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„ … immer nur Frau
und nie mehr“ Ein ideales Paar

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St. Petersburg – Katharina II. und ihr Hof – Stellung des Großfürstenpaares – Marienthal und Paullust – Geburt Alexander Pawlowitschs – Pawlowskoje – Geburt Konstantin Pawlowitschs – Anna Juliane (Tille) von Benckendorff – Erziehung Alexanders – Joseph II. in Russland – Charakterisierung Marias (1780) – Reisepläne – Maximilian Klinger, Ludwig Heinrich Nicolay – Pockenimpfung der Söhne – Elizabeth Dimsdale

1777–1781

Als Prinzessin Dorothea nach St. Petersburg kam, war die Stadt gerade 73 Jahre alt und hatte an die 140.000 Einwohner. Sie galt als Eldorado, das Militärs, Architekten, Wissenschaftler, Kaufleute, Maler, Musiker und Schauspieler, aber auch Abenteurer, Betrüger und Kriminelle aus ganz Europa anzog. Viele Einwanderer hatten hier erstaunliche Karrieren gemacht, und auf den Straßen herrschte ein babylonisches Sprachengewirr. Wie wir jedoch von Casanova wissen, der Mitte der 1760er-Jahre neun Monate in St. Petersburg verbrachte und in der Millionenstraße beim Winterpalast wohnte, „beherrschte in Petersburg jedermann, das einfache Volk ausgenommen, die deutsche Sprache“, die er nicht verstand.1 Denn die Deutschen stellten die größte Einwanderergruppe in der multinationalen Kapitale, und im 18. Jahrhundert lebten sie vor allem im Zentrum, so dass die Stadt der jungen Württembergerin nicht allzu fremd vorgekommen sein dürfte.

Der neue Winterpalast, den der italienische Architekt Bartholomeo Rastrelli im Auftrag Elisabeth Petrownas errichtet hatte, war erst 1762 fertig geworden. Die Räume des Thronfolgers lagen zur Admiralität hin im Westflügel. Katharinas Räume waren im Ostflügel, und aus ihren Fenstern konnte die Kaiserin direkt in ihr Museum sehen, von dem ganz Europa redete. Denn die (heutige) Kleine Ermitage hatte sie direkt neben dem Palast errichten lassen. Im Sommer 1767 waren im Nordpavillon die ersten Bilder aufgehängt worden, und im Februar 1769 hatte dort der erste gesellige Abend stattgefunden. Doch erst 1775 war Jurij M. Felten, ein Petersburger Deutscher, der Rastrellis Assistent gewesen war, mit der Anlage der Galerien zu beiden Seiten des Hängenden Gartens fertig geworden. Dafür hatte er fast zehn Jahre gebraucht, was auch daran lag, dass er seit 1771 hauptsächlich mit dem Bau eines zweiten Museumsgebäudes beschäftigt war. Denn Katharina brauchte Platz für ihre Käufe. Jahrelang hatte sie in Europa Kunst en gros und en detail gekauft, und die russische Staatskasse schien unerschöpflich.2 Das zweite Gebäude, die (heutige) Alte Ermitage, wurde in Marias Ankunftsjahr 1776 fertig, und wir können annehmen, dass die kunstinteressierte junge Frau von der Sammlungs- und Bautätigkeit ihrer Schwiegermutter tief beeindruckt war.

Mitte der 1770er-Jahre war Katharina II. auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Ruhmes. Sie hatte durch die erste polnische Teilung und einen weiteren Türkenkrieg riesige Territorien und einen Zugang zum Schwarzen Meer gewonnen und den Aufstand des Kosaken Jemeljan Pugatschow, der sich für Peter III. ausgab, niedergeschlagen. Die „russische Minerva“, Beschützerin der Künste, der Philosophie und der Wissenschaften, korrespondierte mit den berühmten französischen Enzyklopädisten, mit Voltaire, dem sie den Beinamen „Semiramis des Nordens“ verdankt, mit d’Alembert, den sie vergeblich gebeten hatte, Erzieher ihres Sohnes zu werden, und mit Diderot, der sie sogar besucht hatte. Sie galt als „aufgeklärte“ Fürstin, als Herrscherin also, die ihr Reich mit „Vernunft“ regierte, indem sie die liberalen und rationalen Prinzipien der Aufklärung verwirklichte.

Die Selbstherrscherin war nun Mitte Vierzig und immer noch eine gut aussehende Frau, obwohl sie allmählich füllig wurde. Ihre Liebhaber wechselte sie alle paar Jahre und schickte sie nach Gebrauch reich beschenkt in den Ruhestand. Günstling der Kaiserin zu sein, war eine anerkannte Hofwürde.3 Seit 1774 war sie mit Grigorij A. Potjomkin liiert, den sie zum Grafen erhoben hatte – ein begabter Feldherr und Staatsmann, der einzige Mann, der ihr gewachsen war, der ihr bis an sein Lebensende diente, ihre Kriege führte und schließlich auch ihre Favoriten aussuchte. Das „Favorisat“ warf einen Schatten auf die glänzende Fassade des russischen Hofes. Familientugenden, wie sie in Mömpelgard geschätzt und gelebt wurden, waren hier nicht gefragt, wurden bestenfalls belächelt. Maria, schockiert von den Sitten und Gebräuchen bei Hofe und insbesondere von den „Verirrungen“ der Kaiserin, wusste sich nicht anders zu helfen, als ihrer Mutter ihr Leid zu klagen. Friederike Dorothea hatte Verständnis für das Leid der Tochter angesichts der „empörenden Szenen“, die sie mit ansehen musste, konnte ihr aber nur raten, „um Gotteswillen“ weiterzumachen, „wie Sie angefangen haben“.4 Das war auch deshalb nicht einfach, weil das junge Paar anfangs in den gleichen Palästen wohnte wie die Kaiserin, von den gleichen Höflingen umgeben war und von der gleichen Dienerschaft bedient und – bespitzelt wurde. Und Katharina hatte ihre Spitzel überall …

Auch für die Diplomaten waren viele Erscheinungen des russischen Hoflebens ungewohnt. „Nachlässigkeit und Spitzbüberei sind zwei Unannehmlichkeiten, denen man hier ständig und abwechselnd zum Opfer fällt“, hält der Chevalier Corberon fest.5 „Großer Luxus und wenig Moral scheinen alle Ränge zu durchdringen“, konstatiert Sir James Harris, der Ende 1777 aus Berlin nach St. Petersburg versetzt worden war, gleich zu Beginn seines Aufenthalts, „Schmeichelei und Servilität charakterisieren die untere Klasse, Anmaßung und Stolz die obere. Ein dünner, wenngleich glänzender Firnis bedeckt in beiden Fällen die ungebildetsten und einfachsten Gemüter. Ihre Vergnügungen, ihre Häuser und die Zahl ihrer Diener sind wirklich asiatisch; und was sehr komisch ist, wenngleich vielleicht sehr natürlich: Obwohl sie die Ausländer in allem imitieren (ich spreche von der höheren Klasse) und weder eigene Bräuche noch Anlagen haben, wird ein Ausländer, allgemein gesprochen, doch schlecht aufgenommen, wenn er zu ihnen kommt.“6 Die unglaubliche Eitelkeit der Herrscherin gewinne die Oberhand über ihre guten Seiten, fand der Engländer, sie glaube jeder Schmeichelei ihrer Größe und Macht.7 Ihre schlimmsten Feinde seien ihre Leidenschaften, und diese würden mit zunehmendem Alter nicht schwächer. Am Hofe gehe alles seinen gewohnten Gang: immense Verschwendung, Trägheit und der Hang, die Dinge aufzuschieben, seien typisch für jedermann.8 So etwas kannte Maria nicht. Die Konfrontation der naiven, arglosen Siebzehnjährigen aus der südwestdeutschen Provinz mit dieser Realität kann nur schockierend gewesen sein. Prunk und Glanz mögen ihr gefallen haben, aber wie konnte sie diese kaiserlich-liederliche Schwiegermutter ehren und achten, wozu sie verpflichtet war? Wie die Favoriten und die Speichellecker ertragen und wie ihre Abscheu verbergen? Wie hat sie es geschafft, ständig auf der Hut zu sein? Wie konnte sie sich aus den Intrigen der Hofcliquen heraushalten? Die Fragen lassen nur eine Antwort zu: Die ersten Jahre in St. Petersburg müssen für Maria eine Schule der Vorsicht und der Selbstbeherrschung, der Anpassung und – der Verstellung gewesen sein.9 In dieser Umgebung erwachsen zu werden, Haltung zu bewahren und sich zu behaupten, war nicht einfach. Das Theatralische, Gekünstelte, das vielen Besuchern später an Maria auffiel, könnte hier seine Ursache haben.

Auch Paul verabscheute den aufwändigen Lebensstil und die Favoriten seiner Mutter, die sich erlaubten, ihn und seine Frau herablassend zu behandeln oder gar zu übersehen. Er billigte weder Katharinas kriegerische Außenpolitik noch ihre territorialen Erwerbungen und hatte andere Vorstellungen von der Armee und vom Staat, die er auch zu Papier brachte.10 Bereits als Zwanzigjähriger hatte er vorgeschlagen, Angriffskriege zu ächten und Armeen nur zu Verteidigungszwecken zu unterhalten. Unter dem Einfluss des Grafen Panin, seines ehemaligen Erziehers, der auch Katharinas Chefdiplomat und der Architekt des „Nordischen Systems“ war, hatte er konstitutionelle Neigungen entwickelt.11 Doch seine Ansichten interessierten niemanden, und Katharina fand sie „dumm“.

Hat Maria gewusst, dass Pauls Herkunft umstritten war? Angeblich war nicht Peter III. sein Vater, sondern ein gewisser Sergej W. Saltykow, der erste Liebhaber seiner Mutter. Pauls Urenkel, der angesehene Historiker Großfürst Nikolaj Michajlowitsch, meinte freilich, Paul habe Peter III., seinem offiziellen Vater, so ähnlich gesehen, dass kein Zweifel an dessen Vaterschaft bestehen könne. Doch auch Peter III. hatte den Sohn auf Distanz gehalten, eine Wunde, die ebenfalls nicht verheilt war. Natürlich hat Maria die Unsicherheit ihres Mannes schnell erkannt, und natürlich setzte sie in ihrer romantisch-sentimentalen Vorstellung von der Ehe alles daran, ihm eine Stütze zu sein, zumal er nur wenige Vertraute hatte. Das war sicher ein Grund dafür, dass er sich eng an seine Frau anschloss. Und das fiel auf. „Der Großfürst und die Großfürstin leben bestens miteinander und liefern ein Beispiel, das sie weder geboten bekommen noch befolgen lassen können“, schreibt James Harris Anfang 1778 seinem Kollegen in Den Haag.12

Maria war auch schnell klar geworden, dass Katharina ihren Sohn nicht auf dem Thron sehen wollte, doch eingedenk des Schicksals der seligen Natalja Alexejewna und der Ermahnungen des Großonkels in Berlin nahm sie die Dinge hin, wie sie waren, und arrangierte sich mit der Schwiegermutter. Jedenfalls schrieben die beiden sich liebenswürdige Briefe. Doch als Maria im April 1777 merkte, dass sie schwanger war, wagte sie zunächst nicht, Katharina zu informieren. Schließlich klagte sie Paul, dass die Kaiserin sie ständig tadle, weil „ich ihr nichts über meine Gesundheit sage“, und hartnäckig verlange, dass „ich ihr in dieser Angelegenheit etwas sage“. Ob er ihr erlaube, ihr diese Vermutung unter dem Vorbehalt mitzuteilen, dass sie noch nicht sicher sei? „Ich habe Angst, dass sie es, wenn wir zögern, von anderen erfährt.“13 Aber dann war es wohl doch Paul, der seiner Mutter mitteilte, dass sie Großmutter werden würde.

Den Sommer verbrachte das junge Paar in Zarskoje Selo, wo Etikette und Zeremoniell traditionell weniger streng waren als in St. Petersburg. Anfang September kehrte der Hof in den Winterpalast zurück. Maria war traurig. „Ich gestehe Ihnen“, schreibt sie dem Grafen Panin, der auch ihr Vertrauter geworden war und ihr vermutlich das Einmaleins der russischen Politik beigebracht hat, „ich verlasse Zarskoje Selo mit dem lebhaftesten Gefühl des Bedauerns. Die Luft der Freiheit, die man hier atmet, hat mir einen Nutzen gebracht, den ich nicht zu beschreiben vermag: Er hat auch meinem vergötterten Mann in physischer und moralischer Hinsicht Nutzen gebracht. Und wir verlassen all das, um uns für acht Monate in der Stadt einzuschließen. Sie wissen, wie eingeengt wir dort sind […] Natürlich liebe ich unsere schöne Stadt Petersburg ganz außerordentlich, und ich würde dort genauso gern leben wie hier, wenn wir dort wenigstens ein bisschen mehr das tun könnten, was wir möchten; aber Sie wissen besser als ich, wie es ist.

Bedauern Sie mich nur, lieber Graf: Sie wissen, was mich im Dezember erwartet. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe große Angst vor dieser Zeit, und ich könnte nicht erklären, warum. Sie fragen mich, ob ich Angst habe zu sterben? Nein, denn ich bin gut gebaut, ich bin gesund, wie es gesünder nicht geht, und ich bin kräftig. Diese drei Bedingungen erlauben mir, auf die glücklichste Geburt zu hoffen. Also habe ich davor keine Angst, aber wovor dann? […] Schelten Sie mich, lieber Graf, ich verdiene das, ich fühle, dass ich mich lächerlich mache, aber ich zeige mich Ihnen immer als diejenige, die ich in Wirklichkeit bin. Leider kann ich nur mit meinem lieben Großfürsten und mit Ihnen so offen sprechen; deshalb unterwerfe ich mich ganz Ihrem Urteil. Ach, wie Sie mich tadeln werden, ich sterbe im Voraus vor Angst. Gott sei Dank, der Großfürst ist vollkommen gesund und in bester Laune, aber er hat genauso viel Angst vor dem Winter wie ich. Das betrübt mich noch mehr, und wenn er mir von seinen Befürchtungen spricht, versuche ich, meine Unruhe zu verbergen und ihm alles in rosigen Farben zu schildern.“14

Wir wissen nicht, ob Marias Ängste in den folgenden Wochen geringer wurden. „Schreiben Sie mir oft, mein Engel“, bittet sie Lanele im November, „ich brauche ein wenig Zerstreuung.“15 Vier Wochen später zerschlug sich ihre Hoffnung, in St. Petersburg ein ebenso trautes Familienleben wie in Mömpelgard führen zu können. Am 12./23. Dezember 1777 brachte sie im Winterpalast ihren ersten Sohn zur Welt. Die Freude war riesig, währte jedoch nicht lange. Denn Katharina verfuhr mit dem Jungen genauso, wie einst die Kaiserin Elisabeth mit dem kleinen Paul verfahren war: Sie nahm ihn den Eltern einfach weg, weil sie fand, diese seien für die Erziehung des künftigen Kaisers ungeeignet. Dabei wusste Maria sehr gut, wie man mit Kindern umgeht. Schließlich stammte sie aus einer kinderreichen Familie und hatte ihre jüngeren Geschwister miterzogen. Nun wurde ihr völlig unerwartet genau das verwehrt, wonach sie gestrebt hatte und worin sie ihre Aufgabe im Leben sah: Mutterschaft, Kindererziehung und Familienglück. Sie war zutiefst verletzt.

Damit war das Einvernehmen mit der Schwiegermutter abrupt zu Ende. Maria hatte nun auch erfahren, dass Katharina II. zu allem fähig war, und es gab keine Instanz, an die sie sich um Hilfe hätte wenden können. Tränen und Flehen nützten nichts. Die Kaiserin aber, die eine schlechte Mutter gewesen war, wollte nun eine gute Großmutter sein. „Kennen Sie Herrn Alexander?“ fragt sie Grimm. „Das ist bestimmt nicht Alexander der Große, sondern der ganz kleine Alexander, der am 12. dieses Monats um 10.45 Uhr morgens geboren wurde. Das soll natürlich heißen, dass die Großfürstin einen Sohn geboren hat, der zu Ehren des Hl. Alexander Newskij den prächtigen Namen Alexander erhalten hat und den ich selbst Herr Alexander rufe […].“16 Natürlich hatte sie den Namen ausgewählt, und natürlich war der Name Programm: Dieser Kleine würde einmal ein großer Herrscher werden!

Noch an Alexanders Geburtstag wurden die Eltern mit einem großzügigen Geschenk belohnt: Sie erhielten 362 Desjatinen Kronland am Flüsschen Slawjanka, etwa 5 Werst südöstlich von Zarskoje Selo – das Terrain für den Bau einer eigenen Residenz, die zunächst „Pawlowskoje“I genannt wurde. Auf dem Gelände, das bis zum Ende des Jahrhunderts auf knapp 900 Desjatinen erweitert wurde, lagen außer den Dörfern Linna und Kusnezy mit insgesamt 117 Seelen beiderlei Geschlechts zwei einfach eingerichtete Blockhäuser namens „Krik“ und „Krak“, die vornehmlich von den kaiserlichen Jagdgesellschaften genutzt wurden. Nun kamen „Marienthal“ und „Paullust“ hinzu, das „Häuschen Seiner Hoheit“ und die „Datscha Ihrer Hoheit“, sog. „Lusthäuser“, die sich im Abstand von einem Kilometer auf den Hügeln an den Ufern der Slawjanka erhoben.

Dann erschienen die ersten Pavillons. Bereits 1780 weist ein Plan von „Pawlowskoje“ ganz in der Nähe von „Paullust“ die Orangerie, den Chinesischen Pavillon, das Alte Chalet und die Einsiedlerhütte aus, lauter Bauten, die Maria an Étupes erinnern sollten.17 Von der planmäßigen Anlage eines englischen Landschaftsparks konnte in diesen Jahren freilich noch keine Rede sein.

Die Feierlichkeiten zu Ehren des Neugeborenen dauerten bis zum Beginn der Fastenzeit. Katharina war über die Geburt des Enkels so erfreut, dass sie Marias Vater, dem Herzog Friedrich Eugen, dessen Finanznöte nicht geringer geworden waren, eine jährliche Pension aussetzte. Im Januar 1778 übersandte die Herzogin ihrem ersten Enkel die Büsten Voltaires und Rousseaus. „Jeder dieser beiden großen Männer hat seine hervorragenden Verdienste“, schreibt Friederike Dorothea ihrer fernen Tochter, „der letztere ist besonders achtungswürdig.“18 Katharina II. war von dem Geschenk nicht angetan. Denn anders als die Mömpelgarder Großmutter konnte die Petersburger Großmutter den tugendhaften, sentimentalen und lyrischen Aspekten der Rousseau’schen Lehre und der freien Entfaltung der Persönlichkeit, die dieser „Pädagoge“ als Erziehungsideal propagierte, nichts abgewinnen. Erziehung durch die Eltern in engem Kontakt mit der Natur? Priorität der moralischen vor der intellektuellen Bildung? Nein.19 Den Einfluss des Emile fand Katharina verderblich, den Import des Buches hatte sie gleich nach Erscheinen verboten.

Anders als Voltaire, der liberale Monarchist, der sich wie viele seiner Kollegen mit dem aufgeklärten Absolutismus arrangiert hatte, war Rousseau Republikaner, ein Freund Polens und nach eigenem Bekunden Friedrich II. gegenüber ein „Feind der Könige“. Katharina hasste den „Bürger von Genf“, was sie nicht davon abhielt, später selbst eine Büste Jean-Jacques’ zu erwerben.

Natürlich wollte sie Alexander die bestmögliche Erziehung geben, zumal sie in ihm vom ersten Tag an ihren Nachfolger sah. Ihrer Korrespondenz mit Grimm können wir entnehmen, dass sich der Kleine bestens entwickelte. Fast ein Wunderkind. Mindestens einmal im Monat beschrieb die kaiserliche Großmutter hingerissen die Fortschritte des Jungen, wobei sie so tat, als sei sie die Mutter. Die Eltern des Jungen tauchen in den Briefen selten auf, und wenn Katharina sie erwähnt, dann nur geringschätzig als Monsieur und Madame „de Secondat“, Herr und Frau „von Zweitrangig“, die nur stören.

Die Geburt eines Stammhalters änderte denn auch nichts an der Stellung des Thronfolgerpaares bei Hofe. Paul und Maria durften zwar dreimal in der Woche bei der Kaiserin speisen, ihre Bälle mit einem Menuett eröffnen und zu späterer Stunde an ihrem Kartenspiel, Macao, Boston oder Whist, teilnehmen, doch sie blieben Statisten. Maria fiel allgemein durch ihre Zurückhaltung auf. Sie schien nur um das Glück ihres Mannes besorgt zu sein und keinerlei Interesse an politischem Einfluss zu haben. In einer vielzitierten Depesche des Chevalier de Corberon heißt es: „Ihr Verstand und ihr Charakter sind nicht von der Art, dass sie sich in der Stellung, die sie einnimmt, entwickeln. Ein begrenzter Umfang von Ideen und Kenntnissen wird sie immer in der Mittelmäßigkeit zurückhalten, und nichts ihrerseits verrät, was schärfere Beobachter für politisches Talent halten würden. Ob Prinzessin von Württemberg, Großfürstin oder Kaiserin, sie wird immer nur Frau sein und nie mehr.“20 Im Herbst 1778 merkte Maria, dass sie wieder schwanger war. Sie schien glücklich zu sein, und Paul hatte sich zu seinem Vorteil verändert. „Da der Charakter der gegenwärtigen Großfürstin das genaue Gegenteil von dem der verstorbenen ist, erscheint der Großfürst in einem ganz anderen Licht“, stellt James Harris jedenfalls gegen Ende seines ersten Dienstjahres in St. Petersburg fest. „Sie ist sanft, wohlerzogen und durchdrungen von einem äußerst strengen Begriff der ehelichen Pflichten. Er ist sehr umgänglich und fröhlich geworden und zeigt einen eigenen Willen. Sie verdient seine Anhänglichkeit durch ihr gefälliges und aufmerksames Benehmen, und er hat sie sehr gern. Sie sind gegenwärtig vollkommen glücklich miteinander, aber ich fürchte, ihr Glück kann nicht von Dauer sein, an einem Hof, der so prinzipienlos und so eigenartig zusammengesetzt ist wie dieser. Er ist von einer lebhaften Ungezwungenheit, die der Dame, die er anspricht, manchmal schmeichelt; und sie muss über ein sehr ungewöhnliches Maß an Entschlossenheit und Rechtschaffenheit verfügen, um den vielen Schlingen auszuweichen, die man ihr in den Weg legen wird und denen bisher keine einzige Kaiserin dieser Herrschaftsgebiete entkommen ist.“21 Kein Zweifel, Mr. Harris war beeindruckt von der jungen Frau. Er fand ihr Verhalten klüger und vorsichtiger als das Verhalten ihres Mannes, der immer zeigte, wie sehr ihn die Geringschätzung der Favoriten verletzte und ärgerte, und der doch nicht wagte, sich dagegen zu wehren.22

Die zweite Schwangerschaft verlief ganz normal, aber Maria hatte Angst vor der Geburt „und schrieb es uns allen“, notiert Madame d’Oberkirch.23 Doch dann war die Entbindung leicht und schnell. Am 8. Mai 1779 n. St. meldet Katharina ihrem Brieffreund Grimm: „Heute Morgen um 9 Uhr hat die Großfürstin einen zweiten Sohn geboren, und allen geht es gut, mir auch; aber ich bin sehr müde, also wenig geneigt zu schreiben […].“24 Den Neugeborenen habe sie Konstantin genannt, schreibt sie ihm zehn Tage später: „Da ist er also, Konstantin, so groß wie eine Faust; und da bin ich nun mit Alexander zur Rechten und Konstantin zur Linken. […] Doch dieser ist empfindlicher als sein älterer Bruder, kaum kommt er mit kalter Luft in Berührung, versteckt er seine Nase auch schon in seinen Windeln, er will es warm haben […].“25 Sie nahm auch Konstantin zu sich, fragte sich aber, ob er durchkommen werde. „Ich baue nicht allzu sehr auf diesen Herrn Konstantin […]“, schreibt sie Grimm wie immer auf Französisch. „Das ist ein sehr schwaches Wesen, ein Schreihals, ein Griesgram, der sieht nirgends hin, der meidet das Licht und versteckt seine Nase in seinen Windeln, um der Luft auszuweichen; wenn er am Leben bleibt, wäre ich sehr erstaunt.“26 Hingegen sei sie mit dem Älteren sehr zufrieden. „[…] wir halten ihn schlecht und recht; was ihm und Andern schaden kann, wird nicht zugelassen; im Übrigen tut er, was er will; daher ist er sehr aufgeräumt und gesund; er liebt auch freundliche Gesichter, und ihm ist für nichts bang, bittet, wenn er was haben will, und dankt wenn er es bekommt; vor anderthalb Jahr ist’s wohl genug“, fügt sie auf Deutsch hinzu.27

Auch den Namen des zweiten Enkels hatte Katharina mit Bedacht gewählt. Er sollte signalisieren, dass sie die Türken aus Europa und Konstantinopel zu vertreiben gedachte, um anschließend den griechischen Staat wieder herzustellen, der 1453 unter Konstantin Paleolog untergegangen war. Das war das „griechische Projekt“, eine Idee Potjomkins. Die Medaille, die Katharina aus Anlass der Geburt des zweiten Enkels prägen ließ, zeigt auf der Rückseite denn auch die Hagia Sophia, die seit 1453 Moschee war, mit einem Kreuz. Konstantin bekam eine griechische Amme, die „schön wie der Tag“ war und Helena hieß, aber einen „so schrecklichen Lärm“ machte, dass sie nach fünf Tagen wieder entlassen wurde.28 Der Kleine lernte trotzdem Griechisch und soll es fließend gesprochen haben.

Das „griechische Projekt“ setzte eine Annäherung an Österreich voraus, denn ohne Wien war eine Neuordnung der Verhältnisse auf dem Balkan unmöglich. Das wusste natürlich auch Friedrich II., dem Paul die Geburt Konstantins „als dem Urheber des Glückes, das ich mit Seiner wunderbaren Nichte genieße“ angezeigt hatte.29 Der König gratuliert dem stolzen Vater sogleich zur Entstehung „einer Rasse von Helden, die mit der Zeit das Glück Russlands und die Bewunderung Europas ausmachen werden.“30 In seinem Glückwunschschreiben an Maria nennt er die „Nachfolge des kaiserlichen Hauses in Russland solide etabliert“, verlangt aber im nächsten Brief von ihr, die kaiserliche Familie schon bald weiter zu vergrößern und auf den Spuren ihrer Mutter zu wandeln: „[…] so warten wir darauf, dass Sie ihr noch elf kleine Sprösslinge schenken, und ich versichere Ihnen, dass ich mich schon im Voraus darauf freue.“31 Der Württemberger Verwandtschaft wurde die frohe Botschaft von Oberstleutnant Christoph von Benckendorff, Pauls Adjutant, überbracht. Der 30-jährige Deutschbalte aus Estland war noch Junggeselle und nicht ohne Bedacht für den Auftrag ausgewählt worden. Denn in Étupes lebte immer noch Tille, die gute Freundin, die ebenfalls noch unverheiratet war. Um sie nach St. Petersburg zu holen, scheint Maria dem Adjutanten nahegelegt zu haben, sich um Anna Juliane Schilling von Cannstatt zu bemühen. Die beiden heirateten im August 1780 in Stuttgart.

Konstantin blieb am Leben, doch das Hauptaugenmerk der kaiserlichen Großmutter galt ihrem erstgeborenen Enkel, dem Erben, der „keine hübsche Puppe“ werden sollte.32 „[…] ich mache einen wunderbaren Kleinen aus ihm“, versichert sie Grimm. „Es ist erstaunlich, dass dieses Kind, das noch nicht sprechen gelernt hat, mit zwanzig Monaten Kenntnisse hat, die das Wissen jedes Dreijährigen übertreffen. Großmama macht aus ihm, was sie will. Oh, er wird liebenswürdig sein; das wird niemand bestreiten: Wie fröhlich und gutmütig er ist, schon sucht er zu gefallen. Adieu. Ich muss jetzt mit ihm spielen.“33 Wir können Katharina wohl zugute halten, dass sie an Alexander wieder gutmachen wollte, was sie bei Paul versäumt hatte. Doch durch den Ausschluss der Eltern von der Erziehung ihres Sohnes und ihre ständige Herabsetzung machte sie einen der größten Fehler ihres Lebens. Infolge ihrer Erziehung wuchs der begabte Knabe, hin und her gerissen zwischen Großmutter und Eltern und gezwungen, beiden zu gefallen, zu einem falschen, entscheidungsschwachen Mann heran, dessen Heuchelei und Prinzipienlosigkeit viele Zeitgenossen beschrieben haben.34

Doch das konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen. James Harris, mittlerweile anderthalb Jahre in St. Petersburg auf Posten, musste kurz nach Konstantins Geburt einem neuen Dienstherrn Bericht erstatten und schildert Paul nun als einen Mann von „angeborener Schüchternheit“ und „launischer Wesensart“, dem er nicht zutraute, dermaleinst „dieses riesige unruhige Reich“ zu regieren. Maria aber charakterisiert er als eine Frau von „ausgeprägter Tugendhaftigkeit“ und attestiert ihr eine „vernünftige Haltung“. Doch diese Qualitäten, Tugend und Vernunft, habe bisher noch keine Kaiserin von Russland mit ins Grab genommen. Der entscheidende Augenblick für Maria werde kommen, „wenn ihr Mann den Thron besteigt oder wenn er jene ehelichen Verpflichtungen verletzt, die er jetzt mit größter Strenge einhält“.35

Ende September 1779 kam Friedrich Wilhelm („Fritz“) von Württemberg seine Schwester besuchen. Maria war glücklich über das Wiedersehen mit ihrem ältesten Bruder, der noch in den Diensten des preußischen Königs stand, auch wenn der Eindruck, den Fritz in St. Petersburg hinterließ, nicht gerade überwältigend war. „[…] eine dicke Masse, und das ist alles […]“, schreibt Katharina an Grimm.36 Der Prinz studierte die örtlichen Verwaltungs- und Militäreinrichtungen und verbrachte viel Zeit bei Schwester und Schwager, die nicht ahnten, dass sie seinetwegen noch viel Ärger bekommen würden. Er blieb bis Februar 1780 und hat noch die Bekanntschaft des neuen österreichischen Gesandten gemacht.

Graf Ludwig von Cobenzl war 26 Jahre alt und gewann schnell die Gunst der Kaiserin, an deren Hof er sechzehn Jahre verbringen sollte. Er war von Joseph II., der einen Verteidigungs- und Garantievertrag mit Russland anstrebte, angewiesen worden, auch regelmäßig über das preußenfreundliche Großfürstenpaar zu berichten und es im österreichischen Sinn zu beeinflussen. Vom ersten Tag an lag Cobenzl förmlich auf der Lauer, rapportierte jedes Erscheinen des Thronfolgers und der Thronfolgerin am Großen Hof, notierte jedes Wort, das die beiden an ihn richteten, beobachtete jede Schwangerschaft und kommentierte jede Geburt. Seine Aufmerksamkeit galt aber auch den Personen ihrer Umgebung.

Seine erste Aufgabe war die Vorbereitung eines Besuchs seines Kaisers in Russland. Die Gelegenheit ergab sich anlässlich einer Inspektionsreise, die Katharina II. durch die neugewonnenen polnischen Provinzen unternehmen wollte. Anfang Juni 1780 trafen sich die beiden Monarchen in Mogiljow, und offenbar hat Joseph erst hier den Wunsch geäußert, auch Paul und Maria kennenzulernen. Er reiste also nach St. Petersburg. „Der Großfürst steht weit über dem, was man im Ausland von ihm weiß“, schreibt er seiner Mutter nach Wien, „und seine Gemahlin ist ebenso schön wie geschaffen für ihre Stellung, sie leben in einer vollkommenen Verbindung, deren Zierde zwei hübsche kleine Prinzen sind. Ihre Majestät persönlich beschäftigt sich viel mit ihnen, und man lässt ihnen alle Freiheit, die zur Entwicklung ihrer geistigen Gaben und zur Stärkung ihrer Gesundheit nötig ist.“37 Drei Tage später fügt Joseph hinzu: „Der Großfürst und die Großfürstin, die man wegen ihrer engen Verbindung und Freundschaft als eins betrachten muss, sind zwei höchst interessante Persönlichkeiten. Sie haben Geist und Kenntnisse […]. Ihre Art des Umgangs mit der Kaiserin, vor allem die des Großfürsten, ist etwas gezwungen und zurückhaltend; diese Herzlichkeit, ohne die ich nicht leben könnte, meine liebe Mutter, gibt es nicht. Die Großfürstin ist natürlicher, sie führt ihren Gemahl, sie interessiert sich für ihn und sie leitet das ganze Haus vorbildlich. Das ist eine Prinzessin, die eines Tages eine große Rolle spielen könnte. Beide erweisen mir die größte Freundschaft, doch ich muss mich zurückhalten, denn eine allzu enge Beziehung zu ihnen wäre unpassend.“38

Der Kaiser hatte die komplizierten Familienverhältnisse in St. Petersburg also schnell durchschaut. „Der Großfürst hat viele Qualitäten, die ihn sehr schätzenswert machen“, schreibt er seiner Mutter eine Woche später, „aber es ist nicht leicht, der zweite nach einer großen Fürstin zu sein.“39 Auch Joseph II. hatte es nicht leicht mit seiner Mutter, und vielleicht lässt sich dadurch seine Sympathie für Paul erklären, der sich in Josephs Gesellschaft sehr wohl zu fühlen schien. Die Großfürstin war ebenfalls gern mit ihm zusammen, und je besser er sie kennenlernte, desto mehr schätzte er sie: „Sie zeichnet sich durch seltenen Charakter und Geist aus, dabei ist sie sehr hübsch und hält sich vorzüglich. Wenn ich vor zehn Jahre eine ähnliche Prinzessin gefunden oder mir hätte vorstellen können, so würde ich sie ohne Zögern geheiratet haben, und sie würde meinem Staat und meiner Stellung entsprochen haben: damit ist alles gesagt, glaube ich.“40

Aus einem Brief Marias an ihre Eltern wissen wir, dass Joseph II. auffallend um sie und Paul bemüht war, dass er sich lobend über ihr Eheglück geäußert und gewünscht hatte, eines Tages „für seinen Neffen, den Sohn des Großherzogs von Toskana, eine Frau zu finden, die mir ähnelt“. Er sei auch mehrfach auf Elisabeth, „die beste von uns drei Schwestern“, zu sprechen gekommen und habe auf eine Verbindung angespielt. Maria hielt die „Affäre“ für „weit entfernt“ und „sehr unsicher“, zumal die Heiratskandidaten noch recht jung waren (Elisabeth war dreizehn, Franz von Toskana zwölf Jahre alt), empfahl den Eltern jedoch, die Sache ernsthaft zu überlegen und ihr Bescheid zu geben, im Übrigen aber striktes Stillschweigen zu bewahren.41 Eine solche Partie für Elisabeth muss ihr äußerst verlockend vorgekommen sein, während Paul nicht begeistert gewesen sein dürfte.

Aber da war noch eine Idee, die der Kaiser seiner „Frau Schwester“ nahe brachte. Zur Erweiterung seiner Kenntnisse und Lebenserfahrung sollte das Großfürstenpaar doch eine Grand Tour durch Westeuropa unternehmen und hauptsächlich Staaten besuchen, in denen Habsburger herrschten. Katharina gefiel auch diese Idee, und Joseph blieb noch eine Weile. Er reiste erst am 20. Juli wieder ab, worauf Harris zufrieden nach London meldete, der Kaiser habe dem Einfluss des Königs von Preußen „einen sehr schweren Schlag“ versetzt, von dem er sich wohl kaum erholen werde.42

Indes glaubte der Alte Fritz nicht an einen nachhaltigen Erfolg des Habsburgers und schickte schon im August seinen Neffen Friedrich Wilhelm mit teuren Geschenken nach St. Petersburg. Der Prinz von Preußen konnte Katharinas Wohlwollen nicht gewinnen, verstand sich aber bestens mit Paul und Maria, die er bereits in Berlin kennengelernt hatte und auch in Pawlowskoje besuchte. „Der Großfürst bat mich unaufhörlich, alle Gelegenheiten zu benutzen, um Eurer Majestät zu versichern, wie sehr er und seine Gattin Ihnen ergeben seien, sie überhäuften mich mit ihrer Freundschaft“, meldet er dem Onkel.43 Die beiden weinten, als er abreiste, und Paul begann eine heimliche Korrespondenz mit ihm. Der König aber ließ seinen Ärger über die russisch-österreichische Annäherung an Marias älteren Brüdern aus, die in seinen Diensten standen, und tat sich damit, wie sich zeigen sollte, keinen Gefallen.

In diesem Herbst gewann der Kleine Hof durch den Zuzug eines Mannes an Glanz, dessen Drama Sturm und Drang (Weimar 1776) einer ganzen literarischen Epoche den Namen gegeben hat. Friedrich Maximilian Klinger war mit einer Empfehlung des Herzogs Friedrich Eugen, der wohl einen zuverlässigen Landsmann in der Umgebung seiner Tochter wissen wollte, nach St. Petersburg gekommen.44 Schon im Dezember wurde Klinger zum Leutnant des Marine-Bataillons und Ordonnanzoffizier des Großfürsten sowie zum Vorleser der Großfürstin ernannt. Über den Einfluss, den er auf Maria hatte, wissen wir nichts. Doch die Ernennung war der Beginn einer langen Karriere des Dichters in Russland, wo er, von Maria zeitlebens protegiert, den größeren Teil seiner Werke verfasste.

„Meinen Kindern geht es bestens. Sie und ihr Vater sind mein Glück, aber das ist auch das einzige, das ich in diesem Trubel der großen Welt finde“, schreibt sie Lanele zum Jahresende.45 Das Familienidyll, das sie hier vortäuscht, gab es natürlich nicht, weil ihr die Kinder fehlten. Immerhin konnten die Eltern die beiden Söhne regelmäßig sehen, solange sie noch mit der Kaiserin unter einem Dach lebten. Insofern war Katharina „gnädiger“ als Elisabeth Petrowna, die ihr monatelang nicht erlaubt hatte, ihren Sohn zu sehen.

Derweil trieb Joseph II. seine Pläne voran. Er könne nicht rechnen, eine „gute Affäre“ gemacht zu haben, wenn er kein Mittel finde, den vorherrschenden Einfluss des Königs von Preußen auf die Gesinnung des Großfürsten und der Großfürstin „ein für alle Mal auszurotten“, schreibt er seinem Bruder Leopold von Toskana. „Ersterer wird durch seine Frau geleitet und wird es immer sein. Die Freundschaft dieser letzteren kann man nur durch viele Kunstgriffe erlangen und indem man ihre Familie gewinnt, der sie sehr zugetan ist und die das braucht. Sie haben neun Kinder, und der Vater ist nicht reich.“46 Einer der „Kunstgriffe“ war jene Ehe, die Joseph im Sinne hatte. Wenn er seinen Neffen Franz mit Marias Schwester Elisabeth verheiratete und die beiden Schwestern erst regierten, dann wäre sein Einfluss am Petersburger Hof, so glaubte er, „für alle Zeit“ gesichert.47 Auch die Eltern der Braut würde er sich durch finanzielle Zuwendungen, die sie so nötig hatten, verpflichten. Die Eheanbahnung überließ er jedoch Katharina. Natürlich hat Friedrich II. hartnäckig versucht, die Verbindung zu verhindern, und die „Kabalen“, „Intrigen“ und „Schikanen“ des Königs nehmen viel Raum in der Korrespondenz des Kaisers ein.

Doch zunächst einmal fand Ende Juni in Étupes die Hochzeit Friederikes von Württemberg mit Peter Friedrich von Holstein-Oldenburg statt, einem Cousin der Kaiserin mütterlicherseits. Die Braut war sechzehn, der Bräutigam zehn Jahre älter, und die beiden sollten glücklich miteinander werden. Peter Friedrich war seit ein paar Jahren Koadjutor seines Onkels, des Fürst-Bischofs von Lübeck, ein kluger, junger Mann, der sich als umsichtiger Landesvater erweisen sollte. Der Prinz und sein älterer Bruder waren am Petersburger Hof erzogen worden, und Katharina hatte ihnen eine Ausbildung in Westeuropa finanziert. Durch die Heirat ihres Cousins ging sie eine weitere verwandtschaftliche Beziehung mit dem Hause Württemberg ein.

Kaum war das junge Paar abgereist, traf Joseph II. in Mömpelgard ein und stieg für zwei Tage im Hôtel du Lion rouge ab.48 Er war durch die Österreichischen Niederlande gereist und hatte auf dem Rückweg auch wieder seine Schwester Marie Antoinette in Versailles besucht. Nun wollte er sich Elisabeth von Württemberg ansehen, eine große, magere Blondine, und Friedrich Eugen im Namen seines Neffen um ihre Hand bitten. Außerdem wollte er Ferdinand, den (fünften) Sohn des Herzogs, als Oberstleutnant in seine Armee aufnehmen. Kein Wunder daher, dass der Kaiser eine „unauslöschliche Erinnerung“ hinterließ.49

Fast zeitgleich mit den Verhandlungen über die Ehe zwischen Elisabeth von Württemberg und Franz von Toskana liefen die Vorbereitungen für die Grand Tour an, die Paul und Maria unternehmen sollten. Um die beiden dazu zu veranlassen, war aber eine kunstvoll eingefädelte Intrige erforderlich gewesen. Da Katharina genau wusste, dass Paul nicht reisen würde, wenn der Vorschlag von ihr käme, hatte sie ihm die Idee von einem ihrer Höflinge so geschickt suggerieren lassen, dass er schließlich von sich aus um die Reise bat. Maria wäre in jedem Fall gereist, weil sie nur so ihre Familie wiedersehen konnte. Im Juli 1781 stimmte Katharina der Idee scheinbar freudig überrascht zu und legte die Reiseroute fest, die natürlich ihren politischen Absichten entsprach. Versailles fügte sie nur widerwillig auf Bitten Pauls hinzu, Berlin schloss sie aus. Die beiden erhielten strikte Order, ihren Fuß nicht auf preußischen Boden zu setzen. Ein Affront sondergleichen für Friedrich II. und ein öffentlicher Beweis für Katharinas neue Freundschaft mit dem Wiener Hof. Dann ernannte die Kaiserin die Suite. Aus der engeren Umgebung des Großfürstenpaares gehörten dazu: Fürst Alexander B. Kurakin, Pauls Freund aus Kindertagen, ein freundlicher, aber unbedeutender junger Mann, Fürst Nikolaj B. Jussupow, ein weitgereister Kunstkenner, Mäzen und Sammler, Kapitänleutnant Sergej I. Pleschtschejew, ein ebenfalls weitgereister, debütierender Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkenner, der Maria Erdkundeunterricht gab, Vater Andrej A. Samborskij, der ehemalige Gesandtschaftsgeistliche in London, der mit einer Engländerin verheiratet war, keinen Bart und kein Habit trug, sowie das Ehepaar Benckendorff und die Hofdamen Katharina I. Nelidowa und Galfira I. Alymowa.

Anna Juliane von Benckendorff war Anfang 1781 mit ihrem Mann nach St. Petersburg gekommen und sogleich Marias engste Vertraute geworden, hatte aber auch die Wertschätzung der Kaiserin erlangt.50 Kein Wunder daher, dass Tille schnell ins Visier des österreichischen Gesandten geriet. „Frau von Benckendorff ist eine sehr interessante Person für uns, die uns unendlich nützlich sein kann […]“, schreibt Cobenzl dem Kaiser kurz vor der Abreise, worauf dieser antwortet, er werde nichts unversucht lassen, „um ihr den Puls zu fühlen und herauszufinden, welchen Vorteil man daraus ziehen könnte“.51 Auch Graf von Goertz, der preußische Gesandte, bemühte sich um Anna Juliane, bezeichnete sie als „intrigante Person mit viel Ehrgeiz“ und als „Antipreußin“, empfahl aber, sie „ans gute System zu binden“.52 Wir wissen nicht, ob Tille ihrer Freundin von den Annäherungsversuchen der Diplomaten berichtet hat. Paul mochte sie nicht sonderlich und nannte sie „Madame Ziegendrücker“, wenn er schlechte Laune hatte.53

Katharina I. Nelidowa hatte das von Katharina II. gegründete Fräulein-StiftII im Auferstehungskloster mit Auszeichnung absolviert. Sie war seinerzeit mit der Feldmarschallin Rumjanzewa zum Empfang der Prinzessin Dorothea nach Memel gereist und hatte ihr geholfen, sich am russischen Hof zurechtzufinden. Katharina Iwanowna war eine intelligente kleine Frau mit viel Temperament und großem szenischem Talent, die gern lachte und mehr durch ihre Äußerungen als durch ihr Äußeres auffiel.

Nach dem Urteil der Zeitgenossen war sie hässlich. Aber sie war eine interessante Gesellschafterin und eine ausgezeichnete Tänzerin. Später sollte die „Kleine“ einige Unruhe in der großfürstlichen Ehe stiften. Auch Galfira I. Alymowa hatte das Fräulein-Stift mit Goldmedaille absolviert. Sie war eine der ersten russischen Harfenistinnen und sollte Europas Höfe mit ihrem Spiel beeindrucken.

Außerdem wurden die drei Dichter, die im Dienste des Großfürsten standen, zur Begleitung des Paares bestimmt: Ludwig Heinrich Nicolay, Pauls Sekretär, der inzwischen seine Verse und Prosa (Basel 1773), die ersten Bände seiner Vermischten Gedichte (Berlin 1778–1886) und mehrere Theaterstücke veröffentlicht hatte, Franz-Hermann Lafermière, ein enger Freund Nicolays aus gemeinsamen Straßburger Studientagen, der Paul schon länger als Bibliothekar diente, und Friedrich Maximilian Klinger, dem Nicolay beim Start auf dem schlüpfrigen Petersburger Parkett geholfen hatte. Die drei Literaten waren in Europa gereist, kannten viele Geistesgrößen ihrer Zeit und besaßen wertvolle Ortskenntnisse. Als „künstlerischer“ Begleiter reiste Marias Zeichenlehrer Henri-François Violier mit, der Maler, Architekt und Bühnenbildner, der 1780 nach St. Petersburg gekommen war, um als Kabinettsund Galerieinspektor in Pauls Dienste zu treten.54 Von ihm stammte die Miniatur (1776), die Katharina so für Sophie Dorothea eingenommen hatte. Die Suite bestand aus insgesamt 60 Personen, so dass auf jeder Poststation 240 Pferde bereitgehalten werden mussten.

Und nun war es Joseph II., der sich nach den Ess- und Trinkgewohnheiten seiner Gäste erkundigte und erfuhr, dass sie als Tafelwein einen leichten Frankenwein bevorzugten, dass sie gern Gemüse und am liebsten Hammelfleisch aßen.55 Als Cobenzl kurz vor der Abreise meldete, dass Marias Cembalo auf keinen Wagen passen werde, sorgte der Kaiser dafür, dass sie an allen Aufenthaltsorten zwischen Wien, Neapel und Florenz ein Fortepiano organisé vorfand, das sie bevorzugte, mindestens aber ein gewöhnliches Cembalo.

Vor der Abreise sollten die beiden kleinen Großfürsten aber noch gegen Pocken geimpft werden, und Anfang August war Dr. Thomas Dimsdale, einer der Pioniere der Pockenschutzimpfung, wieder in St. Petersburg eingetroffen. Der berühmte englische Arzt hatte die Kaiserin und ihren Sohn schon 1768 geimpft, und die Impfung war so erfolgreich verlaufen, dass Dr. Dimsdale als Baron des Russländischen Reiches nach Hertford zurückgekehrt war, reich beschenkt mit Diamanten und Pelzen und ausgestattet mit einer lebenslangen Pension von 500 Pfund jährlich. Diesmal wurde Dr. Dimsdale von seiner Frau Elizabeth begleitet, die ein bemerkenswertes, erst 1989 in Cambridge veröffentlichtes Reisetagebuch hinterließ. Die Impfung sollte Anfang September im Großen Palast in Zarskoje Selo stattfinden.

Dort empfingen Katharina und Paul den Baron gleich nach der Ankunft „wie einen alten Freund“, während die Baronin der Kaiserin drei Wochen später vorgestellt wurde. Erst danach konnte sie auch Paul und Maria vorgestellt werden. „Der Großfürst, ein kleiner Mann und nicht stattlich, sagte mir ein paar Höflichkeiten, und die Großfürstin war sehr gnädig, sie ist größer als ich und eine sehr gesund und frisch aussehende Frau, ziemlich stattlich und ungefähr 22 Jahre alt. Die beiden jungen Prinzen sind hübsche Kinder und äußerst vernünftig und gescheit. […] Sie gingen jeden Morgen in den Garten, wenn das Wetter gut war, der Baron und ich gingen mit ihnen und fanden das sehr angenehm. Denn die beiden Frauen, die sie betreuen […] sind Schwestern und Engländerinnen und sehr höflich und verbindlich.“ Die Großfürstin habe ihnen befohlen, die Jungen bei ihren Vornamen zu rufen, „da der Stolz schnell genug von allein kommen würde“.56 Lady Elizabeth wunderte sich, sie wusste nicht, dass Maria als Kind von den Bediensteten auch nur beim Vornamen gerufen worden war.

Je näher der Tag der Abreise rückte, desto mehr Sorgen machten sich Paul und Maria um die Kinder, zumal sie nicht wussten, wie sie auf die Impfung reagieren würden. Bei aller Freude auf die Reise wurde ihnen nun wohl auch erst richtig bewusst, dass ihnen eine sehr lange Trennung von den beiden bevorstand. Also beharrten sie darauf, erst dann loszufahren, wenn sie sicher sein konnten, dass es den Söhnen gut ging. Eine Weile sah es sogar so aus, als würden sie gar nicht fahren. Schließlich wurde die Abreise auf den 30. September festgesetzt.

Viele haben sie beschrieben, auch Lady Elizabeth. Sie stand am Fenster des Großen Palastes. „[…] es war an einem Sonntagabend […], und die Großfürstin war den ganzen Tag so bewegt, weil sie ihre Kinder verließ, dass der Baron ihr versprechen musste, ihr mit jedem Kurier, der ihnen geschickt wurde, zu schreiben; ihr Kummer bewegte alle, und viele Menschen weinten. Ich glaube, die Kutschen warteten fast zwei Stunden auf sie, das geschah vor meinen Fenstern, und ich sah die ganze Parade ihres Abschieds, und viele Menschen kamen in mein Zimmer, um sie abfahren zu sehen, und eine sehr große Menge war vor dem Palast versammelt. […] Schließlich trugen der Baron und noch zwei Gentlemen die Großfürstin, weil sie aussah, als ob sie kaum noch Kraft hätte, und setzten sie in die Kutsche, und dann fuhren sie los. […] Sie waren noch nicht lange weg, da traf schon ein Bericht ein, demzufolge die Kutsche nach einer Meile anhalten musste, weil die Großfürstin in Ohnmacht gefallen war; als sie wieder zu sich kam, hat der Großfürst ihr sehr ernst gesagt, dass er es nicht länger aushalten könne, und wenn sie sich nicht beherrsche, so hat er ihr bei seiner Ehre erklärt, werde er sofort umkehren: Ich glaube, dieses Verhalten des Großfürsten brachte die Dinge in Ordnung, und die Großfürstin ertrug die Abwesenheit ihrer Kinder dann sehr gut, denn sie schrieb dem Baron oft, und der Großfürst auch, und der Baron erstattete ihnen häufig Bericht über die Gesundheit der Kinder.“57 Vielleicht war es Maria ein Trost, dass Tille ihren kurz vor der Abreise geborenen Sohn Alexander auch zurücklassen musste.

Eine Grand Tour oder Kavalierstour wurde in der Regel inkognito unternommen, wenn der Aufwand gering, das übliche Zeremoniell vermieden und die Identität des Reisenden geheim gehalten werden sollten. Peter der Große war als Peter Michailow gereist, Casanova reiste als Graf von Farussi und Joseph II. als Graf von Falkenstein, der er als Besitzer der linksrheinischen Grafschaft Falkenstein auch tatsächlich war. Paul und Maria waren das erste Ehepaar, das eine Grand Tour unternahm, und sie reisten als Graf und Gräfin du Nord, weil Russland für das Europa des 18. Jahrhunderts im Norden lag. Die beiden waren sich der Bedeutung ihrer Reise wohl bewusst, die Zeitgenossen waren es auch, und Europa wusste sehr gut, wer da unterwegs war.

Die Grand Tour war denn auch das Gesprächsthema Nr. 1 in den europäischen Salons der Zeit. In St. Petersburg aber wurde alsbald kolportiert, Paul solle in seiner Abwesenheit von der Thronfolge ausgeschlossen werden.58 Die Gerüchte kamen auch den Reisenden zu Ohren, und man kann sich leicht vorstellen, welche Ängste sie bei ihnen auslösten. Joseph II. täuschte sich jedenfalls nicht, als er Cobenzl schrieb, zwischen der Kaiserin und dem Großfürsten herrsche „ein extremes und irreparables Misstrauen“.59

I Pawel/Paul gehörend

II Eigentlich: Erziehungsgesellschaft adliger Mädchen; in Marias französischer Korrespondenz: Communauté des demoiselles nobles (Gemeinschaft adliger Fräulein); später: Smolnyj Institut.

Maria, Kaiserin von Russland

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