Читать книгу Anele - Der Winter ist kalt in Afrika - Marian Liebknecht - Страница 10

7.

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Am zehnten Jänner, dem Tag des Beginns der Schulung bei D.C., ging Philipp um halb vier vom Büro weg. Draußen schien die Sonne, aber die Luft war eisig kalt. Es hatte in den letzten Tagen immer wieder ein wenig geschneit, und wenn auch in den Straßen der Schnee sehr bald die Farbe des Asphalts annahm, so hatte sich doch auf den Dächern und Grünanlagen das reine Weiß erhalten. Philipp beschloss, trotz der Kälte zu Fuß zu gehen, da er solche Tage genoss, an denen das Einheitsgrau der frühwinterlichen Zeit in strahlenden Sonnenschein überging. Der Schnee multiplizierte an diesen Tagen das Sonnenlicht und bewirkte dadurch eine Helligkeit, wie sie ein noch so schöner Sommertag nie hervorbringen konnte.

Philipps Laune entsprach dem Wetter und war eine Mischung aus Zufriedenheit und ungewisser Erwartung. Er hatte sich schon in den letzten Tagen immer wieder auf das heutige Ereignis gefreut und war mehr als einmal in Buchgeschäften auf die Suche nach Material über Afrika und vor allem Swasiland gegangen. Einiges hatte er gekauft und manches davon bereits gelesen.

Auf dem Weg zum Büro von D.C. setzte er sich noch in eine Konditorei und las in einem Buch über Entwicklungsarbeit im südlichen Afrika. Es war jene, in der er vor Kurzem mit seiner Ex-Frau zusammen getroffen war. Damals hatte er sich geschworen, nie mehr dort hin zu gehen, jetzt fand er aber keinen vernünftigen Grund mehr, gerade diese Lokalität zu meiden. Sarah würde sich dort ja nicht eingemietet haben.

Beim Eintreten blickte er sich sicherheitshalber um und wählte schließlich einen besonders sonnigen Tisch. Er bestellte eine Tasse Tee mit Zitrone und begann, in seinem Buch zu blättern. Als der Ober den Tee servierte, nahm er gleich einen Schluck, um sich auch von Innen aufzuwärmen. Das wohlige Sonnenlicht, von dem die Stadt in den vergangenen Tagen nur wenig abbekommen hatte, ließ ihn ermüden und seine Lider wurden schwer. Nach kurzer Zeit merkte er, dass er die Worte, die er las, nicht mehr aufnahm, und schließlich gab er dem Drängen seines Körpers nach und schloss kurz die Augen ...

... Philipp stapfte in einer wüstenhaften Umgebung langsam etwas wie einen Weg hinunter. Um ihn herum nichts als Sand, Geröll und da und dort ein paar vertrocknete Büsche. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war, kannte auch die Gegend nicht. Ihm wurde nur auf einmal klar, dass er nicht alleine ging. Sarah ging neben ihm. Beide hatten einen langen Umhang an und auf dem Kopf trugen sie ein Tuch. Dennoch drang die Hitze durch die Kleider und er fühlte, wie sich unter dem Stoff die Schweißperlen sammelten. Weit entfernt sah er eine weiß schimmernde Stadt, die sie offenbar erreichen wollten. Sarah drehte sich um, lächelte ihn an und gab ihm aus ihrer Wasserflasche zu trinken, worauf ihn trotz der widrigen Umstände eine Woge des Glücks durchflutete. Er trank das Wasser, doch kaum hatte er den ersten Schluck getan, konnte er Sarah nicht mehr sehen. Er wusste nicht, wo sie war, nahm aber plötzlich mehrere in Umhänge gehüllte Gestalten wahr. Obwohl er weiter nach Sarah Ausschau hielt, konnte er sie nicht finden. Plötzlich fühlte er die staubige Hand eines der Männer in seinem Nacken ...

Der Ober hatte ihn auf die Schulter getippt, da ihm sein Buch aus den Händen auf den Boden geglitten war. Er bedankte sich, hob es auf und sah wieder hinein, so als würde er darin lesen. Seine Gedanken waren aber noch in der Wüste und bei Sarah. Er fühlte den Schweiß, der sich durch die Wärme der Sonne auf seiner Haut festsetzte und versuchte nur, das kurze Glücksgefühl festzuhalten, das er im Traum empfunden hatte, als Sarah ihm zu trinken gegeben hatte.

Plötzlich fiel ihm der Kurs ein, der um halb sechs anfing und er sah auf die Uhr. Es war knapp vor fünf. ‚Gott sei Dank‘, dachte er, ‚noch etwas Zeit.‘ Langsam kehrte er in die Realität zurück und nahm seine Lektüre wieder auf, ehe er zwanzig Minuten später zahlte, um im Schein der mittlerweile erleuchteten Straßenlaternen den Weg in die ein paar hundert Meter entfernte Zentrale von D.C. einzuschlagen.

Frau Artner empfing ihn mit einem Lächeln und fragte, wie er die Feiertage verbracht hatte. Als sie ihm seine Garderobe abnehmen wollte, bedankte sich Philipp, hängte Mantel, Schal und Kappe aber selbst auf den alten Garderobenständer und ließ sich von ihr zum Schulungssaal führen. Sie gingen den schmalen Gang hinunter, der ihm schon bei seinem letzten Besuch aufgefallen war, bis sie zu einer offen stehenden Tür auf der linken Seite kamen. Philipp trat ein, während seine Begleiterin zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte.

Es war ein mittelgroßer, Saal, der für etwa zwanzig Zuhörer Platz bot. Wenn es draußen nicht dunkel war, mochte es ein sehr heller, freundlicher Raum sein. Jetzt war er allerdings mit Neonröhren erleuchtet, was Philipp an seinen Fahrschulkurs erinnerte, der mittlerweile auch schon zwanzig Jahre her war. An den Wänden des Raums hingen Aufnahmen von irgendwelchen Gegenden Afrikas, Asiens und Südamerikas. Vorne war eine Tafel an der Wand befestigt wie in einer Schule, nur etwas kleiner. Daneben erstreckte sich eine Weltkarte.

Im Raum saßen bereits zwei Männer, ungefähr in Philipps Alter, der eine vielleicht etwas jünger, der andere mochte ein paar Jahre älter sein. Philipp grüßte in ihre Richtung. Da sich kein Gespräch entwickelte, spazierte er umher und betrachtete die Fotos. Schließlich stellte er seine Tasche neben einen freien Tisch und setzte sich. Kurz danach stieß noch ein etwas jüngerer Mann zu den bereits Anwesenden, grüßte freundlich und machte es sich ebenfalls auf einem der Plätze bequem.

Genau um halb sechs kam Dr. Schuster mit einem Paket Unterlagen in den Raum, sah sich kurz um und legte seinen Stapel auf den Tisch.

„Ah, wie ich sehe, sind wir noch nicht ganz komplett, also warten wir noch ein paar Minuten. Wie geht es ihnen, das Weihnachtsfest gut verbracht?“

Da er diese Frage in die Allgemeinheit des Raumes hinein stellte, fühlte sich im ersten Moment niemand angesprochen, bis Philipp bemerkte: „Danke, alles gut überstanden, bei Ihnen auch alles in Ordnung?“

„Danke, alles bestens erledigt.“ Plötzlich wandte Dr. Schuster seinen Kopf zur Tür und sagte erfreut: „Ah, nun sind wir komplett. Schönen guten Abend!“

Philipp sah ebenfalls hin und konnte im ersten Moment nicht glauben, was er erblickte. Sarah, seine Ex-Frau, sah etwas verlegen zur Tür herein, grüßte die Anwesenden und trat schließlich ein.

„Kommen Sie nur rein, hier sind sie schon richtig“, bemerkte Dr. Schuster gutgelaunt.

Als Sarah Philipp erkannte, machte sie ein überraschtes Gesicht, lächelte aber gleich darauf. Sie fragte, ob der Platz neben ihm frei sei.

„Ja, sicher!“, antwortete er, worauf sie sich zu ihm setzte. Philipp tat sich schwer zu glauben, dass Sarah durch puren Zufall exakt die gleiche Idee im gleichen Zeitpunkt gehabt hatte wie er und deshalb genau im selben Kurs landete. Er konnte sich keinen Reim auf das Ganze machen, musste seine Überlegungen in dieser Sache aber auf später verschieben, da Dr. Schuster mit seinem Vortrag begann.

„Ich möchte Sie zunächst einmal alle sehr herzlich begrüßen und freue mich, dass Sie sich für unsere Tätigkeit interessieren, immerhin so sehr interessieren, dass Sie bereit sind, eine ganze Reihe von Abenden hier mit dem Thema ,Entwicklungshilfe’ zu verbringen. Ich bin sicher, Ihr Interesse wird mit jedem Tag dieser Schulung noch wachsen, denn was wir machen, hat mit den grundlegendsten Fragen zu tun, die sich für jeden Menschen auf dieser Welt stellen. Bevor wir in die Sache selbst hineingehen – und ich kann ihnen versichern, das werden wir ausführlich tun – möchte ich mich kurz vorstellen und ihnen meine Beweggründe nennen, warum ich bei dieser Organisation arbeite.“

Die Ansprache schien Philipp etwas übertrieben salbungsvoll, er konnte sich deren Wirkung aber dennoch nicht ganz entziehen.

„Also: Mein Name ist Fritz Schuster“, fuhr dieser fort, „ich bin fünfundfünfzig Jahre alt, verheiratet und habe zwei bereits erwachsene Kinder, eine Tochter, die müsste jetzt – Moment – dreiunddreißig sein, und einen neunundzwanzigjährigen Sohn. Seit mittlerweile zwölf Jahren arbeite ich bei D.C. und bin für den Bereich Österreich verantwortlich. Vorher war ich nacheinander bei unterschiedlichen Instituten, Banken und Versicherungen, im Personalverwaltungs- und -entwicklungsbereich und verschiedentlich auch im Controlling tätig. Nun, was waren meine Beweggründe, zu D.C. zu gehen?“

Dr. Schuster legte ein gekonnte rhetorische Pause ein, die allerdings einen Tick zu lang dauerte, was dem ganzen eine etwas übertriebene Theatralik verlieh.

„Zuallererst natürlich“, setzte er schließlich fort, „hat sich diese Tätigkeit für mich deshalb angeboten, da die Organisation vor zwölf Jahren ihre Österreich-Niederlassung aufgebaut und im Zuge dessen eine erfahrene Führungskraft aus der Wirtschaft gesucht hat. Der Grund dafür, dass ich mich dann wirklich zu dieser Sache entschlossen habe, ist aber eigentlich sehr persönlicher Natur.“

Wieder hielt er inne, diesmal nahm man ihm aber jeden Atemzug ab.

„Ich habe mich immer gefragt, warum es auf der Welt, in der wir alle leben – und wir leben ja sehr gut – derartige Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geben kann, ohne dass irgend jemand die Stimme für jene erhebt, die am unteren Rand des Spektrums stehen, für jene, die eben keine Stimme haben. Es klingt ja schon abgedroschen, wenn man sagt, es sei vollkommen unverständlich, dass wir hier im Überfluss leben und ein paar Flugstunden von uns sterben die Menschen an Unterernährung. Hier bei uns wird Millionen Euro teure Spitzenmedizin eingesetzt, um jemandem das Leben ein halbes Jahr zu verlängern und in Afrika müssen vollkommen gesunde Leute sterben, weil nicht einmal ausreichend Medikamente gegen die einfachsten Krankheiten vorhanden sind. Bei uns werden von vielen Leuten teure kosmetische Operationen ohne jeden medizinischen Sinn gezahlt, aber in Afrika ist ein Menschenleben nicht genug wert, dass die vielen hunderttausenden Aids-Kranken eine adäquate Therapie bekommen können.“

Wenngleich die Moralkeulen offenbar recht tief flogen, wenn Dr. Schuster in Fahrt kam, konnte Philipp eine gewisse Folgerichtigkeit seiner Argumentation nicht verleugnen.

„Mit diesen Dingen kann man sich abfinden, wie es die meisten Menschen tun, oder man kann irgendwann die Entscheidung treffen, dass man das in seiner Macht stehende in Bewegung setzt, um an diesen Zuständen etwas zu ändern. Hier in dieser Organisation habe ich zum ersten Mal Menschen getroffen, die dasselbe Problem hatten wie ich und denen es auch nicht mehr möglich war, einfach wegzusehen und die Dinge laufen zu lassen. Viele sagen, man könne ohnehin nichts machen, alles, was man tut, sei nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.“

Plötzlich fiel mit hörbarem Klirren ein Schlüsselbund zu Boden. Als Ursache stellte sich Sarah heraus, die etwas in ihrer Tasche gesucht hatte und mit leichter Verlegenheit die kurzfristig in ihre Richtung gelenkten Blicke quittierte. Dr. Schuster ließ sich dadurch allerdings nicht aus dem Konzept bringen.

„Dazu möchte ich nur fragen: Kann die Rettung eines Menschenlebens ein Tropfen auf dem heißen Stein sein? Kann es ein Tropfen auf dem heißen Stein sein, dem Leben eines jungen Menschen in Afrika Perspektiven zu geben? Wer so etwas sagt, zeigt nur, dass er nicht bereit ist, etwas gegen diese Zustände zu tun. Sie, liebe Freunde, haben gezeigt, dass Sie etwas tun wollen, schon dadurch, dass sie hierher kommen und wissen wollen, wie die Arbeit eines Mitarbeiters von D.C. aussieht. Und dafür darf ich Ihnen jetzt schon danken, im Namen der gesamten Organisation und ich weiß, auch im Namen aller Menschen, die wir betreuen. Und jetzt bitte ich Sie, sich kurz vorzustellen, damit wir alle uns untereinander kennen lernen.“

Es trat ein Moment der Stille ein. Die Zuhörer, die der engagierten, nach Philipps Meinung allerdings recht dick aufgetragenen Rede gefolgt waren, wurden durch die letzte Aufforderung ziemlich unvorbereitet genötigt, aktiv zu werden. Dr. Schuster erkannte schnell, dass er jemanden bitten musste, zu beginnen, da er sonst eine längere Pause riskierte.

„Vielleicht beginnen wir auf dieser Seite“, setzte er hinzu und zeigte auf den jungen Mann, der als letzter vor Sarah gekommen war und zwei Plätze links von Philipp saß, „würden Sie sich bitte kurz vorstellen!“

Der junge Mann, der um die dreißig sein mochte und mit seinem dunkelbraunen Haar und dem ebenmäßigen Gesicht ein sehr ansprechendes Äußeres hatte, setzte sich auf seinem Platz zurecht, um dann sehr ruhig, aber freundlich und aufgeschlossen zu sprechen: „Mein Name ist Helmut Stachl, ich habe vor dreieinhalb Jahren mein Medizinstudium abgeschlossen und mittlerweile auch den Turnus hinter mir. Jetzt bin ich fertiger Allgemeinmediziner und frage mich seit längerem, wie es weitergehen soll. Das sozusagen „Normale“ wäre, entweder zu versuchen, eine Praxis als praktischer Arzt zu eröffnen oder nach einer Ausbildungsstelle zum Facharzt – welche Richtung auch immer – Ausschau zu halten. Beide Varianten sind mir aber in meiner momentanen Lebensphase in gewisser Weise zu endgültig. Da ich noch einigermaßen jung bin, habe ich den Wunsch, meinen Horizont zu erweitern, Neues kennen zu lernen und, was ja auch Sie sehr deutlich angesprochen haben, dort tätig zu werden, wo meine Arbeit dringend gebraucht wird.“

Philipp hatte von dem jungen Mann einen recht guten Eindruck und auch Dr. Schuster hörte interessiert zu. Seine ruhige und deutliche Sprechweise erweckte den Eindruck, dass er seine Worte sehr genau überlegte.

„Deshalb möchte ich gerne eine Zeit lang in einem Entwicklungsland als Arzt tätig sein, wobei ich nebenbei auch glaube, dass eine solche Arbeit in jedem Fall eine ganz gute Schule für einen angehenden Mediziner ist.“ Er verstummte, da er alles gesagt hatte, was zu sagen war.

„Danke, ich freue mich sehr über Ihr Interesse, da wir, wie ich ihnen ohnehin schon im Zweiergespräch gesagt habe, derzeit gerade Ärzte benötigen, egal ob es sich um Afrika, Indien oder Südamerika handelt. Ich würde Sie sogar bitten, dass Sie unter Ihren Kollegen Werbung für diese Idee machen, vielleicht findet sich ja noch der eine oder andere, der sich so etwas auch vorstellen könnte.“

Im nächsten Moment sah Dr. Schuster zu Philipp hin, worauf dieser zu reden begann, ohne auf eine Aufforderung zu warten.

„Ja, also, mein Name ist Philipp, ich bin neununddreißig Jahre alt, geschieden und lebe allein. Warum ich nach Afrika gehen möchte? Ja, wenn ich eine ehrliche Antwort geben soll, ist es nicht so einfach: Zum Teil spielen die Umstände eine Rolle, zum Teil ist es der Wunsch, etwas anderes, Sinnvolleres als meine bisherige Arbeit zu machen und den Rest haben Sie schon gesagt, Herr Doktor Schuster. Bei mir kommt einiges zusammen. Die eine Antwort, den einen Grund für alles, habe ich nicht. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass man weiß, was man möchte.“

Dr. Schuster, der bei dieser Eröffnungsrunde eine Art Moderatorenrolle einnahm, hakte dort ein, wo Philipp geendet hatte. „Sie haben recht, uns allen geht es manchmal so, dass wir etwas tun, ohne hundertprozentig zu wissen, ob es das Richtige ist. Bei einer Sache wie dieser, die für jeden eine einschneidende Veränderung im Leben bedeutet, kann man nicht vorher alles genau abschätzen. Da ist es oft das Beste, sich auf sein Gefühl zu verlassen und einmal ein Risiko einzugehen, denn tut man es nicht und entschließt sich anders, kann es leicht sein, dass man diese Entscheidung irgendwann bereut, dann aber meist für den Rest seines Lebens.“

Philipp war klar, dass Dr. Schuster nicht zuletzt in eigener Sache sprach, da er natürlich berufliches Interesse daran hatte, dass Leute, in die das Geld für diese Schulung investiert wurde, dann auch der Organisation als Mitarbeiter zur Verfügung standen.

„Etwas möchte ich noch sagen“, fuhr Philipp nach Dr. Schusters Denkanstößen fort, „ich arbeite im Moment noch in einer Bank, kenne mich aus im Kreditwesen, Buchhaltung, Bilanzierung, und alles, was damit zusammen hängt. Da in der Entwicklungshilfe auch Leute aus der Wirtschaft eingesetzt werden, habe ich die Arbeit in Afrika als Gelegenheit gesehen, meine beruflichen Erfahrungen für etwas wirklich Sinnvolles einzusetzen, eine Möglichkeit, die mir derzeit leider versagt wird, weil das Profitdenken heute offenbar mehr zählt als Anstand und Fairness gegenüber langjährigen Mitarbeitern.“

Das Schweigen nach diesem etwas verschwommen gehaltenen Bekenntnis weckte in Philipp die Vermutung, mit seiner Bemerkung das allgemein akzeptierte Ausmaß innerer Selbstentblößung überschritten zu haben. Er blickte zu Sarah, die ihn mit großen Augen ansah. Wegen ihr hatte er sich ohne Familiennamen vorgestellt. Er wollte keinen der Anwesenden auf die zwischen ihnen bestehende Verbindung hinweisen.

„Ich danke Ihnen“, unterbrach schließlich Dr. Schuster das Schweigen, „mit Ihrer Beschreibung der Arbeitswelt von heute haben Sie sicherlich recht. Ich bin schon seit vielen Jahren in verschiedensten Positionen auch im Personalbereich tätig und kann ihre Meinung nur bestätigen. In den letzten Jahren hat sich einiges geändert, und leider nicht nur zum Besseren. Aber beschäftigen wir uns mit Erfreulicherem. Darf ich Sie bitten, sich vorzustellen.“

Damit war Sarah gemeint. Philipp bemerkte, dass ihre Ohren leicht gerötet waren, wodurch sie der Farbe ihrer Haare sehr nahe kamen. Zu seiner eigenen Überraschung war er ziemlich gespannt darauf, was er nun noch von ihrem Leben erfahren würde.

„Also, dann bin ich wohl dran“, sagte Sarah mit ihrer eigentümlich zart und zerbrechlich wirkenden Heiterkeit, „mein Name ist Sarah, ich bin siebenunddreißig Jahre alt und geschieden. Die Arbeit, die ich bis vor einigen Jahren gemacht habe – es war ein nicht besonders interessanter Job als Sprechstundenhilfe –, hat mich nicht befriedigt und deshalb habe ich vor vier Jahren eine Schwesternausbildung absolviert. Die dauerte drei Jahre, daher war ich – schwierige Rechnung – voriges Jahr fertig.“

Allgemeines Lächeln.

„Nach meiner Ausbildung habe ich in einem Krankenhaus angefangen. Das war am Anfang sehr interessant. Es gab dann allerdings Probleme mit einer Kollegin, die rangmäßig über mir stand und glaubte, sie müsse mir alles neu erklären, was ich schon seit der Schwesternschule im Schlaf konnte. Das größte Problem war aber, dass sie mich dauernd mit vollkommen sinnlosen Arbeiten beschäftigte und so vom Dienst an den Patienten abhielt. Überhaupt herrschte auf ihrer Station ein Regiment, das alles war, nur nicht patientenfreundlich.

Ich habe dann mit dem verantwortlichen Arzt darüber gesprochen. Da er das Ganze aber als unerheblich abtat, habe ich gewusst, dass ich dort nicht bleiben möchte. Nachdem ich einige Zeit überlegt hatte, was ich mit meiner Ausbildung machen möchte, erfuhr ich von jemandem, der in die Entwicklungshilfe gehen möchte.“

Philipp wurde hellhörig.

„Als ich mich selbst daraufhin mit dem Gedanken beschäftigte, so etwas zu machen, wurde mir klar, dass es in meiner derzeitigen Stellung nichts gibt, was mich dort hält. Und eines wusste ich schon, als ich mit der Krankenpflege begonnen habe, nämlich, dass für eine Krankenschwester eine Tätigkeit im Rahmen der Entwicklungshilfe in Afrika, wo sie wirklich gebraucht wird, die denkbar interessanteste Aufgabe wäre.“

Dr. Schuster und alle im Raum schwiegen. Philipp, der Sarah in gewisser Weise besser kannte als sich selbst – zumindest hatte er das einmal geglaubt –, konnte nachvollziehen, dass sie, die immer alles so perfekt wie möglich machen wollte, es unter einer solchen Person, wie sie sie beschrieben hatte, nie und nimmer aushalten konnte. Auf einmal ging Philipp durch den Kopf, dass Dr. Schuster die Namensgleichheit zwischen Sarah und ihm ja ohnehin aufgefallen sein musste, er hatte ja alle Daten von den Teilnehmern. Ob er Sarah danach gefragt hatte? Auf der anderen Seite wusste Philipp nicht einmal, ob Sarah diesen Namen überhaupt noch verwendete.

„Ich glaube, diesen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen. Vielen Dank!“ schloss Dr. Schuster schließlich Sarahs Worte ab.

Als nächstes war ein Mann an der Reihe, der etwa in Philipps Alter oder etwas älter sein mochte und schräg hinter ihm saß. Er lachte sehr freundlich und war offensichtlich ein Typ, dem es nicht unangenehm war, im Mittelpunkt zu stehen und von sich selbst zu erzählen.

„Ja, dann bin wohl ich an der Reihe“, begann er. Man hörte sofort, dass er nicht aus Österreich kam, sondern einen holländischen Einschlag hatte, woraus er auch kein Hehl machte.

„Wie sie hören, komme ich von ein bisschen weiter oben auf der Landkarte, als Holländer kann man seine Wurzeln nicht verleugnen. Aber mittlerweile bin ich schon seit fast zehn Jahren Österreicher. Die ganze Geschichte war so: Ich habe in Holland Bodenkultur studiert und dann bei einer großen Firma gearbeitet, die landwirtschaftliche Maschinen produziert und vertreibt. Weil wir sehr erfolgreich waren, haben wir auch in anderen Ländern Niederlassungen eröffnet, unter anderem in Österreich. Da sie hier Leute für führende Positionen gesucht haben, bin ich nach Wien gegangen. Außerdem zieht es uns Holländer ja ohnehin in den Süden. Ich war verheiratet gewesen. Mein Frau ist aber gestorben, bevor ich die Arbeit in Österreich angenommen habe. Ich habe zwei mittlerweile erwachsene Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Ach ja, ich heiße Piet, und mein Alter – wissen Sie, wir Holländer sind ein bisschen eitel und sagen nicht gern unser Alter, aber weil wir hier ja unter uns sind – ich bin jetzt fünfundvierzig. Der Rest ist nicht viel anders als bei Philipp. In meiner Firma gefällt es mir nicht mehr – interne Veränderungen, andere Vorstände und so weiter -, deshalb will ich etwas anderes machen und habe schließlich die Idee geboren, dass ein paar Jahre Entwicklungshilfe in Afrika in meinem Lebenslauf noch fehlen. Das möchte ich so schnell wie möglich nachholen.“

„Und wir freuen uns, dass Sie für uns arbeiten wollen“, sagte Dr. Schuster.

Der letzte, der sich vorstellte, war ein etwas jüngerer Mann, der auf Philipp einen ziemlich nervösen Eindruck machte. Dr. Schuster, dem dies ebenfalls auffiel, sagte deshalb so behutsam wie möglich, ob er sich kurz vorstellen möge. Der Mann dachte kurz nach, dann sagte er: „Ich heiße Alfred und bin fünfunddreißig. Ich bin Pflegehelfer und arbeite in einem Wiener Sanatorium. Meine Abteilung wird aber in einem Monat zugesperrt, ich glaube, sie ist zu teuer. Deshalb kann ich dort nicht mehr lange arbeiten, und während ich etwas anderes gesucht habe, lernte ich Dr. Schuster kennen. Er hat gesagt, dass ich in der Entwicklungshilfe arbeiten könnte, deshalb bin ich heute hier.“

Philipp fragte sich insgeheim, ob dieser Job wirklich das richtige für Alfred war, dachte aber, dass Dr. Schuster schon wissen werde, was er tut. So Vertrauen erweckend, wie Alfred auf ihn wirkte, hätte er ihn nicht einmal seinen Pferdestall ausmisten lassen, wenn er einen gehabt hätte. Vielleicht, überlegte er, war Dr. Schuster in dieser Sache irgend jemandem verpflichtet.

Da von Alfred nichts mehr kam, setzte Dr. Schuster fort.

„Wir haben uns nun alle kennengelernt und ich möchte, dass wir ein Team werden, das durch dick und dünn geht. Deshalb mache ich den Anfang und möchte Ihnen allen das Du-Wort anbieten. Es würde mich freuen, wenn Ihr es annehmt und gegenseitig das gleiche tut.

Auf das Angebot von Dr. Schuster setzte ein allgemeines Händeschütteln ein. Zu Philipps Überraschung hielt Sarah ihm ihre Hand hin: „Ich bin Sarah.“ Um kein Aufsehen zu erregen, spielte er das Spiel mit, fragte sich aber dabei, was sie im Schilde führte. Vor ein paar Wochen hatte er plötzlich wieder von ihr gehört, indem sie ihm über Julia ausrichten ließ, dass sie ihn gerne treffen würde. Er hielt das damals für keine gute Idee, aber dann ereignete sich auf einmal dieses eigenartige Zusammentreffen im Café und jetzt würde er offenbar den ganzen Kurs mit ihr verbringen. War das alles Zufall? Etwas in ihm konnte es nicht glauben. Auf der anderen Seite sprach die Sturheit, mit der sie vor neun Jahren ihre Ehe abgewürgt hatte, gegen den Gedanken, dass sie plötzlich wieder seine Nähe suchte. Es war alles sehr verworren. Sein größtes Problem mit all dem war, dass er sehr lange daran gearbeitet hatte, sich Sarah nach der Scheidung endgültig aus dem Kopf zu schlagen. Deshalb wollte er jetzt, nachdem es ihm einigermaßen gelungen war, nicht wieder in den bedauernswerten Zustand davor zurückfallen. Etwas abwesend wegen seiner Gedanken hatte er fast übersehen, dass alle wieder Platz genommen hatten, aber Sarah unterstützte ihn bei seiner Rückkehr, indem sie ihn am Ärmel zupfte, worauf er sich schnell hinsetzte.

Dr. Schuster verteilte als nächstes die Unterlagen, die er mitgebracht hatte. Es war eine zusammengeheftete Sammlung aller Unternehmungen, die D.C. derzeit weltweit durchführte. Insgesamt waren es über zehn Entwicklungsprojekte, davon allein fünf in Afrika. Die meisten waren auf unmittelbare Entwicklungshilfe ausgerichtet, andere nahmen spezielle Probleme ins Visier. So zum Beispiel die Straßenkinderhilfe in Indien oder das Haus für Opfer der Kinderprostitution in Thailand. Fritz beschrieb alles sehr detailliert und gab umfassende und genaue Informationen zu den einzelnen Ländern. Man merkte, dass er überall schon selbst gewesen war, sonst hätte er die Arbeit in den einzelnen Gebieten nicht so lebensnah schildern können. Leider blieb viel zu wenig Zeit, um mit allem fertig zu werden. Gerade irgendwo in Vietnam angelangt, ging es gegen halb neun und er musste seine Zuhörer auf die nächste Woche vertrösten. Die Teilnehmer hatten den Schilderungen voll Interesse zugehört und nur gelegentlich Zwischenfragen gestellt.

Am Ende der zweieinhalb Stunden waren alle mit Informationen überfrachtet, aber auch fasziniert über die Vielfältigkeit der Projekte. Philipp bewunderte Fritz dafür, wie sehr er andere mitreißen konnte, wenngleich ihm ein gewisser Hang zur Pathetik nicht abzusprechen war. Er selbst hatte ob der interessanten Schilderungen seine verwickelten Gedanken an Sarah eine Zeit lang völlig vergessen. Am Ende kündigte Fritz noch an, was die angehenden Entwicklungshelfer an den nächsten Abenden erwarten würde. Zunächst die Beschreibung der Projekte, für die am heutigen Abend nicht genug Zeit gewesen war. Anschließend die detaillierte Darstellung des Projektes in Swasiland, die einige Abende in Anspruch nehmen würde und bei der auch mehrere vor Ort tätige Betreuer zu Wort kommen sollten. Außerdem ein Erste-Hilfe-Kurs und als Abschluss weiterführende Informationen über das Land, in dem sie tätig wurden, die dortigen Sprachen und Gebräuche. Die erste Zeit vor Ort in Swasiland würde dann auch der Einschulung und Einarbeitung gewidmet sein. Es musste also niemand Angst haben, zu sehr ins kalte Wasser geworfen zu werden. Zeitlich war es so geplant, dass der Kurs drei Monate dauern sollte, also bis Ende März. Anfang April würde dann das Abenteuer Afrika beginnen.

Nach diesem Abend hatte für alle das ungewisse Etwas, das vor ihnen lag, klarere Konturen bekommen. Fritz machte den Vorschlag, noch gemeinsam etwas trinken zu gehen. Philipp entschuldigte sich schnell mit der Ausrede, er habe noch einen Termin, allerdings nur, um nicht auch noch den Rest des Abends mit Sarah verbringen zu müssen. Wenngleich er das Problem der künftig bevor stehenden Begegnungen mit ihr irgendwie für sich selbst lösen musste, wollte er heute doch so schnell wie möglich von ihr loskommen. Der Schuss ging allerdings nach hinten los. Fast im selben Moment wie Philipp entschuldigte sich auch Sarah. Während sie dann im Eingangsbereich Mantel und Schal anzogen, fragte sie ihren wehrlos daneben stehenden Ex-Mann, ob sie ihn noch ein kleines Stück begleiten dürfe, was er nicht gut abschlagen konnte.

Als sie kurze Zeit später ins Freie traten, schlug ihnen die Kälte ohne Gnade entgegen. Im ersten Moment hatte Philipp Probleme beim Einatmen. Die Mütze, die er aufgesetzt hatte, zog er noch fester über den Kopf. Als er den Blick nach oben richtete, bemerkte er, dass es eine sternenklare Nacht war.

„Puh, ist das kalt“, sagte Sarah. Bei jedem Wort dampfte es aus ihrem Mund, was die Eiseskälte noch unterstrich. Sie trug eine hellbraune wattierte Steppjacke mit einem etwas dunkleren Schal und eine dunkelblaue Wollmütze, die sie sich wegen der Kälte ebenfalls tief ins Gesicht zog. Auf der Straße holte sie noch ein paar Wollhandschuhe aus ihren Jackentaschen und zog sie über ihre Hände.

„So ein Zufall“, begann Philipp, „da sehen wir uns jahrelang nicht, und plötzlich begegnen wir uns im Kaffeehaus und so, wie es aussieht, werden wir uns jetzt sehr oft sehen. Lustig, nicht?“

„Na, ja, im Leben passieren oft die seltsamsten Dinge“, antwortete Sarah und gab Philipp damit keinen Hinweis, ob es sich beim jetzigen Zusammentreffen wirklich um einen Zufall handelte.

„Wie geht es dir so?“ fragte Philipp, der das schweigsame Gehen offenbar schwerer aushielt als Sarah.

„Danke, es geht“, antwortete sie.

„Wie bist du gerade darauf gekommen, nach Afrika zu gehen, du warst doch nie besonders erpicht darauf, die Welt zu sehen?“ fragte er weiter.

„Du hast ja gehört, was ich gesagt habe, jemand hat mich darauf gebracht und da mich hier nichts hält, war es eigentlich ganz naheliegend, oder glaubst du das etwa nicht?“, erwiderte Sarah.

„Doch, doch, es ist nur so komisch, dass wir uns so lange nicht mehr gesehen haben und jetzt laufen wir uns praktisch dauernd über den Weg“ bemerkte Philipp.

„Jetzt übertreib‘ aber nicht“, sagte Sarah, „nur weil wir uns zwei Mal gesehen haben.“ Nach einer Pause sagte sie: „Philipp, ist es dir eigentlich unangenehm, mich zu treffen?“

„Wie kommst du darauf“, fragte Philipp und tat irgendwie überrascht.

„Es kommt mir so vor“, antwortete sie.

„Ich habe nicht vergessen, was vor neun Jahren passiert ist“, sagte er.

„Weißt du überhaupt, was passiert ist?“ fragte sie.

„Ich weiß, was für mich passiert ist, und dich habe ich hundertmal gefragt, was dich dazu getrieben hat, so zu handeln, aber du hast es mir nie gesagt.“ Bei den letzten Worten war Philipp langsamer geworden, trotz der Kälte.

„Willst du es wissen?“ fragte Sarah.

„Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch irgend etwas wissen will, was damit zusammen hängt. Es ist viel Zeit vergangen, und irgendwann, sehr, sehr langsam, habe ich mit dem damaligen Geschehen abgeschlossen. Hätte ich das nicht geschafft, dann hätte ich wohl nicht normal weiter leben können. Heute weiß ich nicht, ob ich diese Büchse der Pandora, die da irgendwo in mir schlummert, wieder öffnen möchte, denn noch einmal würde ich das Ganze nicht ertragen.“ Sie waren an die Straßen- und U-Bahnhaltestelle bei der Oper gekommen, wo sich ihre Wege trennten. „Aber vielleicht ist es auch gut, dass wir uns getroffen haben und dass wir wieder reden können“, ergänzte Philipp. Er wollte noch etwas sagen, fand aber keine Worte.

„Bis bald!“, verabschiedete sich Sarah und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann ging sie die Treppe zur U-Bahn hinunter, während Philipp auf seine Straßenbahn wartete und ihr nachsah.

In dieser Nacht lag Philipp bis ein Uhr wach in seinem Bett, starrte in die Dunkelheit der Decke und dachte über den Abend nach. In seinem Herzen hatte sich eine Tür einen Spalt breit geöffnet, die er für immer verschlossen geglaubt hatte. Alles in ihm wehrte sich aber dagegen, sie auch nur ein klein wenig weiter zu öffnen, da er fürchtete, dass sich am Ende wieder nur Leid, Schmerz und Hoffnungslosigkeit dahinter verbargen.

Anele - Der Winter ist kalt in Afrika

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