Читать книгу Anele - Der Winter ist kalt in Afrika - Marian Liebknecht - Страница 7
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ОглавлениеFür Sonntag hatte Philipp sich vorgenommen, einmal auszuschlafen und anschließend Babsi anzurufen. Er wollte mit ihr über ihre Differenzen beim letzten Zusammentreffen reden und auch über seine Absicht, in seinem Leben einiges zu ändern. Was dabei herauskommen würde, wusste er nicht, aber er wollte unbedingt eine Klärung. Die Tatsache, dass Babsi sich nicht mehr gemeldet hatte, zeigte ihm, dass auch für sie das Gespräch beim Italiener etwas in ihrer Beziehung verändert hatte.
Am Vormittag kam ihm allerdings etwas dazwischen. Um halb zehn läutete es an der Tür und Philipp, gerade aufgestanden, ging noch halb benommen zur Sprechanlage.
„Ja, bitte. Wer ist da?“ fragte er.
„Papa, mach auf, ich bin‘s, Julia. Du klingst ja, als ob du noch geschlafen hast. Na, hätt’ ich mir ja denken können“, kam es zurück.
Es war seine Tochter, die immer dann hereinschneite, wenn er am wenigsten damit rechnete.
Nach der Scheidung seiner Ehe vor neun Jahren war die gemeinsame Tochter Julia ihm zugesprochen worden und er hatte sie auch allein erzogen, was nicht immer leicht gewesen war. Vor einem Jahr war sie volljährig geworden. Etwa sei damals lebte sie zusammen mit ihrem Freund – er hieß Walter – in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in Wien. Julia studierte Germanistik an der Uni, ein Fach, das mit dem Lehramt abschloss. Sie war sich selbst aber noch nicht darüber klar geworden, welches Ziel sie mit dem Studium verfolgte. Lehrerin zu werden, konnte sich eigentlich gar nicht vorstellen. Sicher wusste sie nur, dass sie Bücher über alles liebte und immer wieder auch Geschichten verfasste, weshalb sie sich zu diesem Studium hingezogen gefühlt hatte. Im Moment überlegte sie gerade, ihren Schwerpunkt mehr Richtung Journalismus zu verlagern.
Philipp und Julia hatten immer schon ein ganz besonderes Verhältnis zueinander gehabt. Es war seit der Zeit nach der Scheidung nie eine echte Vater-Tochter-Beziehung gewesen, sondern eher ein freundschaftliches Verhältnis, verbunden mit einer Art blindem Verständnis, das durch die Jahre, in denen sie zu zweit gelebt hatten, gewachsen war. Philipp fragte deshalb bei wichtigen Entscheidungen oft auch Julia nach ihrer Meinung, da sie ihm dadurch, dass sie ihn im Grunde in- und auswendig kannte, trotz ihrer Jugend wertvolle Tipps geben konnte. Umgekehrt war es ebenso.
Als es an der Tür läutete, hatte sich Philipp gerade einen großen, duftenden Cappuccino herunter gelassen. Seinen Kaffeeautomaten hatte er irgendwann in Italien gekauft und hütete ihn wie seinen Augapfel, da er sich einbildete, hier bei uns kein vergleichbar gutes Aroma bekommen zu können. Er schlurfte im Pyjama und mit der Kaffeetasse in der Hand zur Tür, öffnete und gab Julia einen Kuss auf die Wange.
„Hallo, was machst du denn hier? Willst du Kaffee?“, fragte er sie.
„Ja, bitte, aber viel Zeit hab‘ ich nicht. Ich bin zu Mittag mit Walter verabredet, wir treffen uns am Rathausplatz und gehen dann in irgend einen neuen Sushi-Laden, der bei der Uni eröffnet hat. Ich wollte nur mal wieder sehen, wie es dir geht.“
Nachdem Julia sich Mantel und Schuhe ausgezogen hatte, ging sie zum Kaffeeautomaten und ließ sich ebenfalls einen Cappuccino runter. Sie trug ein sehr hübsches blau-gelb gemustertes Kleid, das für die Jahreszeit etwas zu leicht wirkte, an ihr aber sehr gut aussah. Ihr Gespür für das richtige Outfit hatte sie von ihrer Mutter geerbt, die ebenfalls immer sehr modebewusst angezogen war, ohne viel Geld dafür auszugeben. Von Philipp konnte es nicht sein, der, wenn auch nicht ungepflegt aussehend, doch auf Äußerlichkeiten keinen besonderen Wert legte.
„Was machst du eigentlich um diese Zeit noch im Bett, das sieht dir doch gar nicht ähnlich“, fragte Julia.
„Ich wollte eben einmal länger schlafen, ist ja schließlich Sonntag“, erwiderte Philipp, der in Wahrheit auch deshalb das Aufstehen immer wieder hinausgezögert hatte, da er nicht wusste, wie er das Gespräch mit Babsi führen sollte.
„Aha, ganz neue Gewohnheiten. Und, wie geht’s dir so, was macht Babsi?“ Julia kannte Babsi von ein paar Anlässen, bei denen sie beide anwesend gewesen waren.
„Danke, es geht so“, antwortete Philipp.
„Wahnsinn, sind wir heute gesprächig.“ Julia kannte ihren Vater viel zu gut, um nicht schon längst erkannt zu haben, dass irgend etwas los war.
„Wo hast du eigentlich den Zucker hingegeben. Er war doch immer da im Regal.“ Sie deutete auf ein Fach neben dem Kühlschrank.
„Ist er nicht mehr dort? Dann muss er auf dem Tisch stehen. Wie geht’s dir beim Studium? Hast du die Prüfung schon gemacht, von der du mir letztes Mal solche Horror-Storys erzählt hast? Es war irgendwas wie ‚Literatur im Mittelalter’“, fragte Philipp.
„Es war ‚Alt- und mittelhochdeutsche Literatur’ und ich hab’ sie schon vor vier Monaten gemacht. Wir sehen uns offenbar zu selten. Und sagst du mir jetzt bitte, was mit dir los ist. Stimmt irgend etwas zwischen Babsi und dir nicht?“ Julia, die inzwischen den Zucker gefunden hatte, schaufelte zwei Löffel voll in Ihren Kaffee.
„Na, wenn du’s unbedingt wissen willst. So wie es aussieht, werde ich in der Firma die Arbeit, die ich bisher gemacht habe, nicht weitermachen. Was ich in Zukunft mache oder ob sie mich vielleicht ganz los werden wollen, steht noch in den Sternen. Und was Babsi angeht, der ist das alles scheißegal und ich weiß wirklich nicht, ob wir überhaupt noch irgend etwas gemeinsam haben. Es wäre leicht möglich, dass wir uns trennen. Wahrscheinlich sollte ich mit ihr darüber reden, wenn wir uns irgendwann einmal wieder sehen. Aber sonst ist alles in Ordnung.“ Wenn Philipp mit seiner Tochter redete, konnte er sich zwischendurch seinen angeborenen Sarkasmus nicht ganz verkneifen.
„Das ist alles? Aus der Wohnung fliegst du nicht und in den Knast kommst du in absehbarer Zeit auch nicht? Na, wenn’s weiter nichts ist“, sagte Julia, die in dieser Hinsicht aus dem gleichen Holz geschnitzt war.
„Ach ja, etwas habe ich vergessen, ich werde nach Afrika auswandern.“ Dadurch, dass er die Idee, die er seit gestern mit sich trug, aussprach, wenn auch auf diese nur halb und halb ernst gemeinte Art, wurde ihm erst bewusst, dass für ihn das Ganze eine reale Möglichkeit darstellte.
„Gute Idee, wollte ich auch schon lange. Afrika, Sahara, Bürgerkrieg, jede Menge Aids, klingt verlockend. Aber jetzt einmal im ernst, ist an dem Ganzen was dran, oder willst du mich heute nur verarschen?“ fragte Julia.
„Im Grunde stimmt’s. Die Idee mit Afrika habe ich erst seit gestern und sie ist noch recht vage.“ Philipp erzählte Julia von der Veranstaltung, die er gestern besucht und was für einen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte. Als er fertig war, sah er sofort, dass Julia ihn voll und ganz verstanden hatte.
„Und ist es dir wirklich ernst damit?“ fragte sie schließlich. „Glaubst du, es hält an, oder es ist nur so eine Idee, von der du zwar schnell begeistert bist, aber nach ein oder zwei Wochen sieht alles wieder ganz anders aus?“
„Ich bin sicher, dass es keine vorübergehende Idee ist. Außerdem wird sich in der Bank nichts ändern. Ich kann höchstens Wetten darüber abschließen, wie lange es dauert, bis sie mir geradeheraus sagen, dass sie mich los sein wollen. Nein, vorübergehend ist diese Situation sicher nicht. Aber was hältst du davon?“ Philipp sah Julia erwartungsvoll an.
„Ich weiß nicht, eigentlich hätte ich gedacht, ich kenne dich so gut, um zu wissen, dass du dich auf so etwas nie einlassen würdest. Aber jetzt, als du davon gesprochen hast, warst du so überzeugt, dass diese Idee das Richtige für dich wäre, dass ich dir da nichts raten möchte. Du solltest jedenfalls nichts überstürzen und in dich hineinhören. Wenn ich dich richtig verstanden habe, musst du ohnehin erst das ganze Drumherum klären. Mach das einmal, aber wenn du Bedenken bekommst, dann lass dir die Möglichkeit offen, dich anders zu entscheiden. Wenn ich es mir richtig überlege, wär‘s gar nicht so schlecht, jemanden in Afrika zu haben. Wir könnten dich ja dann besuchen kommen und dort billig Abenteuerurlaub machen.“ Plötzlich stutzte Julia, weil sie etwas vergessen zu haben schien und sagte dann: „Aber was ist mit Babsi? Willst du dich so mir nichts dir nichts von ihr trennen, was war eigentlich zwischen euch los?“
„Letztes Mal, als wir uns gesehen haben, habe ich ihr von meinen Problemen in der Bank erzählt und sie hatte dafür überhaupt kein Verständnis, mehr noch, ich habe das Gefühl gehabt, wir haben nichts mehr gemeinsam. Und ich habe bemerkt, dass es ihr genauso gegangen ist. Außerdem kann’s kein Zufall sein, dass sie seither nicht mehr angerufen hat. Aber wenigstens die Sache mit Babsi werde ich heute klären. Über eines bin ich mir sicher, mitmachen würde sie dabei nie, aber das kann ich wahrscheinlich auch nicht verlangen.“
„Und was ist, wenn du mit ihr Schluss machst und dann klappt das Ganze mit Afrika gar nicht? Dann bist du doch irgendwie der Lackierte, oder?“, fragte Julia.
„Du wirst lachen, das hab‘ ich mir auch schon gedacht, aber vielleicht gehört das zu so einer Idee. Man muss Brücken abbrechen, ohne sicher zu sein, welche neuen Wege sich am Ende eröffnen. Außerdem, in meiner Beziehung zu Babsi ist so oder so der Wurm drin, egal ob aus meinen Afrika-Ideen was wird oder nicht“, sagte Philipp und war wieder einmal überrascht, was für ähnliche Gedanken er und seine Tochter hatten.
„Aber wir reden dauernd von mir. Erzähl ein bisschen von dir! Was macht Walter?“, fragte er unvermittelt.
„Ist dir die Konversation nicht mehr angenehm oder warum schwenkst du ab? Aber, danke, es geht recht gut. Walter geht’s auch sehr gut. Ach ja, das wird dich vielleicht interessieren. Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht.“
„Wie bitte?“ Philipp traute seinen Ohren nicht. Er benötigte ein paar Augenblicke, bis er etwas sagen konnte. „Im Ernst? Das glaube ich nicht. Was soll das für einen Sinn haben, ihr kennt euch doch noch nicht so lange. Und, was hast du ihm gesagt?“
„Ah, das ist wirklich herzerwärmend, wie sehr du dich über diese Mitteilung freust. Mein Glück liegt dir ja anscheinend sehr am Herzen. Und – nur zu deiner Information – immerhin wohnen wir seit einem Jahr zusammen“, erwiderte Julia mit einer Entrüstung, an der nicht alles echt war.
„Welches Glück? Ihr könnt doch beide noch gar nicht richtig auf eigenen Beinen stehen! Hast du den Antrag vielleicht angenommen?“ Philipp hatte Walter, wie alle bisherigen Freunde Julias, nur als Durchgangsstadium angesehen. Die Tatsache, dass die beiden nun schon einige Zeit zusammen lebten, hatte daran nichts geändert, weshalb die Nachricht vom Heiratsantrag seine Gefühle eingermaßen außer Kontrolle geraten ließ. Sein verletzender Ton fiel ihm in diesem Moment gar nicht auf.
„Woher willst du wissen, dass ich es nicht getan habe? Im Übrigen, was hast du eigentlich plötzlich gegen Walter, wir passen im Grunde sehr gut zusammen. Und wenn ich den Antrag nicht sofort angenommen habe, dann nur deshalb, weil es etwas zu schnell geht. Aber grundsätzlich kann ich ihn mir sehr gut als Ehegatten vorstellen. Und wenn du weiter so idiotisch daher redest, nehme ich den Antrag schon deshalb an, weil ich dir damit eins auswischen kann.“
Im Grunde konnte sich Julia selbst nicht vorstellen, Walter zum jetzigen Zeitpunkt zu heiraten und war nicht weniger über den Antrag überrascht gewesen als Philipp über ihre jetzige Mitteilung. Obgleich sie Walter sehr mochte, war sie noch so jung, es gab so Vieles in ihrem Leben, für das sie arbeitete und das sie erreichen wollte, warum sollte sie gerade jetzt etwas so Entscheidendes in ihrer Beziehung verändern? Natürlich hätte sie das ihrem Vater gegenüber niemals zugegeben. Allerdings hielt ihre eigene Einstellung in dieser Frage die Aufregung über Philipps heftige Reaktion doch einigermaßen in Grenzen.
Er aber hatte das Gefühl, etwas zu weit gegangen zu sein.
„Ich weiß, er ist ja ein ganz netter Kerl, aber du selbst hast doch immer gesagt, dass du in den nächsten zehn Jahren auf keinen Fall heiraten willst. Ich sehe keinen Grund, warum du diesen Vorsatz aufgeben solltest.“ Nach einer Pause sagte er: „Ich mach‘ mir ein Frühstück. Willst du auch was essen?“
„Was gibt’s denn?“
„Was du willst. Eier, Weißbrot, Schinken, Käse. Ich stelle alles auf den Tisch.“
Philipps Wohnung war mit ihren 65 Quadratmetern zwar nicht besonders groß, sie war aber sehr durchdacht eingeteilt. Von der Eingangstüre kam man in einen kleinen Windfang, der in einen garconniereartigen Wohn- und Küchenbereich mündete. Ein großer Esstisch in der Mitte ließ den Raum sehr gemütlich wirken. Die Kochnische war funktionell ausgestattet und mit Kühlschrank, Mikrowellenherd und einem kleinen Kochfeld genau auf die Bedürfnisse von Philipp ausgerichtet, der sich zu Hause nur Kleinigkeiten zubereitete und meistens irgendwohin ins Gasthaus essen ging. Von diesem zentralen Wohnbereich ging ein kleiner Gang weg, von dem aus man das Bad und das Schlafzimmer erreichte.
„Weißt du was“, fiel Julia plötzlich ein, „ich mach‘ uns eine Eierspeise, das hast du in der Früh immer am liebsten gehabt, daran hat sich doch nichts geändert?“ Sie stellte eine Pfanne auf den Herd, gab etwas Butter hinein und verrührte vier Eier in einem Glas. „Übrigens, ich muss dir was sagen! Ob du’s hören willst, weiß ich nicht, aber ich sag’s dir trotzdem. Ich hab‘ letzte Woche Mama getroffen. Sie ist schon die längste Zeit wieder allein. Wir sind in ein Café gegangen und haben ziemlich lange geredet. Mit ihrem Freund hat es angeblich schon sehr bald nicht mehr richtig geklappt. Sie lässt dir übrigens schöne Grüße ausrichten und mitteilen, dass sie auch dich ganz gern wieder einmal sehen würde.“
Julia blickte Philipp an, um zu sehen, wie er diese Nachricht aufnahm. Sie wusste, dass die Scheidung nach wie vor der wundeste Punkt in seinem Leben war.
„Ist das dein Ernst, sie will mich sehen? Was heißt, sie will mich sehen? Sie hätte mich die letzten acht Jahre jeden Tag sehen können, wenn sie es gewollt hätte. Aber wenn sie glaubt, ich tue jetzt so, als sei nichts passiert, dann täuscht sie sich.“ Philipp wusste selbst, dass er die Scheidung und alles, was damit zusammenhing, nie richtig verarbeitet hatte und er war sich nicht sicher, ob ihm das je gelingen würde. Für ihn war Sarah, seine Ex-Frau, die Person, die sein Leben kaputt gemacht hatte. Deshalb konnte er auch nicht begreifen, dass sie nun glauben konnte, man könne das Geschehene einfach so wegwischen.
„Du brauchst deshalb nicht gleich auszuflippen. Vielleicht sollte ich überhaupt nicht mehr kommen. Bei allem, was ich sage, drehst du gleich durch“, beschwerte sich Julia.
„Du solltest einmal mitkriegen, wie es aussieht, wenn ich wirklich durchdrehe!“, erwiderte Philipp und ergänzte: „Ehrlich gesagt, halte ich es für überhaupt keine gute Idee, wenn Sarah und ich uns sehen. Es ist zwischen uns einfach zu viel Porzellan zerschlagen worden, zumindest auf meiner Seite, als dass man sich dann treffen könnte und ein wenig Smalltalk betreibt, als ob nichts gewesen wäre. Solltest du den Kontakt mit deiner Mutter jetzt wieder intensiver pflegen, kannst du sie nächstes Mal ja fragen, was das Ganze soll.“ Philipp sagte das, weil er genau wusste, dass Julia in den letzten Jahren so gut wie keinen Kontakt zu Sarah gehabt hatte. „Ich sehe jedenfalls keinen Grund, mich mit ihr zu treffen.“ Beim letzten Satz glaubte Philipp, ein leichtes Stechen in seiner Brust zu fühlen, wie er es seit der Zeit der Scheidung nicht mehr gespürt hatte. Damals hätte er alles dafür gegeben, einmal mit Sarah vernünftig reden zu können, um die Katastrophe abzuwenden.
„Na gut, falls wir uns sehen, werde ich es ihr sagen. Aber reden könntest du doch mit ihr, oder?“
Philipp wollte dazu nichts mehr sagen. Julia nahm die noch brutzelnde Pfanne von der Herdplatte und Vater und Tochter setzten sich an den Tisch zu einem reichlichen Frühstück mit allem, was dazugehörte. Für Philipp war es eine richtige Wohltat. Julia erzählte ihm noch hundert Dinge von Walter und ihrem Studium, diesmal, ohne dass er gleich "ausflippte“.
Nachdem Julia gegangen war, blieb Philipp nachdenklich zurück. Die Mitteilung, dass Julia mit Sarah zusammen gewesen war und dass diese sich auch mit ihm treffen wollte, konnte er nicht richtig einordnen. Er legte sich aufs Bett, schloss die Augen und wie von selbst wanderten seine Gedanken zurück zu seiner Ehe mit Sarah.
Sie hatten sich sehr jung kennen gelernt. Er war neunzehn gewesen und Sarah hatte gerade ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert. Bei der Geburtstagsfeier eines Freundes waren sie einander vorgestellt worden, er war allein gekommen, sie mit irgend einem Typen, der andauernd unpassende Bemerkungen machte und um jeden Preis aufzufallen suchte. Philipp hatte Sarah, der an ihrer Begleitung offensichtlich nicht allzu viel lag, noch am selben Abend ins Herz geschlossen. Ihr helles, ungeniertes Lachen, die Art, wie sie sprach und wie sie sich bewegte, das alles fesselte ihn so unmittelbar, dass er sich Hals über Kopf in sie verliebte. Bei Sarah dauerte es zwar etwas länger, aber nach ein paar Verabredungen war für beide klar, dass sie ihre Zukunft gemeinsam gestalten wollten. Ein Jahr später heirateten sie und ein gutes halbes Jahr danach kam ihre Tochter Julia zur Welt, ein Kind, das ihr gemeinsames Glück vollkommen machte.
Nur etwas fiel Sarah damals nicht ganz so leicht, nämlich, dass sie ihre gut bezahlte Arbeit in einer Versicherung aufgeben musste. Zudem hatte sie damals gerade gute Chancen gehabt, sich in ihrer Firma wesentlich zu verbessern, und zwar sowohl was die Stellung als auch was die Bezahlung betraf. Das Kind machte diesen Ambitionen ein plötzliches Ende. Sie fand sich aber schließlich damit ab und das Leben mit Julia bot ihr genügend Ersatz für die entgangenen beruflichen Chancen. Als Julia drei Jahre als war, begann sie wieder, in geringem Umfang zu arbeiten. Sie erledigte Schreibarbeiten für einen Rechtsanwalt, womit sie einen kleinen Teil zum Familieneinkommen beisteuerte.
Je länger ihre Rolle als Mutter für sie die Hauptbeschäftigung bildete, desto deutlicher zeigte sich allerdings, dass es ihr schwer fiel, die finanzielle Abhängigkeit von Philipp, die damit verbunden war, zu ertragen. Obwohl Philipp sie diesen Umstand nicht spüren ließ, wuchsen damals die Spannungen in der Beziehung. Als Julia größer wurde, verstärkten sich Sarahs Ambitionen, aus ihrem Leben mehr zu machen. Nach etwa sieben Jahren Ehe teilte sie Philipp mit, dass sie studieren wolle. Philipp war darüber nicht erfreut, da er sich denken konnte, dass damit Stress für die ganze Familie verbunden war, aber er hatte auch nichts Grundsätzliches dagegen. Außerdem lag es nicht in seiner Natur, Sarah vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen hatte.
Sarah übte ihre Teilzeitarbeit weiter aus, während sie im Studium gute Fortschritte machte. Die ganze Situation war aber gespannter als vorher, da sie die dreifache Belastung durch die Betreuung von Julia, ihre Arbeit und das Studium immer stärker spürte. Es ergab sich immer öfter, dass sie am Abend noch weg war, um mit ihren Kommilitonen zu lernen oder eine Arbeit zu schreiben, was dazu führte, dass Philipp die Aufgabe erbte, Julia zu betreuen und zu Bett zu bringen. Die Ablenkung Sarahs von ihren häuslichen Pflichten führte in regelmäßigen Abständen zu abendlichen Streitgesprächen, bei denen sie immer weniger Verständnis dafür aufbrachte, vor allem auf ihre Mutterrolle fixiert zu werden, was Philipp nicht akzeptieren konnte, da er sich zwar seinerseits sehr um Julia kümmerte, dies aber auch von seiner Frau erwartete.
Dann passierte es, dass Sarah wieder schwanger wurde. Philipp freute sich anfangs darüber, merkte jedoch bald, dass Sarah seltsamer Weise dieses zweite Kind von Anfang an als großen Unglücksfall betrachtete. Ihm wurde klar, dass sie dieses Kind nicht haben wollte und er warf ihr Egoismus vor, erreichte damit aber nur, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und seiner Frau zusehends verschlechterte. Damals hatte er das Gefühl kennengelernt, wie es war, wenn sein Glück ihm zwischen den Fingern zerrann und es nichts gab, was er dagegen tun konnte.
Schließlich kam Sarah eines Abends nach Hause und war so müde und zerstört, dass sie kaum ansprechbar war. Von Philipp nach dem Grund gefragt, eröffnete sie ihm, dass sie ihr Baby abgetrieben hatte. Für Philipp brach damals eine Welt zusammen. Er konnte seine Frau und ihre Handlungen, die nur darauf ausgerichtet waren, ihre Ehe zu zerstören, nicht mehr verstehen. So oft er auch mit Sarah sprach, er erfuhr nichts darüber, warum sie so gehandelt hatte. Als sie schließlich die Scheidung verlangte, war dies für ihn der letzte, schwerste einer Reihe von Schlägen, die langsam, aber sicher sein Leben zerstört hatten. Das Seltsame daran war, dass er bis zum Schluss bei Sarah das unbestimmte Gefühl hatte, ihre Liebe wäre immer noch da. Um so unverständlicher erschien ihm deshalb auch ihr Handeln.
Nach der Scheidung begann für Philipp eine sehr schwere Zeit. Im beiderseitigen Einvernehmen war festgelegt worden, dass Julia bei ihm bleiben sollte. Aber nicht die Verantwortung für die Erziehung seiner Tochter war die größte Schwierigkeit für ihn, sondern seine unverminderten Gefühle für Sarah. Sie verhinderten lange, dass er wieder zu sich finden und Freude empfinden konnte. Erst langsam, nachdem er erkannt hatte, dass er nicht aufhören würde sie zu lieben, begann er zu lernen, diesen Teil seines Wesens auf die Seite zu stellen, anderes wichtiger werden zu lassen, einfach weil er anders nicht mehr weiter machen konnte. Nur auf diese Art war es ihm auch gelungen, eine neue Beziehung aufzubauen, ohne dass seine Gefühle für Sarah ihm bei jedem Schritt im Weg waren. Aber wenngleich er das alles geschafft hatte, wusste er dennoch, dass dieser Schmerz jederzeit wieder aufbrechen konnte, und genau das war geschehen, als ihm Julia heute über ihr Treffen mit Sarah erzählt hatte und über deren Wunsch, ihn zu sehen. Er fürchtete ein Zusammentreffen mit ihr, doch auf gewisse Weise sehnte er sich danach.
Das Klingeln des Telefons holte Philipp aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Er nahm den Hörer ab und Babsis Stimme drang ihm entgegen. Im ersten Moment fühlte er ein schlechtes Gewissen, da doch er sie hatte anrufen wollen. Seine Worte kamen deshalb etwas stockend, als ob er etwas zu verbergen hätte. „Hallo, Babsi, wie geht’s? Schön, dass du dich einmal meldest!“
„Wenn ich darauf warten würde, dass du es tust, würd’ ich wahrscheinlich schwarz werden. Mir geht’s ganz gut, Danke! Und wie geht’s dir?“ sagte Babsi.
„Danke, geht so. Ich hab‘ in letzter Zeit leider sehr viel zu tun gehabt, deshalb bin ich gar nicht dazu gekommen, mich bei dir zu melden. Wann sehen wir uns einmal?“ Als er sprach, hatte Philipp das Gefühl, dass er log, obwohl es, allgemein betrachtet, gar nicht so falsch war, was er sagte.
„Wenn du willst, können wir uns morgen Abend sehen. Ich habe das Gefühl, wir sollten reden!“ Diese Aussage von Babsi verwirrte Philipp. War meinte sie mit diesem eigenartigen ,Wir sollten reden’? Er war es doch, der die Beziehung in Frage stellte und sich deshalb mit ihr aussprechen wollte. Aber war es im Grunde nicht besser, wenn das Gespräch von beiden Seiten aus demselben Blickwinkel geführt wurde?
„Wenn du willst, können wir uns um sechs am Stephansplatz vor dem Haas-Haus treffen. Dann können wir noch immer entscheiden, wohin wir gehen“, sagte er nur.
„Gut, treffen wir uns um sechs. Also dann, bis morgen, tschüss.“
„Bis morgen dann, Wiedersehen, Babsi.“
Als er aufgelegt hatte, bekam Philipp Angst vor seiner eigenen Courage. Bei wichtigen Entscheidungen in seinem Leben zog er gerne den Schwanz ein, besonders dann, wenn zu erwarten war, dass dadurch die Gefühle anderer verletzt werden konnten. Es war so eine Art „Stillhalteparole“, nicht bewegen, es wird schon irgendwie vorbeigehen. Seit seiner Scheidung war es besonders schlimm geworden, damals hatte er gekämpft, ohne den Strom der Ereignisse auch nur einen Millimeter von seinem Weg abzubringen. Doch jetzt sollte es anders sein. Er schwor sich, dieses Mal der Entscheidung nicht aus dem Weg zu gehen, auch wenn es weh tat.