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1.

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Der Wecker läutete. Es war gerade halb sechs geworden. Mit einem ungelenken Griff, der das halbe Nachtkästchen leerräumte, brachte Philipp ihn zum Schweigen. Draußen war es noch dunkel. Halb im Schlaf suchte er mit seinen Fingern das Kabel, arbeitete sich langsam zum Schalter vor und schaffte es schließlich, die Nachttischlampe neben seinem Bett zum Leuchten zu bringen. Langsam setzte er sich auf. Seine Augen fühlten sich zugewachsen an wie bei einer dieser Amphibien, die in ihrem Leben noch kein Licht gesehen hatten.

Wie spät war es gestern wieder geworden? Seine Freundin Babsi hatte ihm in ihrer unverwechselbaren Art ohne Umschweife am Telefon die Tatsache hingeknallt, dass sie ihre Verabredung für den Abend wegen eines geschäftlichen Termins nicht einhalten könne und er sie heute Nachmittag anrufen solle. Es war eines jener Telefonate, bei denen sich ihm sämtliche Muskeln vom Bauchnabel abwärts verkrampften und er es doch nicht schaffte zu sagen, was er wollte, wohl weil er gar nicht wusste, was das war.

Wie immer an solchen frustrierenden Abenden hatte er sich daraufhin mit jeder Menge Chips und Bier vor den Fernseher gepflanzt, bis halb drei allen möglichen Schwachsinn angesehen und zwischendurch ziellos hin- und hergezappt. Und jetzt, nach dem Aufwachen, lag diese bleierne Schwere über seinem Schädel.

Langsam brachte er seine verklebten Augen soweit, das Zimmer ringsherum wahrzunehmen, wenngleich sein Körper die Tatsache, dass nun der Tag zu beginnen hatte, noch nicht akzeptieren wollte.

Schließlich zwang er sich, aufzustehen und setzte sich – zwischendurch lautstark gegen den Schrank krachend – Richtung Bad in Bewegung. Die lauwarme Dusche, die sich wie Lebenselexier über seinen Leib ergoss, tat ihm gut und half ihm, seine Gedanken einigermaßen zu ordnen.

In den hellen Momenten des gestrigen Abends war ihm Einiges durch den Kopf gegangen, das ihn schon länger beschäftigte. Es betraf nichts Bestimmtes, nur sein ganzes Leben. Im Moment hatte er das Gefühl, alles lief schräg, in seiner Beziehung ebenso wie in seiner Arbeit. Hier Spannungen und Frustrationen, dort Leerläufe, erstarrte Routine und das Gefühl, nur eine Nummer auf einer Liste, ein Blatt in einem Ordner zu sein.

Dem entsprechend tendierte er im Moment ganz allgemein zu ständig brodelnden Grübeleien, vor allem dann, wenn es ihm an geeigneter Ablenkung mangelte. Telefonate wie jenes mit Babsi bildeten in dieser Grundstimmung den geeigneten Katalysator, der das Fass zum Überlaufen brachte und Abende wie den gestrigen produzierte, an denen sich seine Gedanken so lange drehten, bis die nebenbei einverleibte Menge an Bier es ihm unmöglich machte, aus dem Kreisverkehr seiner krausen Überlegungen noch eine Ausfahrt zu finden.

Immer wieder verspürte Philipp in letzter Zeit die Sehnsucht, einfach auszusteigen, was immer unter diesem Begriff zu verstehen war, doch bisher hatte er noch nicht einmal den Mut gehabt, genauer darüber nachzudenken. Wohl deshalb, weil es bequemer war, einfach in seinen Gewohnheiten zu verharren, zwei- bis dreimal die Woche mit Babsi auszugehen, die Abende dazwischen vor dem Fernseher zu verbringen und sich über nichts den Kopf zerbrechen zu müssen.

Im Grunde war er nie ein Typ gewesen, der dazu tendiert, ernsthaft über sein Leben nachzudenken. Es war auch nicht seine Sache, Entscheidungen zu treffen, sie wurden üblicherweise für ihn getroffen und er nahm zähneknirschend zur Kenntnis, was das Leben für ihn bereit gehalten hatte. Anders ausgedrückt könnte man sagen, er ließ sich treiben.

Erst in den letzten Wochen gab es immer wieder diese Krisen, diese verwunschenen Stunden der einsamen Gedankenwirbel, denen letztlich nichts anderes zu Grunde lag als der Wunsch, sein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen.

An diesem Morgen blieb er länger als gewöhnlich unter der Dusche. Der behagliche Schwall heißen Wassers, der seinen die Wärme des Bettes noch vermissenden Körper hinunter lief, schien ihn nicht freigeben zu wollen. Schließlich überwand er aber den Widerstand und stieg heraus auf den kalten Fliesenboden des Badezimmers.

Zehn Minuten später verließ er in seiner Berufskleidung – Anzug, Krawatte und darüber ein Übergangsmantel – das Haus. Sobald er ins Freie trat, schlug ihm eine Kälte entgegen, mit der er zu dieser Jahreszeit noch nicht gerechnet hatte. Es war einer jener Herbsttage in Wien, an denen das Wetter einen starken Schub Richtung Winter macht und mit unerwartet frostigen Temperaturen aufwartet. Philipp atmete tief durch und genoss es, die Luft wie prickelndes Eis im Rachen und in der Lunge zu spüren, raffte aber im selben Augenblick seinen Mantel enger zusammen, da er am Körper fror.

Wie an jedem Arbeitstag schritt er zweihundert Meter die Straße entlang zur Frühbar an der Ecke. Beim Eintreten genoss er die behagliche Wärme, die ihm entgegen wallte und bestellte sich Kaffee und ein Sandwich. Während des Frühstücks ließ er seinen gestrigen Arbeitstag Revue passieren. Sein Chef hatte ihm angekündigt, heute früh mit ihm etwas besprechen zu wollen, was an sich nichts Ungewöhnliches war, allein die Art, wie er es gesagt hatte, hatte in Philipp Vorahnungen geweckt, von denen er nicht wusste, ob er sie ernst nehmen oder zum Teufel jagen sollte. In jedem Fall hätte er die Unterredung lieber schon hinter sich gehabt.

Philipp arbeitete in seinem Job als Kreditreferent einer Bank mitten in Wien schon mehr als fünfzehn Jahre. Er prüfte die Bonität der Kreditwerber und genehmigte Kredite entweder selbst oder holte sich in Zweifelsfällen die Genehmigung seines Chefs. Der hielt sich bei seiner Entscheidung praktisch immer an das, was Philipp ihm riet. Durch die vielen Jahre, die er nach anfänglichen kleinen Karrieresprüngen nun schon dieselbe Arbeit machte, war eine Routine in ihm gewachsen, die die Arbeit zwar erleichterte, aber auch dazu führte, dass er keinerlei Herausforderung mehr darin sah. Bei normalem Fortgang der Ereignisse hatte er auch punkto Karriere kaum mehr etwas zu erwarten.

Zu allem Überfluss kursierten in der Bank Gerüchte über bevorstehende Rationalisierungsmaßnahmen, der Hauptgrund für das Magendrücken, das die heutige Besprechung in ihm hervorrief, aber auch eine der Ursachen für seine allgemein gedämpfte Laune.

Er aß den letzten Bissen seines Sandwiches, zahlte und ging wieder hinaus auf die Straße. Es war noch immer ziemlich kalt, der Atem dampfte, aber durch den Hochnebel, der sich im Herbst oft tagelang wie eine Decke über der Stadt ausbreitete, lugte da und dort bereits ein Stück blauer Himmel, was zumindest für heute Einiges an Sonne erwarten ließ.

Im Tageslicht, das langsam die Dunkelheit der Nacht verdrängte, sah man die Häuser mit ihren historischen Fassaden, die der Straße, in der Philipp lebte, den so typischen altösterreichischen Charme verlieh. Von der etwa dreihundert Meter entfernten Haltestelle brachte ihn die Straßenbahn zu seiner Bank in der Innenstadt. Obwohl die U-Bahn schneller war, liebte er es, in diesen alten, polternden Waggons zu sitzen, die in Wien noch immer eingesetzt wurden.

In der Arbeit angekommen, bedachte er seinen Zimmerkollegen mit einem kaum wahrnehmbaren Handzeichen, das dieser aus Erfahrung als Morgengruß interpretierte. Gleichzeitig entledigte er sich seines Mantels, schaltete den Computer ein und ging zum Kaffeeautomaten, wo er sich einen Cappuccino herunterließ.

Zurück am Arbeitsplatz hatte Thomas – so hieß sein Gegenüber – bereits eine Nachricht für ihn.

„Frau Ziegler hat angerufen. Der Chef wartet schon seit einer halben Stunde auf dich. Ich würd’ mir an deiner Stelle nicht mehr allzu viel Zeit lassen“, sagte er.

Philipp wunderte sich über diese seltsame Eile schon am frühen Morgen.

„Was ist denn los? Heute können sie es wohl kaum erwarten. Kann man nicht einmal seinen Kaffee in Ruhe trinken?“ Er nahm einen Schluck aus dem Pappbecher, schnappte sich einen Block samt Kugelschreiber und machte sich damit auf den Weg zu seinem Chef.

Im Vorzimmer erwartete ihn bereits Frau Ziegler, die Chefsekretärin.

„Na, schon da?“ sagte sie schnippisch, meinte es aber nicht ganz ernst.

„Wie ist er denn aufgelegt? Mir scheint, heute drehen ja alle durch.“ entgegnete Philipp.

„Irgend was ist im Busch. Keiner erzählt was, aber ich bin ja nicht blind. Übrigens, Sie werden ein bisschen warten müssen, unser Oberster ist gerade reingestürmt und es hat nicht so ausgesehen, als ob es in zwei Minuten erledigt wäre“, antwortete Frau Ziegler.

„Na, dann kann ich ja wieder gehen“, bemerkte Philipp.

„Das würd' ich mir allerdings noch mal überlegen. In der Früh, als Sie noch nicht da waren, wäre er beinahe explodiert, hat dauernd gefaselt, warum man eigentlich Termine vereinbart.“

„Aber er weiß doch, wann ich in der Früh komme“, sagte Philipp, nicht im Traum daran denkend, sich zu rechtfertigen, „Haben Sie wenigstens Kaffee? Ich hab’ nicht einmal die Zeit gehabt, meinen zu trinken, so eilig haben’s heute alle.“

„Ich werd‘ schauen, was sich machen läßt.“ Frau Ziegler verschwand Richtung Kaffeeküche und kehrte nach zwei Minuten zurück, ein Tablett mit Filterkaffee, einem Beutel Zucker und einem Kännchen Milch in den Händen. Philipp bedankte sich, schüttete Zucker und Milch in den Kaffee und nahm einen Schluck.

„Ist was Wahres an dem Gerücht, dass die bei uns mit der Heckenschere reinfahren wollen, ein paar Abteilungen einsparen oder so?“, fragte er.

„Und Sie glauben, wenn’s so wäre, wüsste ich’s?“ erwiderte Frau Ziegler, bei der man allerdings nie ganz sicher sein konnte, ob sie nicht mit etwas hinter dem Berg hielt.

„Na, als Sekretärin bekommt man ja so einiges mit“, bemerkte Philipp im Versuch, vielleicht doch etwas heraus zu bekommen.

„... und lebt davon, dass sich der Chef in jeder Hinsicht auf einen verlassen kann, besonders, was Verschwiegenheit betrifft.“ Frau Ziegler ließ sich heute auf nichts ein.

Im nächsten Moment ging die Tür auf und der Generaldirektor verließ schnellen Schrittes die Abteilung, nachdem er sich bei Frau Ziegler auf seine gezwungen freundliche Art verabschiedet hatte.

„Ist ein echter Gentleman, unser Oberster“ schwärmte sie, seine berufsmäßige Freundlichkeit für bare Münze nehmend.

Sein Chef, Erich Hoffmann, sah aus der Tür und rief: „Ist er schon da?“

Frau Ziegler nickte nur kurz und blickte zu Philipp, worauf er von Erich wahrgenommen wurde.

„Guten Morgen, Philipp, komm rein. Frau Ziegler, können wir zwei Kaffee haben, bitte, ... du trinkst doch Kaffee.“

Erichs gute Laune und sein entschlossenes Auftreten wirkten ebenso aufgesetzt wie das Benehmen des Generaldirektors. Philipp wusste, wenn er sich so gab, dann hatte es mit dem obersten Chef wieder einmal größere Auseinandersetzungen gegeben.

Erich war einer der „alten Hasen“ in der Bank, die den Betrieb von der Pike auf kennen gelernt hatten. Er wusste, wie der Laden lief und ihm konnte keiner was vormachen. Seit sieben Jahren war er Leiter der zentralen Kreditabteilung, nachdem er in diesem Bereich groß geworden war. Aber gerade weil er mit allem so verbunden war, hatte er Schwierigkeiten, mit dem derzeitigen Generaldirektor klar zu kommen, der vor eineinhalb Jahren als Quereinsteiger seinen Job angetreten und seitdem das Institut mit eiserner Hand geführt hatte. Unmittelbar mit Beginn seiner Tätigkeit hatte er das zentrale Controlling zur führenden Abteilung ausgebaut und seither waren es einzig und allein die Kennzahlen, die die Unternehmensstrategie vorgaben. Was auf Grund dessen als unrentabel entlarvt wurde, wurde gnadenlos geschleift. Erich war es bisher – vor allem auf Grund seiner Kenntnis aller Abläufe in der Bank – gelungen, die Kreditabteilung aus solchen Rationalisierungsprozessen heraus zu halten, was ihn sehr viel Substanz gekostet hatte. Hinter vorgehaltener Hand ging das Gerücht, er sei in psychiatrischer Behandlung, da er den Druck in der Firma nicht mehr aushalte. Eine seiner großen Schwächen war tatsächlich schon immer die nur unzureichend ausgebildete Fähigkeit gewesen, seinen Mitarbeitern Unangenehmes mitzuteilen und dieses auch durchzuziehen. Ein Mangel, der ihn zwar als Gutmenschen auswies, ihm selbst aber das Leben unnötig schwer machte. Er war in einer Zeit groß geworden, in der es so gut wie immer aufwärts gegangen war und niemand sich mit dem Problem zu beschäftigen gehabt hatte, was mit alteingesessenen Mitarbeitern geschehen solle, die nicht mehr gebraucht wurden.

„Danke, Philipp, dass du gekommen bist, zunächst einmal, wie geht es dir?“

„Danke, es geht.“ Durch Erichs angestrengte Freundlichkeit, die eigentlich gar nicht zu ihm passte, wuchs in Philipp das Gefühl, dass diesmal ein ganz dicker Hund auf ihn wartete und dabei schon die Zähne fletschte.

„Ich will gleich zur Sache kommen“, setzte Erich fort, „wie du vielleicht auch schon mitbekommen hast, gibt es derzeit in der Bank einige Umstellungen, die zu einer neuen Unternehmensstruktur führen sollen. Leider ist diesmal auch die Kreditabteilung ganz massiv betroffen. Eine von der Generaldirektion in Auftrag gegebene und vom Controlling gemeinsam mit einer Beraterfirma durchgeführte Analyse hat ergeben, dass bei entsprechenden Umstellungen der Abläufe, Einsatz bestimmter zusätzlicher Software und Aufgabe nicht notwendiger Prüfschritte die Kreditabteilung mit wesentlich geringerem Personaleinsatz auskommen kann. Kurz gesagt, wir können den Job auch mit zwei Drittel der Leute erledigen.“

Philipp fühlte, wie es heiß in ihm aufstieg. „Was bedeutet das?“

Erich sprach weiter: „Keine Angst, Philipp, ich habe die verbindliche Zusage des Generaldirektors, dass wir uns von keinem Mitarbeiter trennen werden. Kündigungen sind definitiv ausgeschlossen.“ So kategorisch und entschieden, wie der das sagte, hatte es eher den Anschein, dass er sich damit selbst beruhigen wollte. „Aber es wird natürlich Veränderungen geben. Es sind derzeit 53 Mitarbeiter in der Kreditabteilung. Der Endbericht der Analyse spricht davon, dass 35 Mitarbeiter für die Aufgabenerledigung genügen. Die Controlling-Abteilung hat bereits einen Entwurf ausgearbeitet, wie auf Grund dieser Ergebnisse weiter vorzugehen ist. Es wurde zunächst entschieden, welche Mitarbeiter in der Abteilung bleiben sollen. Dabei hat natürlich das Alter eine große Rolle gespielt. Da auf die verbleibenden Mitarbeiter eine ganze Reihe von Schulungsmaßnahmen warten und außerdem der ganze Bereich neu organisiert werden soll, hat man die jungen Mitarbeiter in diesem Bereich bevorzugt. Ich will dich nicht länger auf die Folter spannen, dein Tätigkeitsbereich wird sich ändern.“

Nachdem Philipp sich das Ganze bisher sprachlos angehört hatte, konnte er nicht länger an sich halten:

„Ich verstehe nicht ganz. Die Jungen, die weniger Erfahrung haben, werden in der Kreditabteilung bleiben. Ich bin jetzt schon ewig dabei, kenne alles wie meine Westentasche und soll meine Sachen packen? Ich meine, ich bin doch noch nicht fünfundfünfzig.“

„Jetzt warte doch erst einmal ab, wie es weiter geht. Was heißt überhaupt „Sachen packen“? Ich und auch die Führung weiß, was du für die Firma wert bist, aber heute werden die Entscheidungen nur noch nach den Zahlen getroffen. Mir gefällt die Entwicklung auch nicht, aber wir müssen sie akzeptieren. Sieh‘ es doch einmal so, Philipp: Du kennst unser Geschäft in allen Facetten und bist deshalb nicht nur im Kreditwesen, sondern auch in allen anderen Bereichen unseres Unternehmens enorm wertvoll. Und genau dieses Potenzial, das in dir steckt, soll genutzt werden, wahrscheinlich besser als bisher. In der Controlling-Abteilung wurde die Idee geboren, einen Pool von erfahrenen Mitarbeitern zu schaffen, die für anspruchsvolle Aufgaben herangezogen werden sollen, sozusagen eine Gruppe von Bearbeitern für besondere Angelegenheiten. Sie sollen direkt der Generaldirektion unterstellt sein. Finanziell wird sich für die Mitarbeiter, die in dieser Gruppe arbeiten, nichts ändern. Erst in einem zweiten Schritt ist eine Harmonisierung der Bezüge angedacht, um zu große Gehaltsdifferenzen innerhalb dieser Organisationseinheit zu vermeiden.“

Erichs abstraktes Geschwafel trieb bei Philipp den Puls in die Höhe. „Also ist aufs Erste nur meine bisherige Arbeit weg, das Geld verliere ich erst später. Also ganz ehrlich, Erich, kannst du das, was du hier tust, überhaupt noch vor dir selbst verantworten? Früher hast du diese Abteilung praktisch selbständig geführt. Aber seit wir unseren neuen Musterknaben da oben haben, bist du anscheinend nur noch ferngesteuerter Befehlsempfänger.“ Philipp hatte mit Erich immer schon offen gesprochen und nie mit seiner Meinung hinter dem Berg gehalten. Sie waren schließlich beide schon mehr als fünfzehn Jahre in der Bank und hatten eine Zeit lang sogar nebeneinander gearbeitet. Von seinem fast schon beleidigenden Ton war er allerdings selbst überrascht und erwartete eine scharfe Reaktion. Demgegenüber ließ ihn die Miene seines Chefs erkennen, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Fast bereute er jetzt seinen Ausbruch.

„Philipp, wir wissen beide, dass sich in der letzten Zeit bei uns die Dinge in einem Ausmaß verändert haben, das niemand für möglich gehalten hätte. Aber ich glaube, persönliche Anwürfe helfen uns in dieser Situation nicht weiter. Du weißt selbst, dass ich für die Dinge, die heute bei uns passieren, nicht verantwortlich bin und auch keine Sympathie dafür habe. Wir müssen uns aber damit abfinden, dass die Zeiten, als wir von Jahr zu Jahr größer wurden, schon lange vorbei sind. Von Osteuropa haben wir eine Zeit lang profitiert, seit der Wirtschaftskrise hat es uns nur noch viel weiter hineingerissen. Man kann über das derzeitige Management denken, was man will, Philipp, aber im Grunde versucht es nur, die Existenz der Bank zu retten.

Aber zurück zu deiner neuen Tätigkeit. Wir haben an Dezember gedacht. Ab diesem Zeitpunkt wirst du im dritten Stock arbeiten, in der derzeitigen Revisionsabteilung.“ Er hielt kurz inne, so als wolle er prüfen, welche Wirkung seine Worte auf Philipp hatten. Dieser nutzte die Pause aus.

„Was soll dieser neue Pool eigentlich machen? Im Grunde ist das Ganze doch nur eine Zwischenlagerung von Leuten, die nicht mehr gebraucht werden. Und irgendwann wird sich einer da oben fragen, wieso diese seltsamen Gestalten, die keine richtigen Aufgaben haben, eigentlich noch beschäftigt werden. Und du weißt ja wohl selbst, dass es normalerweise kein Problem ist, unerwünschte Leute weg zu kriegen, auch wenn sie noch so gute Verträge haben.“

Erich wirkte sehr nachdenklich. „Jetzt mal nicht den Teufel an die Wand. Du weißt selbst genau, dass es bei uns in mehreren Filialen Personalengpässe gibt. Außerdem gibt es auch Bereiche in der Bank, die ausgebaut werden sollen. Dann könnte es durchaus sein, dass erfahrene Leute wie du gefragt sein werden. Ich würde das Ganze nicht nur negativ sehen. Änderungen bergen auch immer Chancen in sich und wenn auf einer Seite eine Tür zugeht, tut sich auf einer anderen vielleicht wieder eine auf.“

„Also ehrlich, Erich, kannst du mir sagen, wann in den letzten beiden Jahren in unserer Bank erfahrene Leute gesucht wurden. Wir bauen doch permanent ab. Dass es die Kreditabteilung erst jetzt trifft, ist ohnehin nur dir zu verdanken, dass wissen alle. Aber bitte, erzähl‘ mir keine Märchen, oder belügst du dich auf diese Art selber?“ Erichs Versuche, die Sache in positiverem Licht darzustellen, erzielten bei Philipp die gegenteilige Wirkung.

„Na gut“, fuhr Erich fort, „ich kann dir nicht vorschreiben, wie du die Sache zu sehen hast, ich kann dir nicht einmal garantieren, dass das alles, was du jetzt befürchtest, nicht irgendwann einmal eintreten wird. Aber was ich dir garantieren kann, ist, dass derzeit keinerlei Pläne bestehen, sich von Mitarbeitern der Kreditabteilung – in welcher Form immer – zu trennen.“ Philipp war klar, dass sein Chef das keinesfalls garantieren konnte, was wusste er schon, was in den Schubladen der Generaldirektion für Szenarien ausgearbeitet wurden. Aber er billigte ihm zu, dass er in einer Art Realitätsverweigerung selbst daran glaubte. Wahrscheinlich brauchte er diesen Glauben, um das alles durchziehen zu können.

„Na gut, war’s das, oder kommt noch was?“ fragte Philipp.

„Im Wesentlichen war es das, Philipp, wir werden allerdings noch ein paar Mal reden müssen, wenn es dann an die Umsetzung geht. Irgendwann in den nächsten Tagen wird Herr Mag. Hecht vom Controlling an dich wegen des exakten Zeitplans für die Änderungen herantreten. Er ist der Leiter dieses Projekts und hat für eine geordnete Übergabe zu sorgen. Ich ersuche dich, mit ihm in jeder Weise zusammen zu arbeiten, damit alles reibungslos über die Bühne gehen kann. Außerdem wirst du in einer Übergangsphase ohnehin noch sehr stark in der Kreditabteilung mitarbeiten. Ich hoffe, dass ich wie bisher auf deine Einsatzbereitschaft zählen kann.“

„Zu viel Begeisterung würde ich mir nicht erwarten“, erwiderte Philipp.

„Ich erwarte mir, dass du deine Arbeit korrekt erledigst“, schloss Erich das Gespräch, etwas kälter und formeller, als Philipp es nach dem sehr offenen Schlagabtausch zuvor erwartet hatte, aber wie sollte er als Vorgesetzter auf die letzte Bemerkung auch reagieren.

Nach einem kurzen Gruß verließ Philipp das Zimmer, verabschiedete sich auch bei Frau Ziegler und ging zurück an seinen Schreibtisch.

An diesem Tag kam er kaum zum Arbeiten. Sein Zimmerkollege Thomas – offenbar einer jener, die in der Kreditabteilung blieben, da er noch nicht zum Gespräch eingeladen war – fragte ihn sofort nach dem Verlauf der Besprechung und Philipp hielt es für richtig, ihm zu sagen, was er wusste. Um etwa drei Uhr nachmittags machte er dann Schluss und ging durch die Innenstadt zu Fuß nach Hause, etwas, das er sehr gern tat, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte.

Anele - Der Winter ist kalt in Afrika

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