Читать книгу Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman - Marie-Francoise - Страница 18

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Svenja Birkert war voll konzentriert. Ihr Körper glich einem gespannten Bogen, der nur darauf wartete, losschnellen zu dürfen. Sie hob sich auf die Fußspitzen und wartete auf die Kommandos der Ballettmeisterin.

»Cambré… und passé… und fouetté… und révoltade… Eine Feder mußt du sein! Der Hauch eines Windes muß dich hochheben! Jetzt die capriole…«

So leicht wie eine Feder im Wind schwebte Svenja über die Bühne. Ihre Fußspitzen schienen den Boden überhaupt nicht mehr zu berühren. Doch dann der Fehler… ein häßliches Knirschen im Fußgelenk… der Sturz…

»Nein!«

Svenja erwachte von ihrem eigenen Schrei. Das Nachthemd klebte an ihrem schweißnassen Körper, die Haare hingen in langen, feuchten Strähnen herab. Sie bebte wie im Schüttelfrost, dann fühlte sie den Druck in der Kehle. Ihre Hände fuhren in Panik an den Hals.

In diesem Moment stürzte ihre Mutter herein.

»Svenja, um Himmels willen, schon wieder…«, stieß sie hervor.

»Ich ersticke! Mama, ich… ersticke…«

Mathilde Birkert machte auf dem Absatz kehrt, rannte zum Telefon und alarmierte den Notarzt. Das gehörte für sie seit mehr als zehn Jahren zur Routine.

Beim notärztlichen Dienst war sie ebenfalls schon bekannt.

»Es ist also wieder mal soweit«, erklärte der junge Sanitäter, der mit seinem Kollegen die fahrbare Trage hereinbrachte. Mit geübten Griffen legte er Svenja eine Sauerstoffmaske an, dann wurde die Dreißigjährige auf die Trage gelegt und zum Krankenwagen gebracht…

*

Wenige Minuten später bog dieser in die Einfahrt des Kreiskrankenhauses, während das Martinshorn mit einem letzten Aufjaulen verstummte. Die Hecktüren wurden aufgerissen und die fahrbare Trage herausgezogen. Mit einem stählernen Rasseln klappten die Räder nach unten, dann schoben die Sanitäter Svenja in die Notaufnahme hinein. Der diensthabende Arzt kam sofort herbeigeeilt und warf einen Blick auf die junge Frau, deren Hände trotz der Sauerstoffmaske immer wieder ängstlich an den Hals fuhren.

»Was ist?« fragte er knapp.

»Sie leidet unter Atemnot«, gab der Sanitäter Auskunft, dann betrachtete er den Arzt, den er hier noch nie gesehen hatte. »Sie können gleich den Chefarzt benachrichtigen. Er kennt Frau Birkert seit Jahren.«

Der Arzt war sichtlich erstaunt.

»Aber die Erstversorgung…«, begann er, doch der Sanitäter unterbrach ihn.

»Ist hier nicht nötig.« Er dämpfte die Stimme. »Die Frau ist kerngesund. Blutdruck hundertzwanzig zu siebzig, Puls achtzig. Herz- und Lungengeräusche unauffällig. Benachrichtigen Sie den Chefarzt. Er weiß Bescheid.«

Der Arzt wandte sich der nun ebenfalls herbeieilenden Schwester zu. »Informieren Sie bitte den Chef.« Er warf einen Blick auf die Karte, die von den Sanitätern angelegt worden war und auf dem Kopfteil der Trage lag. »Svenja Birkert…«

Die Schwester seufzte leise und flüsterte: »Schon wieder. Da wird sich der Chef freuen.«

Währenddessen brachte der junge Arzt die Patientin persönlich in eines der Untersuchungszimmer. Es dauerte nicht lan-

ge, bis Chefarzt Dr. Breuer erschien.

»Na, Frau Birkert, haben

Sie wieder Atembeschwerden?« fragte er, während er ihr die Sauerstoffmaske abnahm.

»Ja, Herr Chefarzt«, keuchte sie. »Ich hatte wieder den Traum, und diesmal… diesmal hatte ich wirklich Angst zu ersticken.« Dabei griff sie erneut an ihren Hals. »Was ist das nur?«

»Nichts Schlimmes, Frau Birkert«, beruhigte der Chefarzt sie. »Gleich wird es Ihnen bessergehen.« Er ließ von der Schwester eine Spritze vorbereiten und injizierte sie rasch und geschickt. »So, Frau Birkert, nun werden Sie bald wieder leichter atmen können.«

Svenjas Züge entspannten sich, sogar ein Lächeln erschien auf ihrem aparten Gesicht.

»Ja, Herr Chefarzt, jetzt fühlte ich mich schon viel besser.«

Dr. Breuer lächelte und tätschelte ihren Arm. »Schwester Ingrid wird Sie auf die Station bringen, und ich sehe dann in einer halben Stunde nach Ihnen.«

Svenja erschrak. »In einer halben Stunde erst? Aber wenn ich wieder keine Luft bekomme?«

»Ich habe Ihnen doch gerade die Spritze gegeben, Frau Birkert. Da kann jetzt überhaupt nichts passieren.«

Svenja atmete erleichtert auf.

»Wir sehen uns gleich«, versprach Dr. Breuer noch einmal, dann gab er der Schwester ein Zeichen, daß sie die Patientin nach oben bringen könne.

»Was haben Sie ihr da für ein Wundermittel gespritzt?« wollte der Arzt wissen, der die Behandlung des Chefarztes staunend verfolgt hatte.

»Ein harmloses Vitaminpräparat«, antwortete Dr. Breuer, dann strich er mit einer bedächtigen Handbewegung über seinen Kopf. »Frau Birkert wird regelmäßig hier in der Klinik eingeliefert. Meistens mit Atemnot, gelegentlich auch mit einem drohenden Herzanfall, unerträglichen Kopf- oder Magenschmerzen. Sie haben das nur noch nicht mitbekommen, weil Sie ziemlich neu hier sind.«

»Also eine eingebildete Kranke«, schloß der Arzt.

Dr. Breuer nickte. »Vor zehn oder zwölf Jahren soll sie eine bekannte Ballettänzerin gewesen sein. Sie muß eine vielversprechende Karriere vor sich gehabt haben, doch ein komplizierter Beinbruch hat diesen Traum dann zunichte gemacht. Seitdem redet sie sich ständig irgendwelche Krankheiten ein.« Er seufzte. »Allerdings kann ich ihr da im Grunde nicht viel helfen. Nach einer solchen Geschichte kann ich sie höchstens eine Woche zur Beobachtung hierbehalten. Dabei weiß ich jedesmal bereits an ihrem Entlassungstag, daß sie spätestens in einem Monat wieder hier sein wird.«

»Aber das geht doch so nicht weiter«, entgegnete darauf der Arzt.

Der Chefarzt seufzte. »Was soll ich tun? Sie müßte eine Therapie machen, aber die lehnt sie ab, weil sie sich ja psychisch völlig gesund fühlt. Sie ist überzeugt davon, körperlich krank zu sein. Ich habe unseren Psychiater Dr. Berg auf den Fall aufmerksam gemacht, aber er blieb leider erfolglos. Frau Birkert hat sich geweigert, überhaupt mit ihm zu sprechen.«

»Ein schwieriger Fall«, urteilte der junge Arzt. »Was werden Sie jetzt tun, Herr Chefarzt?«

Dr. Breuer zuckte die Schultern. »Das, was ich immer tue. Ich werde mich ein bißchen um sie kümmern und sie in einer Woche wieder aus der Klinik entlassen.«

»Das ist aber keine Lösung für ihr Problem.«

»Das weiß ich auch«, erklärte Dr. Breuer. »Allerdings habe ich keine andere Wahl. Mit Dr. Berg will sie nicht sprechen, und ich habe nicht die Zeit, um mich mit einer einzigen Patientin so intensiv zu beschäftigen. Das würde den Rahmen der Klinik sprengen. Wir sind hier ein Kreiskrankenhaus, kein Sanatorium.«

*

Svenja Birkert fühlte sich erschöpft und niedergeschlagen. Die Einlieferung ins Kreiskrankenhaus hatte nicht viel gebracht. Schon wieder fühlte sie den Druck in ihrem Hals und begann hektischer zu atmen. Mit zitternden Fingern tastete sie nach der Klingel.

Es dauerte keine zwei Minuten, bis Schwester Ingrid hereinkam.

»Was ist denn, Frau Birkert?« fragte sie mit einem freundlichen Lächeln.

»Es geht wieder los«, keuch-te Svenja. »Ich bekomme keine Luft!«

Mit geübten Griffen legte Schwester Ingrid ihr die Sauerstoffmaske an.

»Ich hole den Chefarzt«, versprach sie dann.

Svenja nickte dankbar.

»Ja, was machen Sie denn für Sachen, Frau Birkert?« fragte Dr. Breuer, als er das Zimmer betrat. Er hatte die vorbereitete Spritze schon mitgebracht und injizierte das Vitaminpräparat, dann setzte er sich auf die Bettkante und nahm der jungen Frau die Sau-erstoffmaske ab. »Ist es so schlimm?«

Svenja nickte. »Ich fühle mich überhaupt so schlecht. Ständig habe ich dieses Herzrasen und seit ein paar Tagen auch noch ganz schreckliche Unterleibsschmerzen. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich noch gehen und stehen soll.«

»Dann wird es am besten sein, wenn wir Sie in die Gynäkologie verlegen, damit…« Er stockte, denn auf einmal kam ihm ein Gedanke, doch er sprach ihn noch nicht aus. Zuerst mußte er alles Nötige arrangieren.

»Ich war schon bei Frau Dr. Steiger«, erklärte Svenja niedergeschlagen. »Aber sie hat gesagt, ich wäre eine Simulantin.«

Dr. Breuer seufzte. Die Gynäkologin, die hier in der Kreisstadt tätig war, hatte im Umgang mit ihren Patientinnen leider nur sehr wenig Feingefühl.

»Ich werde mir etwas überlegen«, meinte er. »Keine Sorge, Frau Birkert, wir werden für Sie die beste Lösung finden.«

»Hoffentlich«, flüsterte Svenja. »Lange halte ich diese Schmerzen nämlich nicht mehr aus.«

Dr. Breuer stand auf, tätschelte aufmunternd die Hand der jungen Frau, dann ging er eiligst in sein Büro.

»Rufen Sie bitte in der Praxis von Dr. Daniel in Steinhausen an«, bat er seine Sekretärin, »und stellen Sie das Gespräch zu mir durch.«

»In Ordnung, Herr Chefarzt«, versicherte sie, doch schon wenig später meldete sie sich über die Gegensprechanlage. »Dr. Daniel hält sich im Moment nicht in seiner Praxis auf, aber die Empfangsdame hat zugesagt, daß

er zurückrufen wird, sobald

er zur Nachmittagssprechstunde kommt.«

*

Dr. Robert Daniel war erstaunt, als seine Empfangsdame Gabi Meindl ihm ausrichtete, er möge bitte unverzüglich den Chefarzt des Kreiskrankenhauses anrufen.

»Guten Tag, Herr Kollege«, grüßte Dr. Daniel, als er Dr. Breuer am Apparat hatte. »Was gibt es denn so Dringendes?«

»Ich habe ein Attentat auf Sie vor«, entgegnete Dr. Breuer.

»Das hört sich ja äußerst gefährlich an«, meinte Dr. Daniel.

»Gefährlich ist es sicher nicht, aber vermutlich wird es ziemlich zeitaufwendig«, prophezeite der Chefarzt. »Ich habe da eine Patientin – dreißig Jahre alt und hoffnunglos hypochondrisch. Durchschnittlich ein- bis zweimal pro Monat wird sie mit dem Krankenwagen hier eingeliefert, aber sie ist körperlich kerngesund. Die Palette ihrer vermeintlichen Krankheiten ist sehr lang, aber heute hat sie nun zum erstenmal über Unterleibsschmerzen geklagt…«

»Und da haben Sie natürlich sofort an mich gedacht«, vollendete Dr. Daniel den angefangenen Satz.

»Ja«, gab der Chefarzt zu. »Allerdings nicht nur an Sie als Gynäkologe, sondern vor allem auch als Direktor der Waldsee-Klinik. Sie wissen ja, wie es hier im Kreiskrankenhaus zugeht. Wir haben einfach nicht die Zeit, um uns eingehender mit den Patienten zu befassen. Das gefällt mir zwar nicht, aber Tatsache ist nun mal, daß wir hier einen regelrechten Massenbetrieb haben. In Ihrer Waldsee-Klinik ist das anders. Wobei ich natürlich nicht abstreiten will, daß Sie da auch eine Menge Arbeit haben«, fügte er rasch hinzu.

»Keine Sorge, Herr Kollege, ich habe das schon richtig verstanden«, meinte Dr. Daniel. »Sie haben auch vollkommen recht. Die Waldsee-Klinik ist bei aller Technik, über die wir verfügen, klein genug, daß man jeden Patienten recht individuell betreuen kann.«

Er schwieg einen Moment. »Sie können die Patientin nach Steinhausen bringen lassen, wann Sie wollen. Ich werde gleich veranlassen, daß ein schönes Zimmer für sie hergerichtet wird.«

»Danke, Herr Kollege«, erklärte Dr. Breuer. »Damit tun Sie mir wirklich einen großen Gefallen. Vielleicht gelingt es Ihnen ja, der armen Frau zu helfen. Ich glaube, daß sie große Probleme hat.«

»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Dr. Daniel.

*

»Sie wollen mich aus der Klinik werfen?« fragte Svenja entsetzt.

»Um Himmels willen, nein, Frau Birkert«, wehrte Dr. Breuer energisch ab. »Von Hinauswerfen kann überhaupt nicht die Rede sein.« Er schwieg einen Moment, um sich seine Worte zurechtzulegen. »Ich habe mir seit Ihrer letzten Einlieferung ins Krankenhaus große Gedanken um Sie gemacht – nicht zuletzt, weil sie über Unterleibsbeschwerden geklagt haben. Es wäre sicher unsinnig, wenn Sie sich deswegen noch einmal an die Kollegin Steiger wenden würden – ganz davon abgesehen, daß ich Sie nur ungern jetzt schon entlassen möchte. Sie wissen ja, daß ich Sie nach Ihren Atembeschwerden immer eine Woche zur Beobachtung hierbehalte.«

Svenja nickte. »Das beruhigt mich auch immer sehr.« Sie sah den Chefarzt an. »Aber besonders gut tun mir die Gespräche mit Ihnen.«

Dr. Breuer nickte. »Das weiß ich, und deshalb habe ich die Klinik, in die ich Sie verlegen möchte, auch mit Bedacht ausgewählt. Kennen Sie Dr. Daniel aus Steinhausen?«

Svenja schüttelte den Kopf. »Nicht persönlich.« Sie seufzte. »Wissen Sie, ich komme mit Frau Dr Steiger nicht besonders gut zurecht, aber irgendwie hatte ich immer Hemmungen, den Frauenarzt zu wechseln. Die Untersuchungen sind ja doch sehr intim, und… ich bin zwar nicht prüde, aber in dieser Hinsicht bevorzuge ich doch eine Ärztin.« Sie machte eine kurze Pause. »Allerdings will ich zugeben, daß ich über Dr. Daniel nur Gu-tes gehört habe.«

»Er ist auch ein sehr rücksichtsvoller Arzt, der von seinem Beruf eine ganze Menge versteht«, meinte Dr. Breuer. »Überdies ist Dr. Daniel auch noch Direktor der Steinhausener Waldsee-Klinik, und ich glaube, dort wären Sie ganz besonders gut aufgehoben«, fuhr er fort. »Die Ärzte und Schwestern, die dort arbeiten, nehmen sich ausgesprochen viel Zeit für ihre Patienten. Die Klinik liegt auch ganz besonders hübsch. Die gute Luft am Waldsee müßte Ihnen gerade mit Blick auf Ihre Atembeschwerden helfen.«

Svenja überlegte eine Weile, dann nickte sie. »Wenn Sie sagen, daß die Waldsee-Klinik gut für mich ist, dann glaube ich Ihnen das.« Sie zögerte kurz. »Wann werden Sie mich dorthin verlegen, Herr Chefarzt?«

»Ich würde vorschlagen, so bald wie möglich, Frau Birkert – am besten heute noch.«

Svenja senkte den Kopf. »Das geht aber sehr schnell.« Sie blickte auf. »Wenn ich mit den dortigen Ärzten nicht zurechtkomme… kann ich dann wieder zu Ihnen kommen?«

»Selbstverständlich, Frau Birkert«, versicherte Dr. Breuer, dann lächelte er. »Aber ich bin sicher, daß Sie sich in der Waldsee-Klinik sehr wohl fühlen werden.«

*

»Fräulein Sarina, ich muß heute unbedingt pünktlich hier wegkommen«, erklärte Dr. Daniel, als er mit seiner jungen Sprechstundenhilfe einen Augenblick allein war. »Vom Kreiskrankenhaus soll um die Mittagszeit eine junge Frau in die Waldsee-Klinik überstellt werden, da ist meine Anwesenheit dringend erforderlich.«

Sarina von Gehrau lächelte. »Das dürfte ausnahmsweise kein Problem sei, Herr Doktor. Nur Frau Rauh sitzt noch im Wartezimmer.«

Dr. Daniel atmete auf. »Da bin ich aber froh. Die Patientin vom Kreiskrankenhaus ist mir nämlich von Chefarzt Breuer persönlich ans Herz gelegt worden.« Dann warf er einen Blick auf die Karteikarte seiner nächsten Patientin. »Bei Frau Rauh ist heute der erste Ultraschall fällig. Richten Sie mir drüben bitte schon alles dafür her.« Er sah auf die Uhr, doch die Zeit würde ganz leicht noch für ein ausführliches Gespräch reichen, und darauf legte Dr. Daniel gerade bei werdenden Müttern besonders wert. Überhaupt nahm er sich für jede Patientin so viel Zeit wie nötig, auch wenn sich die nachfolgenden Termine dadurch meistens verschoben. Die vielen Frauen, die Tag für Tag in seine Praxis kamen, dankten es ihm mit ihrem Vertrauen.

Auch Gerda Rauh gehörte zu diesen Patientinnen. Sie war wegen einer geplatzten Eierstockzyste als Notfall in der Waldsee-Klinik gelandet und dort von Dr. Daniel operiert worden. Seitdem gehörte sie zu seinem Patientenkreis, und ihre jetzige Schwangerschaft verdankte sie haupt-sächlich ihm, denn auf normalem Wege hätte Gerda vermutlich nie ein Kind bekommen können. Erst durch einen Eingriff, den Dr. Daniel zusammen mit seinem besten Freund, Dr. Georg Sommer, an dessen Klinik durchgeführt hatte, hatte sich bei Gerda endlich die langersehnte Schwangerschaft eingestellt.

Jetzt betrat die junge Frau mit einem strahlenden Lächeln das Sprechzimmer. Dr. Daniel kam ihr entgegen und reichte ihr

mit besonderer Herzlichkeit die Hand.

»Guten Tag, Frau Rauh«, begrüßte er sie. »Wie fühlen Sie sich?«

»Blendend!« betonte Gerda. »Abgesehen von ein bißchen morgendlicher Übelkeit geht es mir ausgezeichnet.« Sie seufzte selig. »Ferdinand und ich freuen uns schon so auf das Baby.«

Dr. Daniel nickte lächelnd. »Das glaube ich gern. Sie haben beide einiges auf sich genommen, um dieses Kind zu bekommen.«

Gerda wurde ernst. »Ich will ganz ehrlich sein, Herr Doktor, an diese ganze Prozedur denke ich nur mit Schaudern zurück. Von der Operation, bei der Ferdinands Samen in meinen Eileiter eingebracht worden ist, habe ich ja nichts mitbekommen, aber zuvor und danach… es waren zum Teil schon arge Schmerzen, die ich aushalten mußte.« Dann lächelte sie wieder. »Aber durch das Baby, das ich jetzt erwarte, bin ich mehr als versöhnt.«

Dr. Daniel erhob sich. »Dann wollen wir mal sehen, ob es dem Kleinen auch so gut geht wie Ihnen.« Er lächelte. »Heute können Sie sich Ihren Nachwuchs ja zum ersten Mal auf dem Bildschirm anschauen.«

Gerdas Augen strahlten. »Auf die Ultraschalluntersuchung freue ich mich schon richtig.«

Sie trat hinter den dezent gemusterten Wandschirm und machte sich frei, dann nahm sie auf dem gynäkologischen Stuhl Platz.

»Schade, daß man von der Schwangerschaft noch gar nichts sieht«, meinte sie bedauernd.

Dr. Daniel mußte lachen. »Das kommt noch. Sie sind ja erst im dritten Monat. In ein paar Wochen wird man das Bäuchlein bereits ausmachen können.«

»Ich habe kürzlich zum ersten Mal ein Umstandskleid angezogen«, vertraute Gerda ihm an. »Aber es sah noch zu komisch aus, und ich will ja auch nicht ausgelacht werden.«

»Ich finde es schön, wenn sich eine werdende Mutter so auf ihr Kind freut«, meinte Dr. Daniel, während er sich Plastikhandschuhe überstreifte, dann trat er zu Gerda, um die anstehende Vorsorgeuntersuchung durchzuführen. »Die Gebärmutter hat sich schon sehr schön vergrößert.« Er zögerte. »Sie hat sich im Vergleich zum letzten Mal sogar ganz erheblich vergrößert.«

In Gerdas Augen leuchtete es auf. »Heißt das, daß ich vielleicht doch Zwillinge bekomme?«

Dr. Daniel nickte. »Ich habe Ihnen ja schon vor dem Eingriff gesagt, daß es bei diesem Verfahren sehr leicht zu einer Mehrlingsschwangerschaft kommen kann.«

»Zwillinge wären auch überhaupt kein Problem«, betonte Gerda noch einmal. »Eine zweite Schwangerschaft ist für mich wahrscheinlich sowieso nicht drin, und ursprünglich wollten Ferdinand und ich ja mehrere Kinder haben.«

»Ob sich dieser Wunsch erfüllt, werden wir auf Ultraschall gleich feststellen können«, meinte Dr. Daniel, streifte die Handschuhe ab und warf sie in den Abfalleimer, dann schaltete er den Bildschirm ein und griff nach einer Tube. »Nicht erschrecken, Frau Rauh. Das spezielle Gel, das ich auf Ihrem Bauch verteilen muß, fühlt sich im ersten Augenblick sehr kalt an.«

Dann ließ Dr. Daniel den Schallkopf über Gerdas Bauch gleiten.

»Es sind tatsächlich Zwillinge«, stellte er schon nach kurzer Zeit fest.

»Wie schön!« freute sich Gerda und betrachtete angestrengt die grauen Schatten, doch sie konnte nichts erkennen, was wie ein Baby aussah.

»Sehen Sie das, was da so pulsiert?« fragte Dr. Daniel, und als Gerda eifrig bejahte, fügte er hinzu: »Das ist das Herz des einen Kindes, und hier…« Er stockte, ließ den Schallkopf noch einmal über die Stelle gleiten und überprüfte das, was er sah, sogar noch ein drittes Mal, doch ein Zweifel war für ihn ausgeschlossen.

»Frau Rauh, ich will Sie nicht erschrecken«, erklärte er, »aber es ist möglich, daß Sie nicht nur Zwillinge, sondern sogar Drillinge bekommen.«

Im ersten Moment brachte Gerda kein Wort hervor, doch dann strahlte sie. »Drillinge!« Sie schüttelte den Kopf. »Damit können Sie mich nicht erschrecken. Ich sagte doch, daß Ferdinand und ich mehrere Kinder wollten.«

»Ja, schon, aber nicht unbedingt auf einmal«, wandte Dr. Daniel ein, dann lächelte er. »Ich fürchte, da kommen stressige Zeiten auf Sie zu.«

»Ferdinand wird mir beistehen«, erklärte Gerda voller Überzeugung. »Und in der ersten Zeit können meine Eltern bei uns wohnen. Mutti ist nicht der Typ, der vor der Arbeit davonläuft.«

»Dann ist es ja gut«, meinte Dr. Daniel, führte Abmessungen der Babys noch durch und druckte drei besonders gute Ultraschallaufnahmen aus.

Als sich Gerda wieder angekleidet hatte, legte Dr. Daniel die Bilder mit den grauen Schatten vor sich hin, zeigte ihr, wo sich welches Körperteil befand, und je länger Gerda die Aufnahmen betrachtete, um so mehr hatte sie das Gefühl, wirklich ihre Babys zu sehen.

»Drillinge«, wiederholte sie in schwärmerischem Ton, dann sah sie Dr. Daniel mit plötzlichem Ernst an. »Haben die denn alle Platz da drin?« Dabei wies sie auf ihren Bauch.

»Das ist tatsächlich ein kleines Problem, auf das ich Sie jetzt ohnehin noch angesprochen hätte«, erklärte Dr. Daniel. »Im Körper einer Frau ist eigentlich alles nur für ein Kind eingerichtet. Zwillinge sind schon manchmal etwas schwierig, aber bei Ihnen sind es nun sogar drei Babys, die da heranwachsen, und obwohl ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr damit rechne, muß ich Ihnen sagen, daß einer der Embryonen noch absterben könnte.«

Gerda erschrak. »Wie groß ist die Gefahr?«

»Nicht mehr sehr groß«, räumte Dr. Daniel ein. »Meistens passiert das schon in den ersten Wochen. Sie gehen bereits in den vierten Monat, also halte ich es für unwahrscheinlich. Allerdings muß ich Ihnen ebenfalls gleich sagen, daß bei Drillingen eine natürliche Geburt praktisch ausgeschlossen ist. Wir müssen die Babys mit Kaiserschnitt holen, und sie werden sicher nicht das Geburtsgewicht eines einzelnen Kindes erreichen. Das bedeutet, daß auch nach der Geburt der Kinder die Gefahr noch nicht gebannt ist. Die meisten Mehrlinge liegen bei einem Geburtsgewicht von unter zweitausendfünfhundert Gramm, und das kann manchmal recht problematisch werden.«

Sehr ernst sah Gerda ihn an. »Das bedeutet, daß die Babys auch nach der Geburt noch sterben könnten.«

»Die Medizin ist in dieser Hinsicht schon sehr weit«, entgegnete Dr. Daniel. »Überdies verfügt die Waldsee-Klinik über eine ausgezeichnete Entbindungs- und Säuglingsstation, aber es ist dennoch meine Pflicht, Sie über die möglichen Risiken aufzuklären.«

Gerda nickte. »Ich bin froh, daß Sie mir das alles sagen. Das ist mit ein Grund, weshalb ich Ihnen von Anfang an blind vertrauen konnte.«

»Das freut mich natürlich zu hören«, meinte Dr. Daniel, dann lächelte er. »Wir werden jedenfalls alles tun, um Ihre drei Babys gesund auf die Welt zu holen. Grundvoraussetzung dafür ist, daß Sie regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen kommen und zwar nicht nur alle vier Wochen, wie es bei normalen Schwangerschaften üblich ist, sondern am besten sogar alle zwei Wochen. Im übrigen würde ich Ihnen ab dem fünften Monat zu einer speziellen Geburtsvorbereitung raten.« Er nahm einen Notizzettel und schrieb eine Adresse auf. »Ich kenne Herrn Brunner zwar nicht persönlich, aber ich hatte schon etliche Patientinnen mit Zwillingsgeburten, die von ihm in den höchsten Tönen schwärmten.«

Gerda nahm den Zettel entgegen.

Raimund Brunner, las sie, dann sah sie Dr. Daniel an. »Ist er so etwas wie eine männliche Hebamme?«

»Nein, Frau Rauh. Herr Brunner ist Krankengymnast, hat sich aber auf außergewöhnliche Fälle spezialisiert. Wie gesagt, ich kenne ihn leider nicht persönlich. Meistens habe ich von ihm erst gehört, wenn die jeweiligen Patientinnen entbunden hatten. Aber vielleicht ergibt sich nun durch Sie eine Zusammenarbeit zwischen Herrn Brunner und mir.« Er lächelte wieder. »Wenn wir drei gemeinsam an einem Strang ziehen, werden diese drei Babys bestimmt gesund zur Welt kommen.«

*

Svenja Birkert war so nervös, daß sich auf der Fahrt zur Waldsee-Klinik wieder Atembeschwerden bei ihr einstellten. Mit der Sauerstoffmaske vor dem Gesicht und hektisch zukkenden Händen traf Svenja schließlich in Steinhausen ein und wurde dort von Chefarzt Dr. Wolfgang Metzler und Dr. Daniel in Empfang genommen.

»Dr. Breuer spritzt ihr in diesen Fällen immer irgendein Vitaminpräparat«, raunte der Sanitäter Dr. Daniel zu, dann zuckte er die Schultern. »Es ist vollkommen harmlos, aber sie denkt, es würde ihr helfen.«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Damit fangen wir hier gar nicht erst an.« Er sprach kurz mit Dr. Metzler, dann beugte er sich zu Svenja und nahm ihr die Sauerstoffmaske ab.

Die junge Frau holte keuchend Atem, ihre Hände fuhren an den Hals.

»Ich ersticke!« stieß sie angstvoll hervor.

»Nein, Frau Birkert, Sie werden nicht ersticken«, erklärte Dr. Daniel eindringlich, und der Klang seiner tiefen, warmen Stimme zeigte wieder einmal die gewünschte Wirkung. Svenja wurde ruhiger, wenn ihre Hände auch noch immer bebten und sie keuchend atmete.

In diesem Moment kehrte Dr. Metzler zurück und reichte Dr. Daniel ein feuchtes Tuch, das dieser Svenja vor das Gesicht hielt.

»Atmen Sie tief ein, Frau Birkert«, erklärte er. »Der Lavendelduft wird Sie ein wenig beruhigen, dann fällt auch das Atmen wieder leichter.«

Dr. Daniels bestimmtes Handeln gab Svenja Sicherheit. In ihr waren zwar noch immer Angst und Nervosität, trotzdem schaffte sie es, die Anordnung des Arztes zu befolgen.

»Es geht wieder«, meinte sie nach einer Weile und brachte dabei sogar ein Lächeln zustande. »Dr. Breuer hat mir immer eine Spritze gegeben.«

»Das hätte ich vielleicht auch getan, wenn sich die Atemnot nicht gebessert hätte«, entgegnete Dr. Daniel. »Aber ich wollte es erst einmal ohne Medikamente versuchen.« Mit besonderer Herzlichkeit reichte er Svenja die Hand. »Jetzt komme ich endlich dazu, mich vorzustellen. Mein Namen ist Robert Daniel. Ich bin Gynäkologe hier in Steinhausen und Direktor dieser Klinik.« Er wies auf den neben ihm stehenden Arzt. »Das hier ist Chefarzt Dr. Metzler, aber mit ihm werden Sie nur wenig zu tun haben. Er wird Sie morgen während der täglichen Visite besuchen. Ansonsten kümmere ich mich persönlich um Sie.«

Dr. Daniel wandte sich den beiden Sanitätern zu und bedankte sich, bevor er Svenja ins erste Stockwerk und zu ihrem Zimmer brachte.

»Was für eine herrliche Aussicht!« schwärmte Svenja und fühlte dabei eine Begeisterung wie schon lange nicht mehr. Ihr Blick ging über die Tannenwipfel, durch die man den Waldsee schimmern sah, und hinauf zum Kreuzberg, an dessen Gipfel bereits Schnee lag, dann sah sie Dr. Daniel an. »Dr. Breuer hatte recht. Ich glaube, hier werde ich mich wohl fühlen. Und wenn Sie mich noch von meinen Unterleibsschmerzen befreien können…«

»Ich werde jedenfalls mein Möglichstes tun«, versprach Dr. Daniel. »Wenn Sie sich kräftig genug fühlen, kann ich Sie ja schon mal untersuchen. Sie können sich aber auch erst ein bißchen hier einleben.«

»Nein, Herr Doktor, das ist nicht nötig«, wehrte Svenja ab. »Ich wäre froh, wenn Sie mich gleich untersuchen könnten.«

»Gut«, meinte Dr. Daniel, dann setzte er sich ohne große Umstände auf die Bettkante. »Erzählen Sie mir etwas über Ihre Beschwerden, damit ich mir schon mal ein ungefähres Bild machen kann.«

»Tja, ich weiß nicht so recht, wie ich das beschreiben soll«, entgegnete Svenja. »Es ist so ein Druckgefühl… so, als wäre da etwas, was dort nicht hingehört.« Sie senkte den Kopf. »Ich habe Angst, daß es Krebs ist. Man hört doch so viel…« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie ihr langes dunkelblondes Haar zurück. »Meine Krankheiten machen mir alle solche Angst… Meine Mutter sagt oft, ich sollte mich nicht so anstellen.« Sie seufzte. »Mama hat es nicht leicht mit mir. Seit mehr als zehn Jahren bin ich öfter in Krankenhäusern als zu Hause, und da sagt sie eben oft auch Dinge, die sie gar nicht so meint. Im Grunde kümmert sie sich rührend um mich.«

»Sie wohnen also noch immer zu Hause«, stellte Dr. Daniel fest.

Svenja nickte, dann errötete sie ein wenig. »Ich weiß, für eine Frau in meinem Alter ist das ungewöhnlich. Immerhin werde ich bald einunddreißig, aber… nun ja, durch meine Atembeschwerden… mein Herz spielt manchmal auch verrückt. Ständig bekomme ich Herzrasen und so ein seltsames Stechen.«

Dr. Daniel nickte. »Wir werden Sie hier in der Klinik gründlich untersuchen, wenn Sie das möchten.«

»O ja, das würde mich sehr beruhigen«, erwiderte Svenja rasch, dann senkte sie wieder den Kopf. »Anfangs hat mich Dr. Breuer auch immer ganz gründlich untersucht, aber in den vergangenen Jahren nicht mehr.« Sie schwieg kurz. »Ich glaube, er hat meinen Zustand nicht mehr ganz ernst genommen.«

»So dürfen Sie das nicht sehen«, meinte Dr. Daniel. »Im Kreiskrankenhaus herrscht eben sehr viel mehr Betrieb als hier bei uns. Die Waldsee-Klinik verfügt nur über zwei Abteilungen, da können wir uns für unsere Patienten viel mehr Zeit nehmen.« Er stand auf. »So, und jetzt sehe ich mir erst mal an, was Ihnen solche Beschwerden bereitet.«

Svenja nickte, doch um ihre Mundwinkel begann es plötzlich zu zucken. »Muß ich gleich auf diesen schrecklichen Stuhl?«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, Frau Birkert, diese erste Untersuchung kann ich auch hier im Bett durchführen.« Er stellte das Kopfteil nach unten, so daß Svenja ganz gerade lag. »Die Beine bitte anwinkeln und dann ganz locker ein wenig auseinanderfallen lassen.« Er lächelte sie aufmunternd an. »Keine Sorge, ich werde sehr vorsichtig sein.«

Die Untersuchung im Bett gestaltete sich schwierig, und normalerweise hätte Dr. Daniel sie hier auch gar nicht durchgeführt, doch bei Svenja rechnete er mit keinem krankhaften Befund. Es war ihm daher wichtiger, der Patientin Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Eine etwas gründlichere Untersuchung konnte er auch noch zu einem späteren Zeitpunkt durchführen.

»Und? Haben Sie etwas gefunden?« fragte Svenja ängstlich.

»Nein, Frau Birkert«, antwortete Dr. Daniel. »Aber wie gesagt – wir werden Sie hier noch ganz gründlich untersuchen, doch noch nicht heute.« Er lächelte Svenja an. »Zuerst einmal sollten Sie sich hier ein wenig heimisch fühlen.«

»Ich glaube, das wird nicht lange dauern«, meinte Svenja und sah sich in dem fast gemütlich anmutenden Zimmer um. »Irgendwie hat man hier gar nicht das Gefühl, als wäre man in einem Krankenhaus.«

Dr. Daniel lächelte. »Das kommt Ihnen nur hier in der Gynäkologie so vor. Drüben in der Chirurgie tritt der Krankenhauscharakter sehr viel deutlicher zutage. Aber da hinüber müssen Sie nur für einige der anstehenden Untersuchungen.«

Spontan griff Svenja nach seiner Hand und drückte sie voller Innigkeit. »Ich bin so froh, daß Dr. Breuer mich zu Ihnen geschickt hat. Ich habe das Gefühl, als könnte ich hier ganz gesund werden.«

*

Dr. Daniel war an diesem Nachmittag gerade in seiner Praxis, als seine Sprechstundenhilfe Frau Birkert anmeldete.

»Wie bitte?« fragte Dr. Daniel verblüfft. »Das kann doch gar nicht…« Dann fiel ihm ein, daß Svenja von ihrer Mutter gesprochen hatte. »Bringen Sie die Dame bitte herein.«

Dr. Daniel erschrak ein wenig, als er die verhärmte Frau sah, die sicher nicht viel älter als

fünfzig sein konnte.

»Der Chefarzt des Kreiskrankenhauses hat mich angerufen und gesagt, Svenja wäre jetzt bei Ihnen«, erklärte sie. Ihre Stimme klang leise und schleppend, wie bei einer sehr alten, kranken Frau und paßte genau zu ihrem Erscheinungsbild.

»Das ist richtig, Frau Birkert«, antwortete Dr. Daniel, dann wies er auf einen der beiden Sessel, die vor seinem Schreibtisch standen. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Mit langsamen, müden Bewegungen kam Mathilde Birkert seiner Aufforderung nach. Die ständige Sorge um ihre einzige Tochter hatte ihr mit den Jahren alle Kraft geraubt.

»Ich bin sehr froh, daß ich Gelegenheit habe, mich mit Ihnen zu unterhalten, bevor wir mit den Untersuchungen bei Ihrer Tochter beginnen«, eröffnete Dr. Daniel das Gespräch.

Mathilde runzelte die Stirn. »Untersuchungen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein, Herr Doktor. Chefarzt Breuer hat mir gesagt, daß Svenja sich alles nur einbildet.« Aus ängstlichen Augen sah sie Dr. Daniel an. »Seien Sie ehrlich, Herr Doktor, diese Waldsee-Klinik… ist das ein Irrenhaus? Wird Svenja jetzt etwa allmählich verrückt?«

»Nein, Frau Birkert, davon kann überhaupt keine Rede sein«, entgegnete Dr. Daniel entschieden. »Im übrigen ist die Waldsee-Klinik keine psychiatrische Anstalt, sondern ein ganz normales Krankenhaus.« Er lä-chelte. »Nun ja, vielleicht doch nicht ganz normal. Es ist eine verhältsnismäßig kleine Klinik, nicht vergleichbar mit dem Kreiskrankenhaus, aber das war ja von Anfang an der Sinn der Sache. Die Waldsee-Klinik verfügt nur über eine Chirurgie und eine Gynäkologie. Das hat den Vorteil, daß wir uns hier ganz besonders intensiv um unsere Patienten kümmern können. Deshalb hat Dr. Breuer Ihre Tochter zu uns überwiesen.« Er schwieg einen Moment. »Ich nehme an, Sie wissen, daß Ihre Tochter schwere psychische Probleme hat.«

Mathilde nickte niedergeschlagen. »Sie war einmal eine Primaballerina… nein, mehr als das – sie war die Primaballeri-

na schlechthin. Damals war sie fünfzehn, und die Ballettmeisterin sagte immer, Svenja wäre noch längst nicht am Höhepunkt ihrer Karriere angelangt. Drei Jahre tanzte sie sich in die Herzen des Publikums… sie war der gefeierte Star… an allen großen Bühnen der Welt zu Hause…« Mathilde nestelte ihr Taschentuch hervor und betupfte sich Augen und Nase. »Bei einer Probe stürzte sie unglücklich und brach sich das Fußgelenk. Seitdem ist sie ein anderer Mensch geworden.«

Dr. Daniel war tief erschüttert. Jetzt begriff er, weshalb sich Svenja ständig in irgendwelche Krankheiten flüchtete. Sie lief vor dem Leben davon… vor einem Leben, in dem sie einst ein Star gewesen und jetzt völlig vergessen war.

»Ich werde versuchen, Ihrer Tochter zu helfen«, versprach Dr. Daniel, doch Mathilde schüttelte resigniert den Kopf.

»Das hat Dr. Breuer vor mehr als zehn Jahren auch gesagt«, entgegnete sie leise. »Anfangs hat er sich auch sehr bemüht, hat einen jungen Psychiater mit ihrem Fall betraut, doch alles war zwecklos. In den letzten Jahren blieb Svenja nur noch tageweise im Krankenhaus, dann wurde sie wieder entlassen. Und ein paar Wochen später wurde sie mit dem Krankenwagen erneut eingeliefert, weil sie behauptete, keine Luft zu bekommen, oder weil ihr Herz verrückt spielte. Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Nierenkoliken… es gibt nichts, was meine Tochter angeblich nicht gehabt hätte.« Mit einer müden Handbewegung wischte sie sich über die Stirn. »Sie werden auch bald aufgeben, Herr Doktor. Meiner Tochter kann niemand helfen… es sei denn, sie könnte wieder das tun, woran ihr ganzes Herz hängt: Tanzen.«

»Das Leben besteht nicht nur aus Tanzen«, erwiderte Dr. Daniel ernst. »Es gibt vieles, wofür es sich zu leben lohnt, und ich werde versuchen, das auch Ihrer Tochter nahezubringen.« Er stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und griff nach Mathildes Hand. »Ich gebe nicht so schnell auf, Frau Birkert.«

Mathilde hob den Blick und sah in die gütigen blauen Augen des Arztes. Hoffnung keimte in ihr auf.

»Sie wollen es wirklich versuchen?« flüsterte sie.

Dr. Daniel nickte. »Vor uns liegt sicher ein weiter und manchmal wohl auch beschwerlicher Weg, aber ich werde al-

les tun, um Ihrer Tochter die

Lebensfreude zurückzugeben. Wenn mir das gelingt, werden auch ihre Krankheiten einmal der Vergangenheit angehören.«

*

»Sie ist kerngesund«, erklärte Dr. Metzler und schob die Krankenakte, die über Svenja Birkert angelegt worden war, Dr. Daniel zu.

Dieser nickte. »Das war von vornherein klar, Wolfgang. Mit den Untersuchungen wollte ich letztlich nur erreichen, daß Frau Birkert das Gefühl bekommt, ernst genommen zu werden. Ihre Lage ich schwierig genug, und sie kann sich nur verschlimmern, wenn sie ständig das Gefühl haben muß, man würde ihre Beschwerden einfach abtun.«

Dr. Metzler seufzte. »Du hättest Psychiater werden sollen.«

»Wenn du das in diesem Tonfall sagst, klingt es wie ein Vorwurf«, entgegnete Dr. Daniel.

»Es soll aber kein Vorwurf sein«, verwahrte sich Dr. Metzler. »Ich meine nur… nun ja, diese Frau ist bereits an einem Punkt angelangt, wo sie wirklich psychiatrische Hilfe bräuchte. Sie gehört eigentlich in eine spezielle Einrichtung, und die ist in der Waldsee-Klinik nun mal nicht gegeben.«

Dr. Daniel lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich gebe dir vollkommen recht, Wolfgang. Frau Birkert wäre in einer psychiatrischen Klinik tatsächlich am besten aufgehoben – vorausgesetzt, sie selbst würde das auch wollen. Das ist aber nicht der Fall. Immerhin hat Dr. Berg aus dem Kreiskrankenhaus schon einen Behandlungsversuch unternommen, der fehlgeschlagen ist, und du weißt selbst, daß Berg ein ausgezeichneter Psychiater ist.«

Dr. Metzler schwieg, doch Dr. Daniel wußte auch so, was er dachte.

»Sprich es ruhig aus, Wolfgang«, ermunterte er ihn.

Der Chefarzt seufzte. »Du wirst mich wohl für herzlos halten, aber… ich bin der Meinung, man sollte Frau Birkert in eine andere Klinik überweisen.«

»Ich halte dich überhaupt nicht für herzlos, weil ich genau weiß, daß auch dir nur das Wohl der Patientin am Herzen liegt, und du fragst dich, wie ich ihr helfen will, wenn nicht einmal Berg das geschafft hat.«

Eine kaum sichtbare Röte huschte über Dr. Metzlers Gesicht, denn Dr. Daniel hatte mit seiner Vermutung genau ins Schwarze getroffen.

»Zwischen Berg und mir besteht ein großer Unterschied«, fuhr Dr. Daniel nun fort. »Ich besitze das Vertrauen der Patientin.«

»Das ist aber auch so ungefähr das einzige, was du…«

»Es ist das Wichtigste, Wolfgang«, fiel Dr. Daniel ihm ins Wort. »Und das weißt du auch ganz genau. Ohne das Vertrauen des Patienten ist der Arzt oftmals machtlos. Überdies habe ich von Frau Birkerts Mutter so viel über sie erfahren, daß ich ziemlich genau weiß, wo ich ansetzen muß.« Er schwieg kurz und warf dabei einen Blick in die Krankenakten. »Wurde eigentlich die Röntgenaufnahme gemacht, die ich angeordnet habe?«

Dr. Metzler schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich habe Stefan damit beauftragt. Er wird die Aufnahme morgen früh machen.« Er sah Dr. Daniel an. »Was versprichst du dir eigentlich davon?«

Der Arzt zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht genau.«

Er lächelte. »Von uns beiden bist du der Chirurg, und es könnte sein, daß ich da gewisse Hoffnungen auf dich setze.«

»Die Frau ist dreißig, Robert«, wandte Dr. Metzler ein. »Selbst ohne eine mehr als zehnjährige Pause wäre die Zeit des Spitzentanzens für sie vorbei.«

»Ich weiß«, gab Dr. Daniel zu. »Darum geht es auch gar nicht. Ins Ballett könnte sie nicht mehr zurück, aber es wäre möglich, daß es ihr psychisch helfen würde. Vielleicht könnte sie ihre Fähigkeiten sogar irgendwie beruflich nutzen.«

Dr. Metzler dachte eine Weile nach, dann nickte er. »Das ist ein Argument. Also, sobald Stefan die Aufnahme gemacht hat, werde ich sie mir ansehen.«

»Zusammen mit Gerrit«, fügte Dr. Daniel hinzu.

Dr. Metzler zog eine Grimasse. »Danke!«

»Wolfgang, nun sei nicht gleich beleidigt«, erklärte Dr. Daniel besänftigend. »Gerrit ist hier Oberarzt, und das hat auch seinen guten Grund. Ihr zwei seid in der Chirurgie ein unschlagbares Team, und deshalb möchte ich, daß ihr euch gemeinsam mit dem Fall befaßt.«

»Jawohl, Herr Direktor«, knurrte Dr. Metzler, obwohl er durch Dr. Daniels Worte längst wieder versöhnt war.

Jetzt drohte Dr. Daniel ihm scherzhaft mit dem Finger. »Mein lieber Wolfgang, reiß dich bloß zusammen. Du weißt genau, wie ungern ich diesen hochtrabenden Titel höre, den du mir einst verpaßt hast.« Dann stand er auf. »So jetzt muß ich aber zusehen, daß ich endlich an die Arbeit komme.«

Auch Dr. Metzler erhob sich.

»Robert«, erklärte er sehr ernst. »Ich hoffe, daß du dieser armen Frau helfen kannst.«

*

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sich Svenja wieder ernst genommen. Sie hatte zu Dr. Breuer immer Vertrauen gehabt, doch in den vergangenen Jahren war seine Betreuung doch mehr und mehr zur Routine geworden. Gegen ihre Beschwerden hatte sie immer irgendwelche Spritzen bekommen, war eine Woche zur Beobachtung im Krankenhaus geblieben und anschließend entlassen worden, ohne daß die Ursache für ihre Krankheiten erforscht worden wäre.

Hier in der Waldsee-Klinik war alles anders. Man hatte EKG und EEG gemacht, die Lunge geröntgt und auch eine Magen- und Darmspiegelung durchgeführt.

»Guten Tag, Frau Birkert.«

Svenja blickte auf und direkt in Dr. Daniels Gesicht.

»Guten Tag, Herr Doktor«, erwiderte sie und lächelte dabei sogar. »Ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören.«

»Ich bin aber nicht wie ein Geist durch die Wand gekommen«, meinte Dr. Daniel schmunzelnd.

Svenja mußte lachen. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort.«

Wie immer setzte sich Dr. Daniel auf die Bettkante. »Es ist schön, Sie einmal lachen zu sehen, Frau Birkert.«

Erst in diesem Augenblick wurde es Svenja bewußt, daß sie zum ersten Mal seit langem wieder gelacht hatte.

»Es ist seltsam«, meinte sie. »Seit ich hier in der Klinik bin, fühle ich mich irgendwie… leicht. Ich hatte seit Tagen keine Atembeschwerden mehr, und auch die Unterleibsschmerzen sind längst nicht mehr so schlimm.«

Da Svenja von sich aus ihre gesundheitlichen Probleme ansprach, beschloß Dr. Daniel den Versuch zu einem ersten Gespräch zu unternehmen.

»Dr. Metzler und ich haben Sie sehr gründlich untersucht«, begann er. »Dabei sind wir zu dem Schluß gekommen, daß Ihre körperlichen Beschwerden Ausdruck für etwas sind, was in Ihrem Kopf abläuft.«

Verständnislos sah Svenja ihn an. »Soll das heißen, daß ich… daß ich mir das alles nur einbilde? Ja… bin ich denn am Ende schon verrückt?«

»Nein, Frau Birkert, natürlich nicht!« verwahrte sich Dr. Daniel. »Mit Verrücktheit hat das, was bei Ihnen passiert, überhaupt nichts zu tun. Es geht vielmehr um etwas, was von Ihnen niemals wirklich verarbeitet worden ist.«

Svenja senkte den Kopf. Sie wußte plötzlich, worauf Dr. Daniel hinauswollte, und wahrscheinlich hatte er recht. Sie hatte nie über den Unfall und ihre so jäh beendete Ballettkarriere gesprochen. Sie hatte alles nur in sich vergraben und sich geschworen, es nie an die Oberfläche kommen zu lassen. Niemals wollte sie zulassen, daß der unerträgliche Schmerz von ih-rem Herzen Besitz ergreifen würde.

»Ich kann nicht darüber sprechen, Herr Doktor«, flüsterte sie. »Es ist einfach zu schmerzhaft.«

Tröstend griff Dr. Daniel nach ihrer Hand. »Ich kann das sehr gut nachempfinden, Frau Birkert. Auch in meinem Leben gab es einmal ein schlimmes Ereignis, über das ich lange nicht sprechen konnte.«

»Wirklich?« Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Sie machen eigentlich den Eindruck, als könnten Sie mit allem fertig werden.«

Dr. Daniel blieb ernst. »Den Tod meiner ersten Frau konnte ich nur sehr schwer verkraften, und wenn ich meine beiden Kinder und meinen besten Freund nicht gehabt hätte, dann…« Er schwieg kurz. »Es hat fünf Jahre gedauert, bis ich mit meinem Freund über den Tod meiner Frau sprechen konnte, und erst danach konnte ich dann wirklich noch einmal von vorn beginnen.«

Svenja seufzte tief auf. »Was Sie durchgemacht haben, war sicher schlimm, aber… Sie hatten wenigstens die Möglichkeit, noch einmal von vorn zu beginnen. Bei mir ist das unmöglich.«

Dr. Daniel zögerte. Er wollte nicht der erste sein, der das Wort »Ballett« aussprach. Diesen Schritt mußte Svenja selbst gehen. Also hakte er noch einmal bei seiner eigenen Geschichte ein.

»Vielleicht haben Sie recht«, meinte er. »Ich habe vor kurzem tatsächlich wieder geheiratet und bin sehr glücklich – wenn auch auf andere Weise, als ich es mit meiner ersten Frau gewesen bin, aber das ist nur ganz natürlich. Kein Mensch kann durch einen anderen ersetzt werden, und ich wollte für meine erste Frau auch gar keinen Ersatz finden. Ich habe dieses zweite Mal wieder aus Liebe geheiratet und nicht, weil ich vielleicht nicht länger allein sein wollte. Allerdings kommt es gar nicht allein darauf an, was genau man nach einem schlimmen Erlebnis aus seinem weiteren Leben macht, sondern vor allem auch darauf, daß man überhaupt noch etwas daraus macht.«

Svenja ließ die Worte in sich nachklingen, dann nickte sie. »Das ist sicher richtig, aber… ich kann nicht… ich kann einfach nicht…«

Unwillkürlich begann sie schwerer zu atmen, was Dr. Daniel natürlich sofort bemerkte. Rasch stand er auf und holte ein feuchtes Tuch, auf das er einige Tropfen Lavendelöl geträufelt hatte.

»Ruhig und tief atmen, Frau Birkert«, erklärte er, und allein seine Stimme vermochte die junge Frau schon ein wenig zu beruhigen. Dennoch dauerte es eine Weile, bis ihr Atem wieder normal ging.

Erschöpft lehnte sie sich zu-rück. »Sehen Sie, wenn ich nur daran denke, habe ich schon das Gefühl zu ersticken.«

Da legte Dr. Daniel behutsam eine Hand auf die ihre. »Wir haben Zeit, Frau Birkert. Irgendwann wird es Ihnen möglich sein, darüber zu sprechen.«

Traurig schüttelte sie den Kopf. »So lange werde ich nicht hierbleiben können. Sie werden dieses Bett brauchen, wenn…«

»Nein, Frau Birkert«, fiel Dr. Daniel ihr sanft ins Wort. »Wir werden Sie erst entlassen, wenn Sie gesund sind oder wenn Sie selbst es möchten.«

In Svenjas Blick lagen Staunen und Bewunderung. »Ich hätte nicht gedacht, daß es solche Ärzte wie Sie überhaupt noch gibt.«

*

»Grüß Gott, Frau Rauh!«

Gerda zuckte erschrocken zusammen, als sie so unerwartet und dann auch noch mit forscher Stimme angesprochen wurde. Sie sah den großen, breitschultrigen Mann Mitte Dreißig an und fragte sich, wie sie sein Hereinkommen hatte überhören können.

»Raimund Brunner«, stellte er sich jetzt vor und gab ihr mit einem freundlichen Lächeln die Hand. Sein kräftiger Händedruck paßte zu seiner ganzen Erscheinung, und einen Augenblick lang war Gerda nicht sicher, ob ihr dieser resolute Krankengymnast wirklich sympathisch sein sollte oder nicht.

»Was führt Sie zu mir?« wollte er wissen, dann warf er einen Blick auf ihren inzwischen schon sanft gerundeten Bauch und grinste. »Zwillinge, nehme ich an.«

Gerda schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Brunner, es werden Drillinge.«

»Alle Achtung«, meinte er, und in seiner Stimme schwang so etwas wie Bewunderung mit. »Da haben Sie sich ja ganz schön was vorgenommen. Bei wem sind Sie denn in Behandlung?«

»Bei Dr. Daniel.«

»Soso.« Raimund Brunner schmunzelte. »Er scheint so etwas wie der allgemeine Dorfarzt zu sein.«

»Dr. Daniel ist ein erstklassiger Gynäkologe, darüber hinaus auch sehr rücksichtsvoll und…«

Raimund hob beide Hände, als würde Gerda mit einer Pistole auf ihn zielen.

»Gnade!« flehte er. »Ich wollte dem guten Doktor bestimmt nicht zu nahetreten.« Dann grinste er wieder. »Vielleicht lerne ich ihn jetzt auch endlich mal kennen. Bei Drillingen sollten wir ja doch besser Hand in Hand arbeiten.«

»Das ist auch seine Meinung«, entgegnete Gerda, dann sah sie den jungen Mann an. »Ich frage mich nur, ob er sich das auch noch wünscht, wenn er Sie erst kennengelernt hat.«

Raimunds Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Sagen Sie bloß, ich wäre Ihnen unsympathisch.«

Gerda schwieg, doch das kam beinahe einer Antwort gleich.

»Keine Sorge, da sind Sie nicht die erste«, meinte Raimund ungerührt. »Die meisten meiner Patienten haben anfangs Schwierigkeiten, sich an meine direkte Art zu gewöhnen. Ich bin nun mal ein Mensch, der gleich sagt, was er denkt, und das kommt nicht immer gut an. Allerdings habe ich mich bis jetzt noch mit fast jedem zusammengerauft, und ich denke, wir beide werden uns auch gut verstehen, wenn Sie mich erst mal ein bißchen besser kennen.«

Er begleitete Gerda in den kleinen Raum, in dem nur ein Schreibtisch und zwei Stühle standen.

»Bitte, nehmen Sie Platz.« Er wartete, bis Gerda saß, dann setzte auch er sich. »Sie erwarten also Drillinge. Darf ich mal einen Blick in den Mutterpaß werfen?«

Bereitwillig reichte Gerda ihm das blaue Heft, und Raimund überflog die Eintragungen. Dann nickte er.

»Soweit scheint ja alles in Ordnung zu sein«, meinte er. »Ich nehme an, die Babys werden mit Kaiserschnitt geholt.«

»Ja«, antwortete Gerda. »Dr. Daniel hält bei Drillingen eine Spontangeburt für unmöglich.«

»Da hat er absolut recht«, stimmte Raimund zu, während er Gerda den Mutterpaß zurückgab. »Atemübungen können wir uns also schenken. Wir werden in den nächsten Wochen leichte Schwangerschaftsgymnastik machen, außerdem ein paar Entspannungsübungen, die Ihnen in den letzten Wochen der Schwangerschaft sicher guttun werden.« Er lächelte Gerda an. »Wollen Sie heute gleich anfangen?«

»Warum nicht?« entgegnete Gerda. »Wenn ich schon mal hier bin.«

»Das meine ich auch«, stimmte Raimund zu. Er ging ihr voran in den Nebenraum und bat sie, sich auf den Boden zu legen.

Die Übungen, die er ihr zeigte, verdienten den Namen Gymnastik allerdings nicht.

»Ich war eigentlich immer sehr sportlich«, erklärte Gerda. »Dieses Beineanheben und -senken… nun ja… ich meine, unter Gymnastik habe ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt.«

Raimund grinste wieder, und Gerda konnte nicht umhin, nun doch etwas Sympathie für ihn zu empfinden.

»Dachten Sie vielleicht an

Aerobic?« Er hob den Zeigefinger. »Meine liebe Frau Rauh, Sie sind schwanger, und in ein paar Monaten werden Sie gleich drei Kinder auf einen Schlag zur Welt bringen. Da ist Vorsicht angesagt. Was wir hier machen, ist gut für Ihren Kreislauf und auch für die Sauerstoffversorgung von Gebärmutter und Kind. Sie werden im Laufe der Zeit von mir Übungen lernen, bei denen Sie bewußter atmen, und damit nicht nur sich selbst, sondern auch Ihren Babys viel Gutes tun. Wichtig ist allerdings, daß Sie das, was ich Ihnen zeige, auch zu Hause konsequent für zehn bis fünfzehn Minuten täglich üben. Außerdem würde ich es sehr begrüßen, wenn auch Ihr Mann einmal hierherkommen würde.« Er grinste wieder. »Beim Kaiserschnitt ist er zwar sicher nicht dabei, trotzdem sollte er in die Schwangerschaft miteinbezogen werden. Immerhin ist er ja doch maßgeblich daran beteiligt, nicht wahr?«

Gerda mußte lachen. »Da haben Sie recht.« Dann wurde sie ernst. »Ich muß Abbitte leisten, Herr Brunner. Ich glaube, ich habe Sie im ersten Moment ziemlich verkannt.«

»Nicht so tragisch«, meinte er gelassen. »Wie ich vorhin schon sagte – Sie sind nicht die einzige, die mich zunächst recht unsympathisch fand.«

»Das möchte ich gar nicht mal sagen«, entgegnete Gerda. »Sie haben mich durch Ihr forsches Vorgehen nur ein bißchen erschreckt.« Dann lächelte sie. »Ich glaube, wir werden gut miteinander zurechtkommen.«

*

Wie jeden Tag nach Beendigung seiner Sprechstunde machte sich Dr. Daniel auf den Weg zur Waldsee-Klinik. Gerade als er die Eingangshalle betrat, begegnete ihm der Oberarzt Dr. Gerrit Scheibler.

»Robert, wenn Sie nachher eine halbe Stunde Zeit haben, würden Wolfgang und ich gern mit Ihnen sprechen«, erklärte er.

»Selbstverständlich habe ich Zeit«, betonte Dr. Daniel. »Ich nehme an, es geht um Svenja Birkert.«

Dr. Scheibler nickte, dann lächelte er. »Es hat Wolfgang ganz schön gewurmt, daß Sie darauf bestanden haben, daß ich in diesen Fall mit einbezogen werde.«

Dr. Daniel winkte ab. »Das ist doch Unsinn, Gerrit. Wolfgang hätte Sie ohnehin zu Rate gezogen. Das war bis jetzt noch immer so.«

»Sie kennen ihn doch, Robert. Wenn es seine Entscheidung ist, mit mir darüber zu sprechen, dann ist das für ihn etwas völlig anderes, als wenn er dazu gezwungen wird.«

»Diesen Eigensinn hat er von seinem Vater«, meinte Dr. Da-

niel, dann schmunzelte er. »Manchmal ist Wolfgang als Chefarzt nur schwer genießbar, und er hat großes Glück, daß wir ihn so mögen, wie er ist, nicht wahr?«

Dr. Scheibler mußte lachen. »Das hätte er jetzt aber nicht hören dürfen. Also, Robert, wir sehen uns dann.«

»Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen drüben«, versprach Dr. Daniel, bevor er seinen Weg fortsetzte.

Aus den paar Minuten wurde dann zwar fast eine ganze Stunde, doch auch Dr. Scheibler und Dr. Metzler waren während dieser Zeit nicht untätig.

Jetzt hängte der Chefarzt die Röntgenbilder auf, die das Fußgelenk von Svenja Birkert zeigten.

»Wer immer dieses Gelenk nach dem Bruch behandelt hat – es war jedenfalls ein Pfuscher«, urteilte Dr. Metzler hart. »Frau Birkert behauptet zwar, sie hätte in dem Fuß keine Schmerzen, aber das kann ich mir eigentlich kaum vorstellen.« Er deutete an zwei Stellen auf dem Röntgenbild. »Der Murks liegt hier und hier.«

»Wenn wir nicht schnellstens handeln, dann wird das Gelenk über kurz oder lang steif werden«, fügte Dr. Scheibler nachdenklich hinzu. »Möglicherweise ist es sogar schon zu spät. Allerdings…« Er sah den Chefarzt an. »Wolfgang und ich haben durchaus noch Hoffnung.«

»Dann sollten wir jetzt schleunigst mit Frau Birkert sprechen«, meinte Dr. Daniel und stand auf. »Das werde ich übernehmen.«

Dr. Metzler nickte. »Genau darum wollten wir dich bitten. Gerrit und mir gegenüber verhält sie sich äußerst zurückhaltend. Offensichtlich hat sie nur zu dir das nötige Vertrauen.«

»Hoffentlich«, erwiderte Dr. Daniel seufzend, dann kehrte er noch einmal zur Gynäkologie zurück und klopfte, bevor er Svenjas Zimmer betrat.

Überrascht sah sie ihn an. »Herr Doktor, haben Sie vorhin etwas vergessen?«

Er schüttelte den Kopf, wäh-rend er sich noch einmal zu ihr auf die Bettkante setzte. »Nein, Frau Birkert, es hat sich inzwischen etwas Neues ergeben.«

Svenja erschrak. »Bin ich denn doch krank? Womöglich etwas… etwas Bösartiges?«

»Nein, es geht um keine Krankheit«, entgegnete Dr. Daniel und beschloß ohne weitere Umschweife zur Sache zu kommen, auch wenn das bedeutete, daß er ein Thema anschneiden mußte, das Svenja noch immer tunlichst vermied. »Im Zuge der Untersuchung wurden mehrere Röntgenaufnahmen gemacht, un-ter anderem auch von Ihrem rechten Fußgelenk.«

Svenjas Blick wurde abweisend. »Der Chefarzt hat heute schon so eine Andeutung gemacht, aber ich möchte darüber nicht sprechen.«

»Das müssen Sie auch gar nicht, Frau Birkert. Es geht jetzt nicht um das, was damals passiert ist, sondern einzig und allein um die Verletzung an sich… besser gesagt, um deren Versorgung. Die Röntgenaufnahmen haben gezeigt, daß Ihr Fußgelenk in Gefahr ist, steif zu werden, wenn nicht sofort etwas dagegen unternommen wird.«

Noch immer war Svenjas Gesichtsausdruck abweisend. »Ob es steif wird oder nicht, ist für mich völlig unmaßgeblich geworden.«

Spätestens jetzt wußte Dr. Daniel, wie schwierig es werden würde, Svenja von der Notwendigkeit der Operation zu überzeugen.

»Frau Birkert, ein steifes Fußgelenk kann Ihnen ganz erhebliche Probleme bereiten, und wenn die Möglichkeit besteht, das zu verhindern…«

»Vielleicht will ich es gar nicht verhindern«, fiel Svenja ihm ins Wort, dann senkte sie den Kopf. »Schmerzen habe ich ja ohnehin.«

Dr. Daniel erkannte immer deutlicher, wie schlimm es um Svenjas Psyche stand. Ihre wirklichen Beschwerden gab sie nur widerwillig zu, während sie in ihren an sich gesunden Körper immer andere Krankheiten hineininterpretierte.

»Ich bin sicher, daß Dr. Metzler und Dr. Scheibler Ihnen diese Schmerzen nehmen könnten«, meinte Dr. Daniel, ohne auf die Tatsache, daß Svenja dem Chefarzt gegenüber diese Beschwerden zuerst geleugnet hatte, näher einzugehen. »Die beiden sind großartige Chirurgen.« Er legte eine Hand auf Svenjas Arm. »Bitte, Frau Birkert, lassen Sie sich doch helfen.«

Lange sah die junge Frau ihn an, dann nickte sie, schränkte jedoch gleich ein: »Ich bin zwar nicht sicher, das Richtige zu tun, aber wenn Sie eine Operation für nötig halten…« Sie zuckte die Schultern. »Im Grunde ist es mir völlig gleichgültig, was mit meinem Fuß passiert.«

*

»Sie gibt ihrem Fuß die Schuld an dem, was geschehen ist«, erklärte Dr. Daniel, als er wenig später mit Dr. Metzler und Dr. Scheibler wieder zusammensaß. »Das hat sie zwar nicht direkt gesagt, aber es klang so durch. Wenn das Gelenk steif werden würde, sähe sie es wohl als gerechte Strafe für ihren Fuß an.«

Dr. Metzler seufzte. »So etwas habe ich noch nie erlebt.«

»Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist es allerdings um so erstaunlicher, daß Sie es geschafft haben, ihr die Einwilligung in die Operation abzuringen«, stellte Dr. Scheibler fest, und dabei schwang Bewunderung für Dr. Daniel in seiner Stimme mit.

»Ich habe es mir nun mal in den Kopf gesetzt, ihr zu helfen«, meinte Dr. Daniel, dann seufzte auch er. »Allerdings sehe ich schon jetzt, daß ich mir da eine ziemlich schwere Aufgabe eingehandelt habe. Vor ein paar Jahren… besser noch gleich nach ihrem Unfall wäre es vielleicht etwas leichter gewesen, aber jetzt…« Er schwieg eine Weile. »Sie hat zuviel Kummer in sich vergraben, und es würde eigentlich einen erfahrenen Psychiater verlangen, sie aus diesem Tief herauszuholen.«

»Du hast selbst gesagt, daß das nur Sinn hätte, wenn sie von sich aus dazu bereit wäre«, wandte Dr. Metzler ein.

»Vielleicht gelingt es Ihnen ja, die Patientin von der Notwendigkeit einer Psychotherapie zu überzeugen«, meinte Dr. Scheib-ler. »Ich glaube, das wäre in diesem Fall die größte Hilfe, die Sie ihr bieten könnten.«

Dr. Daniel nickte. »So sehe ich es auch.« Dann stand er auf. »Ich muß aufpassen, daß ich allmählich nach Hause komme.«

Dr. Metzler und Dr. Scheibler blickten ihm nach.

»Er wird es nie schaffen, einmal pünktlich Feierabend zu machen«, meinte der Chefarzt. »Irgendwann arbeitet er sich noch zu Tode.«

»Oder er reibt sich in der Sorge um seine Patientinnen völlig auf«, ergänzte Dr. Scheibler.

Die beiden Ärzte wußten nicht, daß Dr. Daniels Feierabend noch in weiter Ferne lag. Allerdings wußte er selbst auch nichts davon. Der fremde Wagen, der auf dem ansonsten leeren Patientenparkplatz stand, fiel ihm jedoch sofort auf, und spätestens in diesem Moment war ihm klar, daß noch Arbeit auf ihn warten würde.

»Sie scheinen ja ein äußerst vielbeschäftigter Mann zu sein.«

Dr. Daniel fuhr beim Klang der ihm unbekannten Stimme herum und sah sich einem großen, breitschultrigen Mann gegenüber. Jetzt zeigte dieser ein breites Grinsen und streckte die rechte Hand aus.

»Raimund Brunner«, stellte er sich vor. »Ich wollte Sie endlich mal kennenlernen.«

Dr. Daniel erwiderte den fe-sten Händedruck. »Damit sprechen Sie mir aus der Seele, Herr Brunner. Von meinen Patientinnen habe ich nur Gutes über Sie gehört.«

Raimunds Grinsen vertiefte sich. »Das erstaunt mich aber. Ich dachte immer, ich würde als mittleres Schreckgespenst gelten.«

Erstaunt zog Dr. Daniel die Augenbrauen hoch. »Wie kommen Sie denn auf diesen Gedanken?«

»Ach, wissen Sie, nicht alle Menschen mögen es, wenn man die Dinge bei ihrem Namen nennt.«

Dr. Daniel betrachtete ihn einen Moment und kam zu dem Schluß, daß er ziemlich resolut sein mußte – ein Mann, der sein Ziel grundsätzlich auf dem direktesten Weg ansteuerte. Dabei wirkte er keineswegs unsympathisch… ganz im Gegenteil.

»Ich würde vorschlagen, daß wir uns in meiner Praxis weiter unterhalten«, meinte Dr. Daniel. »Hier draußen wird es allmählich doch etwas ungemütlich.«

Raimund nickte. »Mir pfeift der kalte Herbstwind tatsächlich schon eine ganze Weile um die Ohren.«

»Warum haben Sie denn nicht geklingelt und oben in der Wohnung auf mich gewartet?« wollte Dr. Daniel wissen, während er die schwere eichene Eingangstür aufsperrte.

»Ich habe geklingelt«, stellte Raimund richtig. »Aber als ich erfuhr, daß Sie nicht zu Hause sind, wollte ich Ihre Frau nicht weiter stören. Ich habe also noch einen kleinen Spaziergang durch den Ort gemacht und wollte jetzt gerade wieder heimfahren.« Er grinste. »Allerdings bin ich ganz froh, daß ich Ihnen doch noch begegnet bin.«

»Ich nehme an, Frau Rauh war bereits bei Ihnen.«

Raimund nickte und grinste wieder. »Sie war anfangs nicht sehr angetan von mir.« Dann wurde er ernst. »Sehen Sie Probleme für die Drillinge?«

»Schwer zu sagen«, meinte Dr. Daniel. »Eine einfache Sache sind Mehrlingsgeburten nie, vor allem, wenn es auch noch mehr als zwei Kinder sind. Die Gefahr liegt besonders im geringen Geburtsgewicht der Babys, und ich will ganz offen sein – bei Drillingen ist es nicht ausgeschlossen, daß uns zumindest eines der Kinder wegsterben wird.«

Raimund runzelte besorgt die Stirn. »Das wäre für Frau Rauh sehr schlimm. Sie freut sich so sehr auf ihre Babys.«

Dr. Daniel nickte. »Das weiß ich, und deshalb habe ich Sie auch zu Ihnen geschickt. Ihre ganz spezielle Schwangerschaftsgymnastik, gepaart mit den Entspannungsübungen, hat sich immer sehr gut auf die werdenden Mütter und auch auf die Babys ausgewirkt.« Er lächelte. »Wenn ich das auch immer erst hinterher erfahren habe.«

»Na, jetzt schmeicheln Sie mir aber«, erwiderte Raimund und wurde tatsächlich ein biß-chen verlegen.

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Mit Schmeicheln hat das nichts zu tun. Ich habe mir kürzlich die Zeit genommen und meine Unterlagen im Hinblick darauf überprüft. Dabei kam mir zugute, daß ich mir nachträglich noch Notizen gemacht habe, in welchen Fällen Sie die Schwangerschaftsgymnastik durchgeführt haben. Bei keiner einzigen Patientin erfolgte eine Frühgeburt. Mehr als neunzig Prozent der Zwillinge kamen sogar durch eine Spontangeburt zur Welt.« Er lächelte. »Ich denke, wenn wir beide mit Frau Rauh eng zusammenarbeiten, müßte es uns gelingen, die Drillinge gesund auf die Welt zu holen.«

Mit einem verlegenen Grinsen fuhr sich Raimund durch das dichte dunkelblonde Haar. »So viele Komplimente habe ich ja mein ganzes Leben noch nicht bekommen.« Er zuckte die Schultern. »Wissen Sie, ich will ganz ehrlich sein, bisher habe ich den Kontakt zu den hiesigen Ärzten eher gescheut.« Für einen Moment senkte er den Blick. »Ich habe mal ziemlich schlechte Erfahrungen in dieser Richtung gemacht.« Er sah Dr. Daniel wieder an. »Das war in den beiden Jahren, bevor ich hier in die Kreisstadt gezogen bin.« Wieder zuckte er die Schultern. »Wahrscheinlich lag das daran, daß ich in meinem Heimatort gearbeitet habe und mich die meisten der dort praktizierenden Ärzte schon als kleinen Jungen gekannt haben. Irgendwie wurde ich von ihnen nie für voll genommen.«

Dr. Daniel nickte verständnisvoll. »Das ist gut möglich.« Er dachte an Dr. Metzler, den er ja auch schon kannte, seit er neun Jahre alt gewesen war. »Es ist manchmal nicht leicht, sich daran zu gewöhnen, daß ein Mensch, den man von klein auf kennt, plötzlich erwachsen und ein Fachmann in seinem Gebiet geworden ist.«

Aufmerksam sah Raimund ihn an. »Mir scheint, Sie sprechen da aus Erfahrung.«

»Das ist richtig«, räumte Dr. Daniel ein. »Ich habe gelegentlich auch Mühe, in einem meiner Kollegen, mit dem ich eng zusammenarbeite, den erstklassigen Arzt zu sehen und nicht den Lausbuben von einst.« Er lächelte den jungen Mann an. »Allerdings denke ich, daß Sie sich in dieser Beziehung keine Sorgen machen müssen. Die hiesigen Ärzte werden über die Zusammenarbeit mit Ihnen sicher sehr froh sein.« Unvermittelt fiel ihm Svenja Birkert ein. »Sie arbeiten doch auch als ganz normaler Krankengymnast, oder?«

Raimund nickte. »Ja, warum fragen Sie?«

»Weil ich vielleicht noch eine Patientin für Sie habe. Allerdings muß ich da erst mit ihr selbst sprechen.«

»Scheint ja ein schwieriger Fall zu sein.«

Dr. Daniel zögerte, dann nickte er. »Ja, in gewisser Weise schon.«

Ein Lächeln zeigte sich auf Raimunds Gesicht. »Ich habe eine ganz besondere Vorliebe für schwierige Fälle. Wissen Sie, ich bin kein Mensch, der Tag für Tag dasselbe tun will. Ich möchte gefordert werden, und mit meinem eigenen Ehrgeiz stecke ich meine Patienten oftmals an.«

Dr. Daniel ließ die Worte in sich nachklingen. Ehrgeiz. Das war genau das, was Svenja im Moment fehlte – der Ehrgeiz, aus ihrem Leben etwas zu machen. Aber vielleicht ließ sich dieser Ehrgeiz ja wieder wecken, wenn durch die Operation erst mal die Schmerzen in ihrem Fuß verschwunden waren.

*

»Das war wirklich im letzten Moment«, stellte Dr. Wolfgang Metzler fest, als er einen ersten Blick auf das Operationsfeld werfen konnte. »Zwei Monate später, und das Gelenk wäre endgültig verloren gewesen.«

Dr. Scheibler nickte zustimmend.

»Es ist schon seltsam«, meinte er. »Da hat sie sich ständig wegen irgendwelcher eingebildeter Krankheiten in Kliniken aufgehalten, aber über ihre wirklichen Schmerzen hat sie kein Wort verloren.«

»Vermutlich hat Robert wieder mal recht gehabt«, entgegnete Dr. Metzler. »Sie empfand die Schmerzen als Strafe für ihren Fuß, nicht aber als ihre eigene Krankheit. Es ist schwer nachvollziehbar, aber anscheinend betrachtete sie ihren Fuß nicht mehr als ihren Körperteil.«

Dr. Scheibler seufzte. »Schade, daß sie nicht damals schon in die Waldsee-Klinik gekommen ist. Gleich nach dem Unfall hätte man ihr vielleicht wirklich helfen können.«

Dr. Metzler sah ihn über den grünen Mundschutz hinweg an. »Vor zwölf Jahren, als das passiert ist, gab es die Waldsee-Klinik noch nicht. Ich war damals gerade in Amerika und du Assistenzarzt bei Thiersch. Ich glaube, wir beide hätten für dieses arme Ding damals nicht viel tun können.«

»So direkt habe ich das ja auch gar nicht gemeint«, erwiderte Dr. Scheibler. »Sie tut mir nur schrecklich leid. Es muß schlimm sein, wenn man einen Beruf, den man so sehr liebt, plötzlich nicht mehr ausüben kann.«

Dr. Metzler nickte, dann beendete er seine Arbeit an Svenjas Fußgelenkt.

»So, das war’s«, meinte er. »Der Weg zu einem normalen Leben steht ihr jetzt wieder offen, aber wenn sie ihren Fuß weiterhin wie ein Stiefkind behandelt, dann wird sie in ein paar Jahren erneut hier liegen. Und irgendwann werden auch wir nichts mehr für sie tun können.«

*

Gerda Rauh war ziemlich blaß, als sie Dr. Daniels Sprechzimmer betrat. Dunkle Schatten unter den Augen zeugten von schlaflosen Nächten.

Besorgt kam Dr. Daniel ihr entgegen. »Frau Rauh, was ist denn los? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Gerda schüttelte den Kopf. »Seit ein paar Tagen habe ich ganz fürchterliche Kopfschmerzen. Zweimal habe ich Tabletten genommen, aber das will ich nicht ständig tun. Schließlich möchte ich den Babys nicht schaden.«

Beim Stichwort Kopfschmerzen schrillte für Dr. Daniel sofort eine Alarmglocke. Natürlich kam es während einer Schwangerschaft immer wieder zu diesen und jenen Beschwerden, aber massive Kopfschmerzen, wie Gerda sie hatte, waren äußerst ernstzunehmen.

»Da hätten Sie eigentlich gleich zu mir kommen sollen«, meinte Dr. Daniel.

Gerda zuckte die Schultern. »Das wollte ich zuerst auch, aber dann… ich dachte, wegen ein bißchen Kopfschmerzen sollte ich Sie nicht belästigen. Außerdem waren es ohnehin nur noch ein paar Tage bis zu meinem regulären Termin bei Ihnen.« Plötzlich erschrak sie. »Oder… ist das vielleicht etwas Schlimmes?«

»Das will ich nicht hoffen«, entgegnete Dr. Daniel. »Aber allem Anschein handelt es sich ja nicht nur um ein bißchen Kopfweh, sondern um so starke Schmerzen, daß Sie nachts nicht mehr schlafen können.«

Gerda errötete ein wenig. »Sieht man das?«

Dr. Daniel nickte. »Sehr deutlich sogar.« Er stand auf. »Ich bin gleich wieder hier, Frau Rauh.«

Eiligen Schrittes ging er ins Labor hinüber, wo seine junge Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau gerade dabei war, die Blut- und Urinprobe von Gerda Rauh auszuwerten. Dr. Daniel blickte ihr über die Schulter und nickte, als er das Ergebnis sah. Genau damit hatte er schon gerechnet, und es war so ungefähr das Schlimmste, was jetzt passieren konnte.

Dr. Daniel kehrte ins Sprechzimmer zurück.

»Es sieht tatsächlich sehr ernst aus, Frau Rauh«, erklärte er mit sorgenvollem Gesichtsausdruck. »Sie haben Eiweiß im Urin.« Er griff nach der Manschette des Blutdruckmeßgeräts und legte sie Gerda um den Oberarm. Dabei fiel ihm auf, daß ihre Finger aussahen, als seien sie ein wenig geschwollen. »Haben Sie das schon länger?«

Erstaunt sah Gerda auf ihre Hände. »Nein, ich… ich denke nicht. Es ist mir jedenfalls noch nicht aufgefallen.« Ängstlich blickte sie zu Dr. Daniel auf. »Was ist das bloß?«

»Ich fürchte, Sie leiden an einer sogenannten EPH-Gestose…, einer Schwangerschaftsvergiftung«, erklärte der Arzt, während er den Blutdruck kontrollierte. Das Ergebnis war nur noch eine weitere Bestätigung für seinen Verdacht. Gerdas Blutdruck war deutlich erhöht.

»Eine… Vergiftung?« stammelte die junge Frau. »Aber… woher denn?«

»Es gibt viele verschiedene Thesen über die Entstehung einer Schwangerschaftsvergiftung, aber meistens ist Streß ein maßgeblicher Faktor. Allerdings neigen auch Frauen, die Mehrlinge erwarten, zu Gestosen. Wichtig ist im Augenblick nur, daß Sie strikte Bettruhe halten. Möglicherweise bekommen wir das Problem damit schon in den Griff.«

»Und… wenn nicht?« Es kostete Gerda eine Menge Mut, diese Frage auszusprechen.

»Zuerst einmal werden wir etwas gegen Ihren hohen Blutdruck tun«, entschied Dr. Da-

niel. »Außerdem bekommen

Sie Magnesiumtabletten.« Er schwieg einen Moment. »Ich glaube, Sie sollten einer Einweisung in die Waldsee-Klinik zustimmen, denn nur wenn Sie wirklich Bettruhe halten, gehen die Symptome vielleicht von allein wieder zurück. Ansonsten müßten wir dieser Gestose mit Infusionen zu Leibe rücken.«

Aufmerksam sah Gerda ihn an. »Man kann das also behandeln… ich meine, meinen Babys passiert doch wirklich nichts, oder?«

Dr. Daniel atmete tief durch. Er stand jetzt vor einer schweren Entscheidung. Wenn er die Wahrheit sagte, nämlich, daß ein vorzeitiger Kaiserschnitt in einem solchen Fall durchaus im Bereich des Möglichen lag, dann konnte es passieren, daß sich Gerda in eine Angst hineinsteigerte, die in ihrem momentanen Zustand äußerst bedenklich sein würde. Würde er aber zu einer barmherzigen Lüge greifen und behaupten, daß die Gestose medikamentös behandelt werden könnte, mußte er berücksichtigen, daß die Gefahr eines vorzeitigen Kaiserschnitts damit durchaus nicht gebannt war. Wenn dieser dann nötig werden würde und Gerda bemerken müßte, daß sie belogen worden war, wäre ihr Vertrauen zu Dr. Daniel mit Sicherheit tief erschüttert. Der Arzt konnte es drehen und wenden, wie er wollte – es gab keinen anderen Weg für ihn als die Wahrheit.

»Ich hoffe sehr, daß wir die Schwangerschaftsvergiftung medikamentös in den Griff bekommen, ansonsten müßten wir Ihre Babys nämlich schon vorzeitig mit Kaiserschnitt holen.«

Gerda erschrak zutiefst. »Aber… es wäre doch viel zu früh…«

»Gerade deshalb möchte ich alles versuchen, um einen Kaiserschnitt zum jetzigen Zeitpunkt zu vermeiden.« Er lächelte Gerda beruhigend an. »Dar-über sollten wir uns aber erst Gedanken machen, wenn es soweit ist.«

Gerda nickte zwar, doch die Angst war ihr dabei deutlich anzusehen. »Wenn bei dieser Schwangerschaft etwas schiefgeht, dann… dann kann ich vielleicht nie mehr ein Baby haben.«

»Ich weiß, Frau Rauh«, entgegnete Dr. Daniel sehr ernst. »Deshalb können Sie auch sicher sein, daß ich alles tun werde, um diese drei Babys am Leben zu erhalten.«

*

Die Schmerzen in Svenjas Fußgelenk waren schier unerträglich, doch die junge Frau ertrug sie mit zusammengebissenen Zähnen. Gestern war die Operation erfolgt, und seitdem fragten die Ärzte und Schwestern, ob sie Wundschmerzen hätte, doch sie hatte jedesmal verneint. Sie wollte nicht eingestehen, daß ihr Fuß weh tat… sie wollte über den Fuß, der ihre Karriere zerstört hatte, überhaupt nicht mehr sprechen.

»Guten Morgen, Frau Birkert.«

Die Stimme des eintretenden Chefarztes unterbrach ihre Gedanken. Ihm folgten der Oberarzt Dr. Scheibler und die Gynäkologin Dr. Alena Reintaler. Außerdem war Oberschwester Lena Kaufmann wie immer bei der morgendlichen Visite mit dabei.

»Guten Morgen«, grüßte Svenja mit gepreßter Stimme, was Dr. Metzler sofort bemerkte.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete er sie. »Sie haben ja doch Schmerzen.«

Svenja schüttelte energisch den Kopf, doch diesmal glaubte ihr der Chefarzt nicht. Spontan setzte er sich zu ihr ans Bett.

»Frau Birkert, es hat keinen Sinn, wenn Sie versuchen, die Schmerzen zu ignorieren. Damit tun Sie sich wirklich keinen Gefallen.«

Svenja preßte die Lippen zusammen und schwieg.

Dr. Metzler sah sie eine Weile an, dann stand er mit einem tiefen Seufzer auf, notierte irgend etwas im Krankenblatt und gab der Oberschwester Anweisung, Svenja ein Medikament in die Infusion zu geben, die sie heute noch bekommen mußte.

Unmittelbar nach Beendigung der Visite kam Lena Kaufmann mit einer Spritze ins Zimmer und injizierte den Inhalt direkt in die Infusionskanüle. Es dauerte nicht einmal eine halbe Stunde, bis Svenja spürte, wie die Schmerzen allmählich nachließen und schließlich ganz verschwanden. Die Augen fielen ihr zu, und sie konnte endlich einschlafen.

So fand Dr. Daniel sie, als er nach der Vormittagssprechstunde in die Klinik kam, um nach Gerda Rauh und Svenja Birkert zu sehen.

»Sie ist total erschöpft«, erklärte Lena Kaufmann, die Dr. Daniel das Zimmer hatte betreten sehen. Früher war sie bei ihm Sprechstundenhilfe gewesen, doch seit Eröffnung der Waldsee-Klinik arbeitete sie hier als Oberschwester. Der Abschied von Dr. Daniel war ihr damals sehr schwergefallen, und wenn er in Sarina keinen gleichwertigen Ersatz gefunden hätte, wäre Lena ihrem Chef sicher treu geblieben. So aber hatte sie die Gelegenheit ergriffen, eine neue, reizvolle Aufgabe zu übernehmen, und die Tatsache, daß sie auch hier mit Dr. Daniel zusammenarbeiten konnte, hatte dafür gesorgt, daß sie sich hier wohl fühlte.

»Das sehe ich«, entgegnete Dr. Daniel, dann sah er Lena ernst an. »War die Operation denn so belastend für sie? Wolfgang sagte doch, daß es kein besonders schwieriger Eingriff gewesen sei.«

Mitleidig betrachtete Lena die schlafende junge Frau. »Sie hat ihre Wundschmerzen verschwiegen, und zumindest anfangs hat der Chefarzt ihr geglaubt…. Er dachte zumindest, daß sie nur leichte Schmerzen haben würde. Erst heute hat er gemerkt, wie es sich in Wirklichkeit verhält.«

Auf Dr. Daniels Gesicht zeigte sich wachsende Besorgnis. »Ich fürchte, das Problem ist noch weit schlimmer, als ich angenommen habe.« Er seufzte leise. »Es wird viel Zeit und noch mehr Geduld beanspruchen, um ihr zu helfen.«

Lena nickte, dann sah sie Dr. Daniel an. »Aber sie braucht dringend Hilfe.«

»Da haben Sie völlig recht, Frau Kaufmann«, stimmte Dr. Daniel ihr zu. »Und die hätte sie schon vor Jahren gebraucht.«

Lena wollte noch etwas erwidern, doch da sah sie, daß Svenjas Lider zu flattern begannen. Offensichtlich würde die Patientin in den nächsten Minuten erwachen.

»Ich lasse Sie mit ihr allein«, erklärte Lena leise, dann lächelte sie. »Es scheint, als hätte sie zu Ihnen doch das meiste Vertrauen.« Dabei verschwieg sie, daß sie das sehr gut verstehen konnte. Wie sollte man zu dem warmherzigen Dr. Daniel auch kein Vertrauen haben?

Lena hatte das Zimmer gerade verlassen, da öffnete Svenja auch schon die Augen. Als sie Dr. Daniel sah, huschte der Ansatz eines Lächelns über ihr Gesicht.

»Herr Doktor«, flüsterte sie, und ihre Stimme klang dabei noch ziemlich müde. »Schön, daß Sie mich besuchen.«

»Das ist doch selbstverständlich«, meinte Dr. Daniel und setzte sich wie immer auf die Bettkante, dann griff er mit einer väterlichen Geste nach Svenjas Hand. »Ich war auch gestern schon hier, aber da standen Sie noch unter den Nachwirkungen der Narkose.« Er lächelte. »Ansonsten haben Sie den Eingriff jedoch gut überstanden.«

Svenja nickte ein wenig halbherzig. Sie wollte nicht über die Operation sprechen. Am liebsten war es ihr, wenn weder der Eingriff noch ihr Fuß überhaupt erwähnt wurden. Dr. Daniel spürte, was in ihr vorging, trotzdem blieb er hartnäckig bei dem angeschnittenen Thema.

»Ich weiß, daß Sie es nicht hören wollen, Frau Birkert«, fuhr er fort. »Aber Ihrem Fuß zuliebe sollten Sie einer Krankengymnastik zustimmen.«

Svenja schüttelte entschieden den Kopf. »Sie haben recht, Herr Doktor, davon will ich wirklich nichts hören.«

»Frau Birkert, es ist nicht damit getan, daß Dr. Metzler und Dr. Scheibler Sie erfolgreich operiert haben«, entgegnete Dr. Daniel eindringlich. »Wenn Sie selbst nicht mitmachen, dann stehen Sie in spätestens zwei Jahren wieder genau dort, wo Sie vor der Operation gestanden haben.«

Svenjas Gesicht verschloß sich. »Bitte, Herr Doktor, sprechen wir von etwas anderem. Ich will über meinen kranken Fuß nichts mehr hören.«

»Er wird nicht mehr lange krank sein, wenn Sie ihm eine Chance geben. Frau Birkert, bitte, lassen Sie sich doch helfen.«

Ohne wirklich überzeugt zu sein, sondern nur weil sie endlich mit diesem Thema in Ruhe gelassen werden wollte, stimmte Svenja zu.

»Also schön, ich mache diese Krankengymnastik«, erklärte sie und blickte Dr. Daniel fordernd an. »Aber bitte, sprechen Sie jetzt von etwas anderem.«

Dr. Daniel nickte. »Von Herzen gern, Frau Birkert.« Und dabei war ihm zumute, als hätte er schon einen großen Sieg errungen.

*

Die Angst um ihre Babys ließ Gerda Rauh nicht zur Ruhe kommen. Seit einer Woche lag sie nun schon in der Waldsee-Klinik, und Dr. Daniel kam täglich mindestens zweimal zu ihr. Dabei sagte er immer wieder, daß er mit der Entwicklung der Dinge bis jetzt recht zufrieden sei, und daß sie um einen vorzeitigen Kaiserschnitt vielleicht doch herumkommen würde. Trotzdem wurde Gerda ihre Furcht davor nicht los. Dabei merkte sie bereits seit gestern, daß sich ihr Zustand wieder zu verschlechtern drohte. Die Kopfschmerzen, die fast verschwunden gewesen waren, kehrten allmählich zurück.

»Ich weiß, daß es nicht einfach ist, Liebling, aber ich glaube, du solltest versuchen, nicht ständig an die drohende Gefahr zu denken«, riet ihr Mann Ferdinand ihr ein wenig halbherzig. Er selbst konnte vor lauter Sorge um seine Frau und die drei Babys, die sie erwartete, kaum noch an etwas anderes denken.

»Wenn Dr. Daniel sie vorzeitig holen muß…«, begann Gerda mit bebender Stimme. »Ferdi-nand, ich liebe diese Kinder doch jetzt schon… wie soll ich akzeptieren können, daß ich eines, womöglich sogar alle drei verliere…«

Ferdinand schüttelte den Kopf. »Das wird Dr. Daniel niemals zulassen.«

Gerda schluchzte auf. »Er hat selbst gesagt, daß ein Kaiserschnitt zu diesem frühen Zeitpunkt riskant ist – na ja, vielleicht nicht so direkt, aber es klang jedenfalls aus seinen Worten durch.«

»Ich habe aber auch gesagt, daß wir uns mit diesem Problem erst befassen sollten, wenn es soweit ist«, erklärte Dr. Daniel, der unbemerkt das Zimmer betreten und Gerdas Worte gehört hatte.

Jetzt begrüßte er das junge Ehepaar und setzte sich dann auf der anderen Seite an Gerdas Bett.

»Ich hätte Ihnen die Wahrheit vielleicht doch besser nicht sagen sollen«, meinte Dr. Daniel. »Andererseits hatten Sie mir eine Frage gestellt, die ich ehrlich beantworten mußte. Mit einer barmherzigen Lüge wäre Ihnen letzten Endes wohl auch nicht gedient gewesen. Allerdings dürfen Sie sich nicht so sehr in diese Sache hineinsteigern – auch wenn das natürlich leichter gesagt als getan ist. Doch damit schaden Sie nicht nur sich, sondern auch Ihren Kindern.«

»Wie soll ich denn keine Angst haben, wenn ich weiß, daß meine Babys zu früh auf die Welt kommen werden?« fragte Gerda nervös.

»Das muß nicht der Fall sein«, entgegnete Dr. Daniel. »Und das habe ich Ihnen auch ganz deutlich gesagt.« Seine Stimme nahm an Eindringlichkeit zu. »Frau Rauh, im Augenblick sieht es gar nicht so schlecht aus. Die Wahrscheinlichkeit, daß wir die Gestose in den Griff bekommen, ist sehr hoch – vorausgesetzt, Sie vermeiden jegliche Art von Streß, denn der ist für Ihren Zustand das Schlechteste. Im übrigen hat die Ultraschalluntersuchung, die Frau Dr. Reintaler heute früh vorgenommen hat, ergeben, daß Ihre Babys jetzt bereits lebensfähig wären. Selbstverständlich werden wir die Kleinen so lange im Mutterleib halten wie irgend möglich, aber in einer entsprechend ausgestatteten Klinik hätten sie schon jetzt eine reelle Überlebenschance.«

Gerda, die bei Dr. Daniels Worten merklich ruhiger geworden war, runzelte die Stirn. »Was bedeutet, in einer entsprechend ausgestatteten Klinik? Ist die Waldsee-Klinik das etwa nicht?«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Wir haben zwar eine

ausgezeichnete Entbindungsstation, aber Ihre Babys bräuchten in diesem Fall eine erstklassi-

ge Frühgeborenen-Intensivstation, und über die verfügt die Waldsee-Klinik leider nicht. Allerdings haben wir eine solche in greifbarer Nähe, nämlich in München bei Dr. Sommer. Den kennen Sie ja noch von der künstlichen Befruchtung, die wir bei Ihnen vorgenommen haben. Also, selbst wenn wir Ihre Babys früher holen müßten, hätten sie in der Sommer-Klinik die besten Chancen.«

Gerda atmete tief durch. »Ich will Ihnen keinen Vorwurf machen, Herr Doktor, aber das hätten Sie mir vielleicht schon früher sagen sollen.«

»Das konnte ich nicht«, erwiderte Dr. Daniel bedauernd. »Als die Gestose bei Ihnen aufgetreten ist… nein, eigentlich sogar bis zum heutigen Ultraschall mußte ich davon ausgehen, daß Ihre Drillinge noch nicht lebensfähig seien. Wäre die Schwangerschaftsvergiftung in massiverer Form aufgetreten, hätten wir die Babys mit ziemlicher Sicherheit nicht retten können.« Dabei verschwieg er wohlweislich, daß es sogar jetzt noch recht unwahrscheinlich war, bei einem möglicherweise unvermeidlichen Kaiserschnitt alle drei Babys am Leben zu halten.

*

Dr. Daniel hatte gerade mit der Nachmittagssprechstunde be-gonnen, als Sarina von Gehrau Raimund Brunner anmeldete.

»Meine Güte, den habe ich ja völlig vergessen«, stöhnte Dr. Daniel erschrocken, dann stand er auf, um dem jungen Krankengymnasten entgegenzugehen. »Herr Brunner, bei Ihrem Erscheinen fallen mir alle meine Sünden ein«, sagte er mit einladender Geste.

Raimund grinste. »So viele werden es sicher nicht sein.«

»Wie man’s nimmt«, entgegnete Dr. Daniel. »Es ist zumindest eine Unterlassungssünde dabei. Ich habe nämlich völlig vergessen, Sie davon zu informieren, daß ich Frau Rauh in die Waldsee-Klinik einweisen lassen mußte.«

Raimund nickte und wurde plötzlich sehr ernst. »Mit so etwas hatte ich schon fast gerechnet, als sie zu dem vereinbarten Termin nicht gekommen ist und auch nicht angerufen hat. Ist es… etwas Schlimmes?«

Dr. Daniel nickte. »Eine EPH-Gestose, die wir noch nicht richtig im Griff haben. Die Gefahr, daß wir die Babys vorzeitig holen müssen, ist noch nicht ganz gebannt. Eine Weile sah es schon recht gut aus, doch seit gestern hat sich Frau Rauhs Zustand wieder etwas verschlechtert.« Er seufzte. »Das liegt wahrscheinlich an ihrer Angst vor einem vorzeitigen Kaiserschnitt. Leider war ich gezwungen, ihr das zu sagen.«

Raimund zuckte die Schultern. »Herr Doktor, Sie haben sicher recht damit, Patienten lieber nicht im Ungewissen zu lassen. Mit der Wahrheit kommt man im Endeffekt doch immer noch weiter.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Bis zu meinem nächsten Termin habe ich fast zwei Stunden Zeit. Das bedeutet, daß ich rasch in die Klinik hinüberschauen könnte. Ein paar gezielte Entspannungs-übungen würden Frau Rauh jetzt bestimmt sehr guttun.«

Dr. Daniel lächelte. Dieser Raimund Brunner gefiel ihm immer besser. Er wollte helfen, wo es ging, und dabei war es ihm völlig gleichgültig, ob er einen Teil seiner Freizeit opferte oder noch einen zusätzlichen Weg machen mußte.

»Ich bin sicher, Frau Rauh wird sich freuen, wenn Sie kommen«, meinte Dr. Daniel, »und mit den Entspannungsübungen wäre ihr bestimmt sehr geholfen.« Er schwieg kurz. »Dabei fällt mir ein – wenn Sie schon in der Waldsee-Klinik drüben sind, könnten Sie auch mal nach der jungen Patientin sehen, über die wir uns ansatzweise schon mal unterhalten haben.«

Raimund grinste wieder. »Allerdings nur sehr ansatzweise. Ich weiß bisher lediglich, daß es ein ziemlich schwieriger Fall sein soll.«

»So kann man das eigentlich gar nicht sagen. Im Grunde geht es nur um ein Fußgelenk, das sich die junge Frau vor über zehn Jahren gebrochen hat. Bei uns in der Klinik wurde nun festgestellt, daß das Gelenk steif zu werden droht. Nach einigem Zureden hat sich die Patientin schließlich doch mit einer Operation einverstanden erklärt. Ohne gezielte Krankengymnastik nutzt aber der ganze Eingriff nicht viel. Das eigentliche Problem von Svenja Birkert liegt jedoch…«

»Svenja Birkert?« unterbrach Raimund betroffen. »Die Bal-lettänzerin?«

Erstaunt sah Dr. Daniel den jungen Krankengymnasten an.

»Sie kennen die junge Frau?«

»Kennen wäre übertrieben«, meinte Raimund, »aber ich habe sie vor Jahren einige Male auf der Bühne gesehen. Meine Güte, sie tanzte wie ein leibhaftiger Engel.« Einige Augenblicke schwieg er ergriffen, dann fuhr er fort: »Sie soll einen Unfall gehabt haben…, jedenfalls verschwand sie ganz plötzlich von der Bildfläche. Ich…« Er zögerte, entschloß sich dann aber doch für die Wahrheit. »Ich habe versucht, etwas über sie und ihr weiteres Schicksal zu erfahren, doch es war…« Er zuckte die Schultern. »Niemand wollte mir etwas über sie sagen. Es war, als hätte sie plötzlich eine ansteckende Krankheit bekommen.«

»Das war es nun ganz bestimmt nicht«, entgegnete Dr. Daniel. »Wie gesagt – sie hatte sich das Fußgelenk gebrochen… eine Verletzung, die ihre Ballettkarriere leider beendete.«

»Das muß ganz schrecklich für sie gewesen sein«, murmelte Raimund noch immer betroffen, dann sah er Dr. Daniel an. »Ich nehme an, trotz Operation und Krankengymnastik wird der Zug jetzt für sie abgefahren sein, oder?«

Dr. Daniel nickte. »Mit Sicherheit. An Spitzentanz ist bestimmt nicht mehr für sie zu denken, und ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein: Frau Birkert lehnt die Krankengymnastik eigentlich ab. Sie hat höchstwahrscheinlich nur zugestimmt, um endlich mit diesem Thema in Ruhe gelassen zu werden. Sie werden also einen ziemlich schweren Stand bei ihr haben.«

Entschlossen stand Raimund auf. »Das macht nichts. Ich bin es gewohnt, mit Schwierigkeiten fertigzuwerden.«

*

Obwohl es Raimund mit aller Macht zu Svenja Birkert zog, suchte er zuerst Gerda Rauh auf.

»Herr Brunner«, erklärte sie überrascht. »Sind Sie extra meinetwegen hierher in die Klinik gekommen?«

Raimund lächelte, doch diesmal kam es nicht so ganz von Herzen, weil seine Gedanken schon bei seiner nächsten Patientin weilten.

»Ja und nein«, antwortet er. »Ursprünglich kam ich tatsächlich Ihretwegen nach Steinhausen, doch nun hat es sich ergeben, daß ich auch noch eine zweite Patientin hier habe.« Er setzte sich auf die Bettkante. »Dr. Daniel hat mir gesagt, daß Sie sich wegen der Schwangerschaftsvergiftung so große Sorgen machen.«

Gerda seufzte. »Wie man’s nimmt. Angst habe ich eigentlich nur vor einem vorzeitigen Kaiserschnitt. Dr. Daniel hat zwar versucht, mich zu beruhigen, aber ich fühle, daß die Gefahr noch immer besteht. Seit heute früh habe ich wieder Eiweiß im Urin, und meine Kopfschmerzen werden auch stündlich schlimmer.«

Raimund nickte. »Sie steigern sich zu sehr in Ihre Angst vor einem Kaiserschnitt hinein, dabei steht der im Moment noch gar nicht zur Debatte. Soweit ich von Dr. Daniel unterrichtet wurde, könnte man erst noch auf Infusionen umsteigen, und das wird er auch tun, wenn sich Ihr Zustand nicht bessern sollte.« Nun grinste er wieder in altbekannter Manier. »Na, wie sieht’s aus? Wollen wir Dr. Daniel eine kleine Überraschung bereiten?«

»Eine Überraschung? Wie soll ich das verstehen?«

»Mit Hilfe der Entspannungsübungen, die ich Ihnen jetzt zeige, werden wir Angst und Gestose einfach wegzaubern.«

Gerda seufzte leise. »Wenn das nur so einfach wäre.«

»Sie werden schon sehen«, meinte Raimund zuversichtlich. »Legen Sie sich auf die linke Seite und schließen Sie die Augen.«

Gerda kam der Aufforderung nach, und Raimunds tiefe, beruhigende Stimme zeigte tatsächlich Wirkung. Es gelang ihr, sich zu entspannen, und sie fühlte, wie die Kopfschmerzen ein wenig nachließen.

»So, Frau Rauh, ich verlasse mich darauf, daß Sie diese Übungen mehrmals am Tag

wiederholen«, meinte Robert schließlich.

Gerda nickte lächelnd. »Das mache ich bestimmt, Herr Brunner. Ich glaube, diese Entspannungsübungen tun nicht nur mir selbst, sondern auch meinen Babys sehr gut.« Sie schwieg kurz. »Ich bin froh, daß ich hier bin. Von Ihnen und Dr. Daniel betreut zu werden, ist das beste, was einer Schwangeren überhaupt passieren kann.«

Raimund wurde ein bißchen verlegen. »Von Dr. Daniel, ja – aber ich… ich kann seine Arbeit doch nur ein bißchen unterstützen, mehr nicht.«

»Da stellen Sie Ihr Licht aber wirklich ganz gehörig unter den Scheffel, Herr Brunner«, urteilte Gerda.

Raimund zuckte die Schultern. »Wie auch immer. Wichtig ist ja nur, daß Sie sich wohl fühlen und in ein paar Wochen gesunde Drillinge zur Welt bringen. Mehr wollen weder Dr. Daniel noch ich erreichen.« Dann sah er auf die Uhr. »Jetzt muß ich aber zusehen, daß ich weiterkomme.« Er lächelte Gerda an. »Ich besuche Sie morgen wieder, einverstanden?«

»Ja, Herr Brunner, und vielen Dank.«

Raimund verabschiedete sich, dann verließ er den Raum und ging den Flur entlang. Vor dem Zimmer Nr. 18 blieb er stehen und zögerte. Wie sollte er dem Mädchen gegenübertreten, das er einst so verehrt hatte? Was sollte er sagen… und was sollte er tun?

Raimund atmete tief durch, dann klopfte er an die Tür und trat ein. Die junge Frau, die im Bett lag, wandte den Kopf und sah ihn an. Ja, das war dieses aparte Gesicht, das waren die samtgleichen dunklen Augen, in die er vor so vielen Jahren einmal geblickt hatte. Es war nach der Aufführung von Schwanensee gewesen. Raimund, damals gerade zwanzig Jahre alt, hatte sich einen Weg zu den Garderoben gebahnt, und dann war sie herausgetreten. Svenja Birkert! Der kleine, fast zerbrechlich wirkende Engel, der noch wenige Augenblicke zuvor wie schwerelos über die Bühne geschwebt war und das Publikum zu wahren Begeisterungsstürmen hingerissen hatte.

Ein wenig schüchtern hatte Raimund das Bild vorgewiesen, das er extra mitgenommen hatte, und Svenja hatte ihre kindliche Unterschrift daraufgesetzt. Raimund hatte dieses Bild mit ihrem Autogramm aufbewahrt wie einen wertvollen Schatz, er besaß es noch heute.

»Warum schauen Sie mich so an?«

Svenjas Frage riß ihn aus seinen Gedanken.

»Entschuldigen Sie«, entgegnete Raimund, und seine Stimme klang dabei ein wenig heiser. »Ich war mit meinen Gedanken gerade ganz woanders.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Raimund Brunner, Ihr Krankengymnast.«

Svenja begrüßte ihn zwar, zog ihre Hand aber sofort wieder zurück. Ihr Blick wurde abweisend.

»Ich brauche eigentlich keine Krankengymnastik«, behauptete sie. »Und ich will sie auch gar nicht. Im Grunde war es sinnlos, daß Sie sich hierher bemüht haben.«

Raimund schüttelte den Kopf. »Es war absolut nicht sinnlos. Sie haben sich vor mehr als zehn Jahren das Fußgelenk gebrochen, und wenn Sie nicht wollen, daß es innerhalb der nächsten zehn Jahre steif wird, dann ist die Krankengymnastik sogar dringend geboten.«

Svenja wich seinem Blick aus. »Es ist mir vollkommen egal, ob es steif wird oder nicht. Ich betrachte diesen Fuß nur noch als ein lästiges Anhängsel… er ist mir mehr als zuwider.«

»Weil er deine Karriere beendet hat?«

Svenja zuckte zusammen wie unter einem Schlag.

»Was fällt Ihnen ein, mich zu duzen!« fuhr sie Raimund an, dabei war es nicht das vertraute Du, das sie so erschreckt hatte, sondern die Tatsache, daß dieser Fremde etwas wußte, was sie noch niemandem gesagt hatte… was sie nicht einmal sich selbst eingestand.

»Laß dir helfen, Svenja«, bat er leise.

»Gehen Sie!« verlangte die junge Frau. »Gehen Sie und kommen Sie nie wieder hierher!«

Ihre harten Worte verletzten ihn, doch das ließ er sich nicht anmerken.

»Das wird nicht möglich sein«, entgegnete er mit scheinbar unerschütterlicher Ruhe. »Ich bin verpflichtet, meine Arbeit zu tun.«

»Aber nicht gegen meinen Willen!«

»Muß es denn unbedingt gegen deinen Willen sein?« fragte Raimund, dann setzte er sich ohne weitere Umstände auf die Bettkante und stützte sich mit der rechten Hand über ihre Beine hinweg auf der anderen Seite des Bettes ab. Sein Blick war sehr eindringlich. »Svenja, dieser verletzte Fuß gehört zu deinem Körper, und auch wenn du das ignorieren willst, wird sich daran nichts ändern.«

Svenja wollte nicht länger in diese herrlichen blauen Augen schauen, doch es gelang ihr auch nicht, den Blick einfach abzuwenden. Einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet – abgesehen davon, daß sie in den vergangenen zehn Jahre eigentlich überhaupt keinem Mann begegnet war… die vielen Ärzte, bei denen sie gewesen war, einmal ausgenommen.

Und nun saß da dieser Raimund Brunner und schien sie mit seiner bloßen Anwesenheit zu hypnotisieren. Sie wollte ihn ungehobelt und flegelhaft finden, doch in Wirklichkeit war er ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Er war groß und kräftig gebaut – ein Mann, an den man sich anlehnen, in dessen Armen man Schutz und Geborgenheit finden konnte.

Das Hemd, das er trug, spannte ein wenig um Schultern und Oberarme. Dichte dunkelblonde Locken drehten sich widerspenstig nach allen Seiten und umrahmten ein scharfgeschnittenes, markantes Gesicht, in dem die tiefblauen Augen dominierten. Der schmale Mund verriet Sensibilität, was von seinen Augen noch unterstrichen wurde. Alles in allem war er ein Mann, den man zwar nicht als gutaussehend hätte bezeichnen können, der aber vermutlich trotzdem so manches Frauenherz für sich einnahm, und Svenja spürte, daß das auch für sie galt.

»Raimund«, murmelte sie, dann schüttelte sie den Kopf. »Das paßt eigentlich gar nicht zu dir. Du solltest einen Namen haben, der deiner Erscheinung gerecht wird.« Sie schwieg kurz. »Du bist doch stark wie ein Baum.«

Raimund zeigte nicht, wie erleichtert er war, weil sie nicht weiterhin darauf bestand, daß er gehen sollte.

»Danke für das Kompliment«, meinte er und brachte dann sogar sein unwiderstehliches Grinsen zustande. »Weißt du, ursprünglich wollte ich ja Sportler werden – Zehnkämpfer oder so etwas in der Richtung, aber dann…« Er zuckte die Schultern. »Ich glaube, es macht mir mehr Spaß, anderen Menschen zu helfen.«

Abrupt wandte Svenja den Kopf zur Seite. »Ich brauche keine Hilfe.«

»Nein, Svenja, du bräuchtest tatsächlich keine Hilfe«, erklärte Raimund. »Du bist eine starke, selbstbewußte Frau. Du würdest es auch allein schaffen.«

Svenja, die mit einer völlig anderen Erwiderung gerechnet hatte, sah ihn erstaunt an. Da lächelte Raimund.

»Du brauchst meine Hilfe nicht«, wiederholte er. »Aber du könntest mir wenigstens die Illusion geben, daß ich es war, der dir geholfen hat.«

»Stark und selbstbewußt«, flüsterte Svenja mit gesenktem Kopf, dann richtete sie den Blick ihrer traurigen Augen wieder auf Raimund. »Glaubst du wirklich, daß ich das bin?«

Er nickte ohne zu zögern. »Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Wenn du nicht stark und selbstbewußt wärst, hättest du dich niemals bis an die Weltspitze vortanzen können.«

Wieder zuckte Svenja zusammen, als hätte er sie geschlagen.

»Daran erinnert sich doch kein Mensch mehr«, erwiderte sie mit gepreßter Stimme.

»Doch, Svenja, ich erinnere mich daran«, korrigierte er, dann griff er impulsiv nach ihrer Hand. »Mag sein, daß andere dich vergessen habe, aber ich… ich erinnere mich noch daran, wie du über die Bühne geschwebt bist, als wäre es erst gestern gewesen.« Er schwieg kurz, dann fügte er leise hinzu: »Ich weiß, wie gut du warst, Svenja.«

Tränen stiegen in ihre Augen.

»Du… weißt…«, stammelte sie, dann vergrub sie das Gesicht in den Händen. »Hör auf damit! Es tut mir nur weh! Hör auf!«

Doch Raimund sprach unbeirrt weiter.

»Ich war gerade zwanzig, und von dem Augenblick an, an dem ich dich das erste Mal tanzen sah, hatte ich nur noch einen Gedanken: Ballett. Meine Freunde lachten mich aus, als ich es ihnen erzählte, doch das war mir egal. Sollten sie doch ruhig jede Woche ins Fußballstadion oder zu Boxkämpfen gehen, ich wollte nur noch ins Theater. Zehnmal habe ich mir Schwanensee angeschaut, und dabei wurde ich nicht müde, dir zuzusehen.« Sein Blick richtete sich auf Svenja. »Ich bin kein Ballettmeister, aber ich sehe sehr wohl, ob jemand schlecht, mittelmäßig oder gut ist.« Er machte eine Pause. »Du warst erstklassig, Svenja.«

Die junge Frau begann verzweifelt zu schluchzen. Seit zehn Jahren hatte sie das Wort Ballett nicht mehr an sich herangelassen. Niemand durfte es in ihrer Gegenwart auch nur erwähnen. Und nun hatte Raimund sie in den Abgrund gestoßen, an dessen Rand sie jahrelang balanciert war. All die ungeweinten Tränen brachen aus ihr heraus… Sie hatte das Gefühl, als würde sie hier in diesem Bett einfach zerfließen.

»Warum tust du mir das an!« stieß sie unter Tränen hervor. »Warum schickst du mich auch noch in die Hölle?«

Impulsiv nahm Raimund sie in die Arme und streichelte tröstend ihren bebenden Rücken.

»Im Augenblick mag es dir wie die Hölle vorkommen«, erklärte er. »Aber am Ende dieser Hölle wartet auf dich das Licht… das Licht eines neuen wundervollen Lebens.«

*

Völlig niedergeschlagen lag Svenja in ihrem Bett. Vor fünf Minuten war Raimund gegangen. Seine Patienten warteten auf ihn, doch er hatte versprochen, sie später noch einmal zu besuchen.

Svenjas Augen brannten vom vielen Weinen, und noch immer hatte sie das Gefühl, als würde sie in einem langen dunklen Tunnel stecken… in einem Tunnel, aus dem es kein Entrinnen… keinen Ausgang mehr gab. Sie hatte sich so lange dagegen gewehrt, sich mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen, weil sie sich immer vor dieser undurchdringlichen Finsternis ihrer Erinnerungen gefürchtet hatte, und nun steckte sie plötzlich mittendrin. Alles, was sie so lange verdrängt hatte, wurde jetzt an die Oberfläche geschwemmt und verursachte ihr fast unerträgliche Schmerzen… Schmerzen, die kein Ende zu nehmen schienen.

»Ich muß es wieder vergessen«, flüsterte sie sich zu, dabei wußte sie, daß ihr das nicht möglich sein würde. Raimund hatte die Vergangenheit zum Leben erweckt… eine Vergangenheit, in der Svenja ein Star gewesen war. Fünfzehn Jahre war sie damals gewesen, eine zarte Elfe, die sich mit Spitzentanz auf den Weg rund um die Welt gemacht hatte. London, Mailand, New York… überall hatte ihr das Publikum zugejubelt – drei Jahre lang. Sie hatte als Ballettänzerin an der Weltspitze gestanden, doch auf dem Höhepunkt ihrer Karriere hatte sie sich dann das Fußgelenk gebrochen…

Energisch schüttelte Svenja diese Gedanken ab. Sie wollte sich nicht mehr daran erinnern! Es tat einfach zu weh!

Um sich abzulenken, griff sie nach der Zeitung, die ihre Mutter bei ihrem letzten Besuch hiergelassen hatte. Fünf Tage war sie alt, doch das interessierte Svenja nicht. Sie wollte sich nur ablenken, und dafür taugte diese Zeitung allemal noch.

Svenja blätterte, ohne etwas zu lesen. In ihrem Kopf schwirrten tausend Gedanken herum, und alle drehten sich um das Ballett. Wirtschaftsteil, Sport, Politik… Svenja blätterte wie besessen – so, als müsse sie einen Wettbewerb im Zeitungsblättern gewinnen. Doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne. In ihrem Kopf schien etwas zu explodieren.

Wie gebannt starrte sie auf das Bild einer jungen, hübschen Ballettänzerin, die sich grazös auf die Fußspitzen gehoben hatte. Svenjas Blick überflog die wenigen Zeilen unter dem Bild.

Den großen Solopart wird Melanie Cordes übernehmen. Kritiker vergleichen ihre herausragenden Leistungen mit denen von Svenja Birkert, einer Tänzerin, die vor Jahren einmal sehr berühmt gewesen ist, deren Name heute aber höchstens in Ballettkreisen noch ein Begriff ist.

Svenja schleuderte die Zeitung zu Boden, dann vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und begann verzweifelt zu schluchzen. Seit Jahren hatte sie keine Zeitung mehr angeschaut, aber ausgerechnet heute…

Plötzlich fuhren Svenjas Hände an ihren Hals. Keuchend rang sie nach Atem. Ihre zitternden Finger fanden den Knopf, mit dem sie die Schwester alarmieren konnte. Es dauerte keine Minute, bis Bianca Behrens, die Stationsschwester der Gynäkologie, hereinkam und die Lage mit einem Blick erfaßte.

Mit raschen, geübten Handgriffen legte sie der Patientin eine Sauerstoffmaske an, dann informierte sie Dr. Metzler und Dr. Daniel. Der Chefarzt war innerhalb weniger Augenblicke zur Stelle, bei Dr. Daniel dauerte es kaum mehr als zehn Minuten, und ihm gelang, was Dr. Metzler zuvor vergeblich versucht hatte. Svenja beruhigte sich und konnte auch ohne Sauerstoffmaske wieder normal atmen.

»Was ist denn geschehen, Frau Birkert?« wollte Dr. Daniel wissen, als er mit der jungen Frau allein war.

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Es war… nichts.«

Doch Dr. Daniel entging die am Boden liegende Zeitung nicht, und obwohl er von dem Bild, das Svenja zuletzt angeschaut hatte, nur einen Teil sehen konnte, wußte er, daß die abgebildete Ballettänzerin Svenjas plötzliche Atemnot ausgelöst haben mußte.

»Was ist passiert?«

Mit dieser bangen Frage stürzte Raimund Brunner ins Zimmer. Er hatte die offene Tür gesehen und auch die kaum merkliche Hektik noch gespürt, die Svenjas Erstickungsanfall auf der Station hervorgerufen hatte.

Wenn sich Dr. Daniel über Raimunds allzu deutliche Besorgnis wunderte, so verstand er es geschickt zu verbergen.

»Es ist wieder alles in Ordnung«, erklärte er. »Frau Birkert litt unter plötzlicher Atemnot.«

»Ich habe das sehr oft«, gestand Svenja flüsternd ein.

Raimund sah zuerst sie, dann Dr. Daniel an, und plötzlich fiel sein Blick auf die am Boden liegende Zeitung. Er bückte sich und hob sie auf. Das Bild der Ballettänzerin sprang ihn förmlich an. Er las den Text, bevor er die Zeitung umdrehte und sie Svenja zeigte.

»Deswegen?«

Abrupt wandte sie den Blick ab, und Dr. Daniel war bereits versucht dazwischenzugehen. Er war kein Psychiater, daher wußte er nicht, ob es richtig war, Svenja gegen ihren Willen mit dem Ballett zu konfrontieren. Andererseits war es vielleicht nötig, sie zu einer Auseinandersetzung mit ihrem Problem zu zwingen, und das war auch der Grund, weshalb Dr. Daniel zögerte. Er wollte erst mal abwarten, was nun geschehen würde.

»Die schreiben über mich, als wäre ich tot!« begehrte Svenja auf. »Und für dich bin ich wohl auch tot!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und setzte leise hinzu: »Für die bin ich längst tot und begraben.«

Mit einer heftigen Handbewegung schleuderte Raimund die Zeitung beiseite.

»Du bist nicht tot!« erklärte er eindringlich. »Du bist am Leben!«

Dr. Daniel spürte, daß er hier nicht mehr gebraucht wurde. Zwischen diesen beiden Menschen gab es eine Bindung, und Dr. Daniel vermutete, daß es die Liebe zum Ballett war, die sie verursacht hatte. Raimund würde Svenja mit Sicherheit mehr helfen können als jeder Arzt.

Svenja brach in Tränen aus, was Dr. Daniel an der Tür noch einmal innehalten ließ. Er drehte sich um und sah, wie sich Raimund zu ihr aufs Bett setzte und sie tröstend in die Arme nahm. Leise verließ Dr. Daniel das Zimmer. Raimund und Svenja bemerkten es überhaupt nicht.

»Am Leben, ja«, schluchzte Svenja. »Aber was ist das für ein Leben… ohne Ballett…«

»Das Leben besteht nicht nur aus Tanz«, entgegnete Raimund mit sanfter Stimme, dann suchte er Svenjas Blick. »Du bist noch so jung…«

Doch Svenja schüttelte den Kopf. »Mit dreißig ist man nicht mehr jung… jedenfalls nicht mehr jung genug.«

»Für das Ballett«, fügte Raimund hinzu, weil er genau wußte, woran Svenja bei ihren letzten Worten gedacht hatte. »Du hast recht«, fuhr er dann fort. »Für das Ballett bist du nicht mehr jung genug, aber alles andere liegt doch noch vor dir.« Er schwieg einen Moment. »Tanzen kann man nicht nur im Ballett, sondern auch… mit einem jungen Mann.«

Svenja schüttelte wieder den Kopf »Mein Fußgelenk ist kaputt. Jeder Schritt tut mir weh…« Sie errötete, weil sie gerade etwas eingestanden hatte, was sie bis jetzt immer verschwiegen hatte.

»Das mit deinem Fußgelenk bekommen wir schon wieder hin – vorausgesetzt, du arbeitest mit«, erwiderte Raimund ernst. »Du wurdest hier operiert, und wenn wir beide ganz gezielt Krankengymnastik betreiben, dann…«

Svenja winkte ab. »Nichts und niemand kann mir das wiedergeben, was ich damals verloren habe. Was bin ich denn noch wert? Früher einmal war ich ein Star, doch jetzt… jetzt bin ich vergessen. Keiner will mehr etwas mit mir zu tun haben.«

Da nahm Robert sie fest bei den Schultern und schüttelte sie sanft. »Bin ich denn niemand?«

»Ach, du! Du tust doch nur deine Arbeit!«

»Wenn das wirklich so wäre, glaubst du, dann würde ich mir die Mühe machen, mit dir zu sprechen… dich von der Notwendigkeit der Gymnastik zu überzeugen? Ich habe es dir vorhin schon gesagt. Das ganze Leben liegt noch vor dir!«

»Leben!« Svenja spuckte das Wort förmlich aus. »Die letzten zehn Jahre meines Lebens habe ich mehr in Krankenhäusern verbracht als zu Hause, weil ich ständig diese Erstickungsanfälle hatte. Aber das war ja nicht das einzige… ich bin genau das, was man kränklich nennt. Gleichgültig, welche Krankheit irgendwo kursiert – ich bekomme sie bestimmt.«

Raimund schüttelte den Kopf. »Du bist nicht kränklich, Svenja. Das redest du dir nur ein, weil du Angst vor deinem Leben hast… einem Leben ohne Ballett. Du warst als Tänzerin so gut, daß du Angst hast, bei etwas anderem im Vergleich dazu zu versagen.«

Svenja senkte den Kopf. Sie wollte sich nicht eingestehen, daß Raimund recht hatte, doch instinktiv spürte sie, daß ihre Angst die Ursache für die vielen Krankheiten der letzten Jahre gewesen war.

Entschlossen stand Raimund auf, schlug Svenjas Bettdecke zurück und nahm sie kurzerhand auf seine starken Arme.

»So, Svenja, jetzt machen wir einen kleinen Spaziergang«, erklärte er, und noch bevor die junge Frau protestieren konnte, hatte er sie schon in den Rollstuhl gesetzt, den sie im Moment wegen ihres frisch operierten Fußgelenks benutzen mußte, dann legte er ihr eine Decke um die Beine und hielt ihr eine Jacke hin, damit sie nur noch hineinzuschlüpfen brauchte.

Ohne weiteren Kommentar schob er sie den Gang entlang bis zum Lift und verließ die Klinik dann durch den rückwärtigen Ausgang, der in den Klinikpark führte. Jetzt, im Herbst, blühten nur noch vereinzelte Blumen, doch im Frühling und Sommer glich die Wiese einem bunten Teppich. Schmale Wege schlängelten sich bis zum glasklaren, von hohen Tannen umrahmten Waldsee hinunter, und dorthin brachte Raimund die junge Frau.

»Tief einatmen, Svenja!« befahl er. »Spürst du diesen herben Duft der Tannen? Fühlst du den sanften Wind im Gesicht? Das ist das Leben… das wirkliche Leben.« Er drehte den Rollstuhl herum, dann ging er vor Svenja in die Hocke und sah ihr tief in die Augen. »Und jetzt erzähl. Erzähl mir alles.«

Tränen schossen in ihre schönen großen Augen, der Schmerz von damals wurde an die Oberfläche geschwemmt und drohte ihr nun nachträglich noch das Herz zu brechen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, doch plötzlich fand sie Worte für ihren Schmerz. Alles, was während und nach dieser schicksalsschweren Probe passiert war, sprudelte aus Svenja heraus. Sie erzählte von dem Sprung, tausendmal geübt… im Grunde eine Leichtigkeit für eine so erstklassige Tänzerin, wie sie es gewesen war. Und doch war ihr dieser Sprung zum Verhängnis geworden.

»Ich landete völlig falsch«, erzählte sie leise. »Im gleichen Moment spürte ich den stechenden Schmerz und hörte dieses gräßliche Knirschen. Ich wußte sofort, daß etwas Fürchterliches passiert war.«

Wieder hörte sie ihren eigenen Aufschrei, sah die Ballettmeisterin, die sich mit besorgtem Gesicht über sie beugte, und fühlte die aufsteigende Übelkeit, die von den Schmerzen und ihrer Angst herrührte.

»Madame Deneuve hat einen Arzt gerufen… ich kam ins Krankenhaus.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie ihr langes, dunkelblondes Haar zu-rück. »Es war eine kleine Klinik… schmutzig und unordentlich… und der Arzt sagte, das Fußgelenk sei kaputt. Ich bekam einen Gipsverband.«

Mit Grauen erinnerte sie sich an die Wochen im Krankenhaus und an die unerträglichen Schmerzen, die auch mit dem Abnehmen des Gipsverbandes nicht besser geworden waren… und an die Worte des Arztes: »Mit diesen Schmerzen werden Sie von nun an leben müssen.«

»Es gab in meinem weiteren Leben keine Minute mehr ohne den bohrenden Schmerz in meinem Fußgelenk«, fuhr sie leise fort. »Irgendwann versuchte ich dann, ihn zu ignorieren… ich sagte mir, diese Schmerzen seien die Strafe für meinen Fuß, weil er meine Karriere zerstört hatte. Das machte es leichter. Doch dann kamen die Krankheiten, die Erstickungsanfälle, das Herzrasen und die Schmerzen, die sich einmal auf den Magen, dann auf die Nieren oder auf den Kopf legten.« Sie schwieg einen Moment. »Dr. Breuer, der Chefarzt des Kreiskrankenhauses, hat sich anfangs sehr um mich bemüht, aber mit der Zeit…« Sie zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich hielt er mich für eine Simulantin.« Eindringlich sah sie Raimund an. »Aber ich habe nicht simuliert. Die Schmerzen waren wirklich da… und die Atemnot… und das Herzrasen. Ich bin eine kranke Frau, und daran wird sich nie mehr etwas ändern.«

*

Raimund Brunner war zutiefst erschüttert über das, was Svenja ihm erzählt hatte, und seine Entschlossenheit, ihr zu helfen, wuchs schier ins Grenzenlose. Doch es war nicht nur Mitleid, das ihn bewegte, sondern ein Gefühl, das viel tiefer ging. Er wußte längst, daß er sich in diese unglückliche junge Frau verliebt hatte – und zwar nicht erst jetzt. Die Liebe zu Svenja hatte begonnen, als er sie zum ersten Mal im Theater gesehen hatte, und obwohl sie mit dem fünfzehnjährigen Mädchen von damals nicht mehr viel gemeinsam hatte, war sein Gefühl für sie geblieben… nein, seit er sie wirklich kannte, war es noch viel stärker geworden. Es war eine so bedingungslose Liebe, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Für Svenja würde er jederzeit durch die Hölle gehen. Und dieser Sturm der Gefühle, der in seinem Herzen tobte, machte ihm ein wenig Angst. Irgendwann würde Svenja die Waldsee-Klinik wieder verlassen, während er seiner Arbeit und seinen Patienten zuliebe zurückbleiben mußte, und er wußte, daß er dann an der Sehnsucht nach Svenja zugrunde gehen würde.

Gewaltsam schüttelte er diese Gedanken ab. Noch war es schließlich nicht soweit. Noch war Svenja hier. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Sie wartete jetzt sicher schon auf ihn.

Svenja Birkert wartete tat-sächlich schon, und Raimund spürte, daß sie der Krankengymnastik seit dem langen Gespräch am Waldsee nun sehr viel aufgeschlossener gegenüberstand. Sie gab es weder vor ihm noch vor sich selbst zu, aber Raimund hatte zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren wieder so etwas wie Hoffnung in ihr geweckt. Ein

Leben ohne den ständigen Schmerz… es wäre zu schön, um wahr zu sein.

»Das mit deinem Fußgelenk bekommen wir schon hin – vorausgesetzt, du arbeitest auch dabei mit.«

Immer wieder klangen diese Worte, die Raimund gesagt hatte, in ihr nach. Und sie arbeitete mit, sie arbeitete mit der gleichen Verbissenheit, mit der sie einst getanzt hatte.

Schon sehr viel früher als die Ärzte der Waldsee-Klinik gerechnet hatten, wagte sie die ersten Schritte auf dem Flur, und dabei hinkte sie kaum noch.

»Guten Tag, Frau Birkert.«

Svenja drehte sich um und sah direkt in Dr. Daniels lächelndes Gesicht.

»Seit wann sind Sie denn schon auf den Beinen?« wollte er wissen und griff impulsiv an ihren Arm, dabei brauchte Svenja gar keine Stütze mehr.

»Heute das erste Mal«, erklärte sie stolz, dann glitt ein glückliches Leuchten über ihr Gesicht. »Ich habe kaum noch Schmerzen.«

»Das freut mich zu hören«, erwiderte Dr. Daniel und bestaunte insgeheim das Wunder, das Raimund Brunner an Svenja bewirkt hatte.

»Ich freue mich, daß Sie Ihren Lebensmut offenbar wiedergefunden haben«, sagte Dr. Daniel aus diesen Gedanken heraus mit einem warmherzigen Lächeln.

»Lebensmut«, wiederholte Svenja leise und wurde dabei wieder ernst. »Ich weiß nicht so recht, Herr Doktor. Wenn ich wieder tanzen könnte, aber so…«

Mit einer väterlichen Geste ergriff Dr. Daniel Svenjas Hände. »Ich weiß von Ihrer Mutter, wieviel Ihnen das Ballett bedeutet hat, aber glauben Sie mir, das Leben hat noch eine ganze Menge mehr zu bieten.«

»Das sagt Raimund auch«, meinte Svenja, dann sah sie Dr. Daniel aufmerksam an. »Sie sind nicht nur Arzt geworden, um Geld zu verdienen, nicht wahr?«

Dr. Daniel nickte. »Richtig. Ich bin Arzt aus Leidenschaft, und ein schwerkranker Patient ist für mich tausendmal schlimmer als eine unbezahlte Rechnung.«

»Das dachte ich mir. Und nun stellen Sie sich vor, Sie könnten aus irgendeinem Grund nicht mehr als Arzt tätig sein. Hätten Sie da noch Lebensmut?«

Dr. Daniel mußte sich eingestehen, daß er die Sache aus diesem Blickwinkel noch nicht betrachtet hatte.

»Sie haben recht«, erklärte er. »Es wäre durchaus möglich, daß auch ich meinen Lebensmut verlieren würde.«

Da lächelte Svenja. »Wissen Sie eigentlich, wie gut es tut, von Ihnen immer eine ehrliche Antwort zu bekommen? Ich bin inzwischen sehr froh, daß Dr. Breuer mich in die Waldsee-Klinik überwiesen hat. Die Ärzte und Schwestern sind so nett zu mir, dabei habe ich es ihnen allen gerade anfangs äußerst schwer gemacht, und auch jetzt habe ich immer noch ziemliche Tiefs, die zu Herz- und Atembeschwerden führen. Trotzdem wurde noch nie jemand ungeduldig mit mir, und Sie sind sowieso ein Arzt wie aus dem Bilderbuch.«

Dr. Daniel errötete bei diesem Lob ein wenig, dann tätschelte er ihre Hand. »Es ist schön, so etwas gesagt zu bekommen, obwohl ich mich selbst eigentlich nicht so sehe, wie Sie es ausgedrückt haben. Schließlich ist es meine Pflicht als Arzt, den Menschen, die sich mir anvertrauen, zu helfen.«

»Sie tun sehr viel mehr als das, und ich wünschte, ich wäre Ihnen schon vor Jahren begegnet… oder hierher in diese wundervolle Klinik gekommen. Ich glaube, mein ganzes Leben wäre anders verlaufen.«

»Vieles läßt sich jetzt noch nachholen«, meinte Dr. Daniel.

Da senkte Svenja den Kopf.

»Ja, vielleicht«, murmelte sie. »Hier in der Klinik fühle ich mich so sicher… geborgen, aber wenn ich erst wieder draußen bin…« Sie zuckte die Schultern. »Manchmal denke ich, ich werde nie darüber hinwegkommen…«

Dr. Daniel wußte genau, wovon sie sprach. »Doch, Frau Birkert, Sie werden darüber hinwegkommen. Sie werden erkennen, wieviel Schönes das Leben noch zu bieten hat – auch wenn man kein Star mehr ist.«

*

»Sag mal, Robert, du bist ja schon wieder hier«, stellte Dr. Metzler überrascht fest, dann grinste er. »Hast du deine Praxis vorübergehend geschlossen?«

Dr. Daniel seufzte. »Wenn ich das nur könnte.« Mit einer flüchtigen Handbewegung fuhr er sich durch das dichte blonde Haar. »Allmählich wächst mir tatsächlich alles ein bißchen über den Kopf, aber was soll ich tun? Frau Rauh hat die seelische Unterstützung, die ich ihr neben meiner gynäkologischen Tätigkeit bieten kann, bitter nötig. Ich glaube, wir verdanken es überwiegend den Entspannungs-übungen mit Herrn Brunner und den Gesprächen, die ich täglich mit ihr geführt habe, daß die Sache mit der Schwangerschaftsvergiftung relativ problemlos über die Bühne ging. Im Grunde habe ich ihr ja jeden Tag mehr oder weniger dasselbe erzählt, aber es hat scheinbar gewirkt.«

»Deine bloße Anwesenheit vermag diverse Damen ja schon zu beruhigen«, feixte Dr. Metzler.

Dr. Daniel drohte ihm mit dem Finger, obwohl er dem jungen Chefarzt natürlich überhaupt nicht böse war.

»Mein lieber Wolfgang, reiß dich bloß zusammen«, erklärte er. »Ich habe vor gar nicht so langer Zeit zu Herrn Brunner gesagt, daß es mir manchmal recht schwerfällt, in dir den Arzt und nicht den Lausbuben von einst zu sehen, und gerade jetzt schlägt dieser Lausbub bei dir wieder ganz gewaltig durch.«

»Du übertreibst«, urteilte Dr. Metzler. »So schlimm war ich als Junge doch gar nicht.«

»Du hattest es faustdick hinter den Ohren«, stellte Dr. Daniel lächelnd fest. »Und daran hat sich bis heute nicht viel geändert.«

Dr. Metzler verbeugte sich theatralisch. »Danke für die Blumen, werter Herr Direktor.«

Dr. Daniel seufzte. »Den Direktor hättest du dir sparen können. So, und jetzt halte mich nicht länger von der Arbeit ab. Ich habe heute noch ein wenig mehr zu tun, als mit dir harmlose Späßchen auszutauschen.«

Dr. Metzler wurde ernst. »Du solltest ein bißchen kürzertreten, Robert, sonst liegst du irgendwann selbst als Patient hier in der Klinik.«

»So schnell bin ich nicht unterzukriegen«, behauptete Dr. Daniel, dann klopfte er dem Chefarzt auf die Schulter. »Im übrigen kenne ich da einen gewissen Lausbub… ich wollte sagen, einen erstklassigen jungen Arzt, der mich im ungünstigen Fall schon wieder aufpäppeln würde.«

Jetzt war es Dr. Metzler, der tief aufseufzte. »Du bist wirklich unverbesserlich.«

»Weiß ich«, meinte Dr. Daniel zufrieden, dann wandte er sich um und ging eiligen Schrittes in die Gynäkologie hinüber. Gerda Rauh wartete bestimmt schon auf ihn.

Als Dr. Daniel ihr Zimmer betrat, fiel ihm sofort der gehetzte Ausdruck in ihren Augen auf. Besorgt runzelte er die Stirn.

»Was ist los, Frau Rauh?« wollte er wissen. »Haben Sie wieder Kopfschmerzen?«

Gerda schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Doktor, Kopfschmerzen sind es nicht. Es ist… irgendwie so komisch… in meinem Bauch. In der letzten halben Stunde ist er mehrmals entsetzlich hart geworden. Dazu hatte ich ganz entsetzliche Rückenschmerzen.« Ängstlich schaute sie den Arzt an. »Ist das etwa wieder so etwas Gefährliches wie die Schwangerschaftsvergiftung?«

»Ich hoffe, daß es nur die ganz normalen Senkwehen sind«, meinte Dr. Daniel. Insgeheim rechnete er allerdings mit etwas anderem. Gerdas Beschreibung nach waren es nämlich eher vorzeitige Wehen, doch damit wollte er sie lieber noch nicht erschrecken. Erst mußte er Gewißheit haben.

»Ich werde Sie jetzt untersuchen«, erklärte er und stellte das Kopfteil des Bettes nach unten. »Das kann ich gleich hier machen. Anschließend werde ich Sie an den Wehenschreiber an-schließen.«

Diese Maßnahme erübrigte sich allerdings nach der Untersuchung, denn Dr. Daniel stellte zu seinem Entsetzen fest, daß sich der Muttermund bereits vier Zentimeter geöffnet hatte. Damit war die Geburt nicht länger aufzuhalten.

Gerda stöhnte leise auf. »Die Rückenschmerzen kommen wieder.«

Dr. Daniel, der ja noch mitten in der Untersuchung war, fühlte, wie sich der Muttermund weiter öffnete. Sekundenlang schloß er die Augen. Für einen Transport nach München war es zu spät, aber hier in der Waldsee-Klinik standen die Chancen für die Drillinge auch jetzt noch ziemlich schlecht. Immerhin waren es noch fast fünf Wochen bis zum errechneten Termin.

»Seit wann haben Sie diese Rückenschmerzen?« wollte er wissen, während er die Handschuhe abstreifte und nach der Stationsschwester klingelte.

»Wie ich schon sagte – seit einer halben Stunde etwa«, antwortete Gerda, und in ihrem Blick lag nun offene Angst. »Was ist das, Herr Doktor?«

»Es sind Wehen«, antwortete Dr. Daniel wahrheitsgemäß, dann setzte er sich auf die Bettkante und griff nach Gerdas Hand, um ihr ein wenig Sicherheit zu geben.

»Brauchen Sie etwas, Herr Doktor?« wollte Schwester Bianca wissen, die gerade zur Tür hereinkam.

Dr. Daniel gab eine kurze Anweisung, dann wandte er sich Gerda wieder zu.

»Ich werde Ihnen jetzt eine Infusion legen, Frau Rauh«, erklärte er. »Sie bekommen ein wehenhemmendes Medikament, weil Ihre Babys auf normalem Weg nicht geboren werden können. Anschließend bringe ich Sie in den Operationssaal, und dort werden wir dann einen Kaiserschnitt vornehmen.« Er lächelte und versuchte damit einen Optimismus an den Tag zu legen, den er gar nicht hatte. »In spätestens einer Stunde werden Sie Mami sein.«

Gerda erschrak zutiefst. »Aber… es ist doch immer noch zu früh! Sie sagten, wenn die Babys zu früh kommen würden, müßte ich nach München zu Dr. Sommer.«

Dr. Daniel nickte. »Das ist richtig, aber wir würden nicht mehr rechtzeitig in der Sommer-Klinik eintreffen. Ihr Muttermund öffnet sich wahnsinnig schnell. Das ist bei einer Erstgebärenden, wie Sie es sind, sehr ungewöhnlich, aber es kommt gelegentlich vor.«

Gerdas Stimme zitterte, als sie die Frage stellte, die sich ihr unwillkürlich aufdrängte. »Werden meine Babys hier… ich meine… haben Sie überhaupt eine Chance?«

»Ich werde alles für Ihre Babys tun«, versprach Dr. Daniel und umging damit eine direkte Antwort. Er wußte nicht, ob die Drillinge überleben würden, aber das durfte er Gerda in dieser Situation so nicht sagen. Die Empfindungen und Ängste der Mutter übertrugen sich auf die ungeborenen Kinder, und gerade um sie mußte Dr. Daniel jetzt mit allen Mitteln kämpfen. Dazu gehörte es, der Mutter Mut zu machen, denn wenn sie die Hoffnung verlor, würden damit vielleicht auch die Babys geschwächt werden.

Inzwischen war Bianca mit dem Infusionsbesteck und der Infusionsflasche zurückgekehrt. Rasch und geschickt legte Dr. Daniel den Zugang, und während Bianca nun die Infusion anschloß und die Tropfengeschwindigkeit nach Dr. Daniels Anweisungen regelte, beugte sich der Arzt noch einmal zu seiner Patientin hinunter.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Rauh«, bat er. »Für Sie und Ihre Babys wird hier alles Menschenmögliche getan.«

Gerda nickte, und auf ihrem Gesicht zeichnete sich neben Angst und Nervosität nun auch eine gewisse Hoffnung ab.

»Ich vertraue Ihnen, Herr Doktor«, flüsterte sie und ahnte nicht, daß sie damit einen zentnerschweren Stein auf Dr. Daniels Herz legte.

Was, wenn er dieses Vertrauen enttäuschen würde? Rasch schüttelte Dr. Daniel diesen Gedanken ab, doch er verfolgte ihn umbarmherzig.

In fliegender Hast betrat er sein Büro, riß den Hörer von der Gabel und wählte die Nummer der Sommer-Klinik, dann ließ er sich mit dem dortigen Chefarzt verbinden.

»Schorsch, ich bin’s«, gab er zu erkennen. »Ich brauche Dr. Senge, und zwar schnellstens.«

Dr. Georg Sommer, seit Jahren Dr. Daniels bester Freund, wußte genau, was los war.

»Die Drillinge«, vermutete er.

»Frau Rauh hat seit einer gu-ten halben Stunde vorzeitige Wehen.«

»Meine Güte«, stöhnte Dr. Sommer. »Ich schicke Senge zu euch hinaus, aber… du weißt hoffentlich, daß die Chancen für die Drillinge trotzdem nicht sehr gut stehen.«

»Senge ist der beste Frühgeborenen-Spezialist, den es in München und Umgebung gibt«, entgegnete Dr. Daniel. »Abgesehen davon, daß die Drillinge keine wirklichen Frühgeborenen sind. Sie sind zum jetzigen Zeitpunkt Acht-Monats-Kinder. In spätestens drei Wochen hätten wir sie sowieso mit Kaiserschnitt geholt.«

»Robert, du bist Gynäkologe«, erinnerte Dr. Sommer ihn. »Du weißt genau, was drei Wochen bei Mehrlingen ausmachen können. Senge ist zwar erstklassig, aber gib dich trotzdem keinen Illusionen hin. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß ihr alle drei Kinder durchbekommt.«

Mit einem leisen Aufstöhnen ließ sich Dr. Daniel auf seinen Stuhl fallen.

»Ich hätte sie gleich zu dir in die Klinik bringen sollen«, meinte er. »Schon damals, als die Gestose aufgetreten ist.«

»Nein, Robert, das wäre falsch gewesen«, entgegnete Dr. Sommer. »Ich habe Frau Rauh vor ein paar Wochen angerufen, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Dabei erwähnte sie, wie wohl sie sich in der Waldsee-Klinik fühlt und wie gut ihr die vielen Gespräche mit dir getan haben. Eine Überweisung zu mir hätte sich nur negativ auf ihr Allgemeinbefinden ausgewirkt.« Er schwieg kurz. »Deine Entscheidung war also vollkommen richtig.« Wieder machte er eine Pause. »Im übrigen wären die Chancen der Drillinge hier in meiner Klinik auch nicht größer.«

»Du hast die beste Frühgeborenen-Intensivstation«, warf Dr. Daniel ein.

»Ja, aber nur weil Senge bei mir arbeitet. Er ist übrigens schon auf dem Weg zu dir.«

»Danke, Schorsch.«

Dr. Daniel wollte auflegen, doch die Stimme seines Freundes hielt ihn zurück.

»Frau Rauh hat Vertrauen zu dir, das ist wichtiger als alle Technik, die ich ihr bieten könnte«, meinte er. »Darüber hinaus bist du der beste Gynäkologe, den ich kenne. Wenn es dir nicht gelingt, die Babys zu retten, dann würde es mir hier auch nicht gelingen. Mach dir also keine Vorwürfe, wenn dir eines der Kinder wegsterben sollte.«

*

Dr. Erika Metzler, die Ehefrau des Chefarztes und Anästhesistin der Gynäkologie, wartete nur noch auf Dr. Daniels Zeichen, um die Narkose bei Gerda Rauh einzuleiten. Die Wehentätigkeit bei Gerda war dank der Infusion zum Erliegen gekommen, und Dr. Daniel hoffte, auf das rasche Eintreffen des Frühgeborenen-Spezialisten Dr. Bruno Senge.

Im Laufschritt betrat der Arzt nun die Waldsee-Klinik und eilte sofort zum Operationssaal der Gynäkologie.

»Wie beurteilen Sie die Chancen der Babys?« wollte Dr. Daniel wissen, während sie sich gemeinsam die Hände wuschen.

»Schlecht«, gab Dr. Senge unumwunden zu, dann sah er Dr. Daniel an. »Ich kenne Sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, was Sie jetzt denken, aber die Antwort lautet eindeutig nein. Die Drillinge hätten auch in der Sommer-Klinik keine größeren Chancen. Mehrlinge sind immer ein Risiko, vor allem, wenn sie zu früh kommen. Im Grunde haben Sie hier alles, was die Babys brauchen, und ich werde mein Möglichstes tun. Mehr wäre auch in der Sommer-Klinik nicht drin gewesen.«

»Sie wollen mich nur beruhigen«, vermutete Dr. Daniel. »Aber gleichgültig, wie es sich tatsächlich verhält. Wenn mir auch nur eines der Babys hier wegstirbt, werde ich mir mein Leben lang Vorwürfe machen.«

»Völlig unnötig«, entgegnete Dr. Senge. Dann lächelte er ein wenig. »Gemeinsam werden wir es schon schaffen.«

Dr. Daniel nickte und ließ sich von der OP-Schwester keimfreie Handschuhe überstreifen. Erst jetzt gab er Erika das Zeichen für die Narkose, denn die Babys sollten dem schädlichen Medikament nur so kurz wie möglich ausgeliefert sein.

»Sie können anfangen, Ro-bert«, erklärte Erika, sobald Gerda eingeschlafen war.

Die OP-Schwester reichte Dr. Daniel unaufgefordert das Skalpell, und er führte mit einer raschen Bewegung den Bauchschnitt durch, wartete, bis die Gynäkologin Dr. Alena Reintaler die Haken angesetzt hatte, und öffnete dann vorsichtig den Uterus.

Dr. Senge stand mit drei Brutkästen bereit und nahm nun das erste, winzig kleine Baby entgegen.

»Oh, mein Gott«, flüsterte Alena Reintaler betroffen, als sie die zarten, so zerbrechlich wirkenden Neugeborenen sah, und in ihrem Gesicht stand nur zu deutlich geschrieben, was sie in diesem Augenblick dachte: Niemals können diese Kinder überleben.

Dieser Gedanke streifte auch Dr. Daniel, als er das letzte Baby aus dem Uterus holte und Dr. Senge übergab. Er warf einen kurzen Blick zurück, sah, wie sich der Arzt um die Neugeborenen bemühte, und erwartete jeden Moment die Nachricht vom Tod der Babys zu bekommen.

Erika Metzler hatte bis zur Geburt des letzten Kindes gewartet, ehe sie die Narkose bei Gerda vertiefte. Dr. Daniel entfernte die Plazenta, vergewisserte sich, daß keine Reste in

der Gebärmutter zurückblieben, und begann schließlich, die Wunde zu schließen.

»Soll ich weitermachen?« bot Alena an, da sie genau wußte, wo Dr. Daniels besorgte Gedanken jetzt weilten.

»Ja, Alena, vielen Dank«, entgegnete er, betrachtete noch einmal die Werte, die die Monitoren anzeigten, und erkannte, daß es wenigstens Gerda Rauh gutging. Erst danach verließ er den Operationssaal und eilte in die Intensivstation, wohin Dr. Senge die drei Babys nach der Erstversorgung gebracht hatte.

»Wie sieht’s aus?« fragte Dr. Daniel in banger Erwartung.

»Gar nicht so schlecht«, urteilte Dr. Senge. »Die beiden Mädchen sind kräftig, nur der kleine Junge bereitet mir ein wenig Sorgen.« Er lächelte. »Bei der Kraft geballter Weiblichkeit, ist er offenbar ein bißchen zu kurz gekommen. Aber ich denke, wir werden ihn ebenfalls durchkriegen.«

Erleichtert atmete Dr. Daniel auf. »Das sind wirklich gute Nachrichten.« Er betrachtete die drei Babys, die im Gegensatz zu einem normal ausgebildeten Neugeborenen wie kleine Püppchen aussahen. »Sind Sie denn sicher, daß es ihnen hier an nichts fehlen wird? Ich meine… eine Verlegung in die Sommer-Klinik…«

»Nein, die halte ich für unnötig«, entgegnete Dr. Senge. »Die Drillinge sind zwar sehr klein, aber ansonsten gut entwickelt. Sie können ohne Hilfe atmen, und in ein paar Wochen werden sie sich kaum noch von anderen Babys ihres Alters unterscheiden. Eine Verlegung muß wirklich nicht sein. Wenn die Mutter in der Lage ist, ihre Kinder liebevoll zu versorgen, sehe ich zumindest für die Mädchen kein Risiko. Sicherheitshalber sollten sie die ersten Tage noch im Brutkasten bleiben. Der kleine Bub braucht vielleicht sogar ein paar Wochen im Inkubator, ansonsten muß aber gerade er viele Streicheleinheiten bekommen, um das aufzuholen, was er im Mutterleib versäumt hat.« Er lächelte. »Nun sollten wir die frischgebackene Mami aber nicht mehr länger warten lassen.«

Dr. Daniel nickte. »Das denke ich auch. Herr Rauh dürfte in der Zwischenzeit ja ebenfalls eingetroffen sein. Schwester Bianca hat ihn jedenfalls benachrichtigt.«

Es stellte sich heraus, daß Ferdinand Rauh schon ungeduldig auf dem Flur wartete.

»Herzlichen Glückwunsch«, erklärte Dr. Daniel und konnte nun zum ersten Mal wieder lächeln, wenn auch nicht ganz so herzlich wie sonst. Er unterlag noch immer einer gewaltigen Anspannung, die erst allmählich nachlassen würde. »Sie sind soeben dreifacher Vater geworden.«

»Drei…«, stammelte Ferdi-nand, dann ließ er sich mit einem erleichterten Aufseufzen gegen die Wand sinken. »Es ist also alles gut gegangen, Gott sei Dank.«

»Kommen Sie, Herr Rauh, Sie dürfen Ihre Frau und Ihre Babys besuchen«, erklärte Dr. Daniel und begleitete den jungen Mann in den Aufwachraum, wo Gerda gerade im Begriff war, aus der Narkose zu erwachen.

Als sie die Augen aufschlug, fiel ihr erster Blick auf die drei Brutkästen, die neben ihrem Bett standen. Mit Mühe gelang es ihr, eine Hand auszustrecken.

»Sie sind… so klein«, flüsterte sie mit heiserer Stimme.

»Das ist bei Drillingen nicht ungewöhnlich«, meinte Dr. Daniel lächelnd, dann sah er Dr. Senge an. »Nicht wahr, Herr Kollege?«

Der Arzt nickte. »Sie haben drei gesunde Kinder zur Welt gebracht, Frau Rauh. Die beiden Mädchen sind ein bißchen kräftiger als der Junge, aber um den Kleinen werden wir uns ganz intensiv kümmern, damit er auch gegen seine Schwestern bestehen kann.«

Ein Lächeln huschte über Gerdas Gesicht, dann richtete sie ihren Blick auf Dr. Daniel.

»Ich wußte, daß ich Ihnen vertrauen kann«, erklärte sie, hatte dabei aber schon Mühe, unter den Nachwirkungen der Narkose nicht wieder einzuschlafen. Dennoch schaffte sie es, die Hand ihres Mannes zu ergreifen und ihn anzulächeln. »Ferdinand, was hältst du davon, wenn wir unseren kleinen Sohn Robert nennen würden?«

Ferdinand nickte. »Sehr viel. Ohne Dr. Daniel würde es unsere drei Kinder ja gar nicht geben.« Dankbar sah er den Arzt an. »Sie haben nicht nur die künstliche Befruchtung durchgeführt, sondern unsere Babys nun auch gesund auf die Welt gebracht. Da ist es recht und billig, wenn wir unserem kleinen Jungen Ihren Namen geben.«

Dr. Daniel wurde tatsächlich ein bißchen verlegen. Voller Innigkeit drückte er zuerst Gerdas, dann Ferdinands Hand.

»Wir haben zusammen einen langen Weg zurückgelegt«, meinte er. »Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß ich Ihnen zu diesen drei gesunden Babys verhelfen konnte.«

*

Seit Wochen betrachtete Mathilde Birkert mit wachsendem Staunen die Veränderung ihrer Tochter.

»Sie haben an Svenja ein Wunder vollbracht«, erklärte sie, als sie Dr. Daniel in der Eingangshalle der Waldsee-Klinik begegnete. »Ich erkenne sie kaum wieder. Fast zwölf Jahre lang ist sie immer depressiver geworden, aber jetzt… gestern hat sie sogar wieder gelacht.«

»Diesen Dank verdiene ich nicht«, entgegnete Dr. Daniel bescheiden. »Er gebührt eigentlich Herrn Brunner, dem Krankengymnasten, der Ihre Tochter betreut.«

»Raimund.« Mathilde Birkert nickte. »Wir haben uns schon kennengelernt. Er ist ein… wie soll ich sagen? Ein sehr resoluter Mensch, und es wundert mich ein wenig, daß Svenja ihn mag.«

»Das liegt wohl daran, daß es zwischen Herrn Brunner und Ihrer Tochter eine Gemeinsamkeit gibt: Sie lieben beide das Ballett.«

Mathilde Birkerts Gesicht wurde wieder sehr ernst. Dar-über wollte sie seit dem schrecklichen Unfall mit niemandem mehr sprechen.

Inzwischen hatten sie Svenjas Zimmer erreicht und traten nach kurzem Anklopfen ein. Die junge Frau wandte den Kopf zur Tür, dann huschte ein Strahlen über ihr Gesicht.

»Mama! Herr Doktor!« Sie stand auf und kam ihnen entgegen, umarmte ihre Mutter und reichte Dr. Daniel die Hand. »Ich freue mich, daß Sie mich noch mal besuchen, bevor ich entlassen werde.«

»Dr. Metzler hat mir gestern schon gesagt, daß ein längerer Aufenthalt in der Waldsee-Klinik nicht mehr gerechtfertigt wäre«, erklärte Dr. Daniel. »Das kann ich selbst nur bestätigen. Sie haben in den vergangenen Wochen große Fortschritte gemacht und das nicht nur in körperlicher Hinsicht.«

Svenja nickte glücklich. »Ich hatte keine Erstickungsanfälle mehr, und die Schmerzen in meinem Fußgelenk sind auch endlich weg. Ich fühle mich wie neugeboren.«

»Das freut mich zu hören«, meinte Dr. Daniel, dann betrachtete er Svenja prüfend. »Was ist denn mit Ihrem Herzrasen?«

»Auch das ist weg.« Sie errötete ein wenig. »Nun ja, nicht immer, aber… ich fühlte mich nicht krank deswegen.«

Dr. Daniel schmunzelte. »Ich nehme an, dieses heftige Herzklopfen tritt nur noch in ganz bestimmten Situationen auf.«

Svenja nickte, dann wurde sie plötzlich traurig. »Raimund war seit fast zwei Wochen nicht mehr bei mir.«

»Die Krankengymnastik ist nicht mehr nötig«, erläuterte Dr. Daniel. »Jedenfalls aus medizinischer Sicht.«

»Das heißt, ich werde ihn nicht mehr sehen, bevor ich die Klinik verlasse.«

Dr. Daniel hörte den traurigen Unterton sofort heraus, und im Grunde erstaunte es ihn, daß sich Raimund Brunner zu keinem Besuch bei Svenja entschlossen hatte, auch wenn er als Krankengymnast nicht mehr gebraucht wurde. Irgendwie hatte Dr. Daniel damit gerechnet, daß sich zwischen den beiden jungen Menschen etwas anbahnen würde. Sie waren so oft zusammengewesen und hatten offenbar über vieles gesprochen. Sein jetziges Fernbleiben paßte eigentlich nicht zu dem beinahe schon innigen Verhältnis, das sie zuvor verbunden hatte.

»Ich muß sowieso noch mit Herrn Brunner telefonieren«, erzählte Dr. Daniel. »Bei dieser Gelegenheit kann ich ihm dann sagen, daß Sie sich noch von ihm verabschieden möchten, bevor Sie nach Hause zurückkehren.«

Ein Lächeln huschte über Svenjas Gesicht. »Das wäre sehr nett von Ihnen, Herr Doktor.« Sie zuckte die Schultern. »Ich würde ihn ja selbst anrufen, aber leider weiß ich nicht, wo ich ihn erreichen könnte. Wenn er hier war, haben wir meistens nur über mich gesprochen. Über ihn weiß ich eigentlich gar nichts.«

»Ich denke, das wird sich ändern lassen«, meinte Dr. Daniel, dann ließ er Mutter und Tochter allein und machte sich auf den Weg zu seiner Praxis. Bis zum Beginn der Nachmittagssprechstunde hatte er noch ein bißchen Zeit, und die nutzte er, um Raimund Brunner anzurufen.

»Daniel«, gab er sich zu erkennen. »Ich habe gute Nachrichten für Sie. Frau Rauh wurde vor fast zwei Wochen von Drillingen entbunden.« Er schwieg kurz. »Eigentlich hätte ich Sie gleich anrufen sollen, aber ich wollte abwarten, bis alle drei Babys wirklich über den Berg sind.«

»Gab es denn Probleme?« wollte Raimund wissen.

»Sie kamen drei Wochen zu früh, und überdies war der kleine Junge ein bißchen schwach im Vergleich zu seinen beiden Schwestern, aber inzwischen hat er für seine Verhältnisse schon ganz gewaltig aufgeholt.« Dr. Daniel lächelte. »Es sind drei gesunde, kräftige Kinder, auch wenn sie im Moment noch ein bißchen kleiner sind als andere Neugeborene.«

»Das freut mich ganz besonders. Es wäre für Frau Rauh schrecklich gewesen, eines der Babys zu verlieren«, erwiderte Raimund, doch Dr. Daniel hörte sogar durchs Telefon, daß ihn etwas anderes noch mehr beschäftigte.

»Frau Birkert wird morgen aus der Klinik entlassen«, betonte Dr. Daniel, weil er genau wußte, wo Raimunds Gedanken waren. »Sie würde sich vorher gern noch von Ihnen verabschieden.« Er schwieg kurz. »Im übrigen war sie ein wenig erstaunt darüber, daß Sie sich nicht mehr bei ihr haben blicken lassen.«

»Ihrem Fuß ging es gut, die Krankengymnastik war nicht mehr nötig«, behauptete Raimund, doch seine Stimme klang dabei nicht so sicher wie sonst. Er zögerte. »Wenn sie entlassen wird… grüßen Sie sie bitte von mir. Ich selbst habe leider keine Zeit, um nach Steinhausen zu kommen.«

»Wie Sie meinen.« Dr. Daniel schwieg einen Moment. »Frau Birkert wird aber ziemlich enttäuscht sein.«

»Daran kann ich nichts ändern«, entgegnete Raimund, verabschiedete sich knapp und legte auf.

Dr. Daniel schmunzelte. »Mein lieber Mann, den hat’s ja ganz gewaltig erwischt.«

Er konnte sich denken, weshalb Raimund der Klinik ferngeblieben war, und weshalb er nun auch den Abschied von Svenja scheute. Vermutlich hatte er Angst, seine Gefühle könnten nicht erwidert werden, und wollte sich weitere Schmerzen, denen er durch ein erneutes Wiedersehen mit ihr ausgesetzt sein würde, ersparen.

»Wenn diese jungen Männer doch nur ein einziges Mal die Augen aufmachen würden«, murmelte Dr. Daniel kopfschüttelnd. »Das sieht doch ein Blinder, wie sehr sie ihn liebt.«

Und dann kam ihm plötzlich eine Idee, wie er in diesem Fall vermitteln könnte.

*

Der Koffer war gepackt. Svenja sah sich in dem Zimmer um, das sie so viele Wochen bewohnt und in dem sie ihr Leben wiedergefunden hatte. Der Gedanke ans Ballett schmerzte noch immer ein wenig, doch Svenja war entschlossen, ihrem Leben wieder einen Sinn zu geben. Jetzt, da ihr Fußgelenk nicht mehr schmerzte, gab es vielleicht die Möglichkeit, in einer Ballettschule zu arbeiten, um anderen Mädchen das weiterzugeben, was sie einst gelernt hatte. Dieser Gedanke verlieh ihr Auftrieb, doch er konnte den ziehenden Schmerz in ihrem Herzen nicht beseitigen.

»So, Frau Birkert, nun sagen Sie uns also Lebewohl.«

Svenja drehte sich um und lächelte, als sie Dr. Daniel erblickte.

»Nein, Herr Doktor, ein Abschied für immer wird es sicher nicht. Ich komme wieder, aber dann nur zu Besuch.«

»Das hoffe ich«, betonte Dr. Daniel. »Als Patientin möchte ich Sie hier auch nicht mehr haben, es sei denn…« Er schmunzelte. »Nun ja, auf der Gynäkologie habe ich sehr oft auch glückliche Patientinnen.«

Svenja lächelte ebenfalls. »Ich verstehe schon, was Sie meinen, aber ich kann nicht garantieren, daß ich jemals ein Baby bekommen werde. Wünschen würde ich es mir allerdings schon.« Ihr Gesicht wurde ernst. »Raimund war nicht mehr hier, oder… konnten Sie ihn nicht erreichen? Weiß er vielleicht gar nicht, daß ich heute entlassen werde?«

Der Themenwechsel von einem Baby zu Raimund war für Dr. Daniel äußerst vielsagend und bestätigte sein Gefühl noch.

»Doch, Frau Birkert, er weiß es, aber…« Wieder lächelte er. »Vielleicht sollten Sie selbst herausfinden, weshalb er den Weg nach Steinhausen plötzlich so gescheut hat. Darum verordne ich Ihnen auch noch eine Stunde Krankengymnastik.«

Verwirrt blickte Svenja zu ihm auf. »Wie bitte? Aber… mein Fuß tut doch gar nicht mehr weh.«

»Wie Sie diese Stunde mit Herrn Brunner verbringen werden, ist Ihre Sache«, entgegnete Dr. Daniel und reichte ihr einen Zettel, auf dem er die Adresse von Raimunds Praxis in der Kreisstadt notiert hatte.

Ein strahlendes Lächeln erhellte Svenjas Gesicht. »Jetzt verstehe ich. Danke, Herr Doktor.« Doch plötzlich wurde sie wieder ernst. »Dabei fällt mir ein… ich kann doch nicht einfach hingehen und sagen… ich meine… so etwas gehört sich für eine Frau doch schließlich nicht. Außerdem weiß ich gar nicht…« Sie stockte.

»Was er empfindet?« vollendete Dr. Daniel ihren angefangenen Satz. »Ich glaube, da wird ein Blick in seine Augen genügen.«

Es stellte sich heraus, daß Dr. Daniel mit seiner Vermutung vollkommen recht hatte. Als Svenja die Praxis betrat, genügte ihr ein einziger Blick in Raimunds Augen, um die Wahrheit zu erkennen.

»Du Feigling«, urteilte sie, doch es klang so zärtlich, als hätte sie ihm eine Liebeserklärung gemacht.

»Was soll das heißen?« begehrte Raimund auf.

»Das heißt, daß du zu feige warst, um dich von mir zu verabschieden, weil du glaubtest, es würde ein Abschied für immer sein, dabei…« Sie trat näher zu ihm. »Du hättest mir doch nur einmal in die Augen schauen müssen.«

Raimund wich ihrem Blick aus. »Ich bin nur ein einfacher Krankengymnast, und du… du warst ein Star. Die ganze Welt hat dir zu Füßen gelegen.«

Sehr sanft berührte Svenja sein Gesicht. »Du hast recht, Raimund. Ich war einmal ein Star, aber die Zeit ist vorbei. Und die Welt, die mir einst zu Füßen gelegen hat, hat mich vergessen. Das hat sehr weh getan, doch du hast diesen Schmerz von mir genommen. Ich werde mein Leben jetzt wieder meistern – dank deiner Hilfe, aber… ich will in meinem neuen Leben nicht ganz allein stehen.« Vertrauensvoll lehnte sie sich an ihn. »Ich brauche jemanden, der es mit mir teilt.«

Raimund wagte fast nicht mehr zu atmen. Er hatte das Gefühl, als würde er gleich aufwachen und feststellen, daß alles nur ein schöner Traum gewesen war.

»Ich?« flüsterte er. »Du meinst… ich soll dieser Jemand sein?«

Svenja lächelte zu ihm hinauf. »Ja, Raimund.«

»Noch immer fühlte sich Raimund wie im Traum, doch die junge Frau in seinen Armen war Wirklichkeit. Und plötzlich stieß Raimund einen glücklichen Jauchzer aus, hob Svenja hoch und wirbelte sie herum, dann stellte er sie mit plötzlicher Vorsicht wieder auf die Beine.

In diesem Moment fiel Svenjas Blick auf ein gerahmtes Foto, das an der Wand hing. Wie in Trance ging sie darauf zu, betrachtete das Mädchen, das im weißen Tutu auf den Fußspitzen stand und die Arme graziös über den Kopf erhoben hatte.

»Das bin ja ich«, erklärte sie erstaunt. »Und das ist auch meine Unterschrift auf dem Bild.«

Raimund nickte. »Das war der Beginn meiner Liebe zu dir.« Er zog Svenja in seine Arme. »Ich dachte, sie würde sich nie erfüllen, und sogar jetzt habe ich noch gewisse Schwierigkeiten, an mein Glück zu glauben.«

Zärtlich lächelte Svenja ihn an. »Ich liebe dich, Raimund, und unser Glück wird bestimmt von Dauer sein.«

Bei diesen Worten dachte sie einen Moment lang voller Dankbarkeit an Dr. Daniel, denn er war es gewesen, der Raimund einst mit ihrem Fall betraut und der sie jetzt zu ihm geschickt hatte.

Wie unglücklich war sie gewesen, als sie in die Waldsee-Klinik gekommen war, und nun lag vor ihr ein Leben voller Liebe an der Seite eines wundervollen Mannes.

»Ich bin unsagbar glücklich«, flüsterte Svenja aus diesen Gedanken heraus. »Das Leben ist schön…«

– E N D E –

Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman

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