzgefärbten Haaren und ebenso schwarzen Klamotten … die dunklen Vorhänge und die düstere Tapete mit den Goldornamenten … und ihren Schreibtisch mit dem zugeklappten Laptop, der wie die Büchse der Pandora darauf wartete, geöffnet zu werden.

Das schrille Klirren der Haustürklingel zerriss die Stille. Mit ihr die ungehaltene Stimme ihrer Freundin. Emily schien wohl schon eine Weile vor dem Haus zu stehen – so, wie sie gerade dagegen wummerte.

Lyra erhob sich schwerfällig vom Bett. Sie fühlte sich ein bisschen wie Dornröschen nach ihrem hundertjährigen Schlaf. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass sie mehrere Stunden geschlafen haben musste.

Es klingelte erneut und spornte Lyra an, endlich in die berühmten Pötte zu kommen. Eilig lief sie nun die Treppe hinunter und brüllte gegen das Dauerklingeln an, das ihr mittlerweile sensibles Trommelfell fast zum Platzen brachte.

»Ja, verdammt! Ich komme ja schon.«

Genervt riss sie die Haustür auf. Emily stürzte an ihr vorbei und steuerte direkt das Gäste-WC im Erdgeschoss an. Verwirrt blickte Lyra ihrer Freundin nach und ließ die Haustür ins Schloss fallen. Das gesamte Eingangsportal bebte. Erschrocken schaute Lyra sich um. Sie musste wirklich sparsamer mit ihren seltsamen Superkräften umgehen, bevor sie noch etwas kaputt machte.

Die Toilettenspülung rauschte. Eine erleichterte Emily erschien in der Küche. »Boa, das war echt höchste Eisenbahn! Hätte ich noch eine Sekunde länger draußen warten müssen, hätte ich mich an einen Busch in eurem Garten gesetzt. Soviel steht fest.«

Grinsend pflanzte sich Emily auf einen der Barhocker am Küchentresen und nahm sich einen Keks aus der Dose, die neben der Obstschale stand. Lyra beobachtete ihre Freundin, sagte aber nichts. Emily hingegen mampfte bereits ihren zweiten Keks, fragte nach einer Cola Light und berichtete dann aus der Schule.

»Hast nichts verpasst heute. In Mathe haben wir Hausaufgaben auf und in Geschichte gab es zwei Arbeitsblätter. Kannst du nachher von mir abschreiben. Die Tafelbilder aus den übrigen Stunden habe ich dir abfotografiert, damit du dich nicht wieder über meine Sauklaue aufregst. Sonst ist nichts weiter passiert. Alles wie immer.«

Der Rest des dritten Kekses verschwand in Emilys Mund. Lyra stellte ihr ein leeres Glas und eine Flasche Cola neben die Keksdose. »Und der Müller?«

Emily beäugte argwöhnisch die Colaflasche, verkniff sich aber, nach der Light-Variante zu fragen, sondern grinste vergnügt vor sich hin. »Hat voll funktioniert. Ich bin ganz dicht an ihn herangetreten, habe ihm meine Titten an den Oberarm gedrückt und ihm ins Ohr geflüstert, dass du Probleme mit deiner Menstruation hättest. Und ob ihm dieser Grund reichen würde oder er hierüber detaillierte Auskünfte benötige.«

Ein Kekskrümel verirrte sich in Emilys Kehle, als sie laut zu lachen begann. Nun wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt. Im Bruchteil einer Sekunde stand Lyra hinter ihrer Freundin und klopfte ihr auf den Rücken.

»Aua! Sag mal, spinnst du? Ich habe mich nur verschluckt, dafür musst du mich nicht gleich verprügeln.«

Lyra erschrak … war es doch keine fünf Minuten her, dass sie sich vorgenommen hatte, ihre Kräfte besser abzuwägen. Schuldbewusst streichelte sie Emily über den Rücken und nuschelte ein »Sorry«.

»Ja, ist schon gut. Ich werde es überleben. Jetzt erklär mir endlich, was mit dir los ist?«

Angst flammte in Lyra auf. Sollte sie ihrer besten Freundin erzählen, wovor sie sich selbst am meisten fürchtete? Und was genau sollte das überhaupt sein? Sie wandte sich ab und holte einen neuen Karton Tomatensaft aus dem Schrank. Da niemand sonst in diesem Hause das dicke rote Getränk mochte, konnte sie getrost direkt aus der Packung trinken.

»Lyra, ich mache mir langsam wirklich Sorgen. Du isst nur noch Obst. Du trinkst dieses furchtbar gesunde Zeug. Du hast jede Menge abgenommen. Du wirst plötzlich von unserem Klassenschönling Niklas Neumann wahrgenommen, der dich fünf Jahre lang wie Luft behandelt hat, und das obwohl deine Frisur mehr als gewöhnungsbedürftig ist. Was zum Geier ist mit dir los?«

War Emily begriffsstutzig oder wollte sie einfach nur das sehen, was sie sehen wollte? Obwohl sie sich nicht gerade wohl bei der Sache fühlte, wagte Lyra den Angriff nach vorn: »Ich esse auch Fleisch, ich kann auf einmal super hören, brauche keine Brille mehr und habe eine andere Augenfarbe.«

Emily nagte mittlerweile appetitlos an ihrem fünften Keks. »Das stimmt. Und was willst du mir damit sagen?«

Lyra hatte keine Ahnung. Sie drehten sich wie zwei Katzen um den heißen Brei. Wohin sollte sie das Gespräch am geschicktesten lenken, ohne Gefahr zu laufen, in eine kommunikative Sackgasse zu geraten oder – schlimmer noch – etwas zu sagen, was nicht wahr sein durfte?

»Ich werde dir sagen, was mit dir los ist, Fräulein!«

Lyra fiel es gerade schwer, ihrem neu erworbenen Supergehör das nötige Vertrauen zu schenken. Was hatte Emily gesagt?

»Ach, echt? Dann schieß mal los!« Mit angehaltenem Atem wartete sie gespannt, was Emily zu sagen hatte.

»Das ist doch vollkommen klar, du bist verknallt!«

Die Pupillen ihrer gelben Augen verengten sich. Was soll das denn jetzt? Das war doch meilenweit vom Thema entfernt. Doch Lyra erwiderte nichts, sondern lauschte weiter auf Emilys Resümee.

»Du hast wahrscheinlich in den Winterferien bei deiner Oma zu viele Liebesfilme und Kitschromane konsumiert. Jetzt spielen deine Hormone verrückt. Deshalb versuchst du, an deinem Aussehen zu schrauben, damit Niklas dir endlich sein Herz schenkt. Oder geht es um den Abiball?« Nachdenklich kratzte sich Emily am Kinn und fügte hinzu: »Irgendwie scheint dein Plan sogar aufgegangen zu sein.«

Lyra konnte sich kaum das Lachen verkneifen. »Und was ist mit …«

Emily hielt ihr abwehrend die flache Hand vor die Nasenspitze. »Ich war noch nicht fertig. Warum du auf einmal besser hören kannst, dafür habe ich keine richtige Erklärung. Könnte doch aber sein, dass eine unerkannte Verstopfung sich aus deinen Nebenhöhlen gelöst hat und du einfach vorher halb taub warst. Tja, und das mit deinen Augen … vielleicht doch irgendeine Krankheit oder so. Allerdings frage ich mich, warum du dir Sorgen machst. Schließlich kannst du besser sehen als je zuvor. Deshalb ist doch eigentlich alles gut. Oder nicht?«

Mit offenem Mund starrte Lyra ihre Freundin an und spielte gedankenverloren am Schraubverschluss des Saftkartons. Sie hatte mit allem gerechnet: wahnwitzige Hypothesen, Vergleiche mit alten Geschichten, aktuellen Filmen und Büchern. Aber dass Emily sich so sehr der Wahrheit verschloss, war für Lyra … Ja, was war es denn? Letztlich doch ein Geschenk des Himmels. Vielleicht hatte ihre Freundin sogar recht und Lyra interpretierte schlichtweg zu viel in das Geschehen der letzten Wochen hinein.

Erleichtert stellte sie den Saft in den Kühlschrank und murmelte: »Könnte sein. Viel wichtiger ist doch aber, was wir jetzt unternehmen. Meinst du nicht?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, lief Lyra die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Emily schnappte sich noch einen Keks und folgte ihr.

* * *

Eine knappe Stunde später hatten sie Lyras komplettes PayPal-Konto leergeräumt, das Oma Regina ihr irgendwann für das Onlineshopping zur Verfügung gestellt hatte. Die Alte hatte seinerzeit sicherlich anderes im Sinn als den Kauf von Kontaktlinsen und jeder Menge teuren Equipments. Wenn alles klappte, würde die Lieferung bereits morgen eintreffen, sodass sich Lyra lediglich für den Vormittag etwas einfallen lassen musste, um ihre neue Augenfarbe nicht der Allgemeinheit zu präsentieren. Sie hatte sich vorgenommen, später heimlich im schier endlosen Sonnenbrillenvorrat ihrer Mutter zu stöbern. Bisher hatte sie diese Dinger für affig gehalten, jetzt erfüllte so eine Ray Ban allerdings einen guten Zweck, zumal Lyra festgestellt hatte, dass ihr das Sonnenlicht irgendwie in den Augen brannte.

Während sie noch überlegte, ob sie sich für morgen nicht lieber freinehmen sollte, anstatt mit einer Sonnenbrille wie ein durchgeknalltes Starlet durch die Schule zu laufen, sah sie, wie Emily eine Seite mit Ballkleidern aufrief. Munter scrollte ihre Freundin durch die riesige Auswahl aus Taft und Seide, die in zahlreichen Varianten und Schnitten zur Verfügung standen.

»Das ist ja klar. Für große schlanke Tussis haben die wieder alles Mögliche, für mich kleine Pummelfee ist nichts dabei. Oder meint ihr Mainstreamfaschisten, ich würde in einem gelben Minikleid sexy aussehen … bin ich Biene Maja?«

Mit hochrotem Kopf brüllte Emily den Laptopbildschirm an und klickte dann energisch auf das kleine Kreuz im roten Feld ganz oben rechts. Der Desktop wurde sichtbar und mit ihm das Konterfei von Kate Beckinsale alias Selene.

»Hast du immer noch ein Faible für Underworld? Das ist doch uralter Kram!« Emily war immer noch wütend und versuchte gerade, irgendwie auf andere Gedanken zu kommen.

»Warum schaust du dir Ballkleider an?« Lyra hatte sich in all den Jahren an Emilys spontane Wutausbrüche gewöhnt, deshalb wusste sie ganz genau, wie sie damit umgehen musste. Vor allem seit der Pubertät und Emilys zunehmender Aversion gegen Models, Shopping und gesunde Ernährung wurden ihre emotionalen Entladungen häufiger denn je. Sie hatten zwar nie wirklich darüber gesprochen, dennoch war Lyra sich bisher sicher gewesen, dass das Thema Abiball nicht zur Debatte stand. Insbesondere deswegen, weil es eben keine vernünftigen Kleider in der Konfektionsgröße XL gab.

Emily knabberte an ihrem Daumennagel und schaute Lyra unschuldig an. »Ich dachte ja nur, wir …«

»Was dachtest du? Dass wir uns mit all den Möchtegern-Topmodels herausputzen wie kleine Schlampen, um uns dann auf dem dreckigen Klo der Turnhalle flachlegen zu lassen?« Jetzt war Lyra diejenige, die ihr Temperament nicht zügeln konnte. »Ich dachte, wir waren uns darüber einig, dass wir beiden hässlichen Entlein niemals den sterbenden Schwan bei der Abschlussfeier spielen wollen. Die lachen uns doch alle nur aus.«

Aufgeregt riss sich Emily ein Stückchen Haut aus dem Nagelbett. Schmerz durchzuckte ihren Blick. Lyra war sich nicht sicher, ob dieser vom blutenden Daumen kam oder vielmehr von den Worten, die sie gerade ausgesprochen hatte.

Emily schluckte schwer, dann sagte sie kleinlaut: »Vielleicht möchte ich das aber. Vielleicht will ich den wichtigsten Tag in meinem Leben eben nicht versäumen. Ist mir doch egal, was die anderen sagen. Soll mich doch Jenny und ihre blöde Clique auslachen. Abiball hat man nur einmal im Leben!«

Genervt rollte Lyra die Augen. »Emily, das ist doch Bullshit. Der wichtigste Tag in deinem Leben ist der, an dem du dein Abitur-Zeugnis überreicht bekommst. Meinst du, irgendjemand wird dich später mal fragen, wie besoffen du beim Abschlussball warst und mit wem du getanzt hast?«

»Meine Tochter«, murmelte Emily traurig.

»Was? Wer?«

»Meine Tochter«, wiederholte Emily energischer. »Lyra, wir können uns nicht ewig hinter der Fassade des Fräulein-rühr-mich-nicht-an verstecken. Wir werden irgendwann als alte Jungfern sterben. Und die einzigen, die unsere Leichen finden, werden fünf Katzen sein, die wir uns vor lauter Einsamkeit zugelegt haben. Es wird Zeit, endlich zu begreifen, dass es mehr da draußen gibt, als sich in schwarze Säcke zu hüllen und so zu tun, als würde alles von einem abprallen. Lyra, wir sind nicht cool. Wir sind Außenseiter! Hast du echt noch Bock auf diesen Scheiß?«

»Aber …« Eigentlich wollte Lyra entgegnen, dass Charakter dazugehörte, anders zu sein, eben nicht dem Mainstream zu folgen und auf Gedeih und Verderb dazugehören zu wollen. Dann besann sie sich. In letzter Zeit war zu viel geschehen, was genau das aus ihr machte: eine Außenseiterin. Nur war es etwas vollkommen anderes, ob man sich diesen Status selbst aussuchte oder ob man durch gewisse Umstände dazu gezwungen wurde.

Mit dieser Erkenntnis konnte sie ihrer Freundin nur noch rechtgeben. Es war albern. Deshalb fragte sie jetzt: »Wie ist das überhaupt, gibt es da irgendein Protokoll für den Abiball? Darf man da allein hingehen oder muss man einen Begleiter haben … wie in den amerikanischen Filmen?«

Ein Lächeln bildete sich auf Emilys Lippen. Somit stand felsenfest, dass sie das Thema nicht weiter durchzukauen brauchten, sondern vielmehr nach einer Lösung suchen konnten. Und wenn es jemand draufhatte, ungelöste Ist-Zustände in Ergebnisse zu verwandeln, dann war es Emily, deren Handy sich gerade bemerkbar machte.

Nach einem Blick auf das Display sprang sie auf und rannte aus dem Zimmer. Lyra lief ihr nach. »Was ist denn los?«

Sie hörte, wie Emily sich im Flur die Schuhe anzog. »Sorry, ich muss los. Die Partyvorbereitungen müssen warten. Lennard sitzt beim Fußballtrainer und heult. Ich war heute dran, ihn abzuholen. Scheiße verfluchte! Bis morgen …« Dann knallte die Haustür ins Schloss.

#1 MondZauber: VERWANDLUNG

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