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Iwan A. Krylow Die Kornblume
ОглавлениеWar eine Kornblume aufgeblüht im Walde,
Dann ward sie matt und welkte hin:
Das Köpfchen neigte sich auf dem Stängel balde,
Des Todes wartet sie mit bangem Sinn.
Sie raunt dem ZephirI zu, der sie umschwebte:
»O bräche doch der Tod bald an!
Die Sonne ergösse ihr holdes Licht alsdann,
Vielleicht, dass sie auch mich belebte.«
»Das ist einfältig, meine Liebe«,
Summt ihr ein Käfer zu, der in der Nähe kreist,
»Als ob der Sonne nur die Sorge bliebe,
Wie du gedeihst.
Glaub mir, sie hat für dich nicht Zeit noch Lust.
Flögst du herum, wie ich, in weiter Welt,
So wäre dir bewusst,
Dass Wiese, Saatenfeld
Sie wohl in ihrer Pflege hält;
Sie nährt durch ihren warmen Hauch
Die Zedern und die Rieseneichen,
Sie schmückt mit reichen Farben auch
Gar manche Blume:
Doch du kannst dich ja nicht vergleichen
Mit solchem Ruhme.
Denn jene Blumen sind so schön,
Dass es selbst KronosII schmerzt, sie abzumähen.
Du aber hast nicht Duft noch Pracht,
Es hat die Sonne dein nicht Acht,
Du quälst sie fruchtlos mit Gestöhn,
Dein Los ist schweigen und vergehn.«
Jetzt stieg die Sonne empor, belebte die Natur,
Goss ihre Strahlen aus auf Wald und Flur
Und spendete dem armen Blümchen auch
Erquickend neuen Lebenshauch.
Ihr, denen das Geschick erhabnen Platz verlieh,
Verschmäht nicht die Allegorie,
Lasst euch die Sonne Vorbild sein.
Seht hin, ihr Strahlenschein,
Wohin er dringe,
Bringt Heil, der Zeder wie dem Halm,
Kein Wesen ist ihr zu geringe.
Darum auch tönt ihr laut des Dankes Psalm
Und lebt ihr Bild in allen Herzen
Hell, wie sich spiegeln im Kristall die Kerzen.
PAWLOWSK 1823III
I Zephyr (Zephyros, Zephyrus, „der vom Berge Kommende“): Windgottheit der griechischen Mythologie, verkörpert den Westwind
II Kronos: griechischer Erntegott, der Reifer und Vollender
III Die Fabel schrieb Krylow zum Dank für die Pflege, die Maria Fjodorowna ihm nach einem Schlaganfall zuteil werden ließ. Er ist die Blume, sie die Sonne (vgl. S. 320).