Читать книгу Maria, Kaiserin von Russland - Marianna Butenschön - Страница 6
„… schön wie der Tag“
ОглавлениеSie begegnet uns gleich auf den ersten Seiten von Krieg und Frieden, die „hohe Gönnerin“ der Hofdame Anna PawlownaI Scherer, in deren Petersburger Salon die Handlung des Romans im Juni 1805 beginnt: Maria Fjodorowna, die Kaiserinmutter. Das bedeutet jedoch nicht, dass „l’impératrice-mère“II im weiteren Verlauf des Romans eine tragende Rolle spielt, und eigentlich führt Tolstoj sie nur ein, um die hohe Stellung zu unterstreichen, die Anna Pawlowna als Vertraute Ihrer Majestät in der Petersburger Gesellschaft inne hat. Der Leser erfährt aber, dass die Kaiserinmutter unangefochtene Autorität genießt und Einfluss auf wichtige Personalentscheidungen nimmt.
Tatsächlich hat Maria Fjodorowna am Hofe Alexanders I., ihres ältesten Sohnes, eine herausragende Rolle gespielt. Bei allen öffentlichen Anlässen trat sie an seiner Seite auf und verwies ihre Schwiegertochter Elisabeth, die regierende Kaiserin, auf den zweiten Platz, ein oft beschriebenes Unikum in der Geschichte der europäischen Monarchien. Sie dominierte das Hofleben, und alle prominenten Besucher, die im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts nach St. Petersburg kamen, mussten auch ihr vorgestellt werden. Die Kaiserinmutter war eine erbitterte Gegnerin Napoleons, der sie seinerseits seine „ärgste Feindin“ nannte.
Maria Fjodorowna, geborene Sophie Dorothea Auguste Luise von Württemberg, die als Sechzehnjährige unter tätiger Mithilfe Friedrichs II. von Preußen nach St. Petersburg verheiratet wurde, hatte das Pech, die Schwiegertochter Katharinas der Großen und die Frau Pauls I. zu sein. Katharina II., die ihren Mann, den Kaiser Peter III., im Sommer 1762 abgesetzt hatte, liebte ihren Sohn nicht, und Paul hasste seine Mutter. Er hielt sie für mitschuldig am Tod seines Vaters, der kurz nach seinem Thronverzicht von einem ihrer Günstlinge ermordet worden war, und seine bloße Existenz erinnerte sie ständig daran, dass er der rechtmäßige Thronerbe und sie eine Usurpatorin war.
Obwohl Paul Petrowitsch, der seit seinem 8. Lebensjahr den Titel eines General-Admirals der russischen Flotte trug, entsprechend auf sein hohes Amt vorbereitet worden war und als gebildet und vielseitig interessiert galt, hielt Katharina ihn auch nach Eintritt der Volljährigkeit auf erniedrigende Weise von den Regierungsgeschäften fern. Das hatte Folgen für seinen Gemütszustand: Der Thronfolger, ein Mann mit ausgeprägt ritterlich-romantischen Zügen, dem die Zeitgenossen auch eine heitere Art, Charme und ausgesuchte Manieren, Edelmut und Güte bescheinigten, war zugleich launisch und unausgeglichen, sprunghaft und jähzornig, hochmütig und uneinsichtig, ein Mann also, in dem sich vernünftige Urteile und Handlungen auf bizarre Weise mit willkürlichen Entschlüssen und sinnlosen Entscheidungen mischten. Von früher Jugend an litt er unter Angst, mit zunehmendem Alter unter Verfolgungswahn. Das komplizierte Mutter-Sohn-Verhältnis war an den europäischen Höfen bekannt, Paul galt als russischer Hamlet.
Davon wusste die junge Sophie Dorothea vermutlich nichts, als sie im Mai 1776 erfuhr, wen sie heiraten sollte. Die russische Heirat war die beste Partie, die eine kleine Prinzessin aus einem der vielen deutschen Fürstenhäuser machen konnte, und wahrscheinlich haben alle anderen Prinzessinnen im heiratsfähigen Alter, die außer ihr für diese Ehe in Frage gekommen wären, sie beneidet. Sophie Dorothea konnte sich glücklich schätzen. Eines Tages würde sie Kaiserin jenes fernen Riesenreiches sein, in das schon so viele ihrer Landsleute ausgewandert waren, und in dieser prächtigen neuen Hauptstadt leben, die in den Zeitungen als „russisches Amsterdam“ und „nördliches Venedig“ bezeichnet wurde. Vor ihr lag eine glanzvolle Zukunft, und auch ihre Familie würde von ihrer Standeserhöhung profitieren.
Anders als ihr künftiger Gatte, der Zesarewitsch, war die Prinzessin behütet und umsorgt im Kreise einer intakten Großfamilie aufgewachsen und relativ bescheiden, sittenstreng und naturverbunden erzogen worden. Sie war ein großes Mädchen mit blauen Augen und prachtvollem blondem Haar. In der Familie wurde sie „Dortel“ gerufen. Im Französischen klingt das wie „d’or tel“, also „golden“ oder „aus Gold“. Und das war sie: ein Goldmädchen, ein gutes Kind im wahrsten Sinne des Wortes, fröhlicher Mittelpunkt der kleinen, französisch geprägten Hofgesellschaft von Mömpelgard (Montbéliard), jener linksrheinisch gelegenen Grafschaft südlich der Vogesen, die seit Jahrhunderten zum Herzogtum Württemberg gehörte und im Oktober 1793 an Frankreich fiel.
Als Dortel herangewachsen war, galt sie als gute Partie, nicht, weil sie reich war, sondern weil sich an den Höfen Europas herumgesprochen hatte, dass sie nicht nur liebenswürdig, gebildet und vielseitig interessiert war, sondern auch ausnehmend hübsch. Glaubt man den viel gelesenen Memoiren der Baronin d’Oberkirch, ihrer besten Freundin aus Kinder- und Jugendtagen, so war sie „schön wie der Tag, groß für eine Frau, geschaffen, um gemalt zu werden“. Ihr Glück habe Dortel darin gesehen, Gutes zu tun und den Menschen, die sie „ehrlich liebt, Freundschaft zu inspirieren“. Diese Eigenschaft hat sich die Prinzessin offenbar bewahrt, denn die häufigsten Beinamen, die die Zeitgenossen ihr später gaben, waren: die „gute Kaiserin“, „Mutter der Armen“ und sogar „Mutter des Vaterlandes“.
Welten lagen zwischen dem einfachen Hofleben von Mömpelgard, wo das Geld stets knapp war und jeder jeden kannte, und dem luxuriösen Lotterleben am Hofe Katharinas II., an dem jeder gegen jeden intrigierte und berühmte Besucher und Diplomaten sich ein Stelldichein gaben, die oft genug auch begabte Intriganten und Heuchler waren. Insofern konnte sich die junge Frau, die seit dem Konfessionswechsel Maria Fjodorowna hieß, sogar glücklich schätzen, dass sie die ersten zwanzig (Lehr-)Jahre an der Seite ihres Mannes überwiegend fern vom Großen Hof in den großfürstlichen Residenzen Pawlowsk und Gattschina außerhalb von St. Petersburg verbringen musste. Ihre Hauptaufgabe war, den Fortbestand der Dynastie Romanow-Holstein-Gottorp zu sichern. Eine andere Aufgabe hatte Katharina die Große für ihre Schwiegertochter nicht vorgesehen, und in dieser Hinsicht hat Maria ihr Soll erfüllt: Sie bekam vier Söhne und sechs Töchter. „Bravo, gnädige Frau, Sie sind eine Meisterin im Kinderkriegen“, schreibt Katharina der „lieben Tochter“ mit der ihr eigenen Ironie einmal Ende der 1780er-Jahre, nachdem sie zum sechsten Mal Großmutter geworden war, „entschuldigen Sie diesen Überschwang, aber das ist wahr.“ Sie mochte die „liebe Tochter“ nicht sonderlich.
Das ländlich geprägte Leben in Pawlowsk und Gattschina entsprach Marias Naturell vollkommen. Intrigen und Machtkämpfe lagen ihr fern, Kunst und Literatur, Theater und Musik, Botanik und Gartenbau haben sie zeit ihres Lebens wesentlich mehr interessiert. Denn Maria war eine künstlerisch hochbegabte Frau und erreichte insbesondere als Stein- und Stempelschneiderin eine solche Fertigkeit, dass ihre Porträtkameen und Medaillen in die Kaiserliche Ermitage aufgenommen wurden. Das Schlosspark-Ensemble Pawlowsk, eines der herausragenden Denkmäler der russischen Kultur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, ist ihr „Kind“, das sie ihr Leben lang hegte und pflegte.
Paul Petrowitsch kam erst am 17. November 1796 im Alter von 42 Jahren auf den Thron. Sechs Tage später übertrug er seiner Frau die Aufsicht über die „Erziehungsgesellschaft adliger Mädchen“ im Smolnyj Kloster. Damit begann ein neues Kapitel in der Geschichte der Frauenbildung in Russland. Am 13. Mai 1797 unterstellte Paul I. seiner Frau ferner die beiden großen Findelhäuser in Moskau und St. Petersburg. Das war der Anfang, Maria hatte ihre Berufung gefunden. Die rastlose karitative und bildungspolitische Tätigkeit, die sie nun entfaltete, ging weit über das hinaus, was Fürstinnen normalerweise in diesen Bereichen leisteten. Ihr unermüdlicher Einsatz war ein Segen für Russland und ein Vorbild für Europa. Modern gesprochen war Maria Fjodorowna von dem Augenblick an, in dem sie die Aufsicht über die genannten Erziehungs- und Wohltätigkeitseinrichtungen übernahm, Russlands erste „Sozialministerin“, eine „Managerin“ auf dem Zarenthron, an die keine ihrer Nachfolgerinnen heranreichte. Maria Fjodorowna hat das Wort „Wohltätigkeit“ in Russland im wahrsten Sinne des Wortes salonfähig gemacht. Als Gründerin der ersten Gehörlosenschule in Pawlowsk (1806) ist sie auch als Pionierin der Behindertenbildung in Russland anzusehen.
Die von ihr beaufsichtigten und gegründeten Findelhäuser, Stifte, Schulen, Sonderschulen, Witwenheime, Hospize und Krankenhäuser, die sie einmal die „verschiedenen Gouvernements meines Reiches“ nannte, bildeten ab 1854 das „Ressort der Einrichtungen der Kaiserin Maria“, das weiter wuchs und gegen Ende der Monarchie knapp 1200 Bildungs- und Wohlfahrtsanstalten umfasste, in denen mehr als 700.000 Kinder und Erwachsene beiderlei Geschlechts unterrichtet und betreut wurden. Einige dieser Einrichtungen gibt es heute noch, darunter das Marienkrankenhaus und die Internatsschule Nr. 1 für Gehörlose in St. Petersburg und die Internatsschule für Waisen und Kinder aus sozial benachteiligten Familien in Gattschina. Die Pädagogische Herzen-Universität, die sich auf das Findelhaus an der Mojka 48 zurückführt, hat ihre Bibliothek zu Beginn des neuen Jahrtausends nach Maria Fjodorowna benannt.
Ihre Ehe war an die zwanzig Jahre einigen Krisen zum Trotz recht gut gewesen, doch Ende der 1790er-Jahre hatte sich Paul – offenbar genervt von der permanenten Fürsorge seiner Frau – von ihr abgewandt. Die Folgen waren fatal, wie Dmitrij F. Kobeko, Pauls erster Biograf, hervorhebt: „Die Tätigkeit Marias auf dem Felde der Aufklärung und des Wohlthuns ist hinreichend bekannt; weniger bekannt aber ist ihr rettender und beruhigender Einfluss auf ihren Gemahl. Solange dieser Einfluss währte, hielt er die Ausbrüche von Reizbarkeit und Zorn des Kaisers zurück; als aber, in der Hälfte seiner Regierung (Herbst 1798), dieser Einfluss schwächer wurde, erfolgte im Charakter der Politik und Handlungsweise Pauls ein entschiedener, verderblicher Umschwung.“ Sein Verhalten war nicht mehr normal, und selbst Maria hatte nun Angst vor ihm. In der Nacht vom 23. auf den 24. März 1801 fiel Paul I. einem Mordkomplott zum Opfer.
Der Hauptgrund für Pauls Ermordung war – außer seiner gefährlichen Unberechenbarkeit und seinem repressiven Regierungsstil – sein Versuch, die Privilegien des Adels zu beschneiden. Aber auch die Einführung preußischer Uniformen, preußischen Drills und preußischer Disziplin in Garde und Armee hatte ihn unbeliebt und verhasst gemacht. Einerseits ausgestattet mit unbeschränkter Macht, andererseits erfüllt von panischer Angst um sein Leben, war Paul I. eine tragische Gestalt auch insofern, als er glaubte, die Gefahr gehe von seiner Frau und seinem ältesten Sohn aus.
Aber wollte sich Maria in den Stunden nach Pauls Tod tatsächlich des Thrones bemächtigen und selbst herrschen, wie die Verschwörer behaupteten? Die Tragödie dieses exzentrischen Herrschers, den Alexander S. Puschkin „unseren romantischen Kaiser“ und Napoleon einen „Don Quijote“ nannten, war auch die Tragödie seiner Frau, sein tragisches Ende ein traumatisches Erlebnis, das sie nie bewältigt hat. Maria war 41 Jahre alt, als sie Witwe wurde.
Andererseits begann nun erst ihre große Zeit. Als Großfürstin und Kaiserin war sie stets im Hintergrund geblieben, als Kaiserinmutter spielte sie die Rolle ihres Lebens. Sie war eine Gegnerin der liberalen Reformansätze Alexanders I. und hat ihren Einfluss auf den weichen und wankelmütigen Sohn wohl zu nutzen gewusst. Die Dichter- und Künstlertreffen, die Maria in Pawlowsk veranstaltete, sind in die russische Literatur- und Kulturgeschichte eingegangen. Ihrem Einfluss hatte Puschkin zu verdanken, dass er im Frühjahr 1820 wegen seiner Freiheitsgedichte nicht auf die Solowki-Inseln im Weißen Meer oder gar nach Sibirien verbannt wurde, sondern „nur“ nach Odessa.
Kritische Urteile über die „gute Kaiserin“ sind, wie nicht anders zu erwarten, zu ihren Lebzeiten nicht öffentlich geworden. Vor dem gewaltigen Arbeitspensum der Monarchin und ihrer imposanten Haltung traten negative Züge in den Hintergrund. Selbst Goethe konnte sich dem Eindruck von Energie und Tatkraft, den diese Frau noch als knapp Sechzigjährige vermittelte, nicht entziehen. „Ihro Majestät der Kaiserin hatte ich einigemal im besonderen aufzuwarten das Glück und bin über die zweifache Gesundheit des Leibes und der Seele dieser hohen Dame erstaunt“, gesteht er seinem Freund Karl Ludwig von Knebel kurz nach Marias Besuch in Weimar im Dezember 1818.
In jedem ihrer Institute wurden unter ihrer Aufsicht drei Generationen beiderlei Geschlechts erzogen, vor allem aber Tausende junger Frauen, denen eine Vorbildfunktion in der russischen Gesellschaft zufiel. Und es war dieser Aspekt ihrer Arbeit, der Alexander Puschkin bewog, der „Unvergessenen“ ein literarisches Denkmal zu setzen. „In der Geschichte gibt es keine Persönlichkeit, die man in jeder Beziehung mit der verstorbenen Kaiserin vergleichen könnte“, schreibt er 1836 in der ersten Ausgabe seiner Zeitschrift Sowremennik (Der Zeitgenosse). „Und so wird man diesen geheiligten Namen wieder mit Tränen der Rührung grüßen, an den stillen heimischen Herden ebenso wie während fröhlicher Feiern, diesen Namen, der bei uns seit 40 Jahren Gewähr für die sittliche Reinheit und außergewöhnliche Kultiviertheit des schönen Geschlechts ist […] In Ihre unmittelbare Zuständigkeit nahm Sie nur den Teil der Leitung, der nicht kaltes Administrieren, sondern herzliche Anteilnahme und zarteste Fürsorge erforderte, in dem alles von Engelsgeduld abhing: unter drei Herrschern war Sie nur Wohlfahrtsministerin.“ Der Beitrag „Kaiserin Maria“ erschien zum 40. Jahrestag der Übernahme dieses „Amtes“ am 23. November 1796.
Doch wie aus der umfangreichen Memoirenliteratur und der später veröffentlichten Korrespondenz hofnaher Kreise hervorgeht, war die „hohe Dame“ durchaus nicht fehlerfrei. Allerdings beziehen sich kritische Äußerungen vor allem auf die zweite Lebenshälfte Marias, in der sie nach Jahrzehnten der Demut und der Anpassung tatsächlich betont selbstbewusst auftrat. Ihre Briefe an Alexander I. weisen sie als Patriarchin aus, die auch politisch mitreden wollte. Darunter litt wiederum die Harmonie in der Familie. So beobachtete Ludwig von Wolzogen, der ehemalige Erzieher ihres Lieblingsneffen Eugen von Württemberg, der im Oktober 1807 in russische Dienste getreten war und „öfters nach ihrem vier Meilen von der Hauptstadt entfernten Lustschlosse Pawlowsk eingeladen und stets gnädig empfangen“ wurde, dass die Kaiserinmutter sich „gern in Dinge mischte“, die der Kaiser für sich behalten wollte. „Aeußerlich zeigte sich der Kaiser jedoch stets außerordentlich respektvoll gegen seine Mutter, welche wirklich sehr viel gute Eigenschaften hatte und namentlich ausnehmend wohlthätig und theilnehmend, dabei aber freilich auch herrschsüchtig, stolz und eitel war, und, obwohl sie gerne die Kaiserin Katharine copiren wollte, bei weitem nicht den Verstand und die glänzenden Mittel dieser großen Frau hatte.“ Eugen selbst pries die Tante als „Muster von Edelsinn“, unterstrich ihren „großen Eifer für das Gute und Gerechte“ und schrieb ihr eine „immer bis zur Selbstverleugnung gesteigerte Tugend“ zu, sprach sie aber „durchaus nicht frei von einer Menge weiblicher Schwächen und Vorurteile …“
Als Charlotte von Preußen im Juni 1817 nach St. Petersburg aufbrach, um den Großfürsten Nikolaus Pawlowitsch, Marias zweitjüngsten Sohn, zu heiraten, hatte man am Berliner Hof „keinen sehr gemütlichen Begriff von den dortigen Familienverhältnissen“ und kannte „nur den herrschsüchtigen Charakter der Kaiserin-Mutter, die es liebte, ihre Familie so viel wie möglich in Abhängigkeit zu erhalten“ (Karoline von Rochow). Nichts fürchtete die junge Charlotte so sehr wie die erste Begegnung mit der künftigen Schwiegermutter, die sich dann jedoch als ausgesprochen liebenswürdig erweisen sollte und ihre preußische Schwiegertochter geradezu hätschelte. Hingegen wissen wir aus den Briefen der Kaiserin Elisabeth an ihre Mutter, die Markgräfin von Baden, dass Maria auch garstig und taktlos sein, Fassung und Haltung verlieren und hysterisch reagieren konnte. Alexander I. nannte seine Mutter „indiskret“, Nikolaus I. fand ihren Charakter „gusseisern“, und beide Kaiser hatten Mühe, sich ihrer Bevormundung zu entziehen.
Im Zuge des wiedererwachten Interesses der Russen an der vorrevolutionären Geschichte ihres Landes ist auch die Regierungszeit Pauls I. einer Revision unterzogen worden, und die Urteile über den „armen Paul“ fallen nun milder aus. Russland verdankt ihm ein auch von Maria unterzeichnetes Thronfolgegesetz, das nach den Palastrevolutionen und der „Weiberherrschaft“ des 18. Jahrhunderts die männliche Primogenitur wieder einführte, und die fantastische Idee, Kriege durch Turniere ihrer Initiatoren zu beenden – als lebte die Welt noch im Mittelalter. Die Leser der einflussreichen Staatsund Gelehrten Zeitung des Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten und der französischsprachigen Gazette de Hambourg dürften am 16. Januar 1801 jedenfalls nicht schlecht gestaunt haben, als sie lasen, „Se. Majestät, der Kayser“ wünsche, den Krieg, der seit der Französischen Revolution in Europa wütete, durch ein Turnier zu beenden. Zu diesem Zweck gedenke er, „alle die andern Potentaten“ einzuladen, „um mit ihnen in geschlossenen Schranken zu kämpfen, zu welchem Behuf sie ihre aufgeklärtesten Minister und geschicktesten Generale als Knappen, Kampfrichter und Herolde mit sich bringen sollen […]“ Die sensationelle kleine Meldung hatte der Schriftsteller August von Kotzebue, Direktor des Deutschen Theaters in St. Petersburg, den Hamburger Redaktionen übermittelt, und wie Kotzebue schreibt, hatte Paul den Text selbst verfasst, wohl wissend, dass er in Europa nicht ernst genommen wurde. Keiner der „andern Potentaten“ reagierte auf die originelle Einladung, schien sie doch die „Verrücktheit“ des Kaisers zu belegen …
Auch die „gute Kaiserin“ erlebt seit den 1990er-Jahren ein bemerkenswertes Comeback. Im Mittelpunkt des Interesses steht – neben Pawlowsk – ihre Wohltätigkeit, an der es im modernen Russland mangelt. Puschkins Beitrag aus dem Sowremennik, der in den sowjetischen Puschkin-Ausgaben fehlte, weil eine wohltätige Kaiserin nicht in das Bild passte, das sowjetische Historiker von der zaristischen Vergangenheit Russlands zeichneten, wird nun gern zitiert. Für herausragende Wohltätigkeit wird seit ein paar Jahren der Orden „Kaiserin Maria Fjodorowna“ verliehen, der wohl an das „Marien-Abzeichen“ anknüpfen soll, das Nikolaus I. zur Erinnerung an seine Mutter stiftete.
Die Begabung Marias als Zeichnerin, Malerin, Stein- und Stempelschneiderin hat zuerst die Königlich Preußische Akademie der Künste in Berlin gewürdigt, indem sie die kaiserliche „Medailleurin“ im Dezember 1818 als Mitglied aufnahm und gleichzeitig als Ehrenmitglied berief. Damit war sie öffentlich über den Rang einer Dilettantin hinausgehoben. Wenige Jahre nach ihrem Tod wurde die „kunstfertige Fürstin“ in Naglers Neues allgemeines Künstler-Lexikon aufgenommen. Heute werden ihre Arbeiten – Aquarelle, Gemälde, Zeichnungen, geschnittene Steine, Medaillen, Stickereien, Lampen, Kaminschirme, Kirchengerät u.a. – die in der Sowjetzeit ihren Lehrern zugeschrieben wurden, vor allem in den Museen von Pawlowsk und Gattschina, aber auch in der Ermitage, im Russischen Museum und in den Museen des Moskauer Kreml gezeigt, und gelegentlich gelangt ein Stück in den Handel.
In jüngster Zeit haben Russen und Deutsche auch durch große Ausstellungen an die gekrönte Künstlerin erinnert, darunter Krieg und Frieden. Eine deutsche Zarin in Schloss Pawlowsk, München 2001, und Das Vermächtnis der Kaiserin, Pawlowsk 2009. Die „Pawlowsker Lesungen“, wissenschaftliche Konferenzen, die auch immer Maria Fjodorowna gelten, sind wohlbekannte Ereignisse in der russischen Museumswelt.
Ein authentisches Urteil über diese Herrscherin ist gleichwohl nicht einfach, zumal die Ansichten über sie sehr gegensätzlich waren. Zwar kann sie nach ihrer Wohltätigkeit und nach ihrem künstlerischen Schaffen beurteilt werden. Doch Selbstzeugnisse, die Aufschluss über ihre intimen Gefühle und Empfindungen geben könnten, stehen kaum zur Verfügung. Aus Gründen, über die man nur rätseln kann, hat Maria testamentarisch verfügt, ihre Tagebücher und einen großen Teil ihrer außergewöhnlich umfangreichen privaten Korrespondenz ungelesen zu verbrennen. Der offizielle Briefwechsel der Kaiserin ist weitgehend formalisiert und nur bei der Faktensuche hilfreich. Da die russische Post auch die Korrespondenz der kaiserlichen Familie perlustrierte, handeln die privaten Briefe überwiegend von der Gesundheit, vom Wetter und von der Verwandtschaft. Nur wenn es gelang, Briefe mit einem Vertrauten oder einem Kurier zu schicken, konnte Maria offen sein, bat die Adressaten dann aber häufig, ihre Briefe zu verbrennen. Manche Fragen zur Biografie dieser Frau müssen daher unbeantwortet bleiben, ein Umstand, den schon Puschkin, der auch Historiker war, beklagte.
Immerhin lässt sich aus den erhaltenen Quellen herausfiltern, dass Maria ihr Leben lang früh aufstand, im Sommer um sechs, im Winter um sieben Uhr, und sich jeden Morgen mit kaltem Wasser übergoss, dass sie stark kurzsichtig war und mit Ende 30 unter Hämorrhoiden litt (gegen die sie Gurkensaft mit Essig trank), dass sie Blumen, besonders Rosen, über alles liebte und gern im Garten arbeitete, dass sie stets ein enganliegendes Korsett trug und immer der neuesten Mode folgte, dabei helle lebensfrohe Farbtöne bevorzugte, dass sie sehr musikalisch war, Sonaten und Opern mochte, ziemlich gut Cembalo und auch Harfe spielte, aber ungern tanzte, dass sie „wie ein Mann“ (also im Herrensitz) ritt und gelegentlich auf Hasenjagd ging, dass sie mit einem Gewehr umzugehen verstand und dass sie ungewöhnlich belesen war. Auf der Grand Tour, die sie 1781/1782 mit ihrem Mann durch Westeuropa unternahm, hat sie bei einem Halt in Graz einmal Auszüge aus Plinius’ des Jüngeren Lobrede auf den Kaiser Trajan so ausdrucksvoll auf Lateinisch vorgelesen, dass es den anwesenden Österreichern die Sprache verschlug. Von Augusta von Preußen wissen wir, dass ihre „Großmama“ am liebsten Kaffee mit „ein wenig Muskatblüte“ trank, von einem Generaladjutanten ihres ältesten Sohnes, dass sie geradezu süchtig nach Parmesankäse war. Sie aß gern Kirschen und bevorzugte russisches Schwarzbrot. Auch in ihrer Familie achtete sie peinlichst auf Einhaltung der Etikette, und sie liebte große Zeremonien. Wenn im Winter der Schnee länger als eine Woche lag, wurde sie depressiv. Wohl war sie mit der Zeit eine gute Orthodoxe geworden, doch wie sie in ihrem Testament schreibt, las sie jeden Abend in ihrer deutschen Bibel. Sie neigte dazu, Träume und Vorahnungen ernst zu nehmen.
Bis zu ihrem Tod 1828 behielt Maria Fjodorowna in allen Familienangelegenheiten, insbesondere aber bei der Verehelichung ihrer Söhne, Töchter und auch mancher Enkel das letzte Wort. Sie war die Stammmutter der großen Romanow-Familie des 19. Jahrhunderts, infolge dieser Ehen aber auch Schwiegermutter, Großmutter und Tante vieler europäischer Fürsten und Fürstinnen, sodass die günstige Verheiratung ihrer Kinder als ihre Art, Politik zu machen und Russland an Europa zu binden, bezeichnet werden kann. Wohl war sie nicht als württembergische Prinzessin nach St. Petersburg verheiratet worden, sondern als Großnichte des Preußenkönigs, doch ihre Familie profitierte enorm von dieser Heirat: Vier Brüder, darunter Herzog Alexander, der Stammvater des heutigen Hauses Württemberg, und mehrere Neffen, darunter der schriftstellernde Eugen, traten in russische Dienste und bekleideten hohe Stellungen.
Die Ehe der Prinzessin Sophie Dorothea mit Großfürst Paul Petrowitsch war die erste von fünf Verbindungen in vier aufeinander folgenden Generationen, die das Haus Romanow mit dem Haus Württemberg einging. Ihre Tochter Katharina Pawlowna wurde 1816 Königin von Württemberg, und ihren Sohn Michael Pawlowitsch verheiratete sie 1824 mit ihrer Nichte Friederike Charlotte von Württemberg, die als Großfürstin Jelena Pawlowna beträchtlichen Einfluss auf die Reformpolitik Alexanders II. nahm. Ihre Enkelin Olga Nikolajewna heiratete 1846 den Kronprinzen Karl und wurde 1862 Königin von Württemberg, und ihre Urenkelin Wera Konstantinowna, die von Olga und Karl adoptiert wurde, ehelichte 1874 den Herzog Eugen von Württemberg.
Kaiserin Maria war das große Vorbild dieser Fürstinnen. Auch sie haben sich um die öffentliche Fürsorge in ihrer neuen Heimat verdient gemacht und hohes Ansehen erworben. An das soziale Engagement Katharinas, Olgas und Weras erinnern zahlreiche von ihnen gegründete und teilweise auch nach ihnen benannte Einrichtungen in Baden-Württemberg, darunter das Katharinenhospital („KH“), das Königin-Katharina-Stift und das Kinderkrankenhaus Olgahospital („Olgäle“) in Stuttgart, die Weraheime für Mutter und Kind in Stuttgart und Hebsack sowie die Heilandskirche im Stuttgarter Osten. Hingegen ist das Andenken an die Kaiserin in ihrer Heimat fast erloschen. Sie hat sie wohl zu früh verlassen und zu selten besucht, und längst ist vergessen, dass die Marienstraße in Stuttgart, ehemals die Leimen-Gruben, schon seit 1811 ihren Namen trägt.
In der russischen Memoirenliteratur wird Maria Fjodorowna bisweilen vorgeworfen, zu viele Deutsche an den Petersburger Hof geholt zu haben, und überhaupt sei sie „eine Deutsche bis in die Knochen“ gewesen (Nikolaj I. Gretsch). Sie habe Russisch mit starkem deutschem Akzent gesprochen und es nicht richtig schreiben können. Doch auch ohne perfekte Russischkenntnisse war die Württembergerin auf dem Zarenthron eine der bedeutendsten Herrscherinnen des Hauses Romanow und mit Sicherheit Russlands fleißigste und sparsamste Kaiserin.
I In Russland gehört der Vatersname zum Namen: Anna Pawlowna = Anna, Tochter Pawels (Pauls); Maria Fjodorowna = Maria, Tochter Fjodors (Kaiserin Maria erhielt den Vatersnamen jedoch zu Ehren der wundertätigen Ikone „Fjodorowskaja“); Paul Petrowitsch = Paul, Sohn Peters
II Kaiserinmutter, französisch in der Urfassung und in der deutschen Übersetzung
Anmerkung: Aus Gründen der Verständlichkeit werden alle russischen Namen und Begriffe im Fließtext phonetisch transkribiert; die Daten folgen dem Gregorianischen Kalender bzw. Kalender neuen Stils, der erst im Februar 1918 in Russland eingeführt wurde. Bis dahin galt der Julianische Kalender bzw. Kalender alten Stils, der im 18. Jahrhundert elf Tage und im 19. Jahrhundert zwölf Tage hinter dem Gregorianischen zurück war. Nur in den russischen Quellenangaben bleiben hier die Daten alten Stils erhalten.