Читать книгу Gargoyles - Maria Spotlight Bennet - Страница 12
Freya
ОглавлениеDie Luft war stickig am Abend des 04. Augusts. Sie fühlte sich wie ein dicker Brei an, der so zäh in seiner Konsistenz war, dass man ihn nur mit sehr viel Flüssigkeit und durch Würgen die Kehle hinab bekam und dabei hoffte, nicht zu ersticken. Freya, Viktors und Lavendias Zweitgeborene, kümmerte das nicht. Wie immer zog sie über der St. Paul’s Cathedral ihre Kreise. Der Klan der Grimm hatte die Kirche zu einem ihrer sicheren Zufluchtsorte gemacht. Unter der Kathedrale hatten die Grimm sich einen Stützpunkt errichtet, einer von vielen. Die Grimm konnten zwar mehr Standorte verzeichnen als ihre Feinde, aber es fehlte ihnen an Besatzung. Vieler dieser Gargoyles waren im Kampf gegen die Pearce gefallen, denn sie hatten die besseren Krieger. Freya war weder eine Wächterin noch diente sie im Rat. Ihr Herz war frei, ebenso ihr Geist und sie kannte keine Furcht. Freya wusste um die Risiken ihrer nächtlichen Streifzüge und dass sie jederzeit einem Feind in die Arme laufen konnte. Doch aus einem unbestimmten Grund schien sie für die Wächter der Pearce unsichtbar zu sein. Sie hatte es in der Vergangenheit immer wieder geschafft, von Punkt zu Punkt zu fliegen, ohne dabei von Beobachtern gesehen zu werden oder gar in eine Falle zu tappen. Entweder war es stets nur unverschämtes Glück gewesen oder sie hatte tatsächlich einen qualifizierten Schutzengel an ihrer Seite. Heute Nacht schwebte die dunkelhaarige Schönheit über einem ihrer liebsten Orte. Sie mochte die St. Paul’s Cathedral mehr als Westminster Abbey. Wenn es nach ihr ginge, würde sie fortan lieber dort hausen. Einesteils, weil ihr die Machart des Gebäudes mehr zusagte, anderseits wäre sie dann endlich frei von dem nervigen Schutz ihres Vaters. Viktor sah es nicht gerne, wenn Freya sich herausschlich und auf eigene Faust die Stadt erkundete. Er fand ihr Verhalten grob fahrlässig und hatte sie schon Dutzende Male für ihre Vergehen bestraft. Aber keine Strafe dieser Welt konnte Freya von ihrem Drang nach Freiheit abhalten. Dass andere sich unnötig für sie in Gefahr brachten, war ihr nie in den Sinn gekommen. Als jüngstes von drei Kindern und somit dem untersten Rang entsprechend, musste Ash regelmäßig ausfliegen, um seine Schwester zurück an die Leine zu nehmen wie ein entflohener Hund. Das letzte Mal war er einem gegnerischen Wächter begegnet und es war zum Kampf gekommen. Ash hatte zwar gesiegt, aber der andere muss wohl erst mit seinem Training begonnen haben und war seinem Kontrahenten nicht gewachsen gewesen. Ash hatte bedauert, den Jungen getötet zu haben und seine Leiche zwischen den Mülltonnen in einer engen Seitengasse liegen gelassen zu haben. Er hatte Freya, die er bei der All Hollows by the Tower Kirche gefunden hatte, angebrüllt, ihr seine blutigen Hände gezeigt und sie gefragt, ob es das wert sei? Dass man sich ihretwegen in Gefahr begeben musste, nur weil ihr der Arsch nach Abenteuer in Londons Straßen juckte? Sie hatte verstohlen gelächelt, war zwei Wochen unterhalb Westminster Abbey geblieben, ehe sie erneut das Weite gesucht hatte.
Jetzt tanzte sie einen letzten Reigen über den Dächern der St. Paul’s Cathedral, während über ihr die blassblauen Sterne zu ihr hinabblickten wie Glitzersteine an einem Samtvorhang. Anmutig drehte sie sich hoch oben in der Luft wie eine graziöse Tänzerin in einer Ballettaufführung. Ihre schwarzen Locken folgten den sanften Bewegungen ihrer Kreise. Sie trug ihr perlweißes Spitzenkleid, das an den Hüften glockenförmig auseinanderging und kurz unterhalb ihrer Knie aufhörte. Freya genoss die kühle Nachtluft auf ihrer Porzellanhaut. Sie fror nicht, allgemein tat ihre Spezies das nicht. Viktors Tochter liebte es, wie ihre Flügel die Luft beiseite drängten, sie sich fallen lassen konnte und im letzten Moment ihren Rettungsschirm aufspannte, der sie wie eine Feder im Wind gleiten ließ. Freyas Flügel waren ebenso missgestaltet wie die der anderen Gargoyles. Ledern, an den Ecken zerfressen, als hätte ein Nagetier daran gekaut und zwischen drin spannte sich ein scharlachrotes Netzwerk aus kleinen Äderchen auf. Es ruinierte jedes Mal das Gesamtbild. Und wäre sie nicht mit makelloser Schönheit gesegnet gewesen, hätte man sie in der Tat für einen von Gott gesandten Engel gehalten. Anders als Ash empfand Freya beim Anblick ihrer dämonengleichen Flügel keine Abstoßung. Sie war, wie sie war, daran konnte sie nichts ändern. Auch eine lächerliche Prophezeiung konnte daran nichts ändern. Und Freya hatte keine Zeit, einer sinnlosen Legende hinterherzujagen oder sich über ihren größten Makel zu sorgen. Sie ignorierte die Zeichnung durch des Teufels Hand, die auf ihrem Rücken mit ihr verbunden war wie siamesische Zwillinge. Stattdessen suchte sie die Freiheit, die ihr Vater ihr verwehren wollte. Regelmäßig widersetzte sie sich Viktor. Bei der St. Paul’s Cathedral war sie ebenso sicher wie bei Westminster Abbey. Viktor zog es allerdings vor, sie in seiner Nähe zu wissen. Freya erkannte es nicht als väterliche Fürsorge an, sondern als eine Art Kontrollzwang. Nicht sie war schuld an der Misere, aber Viktor und er wiederum ließ Ash dafür bezahlen. Etwas an Westminster störte sie. Sie wusste nicht, ob es der Geruch war, die Menschen, die dort vorbeikamen und die sie manchmal schon beobachtet hatte. Oder die vielen Gräber von berühmten Persönlichkeiten wie Heinrich dem Dritten, Charles Dickens, Georg Friedrich Händel und nicht zu vergessen dem Denkmal für William Shakespeare. Bei dem Anblick der Begräbnisstätten und selbst dem Gedanken daran bekam sie das Fürchten. Also war einer ihrer liebsten Zufluchtsorte seit jeher derselbe. Freya zog ihre Flügel ein und ließ sich wie ein Adler im Sturzflug nach unten fallen. Wie ein Segelschirm öffneten sich ihre ledernen Flügel, die wie die eines Drachen aussahen, rot und schwarz gefärbt waren und fingen sie in letzter Sekunde auf. Sie landete auf dem kuppelförmigen Dach der Kathedrale, faltete ihren Rettungsschirm ein und stieg die Treppen hinab in die Kirche.