Читать книгу #1 MondZauber: VERWANDLUNG - Mari März - Страница 9
Die Familie
Оглавление»Kind, wie du wieder aussiehst? Kannst du nicht mal was Vernünftiges anziehen als immer nur dieses langweilige Schwarz? Und dein Gesicht, herrjemine? Ich habe dir doch einen Gutschein für die Kosmetikerin geschenkt. Hast du den immer noch nicht eingelöst? Miriam, du musst dich mal besser um deine Tochter kümmern! So geht das nicht. Das Mädchen sieht ja total verwahrlost aus. Und diese Brille! Kann man dem Kind nicht endlich mal Kontaktlinsen besorgen? Oh, und dann diese Figur! Also, ich in deinem Alter war rank und schlank. Das macht bestimmt dieses Fastfood. Das gab es ja zu meiner Zeit nicht. Ein Irrsinn ist das heutzutage.«
Lyra schlich an ihrer Großmutter vorbei, zog ihre Schuhe aus und stellte sie ordentlich in das kleine Regal im Flur der alten Villa. Wie immer roch es nach einer Mischung aus Möbelpolitur und irgendeinem scharfen Reinigungsmittel. Bei Regina war alles blitzblank und akkurat im rechten Winkel ausgerichtet. Deshalb achtete Lyra peinlich darauf, ihre klobigen Motorradstiefel auch besonders ordentlich neben die karierten Filzpantoffel ihres Großvaters zu stellen. Ihre Mutter tat es ihr gleich und grinste dabei verschwörerisch.
Genau wie es sich Lyra vorgestellt hatte, erklang in diesem Moment die keifende Stimme ihrer Großmutter.
»Und was ist das eigentlich für eine Mütze, Lyra? Eine Dame darf einen Hut im Haus tragen, aber niemals einen solchen Lumpen. Nimm das sofort ab!«
Obwohl Lyra sich diese Szene in den letzten Tagen mehrfach und bis ins kleinste Detail ausgemalt hatte, machte sich nun doch Unsicherheit breit.
Jetzt platzt gleich die Bombe.
Regina stand immer noch im Türrahmen und hatte diesen Regentinnenblick. Lyra war sich im Klaren darüber, dass ihre Großmutter auch ohne ihre Überraschung gleich ausflippen würde. Das war schließlich immer so. Wenn nicht sofort das gemacht wurde, was die Herrscherin befahl, wurde diese ungeduldig. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ließ Lyra sich Zeit und kostete jede Sekunde aus – auch wenn ihr Herz aufgeregt gegen ihre Eingeweide hämmerte.
»Junge Dame! Wird’s bald?« Jetzt war das Fass kurz vor dem Überlaufen … und der absolut richtige Zeitpunkt. Also ließ Lyra die Mütze ganz langsam über ihren kahlgeschorenen Schädel gleiten. Sie spürte, wie Wollfasern an den mittlerweile schon wieder nachgewachsenen Haarstoppeln hängenblieben. Und noch etwas anderes haftete wie ein Laserstrahl auf ihrem Haupt.
»Was … was … ist … das für eine gottverfluchte Scheiße?« Hatte ihre Oma gerade wirklich dieses Wort in den Mund genommen? Regina sah aus, als würde sie tatsächlich gleich platzen. Noch nie hatte Lyra diese Frau so wütend gesehen – geschweige denn in ketzerischer Fäkalsprache fluchtend. Herrlich! Am liebsten hätte sie lauthals gelacht. Der Anblick ihrer ansonsten so aufgeräumten und unerschütterlichen Großmutter war das Beste, was sie seit langem erlebt hatte. Andererseits wusste Lyra, dass ihre geschorene Birne nunmehr die nächste Eiszeit im Hause der Hertzbergs einläuten würde.
Bemüht, eine schuldbewusste Miene zu machen, knüllte sie die Mütze in ihre Jackentasche. Im Augenwinkel konnte sie ihre Mutter sehen, die ebenfalls um Fassung rang. Selbstverständlich hatte es auf dem Weg zur lieben Omi so einige Überlegungen gegeben, wie sie diesem »Problem« am besten begegnen könnten. Für Lyra war klar, dass Regina in Ohnmacht fallen würde. Warum bestand sie auch auf diesen bescheuerten Besuch? Sie war selber schuld.
Der Schatten, der sich nun bedrohlich über sie legte, war allerdings nicht unbedingt das, was Lyra sich ausgemalt hatte. Eine vom Schreck weggetretene alte Dame, der man mit Riechsalz theatralisch wieder ins Diesseits verhalf, war ihre ungefähre Vorstellung gewesen. Nun aber baute sich Regina vor ihr auf wie Godzilla. Ihre Augen waren eiskalt, die Wangen wechselten gerade die Farbe von knallrot in einen undefinierbaren Grauton.
Lyra konnte ihren Herzschlag hören.
Was?
Moment mal!
Das geht doch gar nicht.
Was …?
Lyra konnte tatsächlich das Herz ihrer Großmutter HÖREN. Es schlug schnell. Verdammt schnell!
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was hast du dir dabei gedacht? Deine fürchterlichen Outfits sind schon eine Schande für die Familie, aber das setzt nun allem die Krone auf. Was glaubst du kleiner Bastard eigentlich, was du uns noch alles antun kannst? Dein Vater hat das nicht verdient. Ich habe das nicht verdient. Bei allem, was wir für dich und deine Mutter getan haben. Wir sind Stadtgespräch. Unser guter Ruf ist für alle Zeit ruiniert. Ich … ich brauche einen Cognac. Miriam, hol mir sofort einen Cognac!«
Lyra hatte bereits auf Durchzug geschaltet. Auch wenn sie einen solchen Wutausbruch bei ihrer Großmutter noch nie erlebt hatte, kannte sie doch all die stets wiederholten Argumente. So richtig verstand sie die Keiferei nicht, aber sie hatte sich auch längst abgewöhnt, den Beschimpfungen dieser alten Schreckschraube zu folgen. Irgendetwas war schließlich immer. Lyra hatte es sich abgewöhnt, nach dem Grund zu fragen, warum ihre Großmutter sie zunehmend mit diesem angewiderten Naserümpfen betrachtete.
Als Lyra klein war, fand ihre Oma sie noch süß, kniff ihr bei den wöchentlichen Besuchen in die Wange und sagte jedes Mal denselben Satz: Was bist du doch groß geworden, mein liebes Kind. Gewiss nicht das Gelbe der Banane, aber immer noch besser als dieses ewige Gezeter, das ihre Großmutter von sich gab, seit Lyra aus dem Hello-Kitty-Alter herausgewachsen war. Regina! Diese dämliche alte Fregatte, die alle weiblichen Verwandten neben sich kaum wahrnahm – geschweige denn ertragen konnte.
Regina war eine narzisstische Perfektionistin in Reinkultur und die selbstgerechteste Person, die Lyra kannte. Alle übrigen Mitglieder der Familie – inklusive ihres Ehegatten Matthias – waren in Reginas Augen Versager. Bis auf Malthe natürlich, ihren Sohn und Lyras Vater. Bei jeder Gelegenheit rühmte sie den Spross ihrer Lenden und erzählte jedem (ob er es nun wissen wollte oder nicht), dass der Name Malthe aus dem Althochdeutschen entlehnt wurde und so viel wie der Herrscher bedeute. Selbstverständlich konnte der Junge nur so genannt werden, schließlich ist Regina aus nichts Geringerem als der Königin oder Regentin abgeleitet und darüber hinaus wird dieser wirklich ätzende Name im Altnordischen als die Entscheidung der Götter bezeichnet.
Schon allein deshalb war die Einzige, die in dieser Familie herrschte, Regina – die Matriarchin der Hertzbergs. Gleich danach kam ihr Kronprinz Malthe … dann eine Weile gar nichts und dann vielleicht der Bundespräsident. Und weil das so war, hatte Lyras Mutter Miriam in diesem Theater eigentlich überhaupt nichts zu melden, denn Regina war ein eiskalter Drache und eine blöde Kuh dazu. Eigentlich gab es niemanden, der sich ihr gegenüber durchzusetzen vermochte. Lyra kannte jedenfalls niemanden, der es je gewagt hätte. Oder doch? Genau ein einziges Mal wurde die Macht erschüttert, als Lyras Mutter sich in einem Punkt vehement durchgesetzt hatte: beim Vornamen ihrer Tochter.
Lyra hieß mit vollständigem Namen Lyra Tjara Hertzberg. Die Vornamen kamen aus dem Isländischen und bedeuteten so viel wie die Mutige und Engel der Zukunft. Als kleines Mädchen fand Lyra das blöd und wollte viel lieber so heißen wie ihre Freundinnen im Kindergarten: Emily, Amelie, Emma oder Frieda. Aber heute, mit knapp achtzehn, war sie superfroh, dass in ihrem weiteren Umfeld niemand so einen krass individuellen Namen hatte wie sie. Tjara wurde sie eigentlich nur von ihrer Mutter genannt, allerdings sehr selten und ausschließlich, wenn sie allein waren. Miriam hatte dann immer ein seltsames Funkeln in den Augen und blickte ihre Tochter so andächtig an, als würde sie erwarten, dass gleich der liebe Gott höchstpersönlich erschien oder zumindest ein Wunder geschah. Lyra fand das sehr eigenartig, hatte sich aber mittlerweile auch daran gewöhnt.
Sie verstand sowieso nicht, woher ihre Mutter dieses Faible für isländische Vornamen hatte. Okay, Miriam war als junges Mädchen einmal dort gewesen. Umso verwunderlicher war allerdings, dass niemals darüber gesprochen wurde. Im Gegenteil! Das Thema Island wurde immer dann, wenn Lyra es gelegentlich auf den Hertzberg-Tisch packte, sofort wieder von ebenjenem abgeräumt. Diese Geheimniskrämerei machte sie echt fertig, doch so sehr sie sich auch bemühte, konnte Lyra aus ihrer Mutter nichts herausbekommen. Aus ihren Großeltern sowieso nicht. Diese stocksteife Mentalität, nur weil der Name Hertzberg irgendwie seit dem 14. Jahrhundert pommerscher Uradel war und Siebzehnhundertirgendwann in den preußischen Grafenstand erhoben wurde. Wahrscheinlich galt das sowieso nicht für ihren Strang der Familie. Und letztlich war es Lyra auch völlig egal, ob vor einer halben Ewigkeit irgendein Kerl mit demselben Nachnamen eine Burg in Nordost-Germanien besessen hatte.
Wer sie allerdings am meisten aufregte, war ihr Vater. Grundsätzlich liebte sie ihn. Klar, er war ihr Papa. Der einzige Mensch auf der weiten Welt, der Lyra das Fahrradfahren beigebracht hatte … und das Schwimmen, das Schleifenbinden und natürlich Mathe … und dass sie im Dunkeln keine Angst zu haben brauchte. Ja, dafür liebte sie ihren Vater. Dennoch verging kein Tag, an dem sie nicht auch seine Kehrseite erkannte. Mit zunehmendem Alter verachtete Lyra ihren Vater jeden Tag ein Stückchen mehr. Nach ihrer Meinung war Malthe der eigentliche Versager der Familie – mit ausgeprägtem Mutterkomplex. Okay, bei DER Mutter war das wohl auch kein Wunder. Die Menschheit konnte insofern echt froh sein, dass Regina nur einen Sohn zur Welt gebracht hatte.
* * *
Während Lyra über ihre Familie grübelte, zog sie sich in die alte Dachkammer der schönen Stadtvilla im Berliner Bezirk Frohnau zurück. Das kleine Zimmer am höchsten Punkt des Hauses gehörte früher Malthe. Lyra hatte es irgendwann annektiert und nach und nach ihrem Geschmack angepasst sowie die Sachen ihres Vaters in den anliegenden Abstellraum geschafft.
Da sie fast jedes Wochenende zum Mittagessen hier war sowie die kurzen Ferien als auch die meisten Feiertage bei ihren Großeltern verbringen musste, war dieser kleine Raum mit seinen schrägen Wänden und dem knarrenden Dachfenster Lyras zweites Zuhause geworden. Als sie vierzehn war, hatte sie heimlich ein neues Schloss eingebaut und seither die Tür zu ihrem Reich fest verschlossen gehalten. Eine reine Vorsichtmaßnahme, wusste sie doch, dass ihre Oma sonst täglich putzen und Lyras penibel angestaute Unordnung in ein penetrant sortiertes Chaos verwandeln würde. Abgesehen davon war es Reginas Lieblingsbeschäftigung, in fremden Sachen und Angelegenheiten zu schnüffeln. Entsprechend sauer war die alte Krähe auch gewesen, als sie seinerzeit feststellen musste, dass nur ihre Enkelin einen Schlüssel besaß. Obwohl Lyra natürlich ziemlich sicher war, dass Regina längst einen Zweitschlüssel besorgt hatte. Dennoch war es der Alten kaum möglich, offensichtlich in Lyras Sachen zu wühlen, ohne dabei ihr Gesicht zu verlieren.
Ein trotziges Grinsen verirrte sich auf Lyras Lippen. Vergnügt ließ sie sich in den schwarzlackierten Schaukelstuhl fallen, der unter dem Dachfenster stand. Ihrem Lieblingsplatz. Kaum hatte sie es sich dort bequem gemacht, begann ihr Handy Claire de Lune von Claude Debussy zu spielen. Das konnte nur Emily sein. Ungeduldig fummelte Lyra den silbernen Kasten aus ihrer Jacke und begrüßte ihre Freundin.
»Emily, hallo! Na, was geht auf der Piste?«
Jedes Jahr in den Februarferien fuhr Emily mit ihrer Familie nach Österreich in den Skiurlaub. Und wie jedes Jahr würde sie sich gleich wieder über die Unsinnigkeit des Wintersports beschweren und natürlich darüber, wie bekloppt sich die Aprés-Ski-Touristen benahmen.
»Hi, Lyra! Alles schön bei dir?«
»Von schön kann hier wohl kaum die Rede sein. Alles wie immer bei meiner Oma. Ich habe mich verbarrikadiert, gleich wird es irgendeinen Grünkernscheiß zum Mittag geben … und das dann eine Woche lang. Ich bin so froh, wenn die Schule wieder losgeht.«
Emily lachte am anderen Ende. Etwas knisterte, dann dröhnte ein berstendes Geräusch durch das Telefon. Lyra riss sich ihr Smartphone vom Ohr und brüllte: »Emily, lass das sein! Was machst du da?«
Vorsichtig drückte Lyra das Telefon wieder ans Ohr und lauschte. »Emily? Bist du noch da?«
»Ja, man. Was ist denn los mit dir? Sonst stört es dich doch auch nicht, wenn ich beim Telefonieren esse?«
Lyra nickte stumm. Doch irgendetwas war heute anders. Sie schloss die Augen und horchte in sich hinein. Irgendetwas … war … in … ihr … Da! Wie ein ICE mit Höchstgeschwindigkeit, der zwar noch meilenweit entfernt war, aber dennoch stetig näherkam, begann in ihrem Körper … etwas … wie im Takt der Kolben eines Motors … erst ganz leise und langsam, nun immer schneller und kraftvoller … überkam Lyra eine Welle der … der … es hämmerte in ihrer Brust, das Atmen fiel ihr schwer. Sie keuchte und schnappte nach Luft. Ihr Herz trommelte ein Stakkato. In ihren Ohren rauschte das Blut so laut, dass sie für einen Augenblick nichts anderes hörte als ihren rasenden Puls …
Dann war alles vorüber. Lyra saß immer noch in ihrem Schaukelstuhl. Die Sonne schien immer noch durch die kahlen Äste der alten Eiche vor dem Haus. Und Emily war immer noch am anderen Ende der Leitung.
»Lyra? Was hast du? Bist du ohnmächtig oder so? Hey!!!«
Mit dem Ärmel ihrer Jacke wischte sich Lyra Schweißperlen von der Stirn. Warum war es auf einmal so heiß? War das ein Anfall? Wurde sie krank? Nur mühsam fand sie in die Realität zurück und antwortete endlich: »Ja, alles in Ordnung. Mir geht es gut. Irgendwie ist mir nur gerade schwindlig geworden. Geht wieder. Aber was ist bei euch los? Warum hockst du in deinem Zimmer und wieso zum Geier seid ihr noch nicht bei den Fans von DJ-Blödmann im zusammengekratzten Kunstschnee?«
Am anderen Ende herrschte Stille. Dann fragte eine verstört klingende Emily: »Woher weißt du … ähm … kannst du hellsehen oder so?«
»Emily, das ist doch eindeutig. Nirgendwo auf der Welt spielt jemand so schlecht Klavier wie der kleine Scheißer, der im Haus bei euch gegenüber wohnt.«
Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, stutzte Lyra. Noch eben erschien ihr das Gesagte vollkommen logisch, jetzt aber schüttelte sie verwirrt den Kopf und lauschte ins Telefon.
»Lyra? Was soll das? Hier ist Totenstille …«
Ein Quietschen war zu hören, dann ein Rumpeln. Emily schien von ihrem Bett aufgestanden zu sein und öffnete wohl gerade das Fenster.
»Sag mal, wie machst du das? Wenn nicht mal ich den Stinker gegenüber höre, wie sollst du ihn dann durchs Telefon hören. Das geht doch gar nicht.«
Die schrägen Laute einer schlecht gespielten Tonleiter kreischten in Lyras Ohren. Sie konnte kaum ihren eigenen Gedanken verstehen, so laut waren das Klavier und die Stimme ihrer Freundin. Das konnte nicht sein, richtig. Aber es war verdammt noch mal so!
»Emily, ich muss jetzt auflegen.« Lyra konzentrierte sich, nicht gegen den vermeintlichen Lärm anzubrüllen, sondern ruhig zu sprechen. »Ich hab nur geraten. Natürlich kann ich das Klavier nicht durch das Telefon UND ein geschlossenes Fenster hören. Das wäre ja …«
»Lyra, ist wirklich alles in Ordnung bei dir? Du klingst so komisch.«
»Ja, Sweety. Alles super. Lass uns morgen wieder telefonieren. Meine Oma ruft, ich muss jetzt schleimige Vollwertkost essen. Mach’s gut, Süße!«
Mit einem Tastendruck knipste Lyra ihre Freundin vorerst aus ihrem Universum. Sie musste nachdenken. Was zum Teufel passierte hier?