Читать книгу Anele - Der Winter ist kalt in Afrika - Marian Liebknecht - Страница 8
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ОглавлениеAm nächsten Tag rief Philipp vom Büro aus gleich um halb neun morgens bei D.C., der Organisation, die er Samstag Abend beim Treffen mit Bernhard kennen gelernt hatte, an. Eine Frauenstimme meldete sich, worauf er von der Veranstaltung erzählte und angab, sich für eine Tätigkeit als Projektmitarbeiter in Afrika zu interessieren, weshalb er sich so ausführlich wie möglich über diese Arbeit und alles, was damit zu tun hatte, informieren wolle. Die Dame am anderen Ende der Leitung erklärte ihm, dafür sei Herr Dr. Schuster zuständig, der aber momentan einen Termin außer Haus habe und erst gegen Mittag komme. Da es wohl am besten sei, gleich einen Termin mit ihm zu vereinbaren, schlug sie heute 15 Uhr vor, was Philipp nach einem Blick auf seinen Terminkalender bejahte. Mit Babsi hatte er sich erst um sechs Uhr abends verabredet und es schien ihm nur von Vorteil zu sein, wenn er dann schon abschätzen konnte, ob seine Idee mit der Arbeit im Projekt überhaupt Aussicht auf Verwirklichung hatte.
Philipp hatte seinem Zimmerkollegen Thomas angekündigt, heute früher zu gehen und winkte ihm deshalb nur kurz zu, als er etwa um zwei aufstand, seinen Mantel überwarf und die Bank verließ. Beim ersten Schritt ins Freie musste er kurz blinzeln, denn nach einer Durststrecke von einigen Nebeltagen schien erstmals wieder die Sonne. Er war recht früh weggegangen, so dass ihm noch etwas Zeit für einen kleinen Umweg blieb. Deshalb beschloss er, einen Spaziergang über den Naschmarkt mit seinen vielen exotischen Ständen und Imbissbuden zu machen. In der Bank hatte er heute nichts gegessen und da sein Magen schon seit Mittag knurrte, bestellte er sich bei einer der Buden einen Salat mit Schafskäse, Weißbrot und Oliven und genoss das Ganze an einem der Tische im Stehen. Es war heute nicht so kalt wie an den letzten Tagen und er fühlte behaglich die wärmenden Sonnenstrahlen, die ihm das Gesicht vergoldeten und deren wohltuende Wirkung nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Gemüt durchdrang. Dabei übersah er fast die Zeit. Am Ende musste er die letzten Bissen hastig hinunter schlingen und sich beeilen, zum Büro von D.C. zu kommen, das noch etwa zehn Minuten entfernt war.
Zwei Minuten nach drei Uhr kam Philipp bei D.C. an. Das Büro war in einem Altbau untergebracht, einem jener Jugendstilhäuser mit ihren verspielten Ornamenten, auf die man in den inneren Bezirken Wiens fast in jeder Straße stößt. Als Philipp im fünften Stock aus dem Lift stieg, trat er in ein auffallend ungepflegtes Stiegenhaus, das einen neuen Anstrich schon vor ein paar Jahren nötig gehabt hätte. Um so überraschter war er, als am Ende eines längeren Ganges auf sein Klingeln die Tür geöffnet wurde und sich vor ihm ein sehr modernes Büro ausbreitete. Er wurde im Vorraum von einer jungen Dame empfangen.
„Guten Tag, Sie müssen Herr Engelbrecht sein, mein Name ist Artner. Wenn Sie bitte einen Moment Platz nehmen. Ich werde Herrn Dr. Schuster sagen, dass Sie da sind. Ihren Mantel können Sie dort vorne hinhängen.“
Sie zeigte auf einen hölzernen Garderobenständer, der aussah, als sei er aus einem Alt-Wiener Kaffeehaus entwendet worden und im Grunde überhaupt nicht ins Büro passte. Anschließend verschwand sie hinter einer Tür, während Philipp auf einem der Sessel Platz nahm. Das Vorzimmer war nicht sehr groß. Der Schreibtisch von Frau Artner stand direkt am Fenster, das, wie immer in diesen Altbauten, sich fast bis zur Decke erstreckte und den Raum hell und freundlich erscheinen ließ. Gegenüber vom Fenster befand sich die Tür, in der die junge Dame eben verschwunden war und daneben an der Wand drei Sessel. Auf einem davon saß Philipp. Von seinem Platz aus sah er auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite einen Gang, von dem auf beiden Seiten mehrere Türen wegführten. Nach etwa einer Minute kam Frau Artner wieder aus dem Büro und signalisierte ihm, dass er jetzt kommen könne.
Philipp musste an das Gespräch mit seinem Chef in der Bank denken, wenn auch das Thema heute erfreulicher war. Als er ins Zimmer trat, begrüßte ihn Dr. Schuster sehr freundlich. Er war um die fünfzig, hatte graues, fast weißes Haar und eine sehr einnehmende Persönlichkeit. In gewisser Weise erinnerte er Philipp an seinen Vater, besonders durch seine ruhige, aber trotzdem engagierte Art, mit der er auf die Leute zuging.
Das Gespräch verlief recht viel versprechend. Dr. Schuster fragte Philipp, ob er eine ähnliche Arbeit schon einmal gemacht habe und als dieser verneinte, wollte er die Beweggründe für seinen Wunsch nach einem Berufswechsel wissen. Philipp erzählte von der vertrackten Situation in der Bank und vom Wunsch, endlich etwas Sinnvolles in seinem Leben zu tun. Er erwähnte auch, wie sehr ihn die Veranstaltung am Samstag beeindruckt hatte. Schließlich erkundigte sich Dr. Schuster nach Philipps Ausbildung und seiner Tätigkeit in der Bank, was ihm dieser ebenfalls anschaulich darlegte.
„Wissen Sie, wir haben natürlich genaue Vorstellungen, welche beruflichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, um einen guten Betreuer bei unseren Projekten abzugeben, Voraussetzungen, die bei Ihnen durch die langjährige Praxis in ihrem bisherigen Beruf, wie ich meine, vorhanden sein dürften“, begann Dr. Schuster nach einer kurzen Pause, „aber ich habe im Laufe der Zeit eine Erfahrung gemacht, und sie bestätigt sich immer aufs Neue. Weitaus wichtiger als alle Zeugnisse und Referenzen ist, dass man es wirklich will. Das gilt im Grunde für alles im Leben, aber besonders für diese Arbeit. Sie müssen sich bewusst sein, dass es etwas vollkommen anderes ist als alles, was Sie bisher gemacht haben, und wenn sie nicht mit ihrem ganzen Herzen dahinter stehen, werden Sie scheitern. Dort unten arbeiten Sie nicht, um zu leben, die Arbeit wird der Inhalt Ihres Lebens. Ist es wirklich aus tiefster Überzeugung Ihr Wunsch, in Afrika für uns zu arbeiten?“
„Natürlich weiß ich noch nicht, was mich wirklich alles erwartet, und ich habe hier noch einiges zu regeln, aber dass ich es will, da bin ich mir völlig sicher“, sagte Philipp, etwas überrascht von dieser plötzlichen Gewissensfrage.
Dr. Schuster fuhr fort: „Ich muss Ihnen ehrlich sagen, irgendwie scheint sie uns der Himmel zu schicken. In unserem Projekt in Swasiland haben wir gerade den Plan entwickelt, ein Genossenschaftssystem aufzubauen, um den dortigen einheimischen Bauern Maschinen und Gerätschaften zur Verfügung stellen zu können. Außerdem sollen über diese Genossenschaft auch sogenannte Startkredite abgewickelt werden, das sind Kleinkredite an Personen, die sich mit einer eigenen Arbeit eine Existenz aufbauen wollen und dafür Anschaffungen benötigen, beispielsweise eine Nähmaschine, um Schneiderarbeiten ausführen zu können. Wenn sich dieses System bewährt, möchten wir solche Kredite in größerem Umfang vergeben, um den Leuten zu helfen, auf eigenen Beinen zu stehen. Glauben Sie, Sie könnten das organisieren?“
„Ich denke schon“, antwortete Philipp, „es ist ja ziemlich genau mein Bereich.“
„Sie bekommen natürlich eine gründliche Einschulung“, fuhr Dr. Schuster fort, „unten wären Sie die Drehscheibe für alles, was die Gründung und Abwicklung der Kredite und der Genossenschaft betrifft: Genehmigungen, Beschaffung der notwendigen Materialien, Einrichtung der Räumlichkeiten, Information und so weiter. Wenn Sie sich dafür entscheiden, werden Sie eine Erfahrung ganz sicher machen: Es gibt bei dieser Arbeit Schwierigkeiten, die sie sich in Ihren schlimmsten Träumen noch nicht ausgemalt haben.“
„Ich hoffe, Sie erwarten nicht zu viel von mir. Ich habe zwar viele Jahre Erfahrung im Kreditbereich, aber bisher habe ich so etwas noch nie völlig eigenständig aufgezogen“, bemerkte Philipp etwas verunsichert.
„Immer mit der Ruhe, Herr Engelbrecht, machen Sie sich zum jetzigen Zeitpunkt bitte keine Sorgen, ob Sie es schaffen oder nicht. Wie ich schon sagte, wichtig ist, dass Sie es wollen. Wissen Sie, ich habe schon mit sehr vielen Menschen ähnliche Gespräche geführt und einen gewissen Blick dafür entwickelt, wer geeignet ist und wer nicht.“
Er machte eine kurze Pause.
„Ich glaube nicht, dass Sie mich enttäuschen werden.“
Wieder sah er Philipp ein paar Sekunden an, bevor er weiter sprach.
„Sie haben gesagt, sie müssen noch Dinge regeln, bevor Sie beginnen könnten.“
Philipp begriff im ersten Moment nicht, dass es sich dabei um eine Frage handelte, so dass er kurz zögerte.
„Ja, dabei handelt es sich allerdings um rein Persönliches. Es wird sicher kein Hindernis sein“, sagte er schnell.
„Ich hoffe, sie verstehen das, aber es ist uns wichtig, dass Leute, die eine Schulung beginnen, dann auch dabei bleiben. Ach ja, zur Schulung habe ich Ihnen noch gar nichts gesagt. Bei uns ist es so, dass wir die Ausbildungen nach Bedarf organisieren, wenn wir genug Bewerber zusammen haben. Sie lernen alles Notwendige, was Sie über das Land wissen müssen, also politische Verhältnisse, geographische Lage, Grundzüge der Landessprache, wobei in Swasiland ohnehin jeder Englisch spricht, und noch Einiges mehr. Ein wichtiger Teil der Schulung ist natürlich eine genaue Information über das gesamte Projekt. Zusätzlich machen Sie eine Kurzausbildung in Krankenpflege und Erste Hilfe. Insgesamt dauert der Kurs drei Monate, die Veranstaltungen finden an zwei Abenden in der Woche statt.“
Die Flut an Informationen war für Philipp ein bisschen viel auf einmal. Dr. Schuster ließ sich deshalb aber nicht aus der Ruhe bringen.
„Wann die nächste Staffel beginnt, kann ich jetzt noch nicht genau sagen, aber da wir bereits vier Leute beisammen haben und vier bis fünf für einen Kurs reichen, werden wir sicher in den nächsten paar Wochen starten. Ist das für Sie möglich?“ wandte sich Dr. Schuster wieder an Philipp.
„Ja, das wäre mir recht. Eigentlich würde ich gern möglichst bald anfangen“, stellte Philipp klar.
„Jetzt wird es Sie natürlich interessieren, wie Ihr Dienstverhältnis aussieht, das Sie mit uns eingehen.“
Philipp wunderte sich, dass er darüber noch überhaupt nicht nachgedacht hatte.
„Wenn die Schulung erfolgreich verläuft, schließen wir standardmäßig Arbeitsverträge über drei Jahre. Diese Frist hat sich im Laufe der Zeit als die Sinnvollste herausgestellt, da doch sehr viele die Entwicklungshelfertätigkeit nicht ewig ausüben wollen. Auf der anderen Seite sind wir aber daran interessiert, die Leute für eine Mindestfrist an uns zu binden. Ein Abbruch der Tätigkeit vor Ablauf der Frist ist natürlich möglich, er ist aber mit finanziellen Nachteilen verbunden, wenn kein zwingender Grund ihn erfordert. Eine im Verhältnis zu den laufenden Bezügen relativ hohe Prämie kommt nämlich erst am Ende der drei Jahre zur Auszahlung, aber eben nur, wenn der Arbeitsvertrag nicht vorher beendet wurde.“
„Wie sieht es aus mit Unterkunft und Verpflegung?“ fragte Philipp.
„Das wird natürlich alles von uns im Rahmen des Arbeitsverhältnisses bereit gestellt. Sie werden sehen, die Unterkünfte sind – besonders für Afrika – nicht schlecht. Sie werden zwar nicht gerade im Hilton leben, aber es ist alles sauber und ausreichend ausgestattet. Ich weiß das, weil ich selbst gelegentlich unten bin, um mit den Projektmitarbeitern zu sprechen.“
Dr. Schuster überlegte ein paar Sekunden, was noch wichtig wäre.
„Eines noch: Sie werden als Entwicklungshelfer von uns entsandt und es kann jederzeit sein, dass Sie von einer Stelle zu einer anderen versetzt werden. Im Extremfall kann das sogar bedeuten, dass Sie in ein anderes Land wechseln. Das kommt allerdings selten vor. Ich hoffe, das ist kein Problem für Sie.“ Dr. Schuster blickte Philipp an, der verneinte.
„Etwas wird Sie vielleicht noch interessieren, nämlich die Höhe Ihres Bezuges.“
Dr. Schuster nannte Philipp einen Betrag, der zwar an seinen Verdienst in der Bank nicht herankam, aber doch über seinen schlimmsten Befürchtungen lag. Dort unten würde er ohnehin nicht viel brauchen, und die paar Hunderter, mit denen er Julia unterstützte, würden sich auch mit diesem Salär noch ausgehen.
„Keine Sorge,“ sagte Philipp aufrichtig, „mehr habe ich mir – ehrlich gesagt – ohnehin nicht erwartet.“
„Na gut.“ Dr. Schuster stand auf. „Fürs Erste wäre dann alles besprochen. Darf ich Sie noch bitten, draußen den Fragebogen auszufüllen, damit wir Ihre Daten haben. Wir werden uns dann bei Ihnen melden, sobald wir Genaues über die Schulung wissen.“
Er reichte Philipp die Hand zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Dieser nahm sich draußen noch den Fragebogen vor und beschloss danach, einen Kaffee trinken zu gehen, da es erst halb fünf war. Er wollte das eben beendete Gespräch noch einmal Revue passieren lassen und auch darüber nachdenken, was er Babsi sagen sollte, mit der er um sechs verabredet war.
Gleich gegenüber vom D.C.-Büro gab es eine nette Konditorei. Er musterte kurz das Angebot im Schaufenster und spazierte schließlich hinein. Da es – wie um diese Zeit nicht anders zu erwarten – ziemlich voll war, benötigte er eine Weile, um einen freien Platz zu finden. Schließlich machte er es sich an einem kleinen Tisch bequem, bei dem die Gefahr gering war, dass sich jemand zu ihm setzte. Während er Ausschau nach einem Ober hielt, durchfuhr es ihn plötzlich, als hätte er eine 1.000-Volt-Leitung mit bloßen Händen angefasst. An einem der Nebentische sah er ein bekanntes Gesicht. Es war Sarah, seine Ex-Frau. Sie saß zwei Tische weiter und ordnete irgendwelche Unterlagen. Im selben Moment, als er sie gesehen hatte, begann sein Herz mit doppelter Geschwindigkeit zu schlagen. Er überlegte kurz, ob er versuchen sollte, unauffällig hinaus zu kommen. Aus einem Zusammentreffen mit Sarah konnte nichts Positives heraus kommen, da war er sich hundertprozentig sicher. Das hatte er auch Julia gestern gesagt. Aber im selben Moment, als er darüber nachdachte, hatte Sarah ihn auch schon gesehen und winkte freundlich herüber. Philipp verzog das Gesicht zu einem Lächeln, so unbeholfen und gekünstelt, dass es schien, als hätte er sich einen Mokkalöffel quer in den Mund geschoben. In seiner Panik wusste er nicht, was er tun sollte. Da Sarah aber bereits ihre Papiere zusammengepackt hatte und auf dem Weg zu seinem Tisch war, brauchte er sich darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.
„Hallo, Philipp, so ein Zufall, wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen. Darf ich mich zu dir setzen?“ Sarah sah so aus, wie er sie in Erinnerung hatte, vielleicht war sie etwas schmaler geworden, was ihrem fein gezeichneten Gesicht aber nur noch mehr Reiz verlieh. Philipp betrachtete ihre Sommersprossen und die kurz geschnittenen rotbraunen Haare. Seltsamer Weise hatte er für einen Moment das völlig unpassende Bedürfnis, mit seiner Hand durch ihr Haar und über ihre Wangen zu streichen, wie er es früher immer getan hatte.
„Natürlich, setz dich doch, es ist wirklich lange her. Wie geht es dir, was machst du mit den vielen Papieren da?“
Philipp vermied es, anzusprechen, dass Julia ihm von ihrem Zusammentreffen erzählt hatte. Er wollte dem Gespräch keine zu ausführlichen Themen geben und es lieber bei Belanglosigkeiten belassen.
„Danke, es geht mir gut. Ach das, die Urkunden brauche ich für etwas Bestimmtes, das ich vorhabe, nichts Besonderes.“
Philipp kannte Sarah, wie er vielleicht niemanden sonst auf der Welt kannte. Ihre leicht geröteten Ohren verrieten ihm, dass auch sie nervös war und ihre innere Unruhe überspielte.
„Hat Julia dir erzählt, dass wir uns gerade erst getroffen haben?“, fragte sie, wartete aber seine Antwort nicht ab, „wir haben wieder einmal über alles reden können, was in der Zwischenzeit passiert ist. Das hat mir richtig gut getan. Und jetzt treffe ich dich hier, nicht einmal eine Woche später.“
Irgendwie hatte Philipp das Gefühl, dass Sarah den Tränen nahe war.
„Ja, das ist wirklich ein Zufall. Julia hat mir von eurem Zusammentreffen erzählt. Ich sehe sie jetzt auch nicht mehr so oft, höchstens alle ein, zwei Monate schneit sie bei mir herein, und dann erzählen wir uns die Neuigkeiten, die sich in der Zwischenzeit angesammelt haben. Am Sonntag ist sie wieder einmal vorbei gekommen“, erwiderte er.
„Wir haben auch ausgemacht, dass wir uns in Zukunft regelmäßig sehen“, sagte Sarah, und die Mischung aus Nervosität und kindlicher Freude, mit der sie erzählte, dämpften Philipps Ablehnung, dieses seit der Scheidung nach und nach immer fester gewachsene Gefühl, das er mit Sarah verband, einfach um mit der für ihn anfangs unvorstellbaren Tatsache der Trennung leben zu können. Aber bei jedem Wort von ihr erkannte er, dass dies alles nur aufgesetzt, nur antrainiert war und, wenn er nicht aufpasste, jederzeit abhanden kommen konnte.
„Nachdem sie dich fast zehn Jahre überhaupt nicht interessiert hat.“ Die Antwort von Philipp kam von selbst, ohne dass er es wollte. Vorwürfe hatte es vor Jahren mehr als genug gegeben, im Grunde wollte er damit nicht mehr anfangen, doch jetzt war es nun einmal heraußen.
„Woher willst du das wissen? Woher willst du wissen, was bei mir in den letzten Jahren los war. Kannst du noch immer mit nichts anderem kommen als mit solchen Vorhaltungen. Davon habe ich schon genug gehört, was soll das Ganze jetzt für einen Sinn haben. Ist noch nicht genug Zeit seit damals vergangen?“
Philipp wusste, dass sie im Grunde Recht hatte und konnte darauf nichts sagen. Er verfluchte insgeheim nur den Teufel, der ihm die Idee zugeflüstert hatte, in dieses Kaffeehaus zu gehen.
„Ich hatte gehofft, wenn wir uns wiedersehen, dass wir in Ruhe und mit ausreichendem Abstand über alles reden können. Ich habe das Bedürfnis, dir einiges zu erklären, ich glaube, das bin ich dir schuldig“, sagte Sarah, indem sie ignorierte, dass er keine Antworten auf ihre Fragen gab.
„Kannst du mir sagen, warum du dieses Bedürfnis nicht schon vor neun Jahren gehabt hast? Ich habe damals lange genug auf Erklärungen gewartet, doch es kam kein Wort. Jetzt, weiß Gott, warum, sind wir dir wieder gut genug und plötzlich fällt dir ein, dass du mir eine Erklärung schuldest. Aber da spiele ich nicht mehr mit, dafür ist es zu spät.“ Philipp konnte nicht anders. Diese Worte hatten zu lange darauf gewartet, gesagt zu werden, als dass er sie jetzt zurückhalten konnte, auch wenn er im Moment, als er sie sagte, wusste, dass er sie vielleicht bereuen würde.
Sarah sagte nichts und sah ihn nur an. Mit diesem Maß an Ablehnung hatte sie nach so vielen Jahren offenbar nicht gerechnet. Sie bewahrte aber ihre Fassung und ließ sich nichts anmerken. Diese Eigenschaft, niemals die Kontrolle zu verlieren, war ihr immer schon eigen gewesen und Philipp hatte sich oft genug daran die Zähne ausgebissen. Aber an bestimmten Merkmalen, zum Beispiel ihren Ohren, die sich jetzt wieder rötlich färbten, wusste er, wie es bei ihr innen aussah. ‚Sie hat die falsche Frisur“, dachte er bei sich, ,sie sollte sich die Ohren nicht ausschneiden lassen‘.
„Philipp, ich weiß, dass du manches, was damals passiert ist, nicht begreifst, aber um zu reden, ist es nie zu spät und ich bin überzeugt, dass es für uns beide wichtig wäre. Es gibt einiges, was ich dir damals nicht sagen konnte, vielleicht, weil mir selbst Vieles nicht klar war. Wenn du es weißt, kannst du mich aber vielleicht nachträglich verstehen.“
„Weißt du eigentlich, was ich drum gegeben hätte, wenn du mir damals so etwas gesagt hättest. Wenn es dein Wunsch gewesen wäre, hätten wir tagelang diskutieren können und ich hätte versucht, zu verstehen, warum du so handelst und wir hätten es vielleicht gemeinsam gelöst und wären zusammen geblieben. Aber was soll es jetzt bringen. Irgendwann habe ich einen Schlussstrich unter das Ganze gezogen und ehrlich gesagt bin ich froh, dass mir das überhaupt gelungen ist. Früher hätte ich gerne alles verstanden, jetzt will ich es nicht mehr. Wenn du willst, können wir uns über das Wetter, deine letzten Einkäufe oder sonstwas unterhalten, aber über die Vergangenheit kann und will ich nicht mehr reden.“
Es war der Zorn, der aus Philipp sprach, nicht sein Herz. Und als er geendet hatte, fühlte er sich schlechter als vorher. Warum nur musste er ihr hier so unvorbereitet begegnen, warum mussten sie dieses Gespräch jetzt führen? Vielleicht wäre unter anderen Umständen manches anders gelaufen.
„Ich verstehe!“ Sarah wirkte zum erstenmal seit Beginn des Gesprächs resigniert. „Was ich sagen will, hat für dich keine Bedeutung mehr. Vielleicht hast du recht, vielleicht ist es nur für mich wichtig, für dich aber belanglos oder sogar belastend. Wahrscheinlich habe ich auch gar nicht das Recht, Verständnis von dir zu verlangen.“
Philipp wusste nicht, wie er darauf nun wieder reagieren sollte. Er kannte Sarah, wie sie bis vor neun Jahren gewesen war. Aber diese einsichtige, resignierende Sarah, die jetzt vor ihm saß, kam ihm seltsam fremd vor.
Der Ober kam an den Tisch und entband Philipp dadurch von der Verpflichtung, auf Sarahs letzte Bemerkung etwas zu erwidern. Er bestellte einen Tee und sie einen Cappuccino. Danach vermied es Philipp, den Faden des Gesprächs wieder aufzunehmen und begann, von seiner Arbeit zu sprechen und den Rationalisierungen, die gerade bei ihm in der Bank wüteten, ohne allerdings seine konkreten Pläne zu erwähnen. Sarah erzählte, dass sie längere Zeit bei einem praktischen Arzt als Sekretärin gearbeitet hatte, aber in den letzten paar Jahren habe sie sich auf ihre Füße gestellt und eine Schwesternausbildung gemacht. Seit etwa einem Jahr arbeitete sie in einem Krankenhaus, aber sie fühlte sich dort nicht so wohl, wie sie gehofft hatte.
Als der Ober die Bestellung brachte, bezahlte Philipp gleich und verabschiedete sich von Sarah zehn Minuten später wegen eines Termins, was nicht gelogen war, da ihm bis zum Treffen mit Babsi wirklich nicht mehr allzu viel Zeit blieb.
Als er ging, wandte sich Sarah noch einmal an ihn.
„Können wir uns wieder einmal sehen?“
Die Frage überraschte ihn.
„Ja, sicher, wenn du willst“, antwortete er etwas zögernd.
„Hier, ich schreibe dir meine Handynummer auf, vielleicht kannst du mir ja deine geben.“ Blitzschnell hielt sie ihm einen Zettel hin, auf den sie etwas gekritzelt hatte und reichte ihm einen zweiten, damit er es ihr gleichtun konnte.
Philipp eilte raschen Schrittes durch die mittlerweile dunklen Gassen Richtung Stephansplatz. Ganz im Gegensatz zur nachmittäglichen sonnigen Wärme war es jetzt empfindlich kalt geworden, was – neben der knappen Zeit – seine Beine zusätzlich antrieb. Obwohl noch mitten im Herbst, sandte der Winter bereits eisige Grüße und vermittelte das Gefühl, der Geruch von Schnee läge bereits in der Luft. Während er ging, war er in Gedanken noch immer beim Gespräch mit Sarah, das er nur schwer einordnen konnte. Er schwankte zwischen Zorn und Reue. Zorn darüber, dass sie jetzt tat, als ob nichts gewesen wäre, wieder Kontakt suchte, wie es Freunde tun, die sich eine Zeit lang aus den Augen verloren haben. Reue empfand er, weil er gespürt hatte, dass sie das alles nicht aus eigennützigen Motiven tat, was er nicht zuletzt daran erkannt hatte, dass es ihr selbst nicht leicht gefallen war, so auf ihn zuzugehen. Sie wollte damit offensichtlich etwas gutmachen. Diese Möglichkeit hatte er ihr aber genommen, indem er sie nicht einmal anhören wollte.
Tief in Gedanken war er mittlerweile beim Haas-Haus angekommen. Trotz der Kälte herrschte hier auf dem Stephansplatz reger Betrieb. Jede Menge Spaziergänger, in der Mehrzahl Touristen, waren rund um den Dom und am Graben unterwegs. Auch in den Cafés und Restaurants drängten sich die Massen und mitten am Platz boten mehrere Stände, vor allem Kunsthandwerk, ihre Waren feil und machten offensichtlich gute Geschäfte. Links des Eingangs vom Dom standen, wie immer, eine Hand voll Fiaker, die traditionellen Wiener Kutschen, und warteten auf Kunden. Die Kälte ließ die Pferde aus ihren Nüstern dampfen und verlieh ihnen ein geheimnisvolles Aussehen.
Philipp blickte die gotische Fassade des Doms hinauf. Von außen war er für ihn ein Anachronismus, der gehegt und gepflegt werden musste, damit er seine Anziehungskraft für Touristen aus aller Welt behielt. Das änderte sich aber stets, wenn er das Innere betrat. In der mystischen Feierlichkeit, die der Innenraum heute noch genauso wie im Mittelalter verbreitete, verloren sich derart profane Gedanken wie ein Schluck Wasser im Ozean der Ewigkeit.
Philipp überlegte einen Moment, ob sich ein kurzer Abstecher in die Kirche noch ausging, aber da es schon sechs Uhr vorbei war, wartete er lieber auf Babsi.
Zwei Minuten später stöckelte sie den Graben herauf und er winkte ihr zu, während er ihr entgegen ging. Als sie sich trafen, küssten sie sich flüchtig. Sie beschlossen, gleich in eines der Cafés hier am Platz zu gehen und hatten Glück, ohne allzu langes Warten einen Tisch zu bekommen. Philipp merkte, dass Babsi abgespannt wirkte, nicht so entschlossen und dominant wie sonst.
„Und, wie geht’s dir mit deiner Arbeit?“, fragte sie beiläufig.
„Danke, es hat sich nichts Neues ergeben, der Stand ist noch so wie gehabt“, antwortete Philipp.
„Philipp, ich möchte mit dir reden.“ Bei Babsis Worten fiel ihm wieder ein, dass er heute dasselbe geplant hatte. Aber seit der Unterhaltung mit Sarah hatte er daran überhaupt nicht mehr gedacht, obwohl er genau deswegen ins Kaffeehaus gegangen war, nämlich um sich auf die Begegnung mit Babsi vorzubereiten.
„Ja, klar, reden wir, willst du anfangen oder soll ich?“, sagte er schließlich.
„Verarsch‘ mich bitte nicht!“ Durch die Begegnung mit Sarah fiel ihm auf, wie sehr sich Babsi von ihr unterschied. Ihre unverblümte Ausdrucksweise verunsicherte ihn heute fast. Aber war nicht gerade diese direkte und manchmal beinahe rücksichtslose Offenheit gerade das gewesen, was ihm an ihr besonders imponiert hatte?
„Wieso glaubst du das?“, fragte er.
„Und hör‘ auf mit solchen dämlichen Fragen, du weißt genau, was ich meine, und du weißt auch, worüber ich heute mit dir reden will. Philipp, ich glaube nicht, dass wir zusammen bleiben sollten. Wir passen nicht zusammen, das Gespräch vor einer Woche hat mir das gezeigt. Du bist wirklich ein netter Kerl, Philipp, aber deine Einstellung zum Leben, zur Arbeit, wie naiv du dich in den wichtigsten Dingen anstellst, das ist nicht wirklich das, was ich mir von einem Mann erwarte.“
Seltsamerweise war Philipp vom Inhalt der Worte weniger überrascht als von der Art, wie sie gesagt wurden. ‚Wie vorsichtig sie sich ausdrücken kann, wenn sie sich anstrengt‘, dachte er und sagte: „Ich habe gar nicht gewusst, dass du so genaue Vorstellungen hast, was du dir von einem Mann erwartest.“
„Mir ist klar, dass das, was ich dir sage, nicht leicht einzusehen ist, und ich will auch, dass du weißt, wie sehr ich dich mag, aber zu einer Beziehung gehört meiner Ansicht nach mehr als das. Man muss zumindest in wesentlichen Dingen übereinstimmen. Wenn ein solcher Grundkonsens nicht vorhanden ist, kann eine Gemeinschaft nicht funktionieren“, sagte Babsi, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.
Durch die Behutsamkeit, die Babsi an den Tag legte, als sie ihm das aus ihrer Sicht Notwendige mitteilte, fürchtete Philipp, zu wenig Betroffenheit zu zeigen und strengte sich, so gut es ging, an, ein trauriges Gesicht zu machen. Er begriff, der einzige Grund, der für ihn diese Unterredung mit beklemmenden Gefühlen besetzt hatte, war seine Angst gewesen, Babsi zu verletzen. Nun, da er sah, dass diese Befürchtung unbegründet war, wurde er zunehmend gelöster. Wenn Babsi den Spieß umdrehte und sich von ihm trennen wollte, konnte ihm das nur recht sein. Warum sollte er dann das Spiel, so wie es lief, nicht mitspielen?
„Vielleicht hast du recht, wenn es auch schwer einzusehen ist“, sagte er, in der Hoffnung, die richtige Mischung von Betroffenheit und Einsicht zu finden. Er selbst fand sich nicht sehr überzeugend.
„Ehrlich gesagt, hatte ich bei unserem letzten Treffen das Gefühl, dass du ähnlich über unsere Beziehung denkst. Vielleicht bin ich dir ja nur damit zuvor gekommen, Schluss zu machen. Ist da was Wahres dran?“ Ganz dumm war Babsi also auch nicht.
„Ich habe mir natürlich Gedanken über uns gemacht, war mir aber nicht sicher, was ich eigentlich wollte. Vielleicht seht ihr Frauen in solchen Dingen klarer als wir. Ich weiß jetzt auch nicht einmal, ob ich traurig sein soll“, antwortete Philipp und hatte plötzlich nicht mehr das Gefühl, irgend etwas vorspielen zu müssen.
„Ich möchte, dass wir Freunde bleiben. Ich weiß, das klingt furchtbar banal, aber es ist so. Wir können uns auch öfters sehen, du brauchst ja nur anzurufen.“
Philipp blieb gar nichts anderes übrig, als einverstanden zu sein.
Der Rest des Abends verlief äußerst harmonisch, vielleicht, weil alles gesagt war, was zu sagen war. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, dachte sich Philipp auf dem Nachhauseweg, wie einfach alles doch gewesen war, so einfach, wie es eben ist, wenn nicht allzu viel Liebe den Blick verstellt.