Читать книгу Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman - Marie-Francoise - Страница 6

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Als Chiara Sandrini das Blut an ihrem Slip sah, brach für sie eine Welt zusammen. Es hatte wieder nicht geklappt, dabei war sie diesmal so sicher gewesen!

Aufschluchzend senkte Chia-ra den Kopf und legte ihre schmalen Hände vor die Augen. Ihr langes tiefschwarzes Haar fiel dabei wie ein Schleier über ihr Gesicht. Eine Weile stand sie so, dann holte sie ein Taschentuch hervor, wischte sich die Tränen ab und verließ schließlich mit langsamen, schleppenden Schritten das kleine Haus am Ortsrand.

Während sie ihr Heimatdorf durchquerte, hatte sie das Gefühl, als seien die Blicke aller Einwohner auf sie gerichtet… sie fühlte sich ausgestoßen… geächtet.

Demütig ließ Chiara den Blick gesenkt. Sie wagte es nicht, irgend jemandem in die Augen zu sehen. Dann hatte sie ihr Ziel erreicht – das Haus, in dem sie geboren war. Bereits an der Tür kam ihr ihre Mutter entgegen.

»Ich weiß schon, weshalb du kommst«, erklärte Concetta Cardello, und der Blick, mit dem sie ihre zweiundzwanzig-jährige Tochter bedachte, war voller Abscheu. »Du hast es wieder nicht geschafft.«

Mit einer Hand bedeckte Chiara ihre Augen und versuchte, ein Aufschluchzen zu unterdrücken.

»Diesmal war ich so sicher«, flüsterte sie. »Seit einer Woche waren meine Tage überfällig, und ich dachte…«

Mit einer energischen Handbewegung brachte Concetta ihre Tochter zum Schweigen.

»Elio wird dich verlassen«, prophezeite sie, und ihre Stimme war ohne Mitgefühl. »Wenn du keine Kinder empfangen kannst, dann verdienst du auch keinen Mann!«

Jetzt war Chiara mit ihrer Beherrschung am Ende. Sie begann zu weinen.

»Hör auf!« herrschte Concetta sie an. »Nimm dir ein Beispiel an deinen Schwestern. Violetta ist seit einem Jahr verheiratet und hat ein zwei Monate altes Baby. Mariella erwartet ihr viertes Kind, und Gianna ist nach eineinhalb Jahren Ehe schon zum zweiten Mal schwanger. Nur du bringst Schande über uns. Vor zwei Jahren hat Elio dich geheiratet, und du warst in der ganzen Zeit nicht fähig, auch nur ein Kind zu gebären.« Sie schob Chiara zur Tür hinaus. »Geh in die Praxis deines Vaters und laß dich untersuchen.«

Erschrocken sah Chiara ihre Mutter an. »Nein, Mama, bitte…, er hat mich schon so oft untersucht…«

»Schweig!« herrschte Concetta ihre Tochter an. »Und jetzt geh!«

Chiara wußte, daß sie gehorchen mußte. So war es in ihrer Familie schon immer gewesen.

Niedergeschlagen überquerte sie den Flur und betrat die Praxis ihres Vaters. Salvatore Cardello war eigentlich Allgemeinmediziner, doch hier in diesem kleinen sardischen Dorf gab es keine Fachärzte, so daß sich der Dottore Cardello auch im gynäkologischen Bereich manche Fähigkeit angeeignet hatte.

Chiara mußte nicht lange warten, bis sie von der jungen Arzthelferin ins Sprechzimmer gerufen wurde. Hier saß Salvatore Cardello und bedachte seine jüngste Tochter mit einem ungnädigen Blick.

»Es ist also wieder soweit«, erklärte er, und sein Blick verriet Abscheu. »Zieh dich aus und leg dich hin.«

Chiara schluckte. Sie hatte Angst vor der Untersuchung. Ihr Vater war immer so entsetzlich grob. Alle Patienten fürchteten ihn, und seine Kinder machten da keine Ausnahme.

»Papa, ich habe meine Tage«, wandte Chiara ein, obwohl sie wußte, daß das für ihren Vater keine Rolle spielte.

»Dann zieh nur den Rock aus«, verlangte Salvatore Cardello, während er sich schon Plastikhandschuhe überstreifte.

Mit zitternden Händen kam Chiara seiner Aufforderung nach, dann legte sie sich auf die schmale Liege und versuchte sich zu entspannen, doch ihre Angst ließ das nicht zu. Zu den starken Unterleibsschmerzen, die sich mit Beginn der Regelblutung wieder eingestellt hatten, kam nun auch noch der Schmerz, den die Untersuchung durch ihren Vater verursachte.

Chiara biß sich die Lippen blutig, um nicht vor Qual aufzuschreien. Ihre Finger krallten sich in das Papier, das auf der Untersuchungsliege lag, und Tränen schossen aus ihren Augen.

»Du wehrst dich dagegen, schwanger zu werden«, urteilte Salvatore und trat endlich von der Liege zurück. »Du wehrst dich dagegen, wie du dich gegen die Untersuchung wehrst.« Er streifte die Handschuhe ab und warf sie in den Abfalleimer. »Ich werde Elio raten, dich zu züchtigen. Vielleicht legst du deinen Widerstand dann ab. Wenn nicht, soll er die Ehe annullieren lassen, und du kommst ins Kloster.«

»Nein!« stieß Chiara entsetzt hervor. »Papa, ich liebe Elio!«

»Dann schenk ihm endlich ein Kind«, verlangte Salvatore Cardello. »Und jetzt verschwinde! Mit Elio werde ich heute noch sprechen.«

In fliegender Hast zog Chiara ihren Rock wieder an, dann verließ sie fast fluchtartig die Praxis ihres Vaters. Blind vor Tränen stolperte sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Elio liebte sie zwar, trotzdem hatte Chiara das untrügliche Gefühl, daß er den Rat ihres Vaters befolgen würde. Wer in diesem Dorf würde Salvatore Cardello nicht gehorchen?

*

»Es war eine wunderschöne Hochzeit«, erklärte Margit Sommer, als sie sich auf dem Flughafen von Dr. Robert Daniel verabschiedete.

»Jetzt laß mich auch mal zu meinem besten Freund«, verlangte ihr Mann Georg, dann lächelte er. »Meine bessere Hälfte hat vollkommen recht. Es war eine richtige Märchenhochzeit.« Freundschaftlich klopfte er Dr. Daniel auf die Schulter. »Grüß Manon noch mal herzlich von uns, und erholt euch gut.«

Dr. Daniel nickte lächelnd. »Das machen wir bestimmt, Schorsch.« Dann seufzte er. »Leider wird uns nicht mehr sehr viel Zeit dafür bleiben.

In spätestens zwei Wochen müssen wir wieder nach Steinhausen zurück. Unsere Praxis wartet.«

»Laßt euch nur Zeit«, mischte sich Dr. Daniels Sohn Stefan ein. »In der Waldsee-Klinik kümmert man sich schon um eure Patienten. Flitterwochen sind schließlich ausgesprochen wichtig.«

Dr. Daniel legte einen Arm um seine Schultern und drückte ihn liebevoll an sich. »Das hast du lieb gesagt, Stefan, aber schau mal, so ganz richtige Flitterwochen werden es für Manon und mich ohnehin nicht sein. Dafür wird schon unsere kleine Tessa sorgen.«

»Hätten wir sie nicht doch gleich mit nach Steinhausen nehmen sollen?« fragte Dr. Daniels Tochter Karina. »Schließlich sollte eure Hochzeitsreise ja kein Familienurlaub sein.«

Doch Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Auch wenn die

Adoption noch nicht rechtskräftig ist, betrachten Manon und ich die Kleine schon als unsere Tochter.« Ein zärtliches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wir würden Tessa um keinen Preis der Welt hergeben – nicht einmal für zwei Wochen.«

»Des Menschen Wille ist sein Himmelreich«, urteilte Stefan, dann wurde er ernster. »Aber ich kann euch verstehen. Tessa ist ein richtiger kleiner Sonnenschein, und ich glaube, sie wird mir ganz schrecklich fehlen.«

»Mir auch«, stimmte Karina sofort zu. »Ich glaube, wenn ihr sie nicht adoptiert hättet, hätte ich es getan.«

Die Worte wärmten Dr. Daniels Herz. Er wußte, daß er und Manon die richtige Entscheidung getroffen hatten, als sie sich entschlossen hatten, die fünfjährige Italienerin zu sich zu nehmen.

»Lange müßt ihr auf Tessa bestimmt nicht verzichten«, versprach Dr. Daniel. »Wie gesagt…, in spätestens zwei Wochen werden wir wieder in Steinhausen sein.«

Noch einmal umarmte Karina ihren Vater, bevor sie den anderen zum Zoll folgte. Ein letztes Winken, dann entschwanden sie Dr. Daniels Blicken.

Der Arzt verließ eiligen Schrittes den Flughafen und bestieg sein Auto. Er wußte, daß seine Frau und sein Töchterchen ihn schon sehnsüchtig erwarteten. Tessa hatte ja eigentlich mitfahren wollen, doch im Auto war einfach kein Platz mehr gewesen, und Dr. Daniel stellte fast ein bißchen erstaunt fest, daß er schon nach dieser kurzen Zeit Sehnsucht nach dem lebhaften kleinen Mädchen hatte.

Unwillkürlich mußte er daran denken, wie er und Manon vor drei Wochen hier in Sardinien angekommen waren. Der Monsignore Francesco Antonelli hatte Manon geschrieben, daß ihr verstorbener Mann Angelo hier ein uneheliches Kind hatte. Zuerst war es für Manon ein schrecklicher Schlag gewesen zu erfahren, daß ihr Mann damals fremdgegangen sein mußte. Manon war sich Angelos Liebe immer so sicher gewesen, doch jetzt gab es auf Sardinien dieses fünfjährige Kind, das kurz nach der Geburt auch die Mutter verloren hatte und nun im Haushalt des Monsignore lebte. Er hätte sich auch weiterhin um die kleine Tessa gekümmert, wenn er nicht schon die Siebzig überschritten gehabt hätte. Aus diesem Grund hatte er sich dazu entschlossen, an Angelo Carisis Witwe zu schreiben.

Nach der ersten Erschütterung über diese unerwartete Neuigkeit hatte sich Manon entschlossen, Tessa zu adoptieren, und auch Dr. Daniels Herz hatte die kesse kleine Italienerin auf Anhieb erobert.

Jetzt erreichte Dr. Daniel das kleine Dorf. Kaum hatte er seinen Wagen vor der Pension, wo er mit Manon und Tessa ein geräumiges Zimmer bewohnte, angehalten, da stürzte das kleine Mädchen auch schon heraus. Ihre dichten schwarzen Locken fielen weit über ihren Rücken, und ihre großen dunklen Augen strahlten.

»Papa!« rief sie. »Endlich!«

Stürmisch warf sie sich in Dr. Daniels Arme.

»Du warst so lange weg«, hielt sie ihm vor.

»Ich weiß, Mäuschen«, entgegnete Dr. Daniel bedauernd. »Ich hatte auch schon solche Sehnsucht nach dir.«

Mit kindlichem Ernst sah Tessa ihn an, während sie ihre Arme noch immer um Dr. Daniels Nacken geschlungen hatte.

»Sehe ich Stefano bald wieder?« fragte sie. »Und Karina?«

Dr. Daniel schmunzelte. Tessa hatte die sanfte Karina sofort in ihr Herz geschlossen, doch für ihren großen Stiefbruder hegte sie eine fast abgöttische Sympathie, und obwohl sie fließend Deutsch sprach, benutzte sie bei Stefan grundsätzlich die italienische Form seines Namens.

»In zwei Wochen fahren wir nach Hause, Tessa«, erklärte Dr. Daniel. »Dann siehst du Stefan und Karina wieder.«

»Werden sie mich bis dahin auch nicht vergessen?« fragte Tessa besorgt.

Lachend schüttelte Dr. Daniel den Kopf. »Nein, Tessa, das ganz bestimmt nicht. Vor allem dein großer Bruder ist ganz vernarrt in dich.«

Ein glückliches Lächeln huschte über Tessas Gesicht.

»Ich habe Stefano sehr lieb«, meinte sie, und in ihrem glockenhellen Stimmchen lag dabei ein besonders zärtlicher Unterton. »Karina natürlich auch«, fügte sie dann hinzu.

»Und uns?« wollte Manon wissen, die jetzt ebenfalls aus dem Haus trat.

Da strahlte Tessa. »Euch habe ich doch am allerliebsten.«

*

Starr vor Angst saß Chiara Sandrini da und wartete darauf, daß ihr Mann nach Hause kommen würde. Da drehte sich auch schon der Schlüssel im Schloß, und dann stand Elio Sandrini im Raum. Chiaras Herz begann heftiger zu schlagen, doch das lag nicht nur an ihrer Angst, sondern vor allem an der Liebe, die sie für Elio empfand.

Langsam stand Chiara auf, und als ihr Mann nun auf sie zuging, wich sie unwillkürlich zurück. Sie liebte ihn so sehr, dennoch schaffte sie es nicht, ihre Furcht zu unterdrücken. Elio war so groß und kräftig…

»Dein Vater war bei mir«, erklärte er, dann streckte er eine Hand aus, ergriff Chiara am Arm und zog sie zu sich heran. Die junge Frau konnte ihr Zittern kaum noch unterdrücken.

Zärtlich schloß Elio sie in die Arme.

»Cara mia«, flüsterte er sanft. »Du mußt keine Angst haben. Glaubst du wirklich, ich würde dir jemals weh tun?«

Die Anspannung fiel von

Chiara ab. Mit einem leisen Aufschluchzen ließ sie sich gegen Elios Brust sinken, dann schlang sie ihre Arme ganz fest um ihn.

»Elio, es… es tut mir so leid«, stammelte sie.

Er rückte ein wenig von ihr ab, strich mit einer zarten Geste durch ihr langes schwarzes Haar und suchte dabei ihren Blick.

»Chiara, dein Vater ist ein richtig herrschsüchtiger, brutaler Mann, der seine Familie tyrannisiert«, erklärte er eindringlich. »So wie er möchte ich niemals sein. Ich will nicht, daß du Angst vor mir hast. Du sollst mich doch lieben.«

Verzweifelt vergrub Chiara das Gesicht in den Händen. »Ich liebe dich ja, Elio, aber…, ich kann dir keine Kinder schenken. Dabei war ich diesmal…«

»Cara mia.« Wieder war seine Stimme wie ein sanfter Windhauch. »Es ist völlig unwichtig, ob du mir Kinder schenken kannst oder nicht. Du mußt mir deine Liebe nicht dadurch beweisen, daß du schwanger wirst. Natürlich wünsche ich mir, daß unsere Ehe durch Kinder gekrönt wird, aber wenn nicht, wird das an meiner Liebe zu dir nichts ändern. Chiara, versteh doch, mir ist nur wichtig, daß du bei mir bist.«

Mit tränennassen Augen blickte die junge Frau zu ihm auf.

»Ich muß ins Kloster, wenn ich nicht schwanger werden kann«, prophezeite sie voller Angst. »Papa hat gesagt, daß er mich ins Kloster stecken wird.«

Verärgert schüttelte Elio den Kopf. Er hatte seinen Schwiegereltern niemals wirkliche Liebe entgegenbringen können, aber ihre düstere Einstellung zum Leben irgendwie akzeptiert. Doch jetzt ging der alte Cardello entschieden zu weit!

»Hör zu, Cara, heutzutage werden Frauen nicht mehr in Klöster verbannt«, entgegnete er nachdrücklich. »Und solange du mit mir verheiratet bist, hat dein Vater kein Recht, dich irgendwo hinzuschicken.«

»Er wird dich zwingen, die Ehe annullieren zu lassen«, meinte Chiara, und dabei lag noch immer Angst in ihrer Stimme.

Doch Elio schüttelte den Kopf. »So viel Macht besitzt er nicht. Er kann dir, deiner Mutter und deinen Geschwistern Angst einjagen – bei mir gelingt ihm das nicht. Cara mia, ich liebe dich, und ich sehe nicht länger tatenlos zu, wie sich deine Eltern in unsere Ehe einmischen. Das habe ich schon viel zu lange geduldet.« Er schwieg kurz. »Für dich besteht keine Veranlassung, jedesmal in die Praxis deines Vaters zu gehen, wenn du erkennen mußt, daß du wieder nicht schwanger geworden bist.«

»Aber… er muß mich doch untersuchen, um festzustellen…«

»Chiara, dein Vater untersucht dich nicht, um irgend etwas festzustellen, sondern um dir Schmerzen zuzufügen und dich damit für deine angebliche Unfähigkeit, schwanger zu werden, zu bestrafen. Aber damit ist jetzt Schluß – ein für allemal. Das werde ich bei nächster Gelegenheit auch deinem Vater sagen, und zwar in aller Deutlichkeit.«

Aus weit aufgerissenen Augen sah Chiara ihn an. Sie wußte nicht genau, ob sie ihren Mann bewundern oder sich vor seiner Entschlossenheit fürchten sollte.

»Papa wird toben«, wandte sie leise ein.

Ungerührt zuckte Elio die Schultern. »Von mir aus.« Dann nahm er Chiara bei den Schultern und sah ihr in die Augen. »Ich wollte dich niemals von deinen Eltern entfremden, Cara, nur deshalb habe ich ihr unmögliches Verhalten dir gegenüber so lange geduldet, aber jetzt versuchen sie offenbar allen Ernstes, unsere Ehe zu zerstören, und das lasse ich mir nicht gefallen. Was dein Vater mir heute geraten…, nein, befohlen hat, war der absolute Gipfel.« Er zog einen Lederriemen hervor. »Damit soll ich dich züchtigen.« Angewidert schleuderte er den Riemen in die Ecke. »So würde ich nicht einmal einen Hund behandeln geschweige denn die Frau, die ich liebe.«

Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich Chiara an ihn. »Papa war mit uns immer sehr streng, aber es hat uns nicht geschadet.«

Da sah Elio sie sehr ernst an. »Doch, cara mia, es hat euch geschadet. Du und deine Geschwister… ihr steckt alle so voller Angst, daß es einem im Herzen weh tut.« Zärtlich streichelte er ihr Gesicht. »Aber ich werde dafür sorgen, daß du dich von dieser Angst befreien wirst.«

*

Monsignore Francesco Antonelli war gerade auf dem Weg zur Kirche, als eine schwarzgekleidete Frau auf ihn zueilte. Ihr Gesicht war hinter einem dunk-len Schleier verborgen, so daß der Monsignore nicht sehen konnte, wer die Frau war.

»Bitte, Monsignore, darf ich mit Ihnen sprechen?« bat sie leise.

Erstaunt sah Monsignore Antonelli sie an. »Chiara?«

Die Frau zögerte, dann nickte sie hastig, während sie sich angstvoll umschaute. »Meine Eltern dürfen nicht wissen, daß ich bei Ihnen bin. Bitte… Monsignore…«

Francesco Antonelli nickte, dann nahm er Chiara fürsorglich beim Arm. »Komm, mein Kind, wir gehen in die Kirche, da wird uns niemand stören.«

Mit gesenktem Kopf folgte Chiara dem Monsignore. Er bekreuzigte sich vor dem Hochaltar, und Chiara tat es ihm gleich, dann betraten sie die Sakristei.

»Setz dich, mein Kind«, bot der Monsignore an, dann nahm auch er Platz und sah Chiara an.

Mit zitternden Fingern entfernte die junge Frau den Schleier von ihrem Gesicht, und nun konnte Monsignore Antonelli sehen, daß sie geweint hatte. Spontan griff er nach Chiaras Hand.

»Was ist denn passiert, mein Kind?«

»Ich habe Angst, Monsignore«, gestand Chiara, dann schluchzte sie hilflos auf. »Seit zwei Jahren bemühe ich mich, von Elio ein Baby zu empfangen, doch es geht einfach nicht. Alle meine Schwestern haben schon Kinder, nur ich bringe Schande über die Familie.« Mit einer fahrigen Handbewegung wischte sie über ihre Augen. »Elio sagt, das sei nicht schlimm und er würde mich trotzdem lieben, aber… ich spüre, wie sehr er leidet. Und Papa… er sagt, ich müsse ins Kloster, wenn ich nicht schwanger werden kann.«

»Augenblick, mein Kind«, entgegnete Monsignore Antonelli ruhig. »Du bist zweiundzwanzig. Gegen deinen Willen kann dich niemand in ein Kloster stecken. Mag sein, daß dein Vater noch immer dieser Ansicht ist, aber die Realität sieht ein bißchen anders aus.«

Chiara senkte den Kopf. »Ich würde es nie wagen, ihm zu widersprechen.«

Monsignore Antonelli schwieg einen Moment. Natürlich kannte er den herrschsüchtigen Dottore Salvatore Cardello und wußte, wie sehr er seine Kinder tyrannisierte, und seine Frau Concetta stand ihm dabei in nichts nach.

»Papa hat mich schon oft untersucht«, fuhr Chiara leise fort. »Er sagt, ich würde mich gegen eine Schwangerschaft wehren, aber das stimmt nicht. Ich wünsche mir ein Baby…«

Nachdenklich runzelte Monsignore Antonelli die Stirn.

»Seit zwei Jahren versucht ihr es schon«, murmelte er, dann sah er Chiara an. »Zur Zeit hält sich hier im Ort ein richtiger Frauenarzt auf. Wenn ich mit ihm sprechen würde…, er verbringt zwar gerade seinen Urlaub hier, aber ich bin sicher, daß er trotzdem bereit wäre, dich zu untersuchen.«

In Chiaras Gesicht stand Abwehr. »Aber… Papa hat mich doch schon so oft untersucht…«

»Dein Vater ist kein Frauenarzt«, entgegnete Monsignore Antonelli eindringlich. »Hier in diesem kleinen Dorf muß er zwar gelegentlich auch solche Untersuchungen durchführen, aber bei allem Respekt vor seinen Fähigkeiten, glaube ich doch, daß er überfordert ist, wenn er feststellen soll, woran deine Kinderlosigkeit liegt.« Behutsam legte er eine Hand auf Chiaras Arm. Er spürte ihr Zittern. »Du mußt vor diesem Arzt keine Angst haben, mein Kind. Er ist sehr nett, du wirst schon sehen.«

*

»Tessa! Komm jetzt!« rief Manon ihrer kleinen Tochter zu, die noch im Meer plantschte, doch in der vergangenen Stunde waren ihre Bewegungen immer langsamer geworden. »Es wird allmählich Zeit fürs Bett!«

»Och! Jetzt schon?« maulte Tessa. »Bei Monsignore Antonelli durfte ich aufbleiben, bis ich müde war.«

»Du bist müde«, stellte Dr. Daniel schmunzelnd fest. »Das willst du nur noch nicht wahrhaben.«

Tessa schüttelte den Kopf, daß die schwarzen Locken flogen. »Du irrst dich, Papa. Ich bin überhaupt nicht müde.« Dabei konnte sie kaum noch die Augen offenhalten.

Ohne weitere Diskussion wickelte Dr. Daniel die Kleine in ein Badetuch und nahm sie auf den Arm.

»Na, komm, Prinzessin«, meinte er. »Mama hat recht. Für dich ist es nun wirklich Schlafenszeit, und ich bin sicher, daß dir die Äuglein schon zufallen werden, bevor wir in unserem Zimmer sind.«

»Nein«, murmelte Tessa müde. »Ich bin hellwach.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als sie in Dr. Daniels Armen auch schon eingeschlafen war. Er trug sie die Treppe hinauf zu dem Zimmer, das sie gemeinsam bewohnten, dann legte er Tessa vorsichtig, um sie nicht zu wecken, in das Kinderbettchen, das ihnen die Besitzerin der Pension aufgestellt hatte. Fürsorglich deckte Manon ihr Töchterchen zu und blieb noch eine Weile neben dem Bett stehen.

»Ich kann mir ein Leben ohne sie überhaupt nicht mehr vorstellen«, meinte sie.

Zärtlich legte Dr. Daniel einen Arm um ihre Schultern. »Ich auch nicht.« Er küßte Manon. »Und ein Leben ohne dich kann ich mir ebenfalls nicht mehr vorstellen. Es ist…«

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Dr. Daniel öffnete und sah sich Monsignore Antonelli gegenüber.

»Es tut mir leid, daß ich Sie um diese Zeit noch störe«, entschuldigte er sich und fühlte sich etwas unbehaglich, weil er das Gefühl hatte, seine Deutschkenntnisse seien nicht ausreichend für ein längeres Gespräch. Dabei beherrschte der Monsignore diese Sprache ganz ausgezeichnet, was an den vielen deutschen Touristen lag, die Jahr für Jahr hierherkamen.

»Darf ich Sie trotz der späten Stunde einen Augenblick sprechen?« wollte er wissen.

»Selbstverständlich, Monsignore«, stimmte Dr. Daniel zu. »Wir können uns ja unten auf die Bank setzen. Der Abend ist noch so angenehm.«

»Und auf diese Weise wecken wir Tessa nicht«, fügte der Monsignore hinzu, dann lächelte er. »Sie hat mich heute nachmittag kurz besucht…, leider nur sehr kurz, denn dann hat es sie schon wieder zu Mama und Papa hingezogen.« Er schwieg kurz. »Die Kleine liebt Sie über alles, und darüber bin ich sehr froh. Für mich wäre die Verantwortung bald zuviel geworden. Tessa braucht Eltern, und mit Ihnen beiden hat sie die besten gefunden, die man sich denken kann.«

Dr. Daniel war gerührt über die Worte des Monsignore. Sein Blick wanderte zu dem Bettchen, in dem die Kleine selig schlief. »Wir lieben Tessa, als wäre sie unser leibliches Kind.« Dann wandte er sich dem Monsignore wieder zu. »Aber ich denke nicht, daß Sie nur dar-über mit mir sprechen wollten.«

Die beiden Männer verließen den Raum und gingen die Treppe hinunter, dann setzten sie sich draußen auf die Hausbank. Das sanfte Rauschen des Meeres drang an ihre Ohren, und eine leichte Brise sorgte für ein wenig Abkühlung, was nach der Hitze des Tages ausgesprochen guttat.

»Es geht um eine junge Frau«, begann der Monsignore schließlich. »Sie stammt aus einem äußerst streng und hartherzig geführten Elternhaus, und von dort werden ihr ständig Vorwürfe gemacht, weil sie nach zwei Ehejahren noch immer nicht schwanger geworden ist.«

Unwillig runzelte Dr. Daniel die Stirn. Eine solche Einstellung mißfiel ihm sehr.

»Wie verhält sich denn ihr Mann?« wollte er wissen.

»Elio ist ein sympathischer Junge«, urteilte der Monsignore, dann schmunzelte er. »Nun ja, inzwischen ist er schon ein stattlicher Mann, aber ich kenne ihn, seit er zur Welt gekommen ist.« Er wurde wieder ernst. »Er macht seine Liebe zu Chiara nicht von einer Schwangerschaft abhängig, aber die Angst vor ihren Eltern ist in der jungen Frau schon so tief verwurzelt, daß sie sich nicht mehr davon befreien kann. Sie ist überzeugt davon, daß Elio die Ehe annullieren lassen wird und sie danach von ihrem Vater ins Kloster gesteckt wird.«

Dr. Daniel ahnte bereits, worauf der Monsignore hinauswollte.

»Ich nehme an, Sie möchten mich bitten, die junge Frau einmal zu untersuchen«, vermutete er.

Monsignore Antonelli nickte. »Chiaras Vater ist zwar Arzt, aber einer der besonders groben Sorte. Keiner unserer Dorfbewohner reißt sich darum, zu Dottore Cardello zu gehen.«

Dr. Daniel runzelte die Stirn.

»Cardello?« wiederholte er. »Diesen Namen hat Tessa einmal erwähnt. Sie fragte mich damals, ob ich auch ein Monsignore sei, und als ich erwiderte, ich wäre Arzt, da wollte sie wissen, ob ich denn so streng sei wie der Dottore Cardello.«

Monsignore Antonelli nickte. »Der gute Doktor erfreut sich allgemeiner Unbeliebtheit, aber es ist leider kein anderer Arzt da, zu dem man gehen könnte. Das bedeutet, daß er für alle Bereiche zuständig ist – gleichgültig, ob es sich nun um Ohrenschmerzen, Atembeschwerden, Kinderkrankheiten oder Unterleibsgeschichten handelt… Salvatore Cardello behandelt alles, und dabei geht er mit seinen Patienten nicht gerade zartfühlend um.«

»Es ist also anzunehmen, daß er auch seine Tochter untersucht hat«, mutmaßte Dr. Daniel.

»Ja, und dabei war er mit Sicherheit äußerst grob«, meinte Monsignore Antonelli. »Als ich Chiara gegenüber eine Untersuchung lediglich erwähnte, begann sie schon zu zittern.«

»Natürlich werde ich mir die junge Frau gerne einmal ansehen«, stimmte Dr. Daniel bereitwillig zu. »Ich fürchte aber, daß es in einem solchen Fall mit einer normalen gynäkologischen Untersuchung nicht getan sein wird. Um festzustellen, ob eine Frau unfruchtbar ist oder nicht, sind eine ganze Reihe von Tests nötig, und ich denke nicht, daß sich hier die geeigneten Apparate dafür finden werden.«

»In unserem kleinen Dorf sicher nicht«, räumte Monsignore Antonelli ein. »Allerdings gibt es nicht weit von hier ein Kloster, zu dem auch eine kleine Klinik gehört. Vielleicht finden Sie dort, was Sie benötigen.«

Dr. Daniel nickte. »Einen Versuch wäre es jedenfalls wert.« Er schwieg einen Moment. »Unter den gegebenen Umständen würde ich die junge Frau allerdings lieber auf neutralem Boden kennenlernen, um mich mit ihr zu unterhalten. Es könnte sich bei ihr nur nachteilig auswirken, wenn sie mich erst am Tag der Untersuchung kennenlernen würde.«

»Das denke ich auch«, stimmte der Monsignore zu. »Ich werde ein Treffen zwischen Ihnen und Chiara arrangieren.« Er reichte Dr. Daniel die Hand. »Ich danke Ihnen, daß Sie bereit sind, diese Untersuchung durchzuführen, obwohl Sie hier ja eigentlich Urlaub machen.«

»Wenn jemand meine Hilfe braucht, dann ist das wichtiger als mein Urlaub«, entgegnete Dr. Daniel schlicht.

*

Jana Kemmerer war zutiefst enttäuscht, als sie vor Dr. Daniels Praxis stand und erkennen mußte, daß sich der Arzt noch immer im Urlaub befand. Die Gynäkologin der Waldsee-Klinik, Dr. Alena Reintaler, die seine Vertretung übernommen hatte, war zwar sehr nett, trotzdem wäre es Jana lieber gewesen, wenn sie jetzt – so kurz vor der anstehenden Geburt ihres ersten Babys – noch einmal mit Dr. Daniel hätte sprechen können.

Die junge Frau seufzte tief, dann machte sie sich auf den Weg zur Waldsee-Klinik. Hier, auf diesem schattigen Pfad, war es angenehm kühl, und Jana atmete die würzige Waldluft ein. Sie mußte langsam gehen, denn schon die geringste Anstrengung führte jetzt bei ihr zu arger Atemnot.

Dann sah sie den hufeisenförmigen weißen Bau durch die Bäume schimmern. Mit einem sanften Lächeln streichelte sie über ihren Bauch.

»Da drinnen wirst du geboren werden«, flüsterte sie ihrem Baby zu, dann seufzte sie wieder. »Hoffentlich ist Dr. Daniel bis dahin aus dem Urlaub zurück.«

Durch den rückwärtigen Eingang betrat sie die Klinik und wandte sich der Sekretärin Martha Bergmeier zu, die wie immer in ihrem Glashäuschen mit der Aufschrift Information saß und mit Argusaugen darüber wachte, wer die Klinik betrat und verließ.

»Guten Morgen, Frau Bergmeier. Bei mir steht heute ei-

ne Schwangerschafts-Vorsorgeuntersuchung an«, erklärte Jana mit einem freundlichen Lä-cheln. »Dr. Daniel ist leider noch in Urlaub.«

»Ja, Frau Kemmerer, ich weiß«, entgegnete Martha. »Gehen Sie ruhig schon mal in die Gynäkologie hinüber.« Sie lä-chelte. »Mittlerweile kennen Sie sich hier ja gut aus, nicht wahr?«

»Da haben Sie recht«, stimmte Jana zu, zögerte aber noch. »Frau Bergmeier, wissen Sie vielleicht, wann Dr. Daniel wieder hier sein wird?«

Bedauernd schüttelte Martha den Kopf. »Tut mir leid, aber etwas Genaues weiß wohl niemand. Ich habe nur erfahren, daß sich Dr. Daniels Hochzeit auf Sardinien ein bißchen verschoben hat. Angeblich sollen er und Frau Dr. Carisi… ach nein, jetzt ist sie ja seine Frau… na ja, die beiden sollen wohl ein kleines italienisches Mädchen adoptiert haben.« Sie seufzte tief auf. »Aber mir gegenüber hüllt sich ja jeder in Schweigen.«

Jana hatte Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, warum Martha Bergmeier noch nicht genauer informiert war. Sie war zwar eine liebe, nette Frau, aber eben auch überaus gesprächig.

»Zehn Tage habe ich ja noch bis zum errechneten Termin«, erklärte Jana nun. »Vielleicht ist Dr. Daniel bis dahin ja wieder zurück.« Sie nickte Martha freundlich zu, dann ging sie in die Gynäkologie hinüber und setzte sich auf die weiße Kunststoffbank, die auf dem Flur stand.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Stefan, der Sohn von Dr. Daniel, den Flur entlangkam.

»Guten Morgen, Frau Kemmerer«, grüßte er lächelnd. »Frau Bergmeier hat mir gesagt, daß Sie zur Vorsorgeuntersuchung hergekommen sind.«

»Ja, Herr Doktor«, antwortete Jana, während sie sich ein wenig schwerfällig erhob. »Ihr Vater ist ja leider noch in Urlaub, sonst würde ich den Klinikbetrieb nicht so durcheinanderbringen.«

»Davon kann überhaupt keine Rede sein«, entgegnete Stefan nachdrücklich, dann ließ er Jana ins Untersuchungszimmer treten. »Normalerweise wäre Frau Dr. Reintaler für diese Untersuchung zuständig, aber sie ist momentan im Operationssaal, und es ist noch nicht abzusehen, wie lange der Eingriff dauern wird. Sie werden also mit mir vorliebnehmen müssen.«

»Das macht doch nichts«, meinte Jana. »Wenn Sie hier arbeiten dürfen, sind Sie bestimmt auch ein guter Arzt.«

Stefan lächelte. »Das hoffe ich.« Dann wies er auf einen der beiden Stühle, die vor dem Schreibtisch standen. »Bitte, Frau Kemmerer, nehmen Sie Platz.«

Er wartete, bis Jana seiner Aufforderung nachgekommen war, bevor auch er sich setzte und den Mutterpaß entgegennahm, den Jana ihm reichte.

»Ihre Schwangerschaft verlief bisher also problemlos«, stellte Stefan fest, während er die Eintragungen seines Vaters überflog, dann blickte er auf. »Haben Sie irgendwelche Beschwerden?«

Jana lächelte. »Wenn man davon absieht, daß ich ungefähr fünfzigmal am Tag auf die Toilette muß und nachts kaum noch schlafen kann, nicht.«

Stefan mußte lachen. »Ich nehme an, Sie sehnen den Geburtstermin regelrecht herbei.«

»Das kann man wohl sagen.« Sie zögerte. »Bitte, fassen Sie es nicht falsch auf, aber…, glauben Sie, daß Ihr Vater wieder hier sein wird, wenn mein Baby kommt?«

Stefan warf einen Blick auf den errechneten Geburtstermin. »Ich will ehrlich sein, Frau Kemmerer – das könnte knapp werden. Mein Vater wird noch ungefähr zwei Wochen verreist sein. Wenn Ihr Baby also mit etwas Verspätung eintreffen sollte, könnte es klappen.« Impulsiv legte er eine Hand auf Janas Arm. »Aber selbst wenn er nicht dabeisein kann… Sie sind hier in der Klinik in den besten Händen.«

Aufmerksam sah Jana ihn an. »Sie sind Ihrem Vater wirklich sehr ähnlich.«

»Das höre ich gern«, meinte Stefan lächelnd, dann stand er auf. »Ich schicke Ihnen Schwester Bianca herein. Bevor ich Sie untersuche, möchte ich die Ergebnisse von Blutbild und Urinuntersuchung haben. In ein paar Minuten bin ich wieder zu-rück.«

Stefan war kaum draußen, da betrat die Stationsschwester der Gynäkologie, Bianca Behrens, den Untersuchungsraum.

»So, Frau Kemmerer, jetzt muß ich Sie ein bißchen in den Finger pieksen«, erklärte sie.

Jana verzog das Gesicht. »Das mag ich aber gar nicht gern.«

Bianca lächelte und griff nach Janas Hand. »Ich weiß schon, daß das ein bißchen unangenehm ist, aber es geht ja ganz schnell.«

Bianca war so geschickt, daß Jana den Stich in den Finger kaum spürte.

»Wenn Sie bitte Ihre Schuhe ausziehen würden«, bat Bianca, als sie fertig war. »Ich muß Sie noch wiegen.«

»Hoffentlich haben Sie eine Waage, die mein Gewicht tragen kann«, scherzte Jana.

»Ach, ich denke, das kriegen wir schon hin«, entgegnete Bianca grinsend. Sie notierte gewissenhaft das angezeigte Gewicht.

»So, jetzt noch eine Urinprobe, dann sind Sie von mir erlöst«, meinte sie. »Der junge Dr. Daniel wird wieder zu Ihnen kommen, sobald ich mit der Auswertung fertig bin.«

Das dauerte auch wirklich nicht lange.

»Blutbild und Urinprobe sind in Ordnung«, erklärte Stefan, als er die Tür des Untersuchungszimmers hinter sich geschlossen hatte. »Nur das Gewicht könnte ein bißchen problematisch werden.« Er blätterte noch einmal im Mutterpaß. »Mein Vater hat beim letzten Ultraschall ja schon festgestellt, daß Sie ein ziemlich großes Baby erwarten.« Er sah Jana an. »Hat er Ihnen da nicht zum Kaiserschnitt geraten?«

»Doch«, gab Jana errötend zu. »Aber Horst und ich wünschen uns so sehr eine natürliche Geburt.« Sie zögerte. »Wissen Sie, eigentlich wollte ich sogar zu Hause entbinden, aber Ihr Vater hat mich schließlich zur Klinikgeburt überredet – eben weil das Baby ziemlich groß ist. Aber ich möchte unter keinen Umständen mit Kaiserschnitt entbinden.«

Stefan nickte, dann sah er sie ernst an. »In die Klinik müssen Sie aber wirklich auf jeden Fall kommen. Wenn hier Komplikationen auftreten, können wir schnell handeln, aber wenn wir Sie von zu Hause erst in die Klinik schaffen müssen, könnte es zumindest für Ihr Baby rasch zu spät sein.«

Bei diesen Worten fiel Jana wieder auf, wie sehr sich Stefan und sein Vater glichen.

»Genau dasselbe hat Ihr Vater auch gesagt«, erklärte sie. »Und Sie können sicher sein, daß ich diesen Rat beherzigen werde. Wenn die Wehen einsetzen, dann lasse ich mich sofort hierherbringen.«

»Gut«, meinte Stefan. »Machen Sie sich jetzt bitte frei, damit ich Sie untersuchen kann. Auch auf Ultraschall würde ich mir das Baby gern mal anschauen.«

Jana strahlte. »Das ist fein! Obwohl ich selbst meistens nicht viel erkennen kann, finde ich diese Ultraschallaufnahmen immer wahnsinnig aufregend.«

Stefan nickte lächelnd. »Das kann ich gut verstehen, Frau Kemmerer. Sie freuen sich schon sehr auf Ihr Baby, nicht wahr?«

»Und wie!« bekräftigte Jana, dann versuchte sie, auf den gynäkologischen Stuhl zu klettern, doch Stefan mußte ihr dabei behilflich sein.

»Allmählich ist dieser Bauch wirklich überall im Weg«, meinte Jana, doch ihr glückliches Gesicht bewies, daß ihr das eigentlich gar nicht so unangenehm war. Sie war stolz darauf, daß man ihr die Schwangerschaft so deutlich ansehen konnte.

Stefan streifte sich Plastikhandschuhe über, dann trat er zu Jana. »Schön entspannen, Frau Kemmerer.« Sehr vorsichtig, aber dennoch gründlich nahm Stefan die Untersuchung vor. Mittlerweile hatte er schon ein bißchen Erfahrung damit. Seit sein Vater nach Sardinien gefahren war, hatte er bereits des öfteren gynäkologische Untersuchungen durchführen müssen, denn auch Alena Reintaler war hier in der Klinik nicht immer verfügbar gewesen.

»Ich glaube, Sie werden einmal ein ähnlich guter und rücksichtsvoller Arzt wie Ihr Vater«, meinte Jana.

»Ein solches Kompliment höre ich natürlich gern«, entgegnete Stefan, dann trat er zurück. »Soweit ist alles in Ordnung.« Er schaltete den Monitor ein, dann griff er nach einer Tube. »Nicht erschrecken, jetzt wird’s ein bißchen kalt auf Ihrem Bauch.«

»Das kenne ich schon«, erklärte Jana, während Stefan das spezielle Gel, das für die Ultraschallaufnahme nötig war, auf ihrem Bauch verteilte. Dann ließ er den Schallkopf darübergleiten.

»Hier sehen Sie das Herz sehr schön«, erläuterte Stefan, und Jana nickte begeistert.

»Ich finde es immer wieder faszinierend, wie man damit so einfach in den Bauch hineinschauen kann«, erklärte sie und schaute gebannt auf den Bildschirm, um von den hellen und dunklen Schatten möglichst viel zu erkennen.

Stefan nahm nun die Abmessungen vor, und dabei stiegen seine Bedenken noch.

»Ich will ganz ehrlich sein, Frau Kemmerer, ich wäre sehr viel beruhigter, wenn Sie sich doch zu einem Kaiserschnitt entschließen könnten«, betonte er. »Das Baby wiegt bestimmt acht Pfund – wenn nicht sogar noch mehr. Wenn es Ihr zweites oder drittes Kind wäre, hätte ich etwas weniger Bedenken, aber so… Sie sind Erstgebärende, und da können bei einem sehr großen Kind wirklich Komplikationen auftreten.«

»Sie sind so besorgt um mich«, erwiderte Jana und wurde ein bißchen verlegen. »Da habe ich direkt ein schlech-

tes Gewissen, wenn ich einen Kaiserschnitt ablehnte.« Sie schwieg einen Moment. »Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe mich die ganze Zeit über auf eine natürliche Geburt eingestellt, und ich freue mich schon so…, dieses Erlebnis möchte ich unter gar keinen Umständen verschlafen.«

»Wenn der Kaiserschnitt geplant ist, muß er nicht zwangsläufig unter Vollnarkose durchgeführt werden«, wandte Stefan ein. »Wir könnten eine Periduralanästhesie machen. Dabei würden Sie in den Rückenmarkskanal eine Spritze bekommen, die das Schmerzempfinden ausschalten würde. Auf diese Weise könnten Sie den Kaiserschnitt wach miterleben und Ihr Baby unmittelbar danach in die Arme nehmen.«

Jana nickte. »Darüber habe ich schon gelesen, aber…, ich glaube, das würde ich nicht verkraften. Wenn ich mir vorstel-

le, daß ich mitbekommen würde, wie Sie mir da den Bauch aufschneiden…« Unwillkürlich schüttelte sie sich. »Nein, Herr Doktor, das wäre nichts für mich. Ich möchte mein Baby auf ganz normalem Wege zur Welt bringen.«

»Also schön«, seufzte Stefan. »Aber ich sage es Ihnen gleich, Frau Kemmerer, es wird eine sehr schwere Geburt werden.«

*

Chiara Sandrini hatte Angst vor der ersten Begegnung mit Dr. Daniel, obwohl Monsignore Antonelli ihr versichert hatte, daß der deutsche Doktor keine Untersuchung vornehmen würde, sondern sich nur mit ihr unterhalten wollte.

Völlig verschüchtert stand sie nun schräg hinter dem Monsignore und wagte kaum, den Arzt anzusehen. Sehr behutsam legte Monsignore Antonelli einen Arm um Chiaras Schultern und schob sie ein wenig nach vorn.

»Herr Doktor, das ist Chiara Sandrini«, stellte er sie dann vor.

Mit einem herzlichen Lächeln ergriff Dr. Daniel die schmale Hand der jungen Frau und suchte ihren Blick, doch Chiara hielt den Kopf weiterhin gesenkt.

»Buon giorno, Signora San-drini«, grüßte er.

Langsam hob Chiara den Kopf und brachte sogar ein kurzes Lächeln zustande.

»Sie müssen sich nicht be-mühen, Herr Doktor«, erklärte sie leise. »Ich spreche Deutsch.«

Dr. Daniel atmete auf. »Da bin ich wirklich erleichtert. Ansonsten hätte sich unsere Unterhaltung sicher schwierig gestaltet.«

Chiaras Lächeln war schon wieder erloschen.

»Kommen Sie, Chiara«, bat Dr. Daniel die junge Italienerin. »Ich darf Sie doch mit dem Vornamen ansprechen, oder?«

Die junge Frau nickte. »Selbstverständlich, Herr Doktor.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Dr. Daniel begleitete sie in den kleinen Raum, den Monsignore Antonelli ihnen für dieses Gespräch zur Verfügung gestellt hatte. Unwillkürlich blickte sich Chiara um und entspannte sich, als sie sah, daß in dem Zimmer nichts war, wo sich eine Untersuchung hätte durchführen lassen.

Dr. Daniel vermochte ihren ängstlichen Blick gleich richtig zu deuten.

»Sie müssen vor mir keine Angst haben, Chiara«, erklärte er in besonders einfühlsamem Ton. »Der Monsignore hat Ihnen doch sicher gesagt, daß ich mich vorerst nur mit Ihnen unterhalten möchte.«

Chiara nickte, dann brach sie plötzlich in Tränen aus.

»Bitte, Herr Doktor, helfen Sie mir«, schluchzte sie verzweifelt. »Ich möchte so gern ein Baby. Ich will Elio nicht verlieren, und ich will auch nicht ins Kloster.«

»Augenblick, Chiara«, entgegnete Dr. Daniel. »Ich glaube nicht, daß das Kloster überhaupt für Sie zur Debatte steht. Soweit ich informiert bin, denkt Ihr Mann doch gar nicht daran, die Ehe für ungültig erklären zu lassen.«

»Jetzt noch nicht«, gab Chiara zu. »Aber wenn mein Vater ihn erst unter Druck setzt, dann wird Elio gewiß nachgeben. Mein Vater hat noch immer erreicht, was er wollte.«

Bedächtig wiegte Dr. Daniel den Kopf hin und her. »Wenn Ihr Mann Sie wirklich liebt, dann wird er seinen Entschluß niemals ändern – gleichgültig, wie sehr Ihr Vater ihm zusetzen wird. Aber lassen wir das vorerst einmal dahingestellt. Sie haben gesagt, daß Sie sich ein Baby wünschen. Ist das wirklich so, oder wollen Sie nur schwanger werden, um Elio nicht zu verlieren?«

»Macht das denn einen Unterschied?« fragte Chiara zu-rück.

Dr. Daniel nickte. »Einen sehr großen sogar. Wenn Sie tief im Innern nicht bereit sind für ein Kind, dann könnte das durchaus ein Grund sein, weshalb Sie nicht schwanger werden. Vor allen Dingen soll ein Baby die Krönung der Liebe sein, nicht ein Hilfsmittel für eine möglicherweise brüchige Ehe.«

Niedergeschlagen sackte Chiara in sich zusammen.

»Mein Vater hat also recht«, flüsterte sie. »Ich wehre mich gegen die Schwangerschaft.«

Dr. Daniel runzelte die Stirn. »Wollen Sie das Kind denn wirklich nur, weil Sie Angst haben, daß Ihre Ehe sonst annulliert werden könnte?

Chiara zuckte die Schultern. »Ich weiß es selbst nicht.« Sie schwieg einen Moment, dann trat ein zärtlicher Ausdruck in ihre Augen. »Ich habe mir immer ein Kind gewünscht, aber…« Unschlüssig sah sie Dr. Daniel an. »Vielleicht habe ich mir das ja auch nur eingeredet.«

Da lächelte Dr. Daniel. »Nein, Chiara, ich bin sicher, daß Sie sich das nicht nur eingeredet haben. Sie sind inzwischen bloß völlig verunsichert.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Ich fürchte, man hat Ihnen in den vergangenen Monaten sehr zugesetzt, weil Sie nicht schwanger geworden sind.«

Chiara nickte. »Meine Eltern haben gesagt, ich würde Schande über die Familie bringen. Wissen Sie, meine drei Schwestern haben alle schon Kinder, nur ich…, ich habe es noch nicht geschafft.«

»Das klingt, als würde es sich um einen Wettbewerb handeln«, meinte Dr. Daniel. »Chiara, Sie stellen sich auf diese Weise unter einen unnötigen Zwang. Ich habe in meiner Praxis schon mehrfach Frauen behandelt, die verbissen auf ein Baby hingearbeitet haben – wenn auch aus anderen Gründen als Sie. Geklappt hat es meist erst, wenn sie sich von diesem Zwang befreien konnten.« Er sah das Unverständnis auf Chiaras Gesicht. Daher fuhr er fort: »Sehen Sie, jegliche Streßsituation kann den normalen Zyklus einer Frau durcheinanderbringen. Das bedeutet, daß der Eisprung fast immer ausbleibt, wenn die Frau unter körperlicher oder psychischer Spannung steht. Genauso ist es jetzt auch bei Ihnen, und ich vermute, daß Sie im Augenblick gar keinen Eisprung haben und eben aus diesem Grunde auch nicht schwanger werden können.«

»Aber…, dann ist es ja aussichtslos«, befürchtete Chiara. »Wenn ich nicht schwanger werde, muß ich Angst haben, daß Elio mich verläßt, und solange ich Angst habe, kann ich nicht schwanger werden.«

Dr. Daniel erkannte, daß er anders vorgehen mußte. Es würde notwendig sein, diesen Elio in das Gespräch mit einzubeziehen. Auf diese Weise könnte sich Dr. Daniel auch ein Bild von dem jungen Mann machen

und vielleicht herausfinden, ob

Chiaras Angst tatsächlich berechtigt war.

»Wären Sie einverstanden, wenn ich mich auch mal mit Ihrem Mann unterhalten würde?« fragte er.

Im ersten Moment wollte die junge Frau den Kopf schütteln, überlegte es sich dann aber anders.

»Ja, ich bin einverstanden, Herr Doktor«, stimmte sie zu. »Wenn Elio weiß, daß ich mich wirklich bemühe, ein Kind zu bekommen, wird er mit der Annullierung der Ehe sicher noch warten.«

*

Elio Sandrini war erstaunt, als er nach Hause kam und feststellen mußte, daß Chiara nicht daheim war. Sein erster Gedanke war, daß sie vielleicht wieder zu ihren Eltern gegangen war, doch als er das Haus verlassen wollte, sah er seine Frau mit einem fremden blonden Mann die Straße heraufkommen.

Elios Stirn legte sich in bedrohliche Falten.

»Was hat das zu bedeuten?« wollte er wissen, kaum daß

Chiara in Hörweite war.

»Elio, das ist Dr. Daniel, ein deutscher Arzt, der hier gerade Urlaub macht«, erklärte Chiara sofort. »Monsignore Antonelli hat mich auf ihn aufmerksam gemacht. Dr. Daniel ist Frauenarzt.«

Die Falten auf Elios Stirn glätteten sich wieder. Mit einem freundlichen Lächeln reichte er Dr. Daniel die Hand.

»Buon giorno, dottore«, grüßte er höflich, doch weiter kam er nicht, denn Chiara mischte sich ein. »Dr. Daniel versteht leider kein Italienisch.«

»Ich fürchte, dann wird es schwierig«, meinte Elio. »Durch die deutschen Touristen, mit denen ich gelegentlich zu tun habe, kann ich zwar ein bißchen Deutsch, aber…«

»Sie beherrschen meine Sprache sogar ganz ausgezeichnet«, fiel Dr. Daniel ihm ins Wort. »Ich nehme an, Sie können sich denken, worüber sich Ihre Frau mit mir unterhalten hat.«

Elio nickte. »Natürlich kann ich mir das denken, Herr Doktor.«

Mit einer einladenden Handbewegung ließ er Dr. Daniel eintreten und bot ihm Platz an, dann setzten er und Chiara sich ihm gegenüber, und Dr. Daniel bemerkte, wie sie sich zärtlich bei den Händen hielten. Spätestens in diesem Moment wußte Dr. Daniel, daß Chiaras Angst, von Elio verlassen zu werden, wirklich grundlos war. Überhaupt machte der junge Mann einen äußerst sympathischen Eindruck auf ihn.

»Es kann natürlich eine Menge Gründe geben, weshalb Ihre Frau nicht schwanger wird«, meinte Dr. Daniel. »Genaueres kann ich erst nach einer gründlichen Untersuchung sagen, aber zumindest eines scheint mir jetzt schon bedenklich: Ihre Frau steht unter einem viel zu großen Leistungszwang.«

»Ich weiß«, erklärte Elio, und in seiner Stimme schwang ein ärgerlicher Unterton mit. »Erst heute habe ich mit meinen Schwiegereltern darüber gesprochen. Es geht einfach nicht, daß sie Chiara in dieser Art und Weise zusetzen, aber…« Er zuckte die Schultern. »Mein Schwiegervater ist eine sehr dominierende Persönlichkeit, und er hat seine Familie von Anfang an unterdrückt. Keines seiner Kinder wagt ihm zu widersprechen – nicht einmal sein ältester Sohn, und der ist mittlerweile schon fast dreißig.«

Dr. Daniel nickte. So ähnlich hatte er sich das vorgestellt, obwohl ein solches Verhalten für ihn überhaupt nicht nachzuvollziehen war. Er selbst hätte sich seinen Kindern gegenüber niemals zu einem despotischen Herrscher aufgeschwungen.

»Ich habe es vorhin zu Chiara schon gesagt«, meinte Dr. Daniel. »Der Zyklus einer Frau ist durch äußere Einflüsse sehr leicht durcheinanderzubringen. Das heißt in Ihrem Fall, daß Chiara möglicherweise gar keinen Eisprung hat. Und je massiver die Streßsituation wird, um so schwieriger kann es sein, diesen normalen Zyklus wieder in Gang zu bringen.«

Elio und Chiara tauschten einen Blick.

»Ich werde mich bemühen, für Chiara eine möglichst entspannte Atmosphäre zu schaffen«, versprach Elio, dann sah er Dr. Daniel an. »Werden Sie trotzdem eine Untersuchung vornehmen? Ich meine…, wenn es nur an dieser unglücklichen Situation liegt, dann müßte man Chiara doch nicht noch zusätzlich quälen.«

»Das ist letzten Endes eine Entscheidung, die nur Sie beide treffen können«, entgegnete Dr. Daniel. »Aufgrund des wenigen, was ich weiß, kann ich körperliche Gründe natürlich nicht ausschließen. Eine umfassende Untersuchung ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht unbedingt erforderlich. Sie können erst mal versuchen, ob es mit der Schwangerschaft klappt, wenn die störenden Faktoren beseitigt sind – sofern sich das angesichts der Eltern Chiaras überhaupt durchführen läßt.« Er schwieg einen Moment. »Wenn Sie sich dann aber doch zu einer gründlichen Untersuchung entschlie-ßen sollten, würde ich Ihnen dringend empfehlen, einen gu-ten Gynäkologen aufzusuchen.«

Wieder tauschten Elio und Chiara einen langen Blick.

»Ich glaube, ich würde mich lieber von Ihnen untersuchen lassen«, meldete sich Chiara mit leiser Stimme zu Wort.

»Das läßt sich machen«, stimmte Dr. Daniel bereitwillig zu. »Monsignore Antonelli hat gesagt, daß es hier in der Nähe eine Klinik gibt, die zu einem Kloster gehört. Ich weiß zwar nicht, wie gut diese Klinik auf derartige Untersuchungen eingerichtet ist, aber sie wird vielleicht für die ersten Tests genügen, mit denen ich mir einen genaueren Überblick über die Situation verschaffen kann.« Er erhob sich. »Ich werde mich mit dem Monsignore unterhalten und Ihnen dann Bescheid sagen, wann wir die Untersuchung vornehmen können.«

Auch Elio stand auf. »Ich begleite Sie hinaus.«

Dr. Daniel reichte Chiara die Hand, dann legte er impulsiv einen Arm um ihre Schultern und drückte sie einen Augenblick an sich.

»Keine Sorge, Chiara, wir kriegen das schon irgendwie in den Griff«, erklärte er mit dem ihm eigenen sehr warmherzigen Lächeln.

»Danke, Herr Doktor«, flüsterte die junge Frau.

Währenddessen war Elio schon vorangegangen und schloß nun gewissenhaft die Tür hinter sich und Dr. Daniel.

»Vor Chiara wollte ich es nicht sagen«, erklärte er leise. »Sie leidet unter dem Druck, den ihre Eltern ausüben, schon so sehr.« Er seufzte. »Es sind nicht nur die Cardellos, die mir zu schaffen machen, sondern auch meine Eltern. Sie drängen mich schon seit einem Jahr, die Ehe mit Chiara annullieren zu lassen.«

Aufmerksam sah Dr. Daniel ihn an. »Werden Sie es tun?«

Ohne einen Augenblick zu überlegen, schüttelte Elio den Kopf. »Nein, auf gar keinen Fall.« Dann machte er ein bekümmertes Gesicht. »Aber ich fürchte, ich werde es immer schwerer haben, mich mit dieser Einstellung durchzusetzen.« Er schwieg einen Moment. »Wissen Sie, Herr Doktor, ich bin ein Einzelkind. Meine Mutter hatte große Probleme, Kinder auszutragen. Die meisten sind kurz nach der Geburt oder innerhalb des ersten halben Jahres gestorben. Aus diesem Grund bin ich der einzige Erbe. Meinen Eltern gehört die kleine Pizzeria am Ortsrand. Vielleicht sind Sie mal daran vorbeigekommen.« Er senkte den Kopf. »Wenn meine Ehe kinderlos bleiben würde, wäre für die Pizzeria kein Erbe mehr da.« Mit ernstem Blick sah er Dr. Daniel an. »Ich persönlich würde mich nicht scheuen, ein Kind zu

adoptieren, aber für meine Eltern würde damit eine Welt zusammenbrechen. Vor allem mein Vater ist so stolz auf den Namen Sandrini, daß er ein adoptiertes Kind nie wirklich akzeptieren könnte.«

Spontan legte Dr. Daniel ihm eine Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich im Moment noch keine zu großen Sorgen darüber, Herr Sandrini. Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.«

*

»Alena, haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?« fragte Dr. Stefan Daniel, als ihm die Gynäkologin der Waldsee-Klinik in der Eingangshalle begegnete.

Alena Reintaler lächelte. »Natürlich, Stefan. Worum geht’s denn?«

»Um eine Patientin meines Vaters, die ich vor zwei Tagen untersucht habe«, antwortete der junge Assistenzarzt. »Seitdem läßt mir der Fall keine Ruhe mehr.« Er atmete tief durch, dann schilderte er Alena die Situation der jungen Jana Kemmerer.

»Ich befürchte, daß das Ba-

by bei einer Spontangeburt im Geburtskanal steckenbleiben könnte«, schloß er seinen Bericht.

»So leicht passiert das nun auch wieder nicht«, entgegnete Alena. »Aber ich finde es lobenswert, daß Sie sich darüber so große Gedanken machen. Haben Sie von den Ultraschallaufnahmen eine Kopie gemacht?«

Stefan nickte. »Ich habe die ganze Untersuchung auf Video aufgezeichnet. Wollen Sie sie sich ansehen?«

Alena nickte.

Wenig später saßen sie im Ärztezimmer der Gynäkologie, und Alena betrachtete interessiert die Aufnahmen, die Stefan gemacht hatte.

»Das Baby ist tatsächlich sehr groß«, stellte sie nachdenklich fest.

»Und es ist das erste Kind der Patientin«, fügte Stefan hinzu. »Überdies habe ich bei der gynäkologischen Untersuchung den Eindruck gewonnen, als wäre ihr Becken nicht sehr breit.«

»Aber Ihr Vater hielt eine Spontangeburt doch für unbedenklich«, meinte Alena nach einem Blick in die Krankenakten, die über Jana Kemmerer angelegt worden waren. Sie erinnerte sich dunkel, die Patientin einmal untersucht zu haben, aber in letzter Zeit hatte sie zu sehr im Streß gestanden, als daß sie sich noch an jede Einzelheit hätte erinnern können.

Stefan schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Er hat Frau Kemmerer zu einem Kaiserschnitt geraten, doch sie besteht auf einer natürlichen Geburt. Mein Vater konnte sie immerhin davon überzeugen, daß eine Hausgeburt ein unnötiges Risiko in sich bergen würde. Sie wird also hier in der Klinik entbinden, aber…« Er sah die Akten an. »Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.« Er schwieg einen Moment und versuchte sich an die Eintragungen im Mutterpaß zu erinnern. »Im übrigen hat mein Vater die Patientin zum letzten Mal vor sechs Wochen gesehen. In der Zwischenzeit ist das Baby nochmals gewachsen.«

Alena überlegte eine Weile, dann meinte sie: »Wie ich sehe, haben Sie Frau Kemmerer bereits für nächste Woche wieder in die Klinik bestellt.«

Stefan nickte. »Eben aus diesem Grund. Ich will das Kind an diesem Tag noch einmal abmessen.«

»Wenn die Patientin hier ist, benachrichtigen Sie mich bitte. Ich werde versuchen, mit ihr zu sprechen. Vielleicht kann man sie ja doch noch zu einem Kaiserschnitt bewegen.«

*

»Papa, wo warst du denn so lange?« beschwerte sich Tessa und zog dabei einen beleidigten Schmollmund.

Liebevoll nahm Dr. Daniel die Kleine auf den Arm und gab ihr einen zärtlichen Kuß auf die Wange.

»Es gibt hier im Ort eine junge Frau, die meine Hilfe braucht«, erklärte er ihr, dann sah er Manon an. »Ich fürchte, ich werde in dieser Woche noch einmal weg sein.«

Seine Frau schmunzelte. »Wie sollte es auch anders sein.« Sie legte einen Arm um Dr. Daniels Taille, stellte sich auf Zehenspitzen und küßte ihn. »Mein geliebter Robert kann einfach nicht ohne Arbeit sein.«

»Das ist es nicht«, wehrte Dr. Daniel ab, dann lächelte er. »Ich könnte mich an das süße Nichts-tun sehr wohl gewöhnen.« Er wurde wieder ernst. »Diese Frau hat wirklich ernsthafte Probleme.«

Manon küßte ihn noch einmal. »Du mußt dich nicht verteidigen, Robert. Glaubst du, daß ausgerechnet ich dafür kein Verständnis hätte?«

»Ich will aber nicht, daß du wieder weggehst, Papa«, mischte sich nun Tessa ein, dann schlang sie ihre Ärmchen um seinen Nacken. »Ich möchte, daß du immer bei mir bleibst.«

»Das würde ich auch sehr gern, Mäuschen«, gab Dr. Daniel zu. »Leider wird sich das aber auf Dauer nicht ganz einrichten lassen. Schließlich habe ich auch noch einen Beruf.« Er lächelte das kleine Mädchen an. »Aber ich verspreche dir, daß ich mir für dich so viel Zeit nehmen werde wie möglich. Und jetzt im Urlaub sind Mama und ich sowieso nur für dich da.«

»Damit wären wir auch gleich beim Thema«, mischte sich Manon ein. »Nach diesen Flitterwochen wartet in Steinhausen eine Gemeinschaftspraxis auf uns, aber ich fürchte, daß ich mich künftig als Ärztin nicht mehr in dem Maße engagieren kann wie bisher. Ich will für Tessa eine wirkliche Mutter sein und nicht eine, die sich für ihr Kind abends fünf Minuten Zeit nimmt, um es ins Bett zu bringen.«

Dr. Daniel runzelte die Stirn. »Heißt das, daß du deinen Beruf aufgeben willst?«

»Nein, Robert, das nicht«, entgegnete Manon ernst. »Du weißt, daß ich mit Leib und Seele Ärztin bin.« Zärtlich streichelte sie über Tessas schwarze Locken. »Aber ich will auch für mein Kind dasein.« Sie zögerte. »Ich habe mir überlegt, ob man nicht einen Arzt in der Praxis mit aufnehmen könnte, der nur halbtags arbeitet.«

»Ich fürchte, damit würden wir uns schwertun«, meinte Dr. Daniel, dann schüttelte er den Kopf. »Ein weiterer Arzt in unserer Praxis wird auch nicht nötig sein. Zum einen würden wir uns da bloß auf die Füße

treten, denn so groß sind die

Räumlichkeiten ja auch nicht, und zum anderen gibt es immer noch die Waldsee-Klinik.«

Doch Manon war skeptisch. »Wolfgang wird sich herzlich bedanken, wenn wir ihm einen Teil meiner Arbeit auch noch aufhalsen wollen.«

»Davon kann ja überhaupt keine Rede sein«, erwiderte Dr. Daniel. »Vorerst geht es nur darum, deine Sprechzeiten so abzuändern, daß du genügend Zeit für Tessa hast. Und außerhalb der Sprechzeiten ist die Waldsee-Klinik für Notfälle da. Das war schon immer so, und dagegen wird sich auch unser Chefarzt nicht wehren.«

Manon war noch immer unsicher. »Glaubst du das wirklich?«

»Ja.« Liebevoll legte Dr. Daniel einen Arm um ihre Schultern, während er auf dem anderen noch immer seine kleine Tochter trug, dann fuhr er lächelnd fort: »Immerhin bin ich Direktor der Waldsee-Klinik, und da muß auch ein dynamischer Chefarzt wie Wolfgang Metzler klein beigeben.« Er wurde ernst.»Abgesehen davon, daß es in dieser Hinsicht noch nie Probleme gegeben hat. Wolfgang ist selbst Vater, daher weiß er sehr gut, wie dringend eine Mutter zu Hause gebraucht wird.« Er schmunzelte. »Falls er das vergessen haben sollte, werde ich ihn daran erinnern, wie er sich aufgeführt hat, als seine Frau wenigstens halbtags arbeiten wollte.«

Manon lächelte. »So etwas Ähnliches würde mir ja auch vorschweben.«

»Das läßt sich auch ganz bestimmt machen.« Er küßte sie. »Im übrigen bin ich auch noch da. Obwohl ich mich auf die Gynäkologie spezialisiert habe, halte ich mich durchaus für fähig, notfalls eine Erkältung oder einen verstauchten Fuß zu behandeln.«

»Ach, wirklich?« lachte Manon. »Da habe ich ja ein All-

roundgenie geheiratet. Das ist gut zu wissen.«

»Ja, in mir schlummern noch viele verborgene Talente«, spielte Dr. Daniel sich scherzhaft auf.

»Was sind verborgene Talente, Papa?« wollte Tessa wissen, die sich während des Gesprächs zwischen ihren Eltern erstaunlich ruhig verhalten hatte.

»Das sind Dinge, die man kann, ohne es zu wissen«, antwortete Dr. Daniel.

Tessa seufzte abgrundtief. »Das klingt aber schwierig.« Mit etwas schräg geneigtem Kopf sah sie ihren Vater an. »Habe ich so etwas auch?«

Dr. Daniel mußte lachen. »Ja, Tessa, ich denke schon. Deine verborgenen Talente werden sich erst richtig zeigen, wenn du mal zur Schule gehst.«

Tessa verzog das Gesicht. »Muß das sein, Papa? Schule ist langweilig.«

Manon zog die Augenbrauen hoch. »Woher hast du denn diese Weisheit?«

»Von Luigi«, erzählte Tessa bereitwillig, dann fügte sie ernsthaft hinzu: »Der weiß das! Der geht nämlich schon zur Schule.« Sie überlegte angestrengt. »Ungefähr seit einem Jahr.«

Dr. Daniel schmunzelte. »Das ist ja ganz beachtlich. Trotzdem fürchte ich, daß er da noch keine ausreichenden Erfahrungen gesammelt hat.«

»Die Kinder, mit denen ich gespielt habe, wenn sie in den Ferien hier waren, haben auch gesagt, die Schule wäre die blödeste Erfindung des Jahrhunderts«, wandte Tessa energisch ein.

Jetzt mußten Dr. Daniel und Manon herzhaft lachen.

»Also, Tessa, ich kann dir versichern – so schlimm ist die Schule wirklich nicht«, meinte Dr. Daniel. »Wenn wir erst mal in Steinhausen sind, kannst du dich darüber mal mit dem kleinen Rudi Scheibler unterhalten. Das ist der Sohn von unserem Oberarzt, der kommt im September schon in die vierte Klasse, das heißt, er geht bereits seit vier Jahren in die Schule.«

Aus großen Augen sah Tessa ihn an. »Vier Jahre! Dann muß er ja schon fast fertig sein.«

Dr. Daniel schmunzelte. »Na, bis dahin hat er noch ein Weilchen vor sich, aber Rudi geht sehr gern in die Schule, und ich bin sicher, dir wird es dort auch gefallen, Tessa.«

»Mal sehen«, meinte die Kleine, und es war offensichtlich, daß sie in dieser Richtung keine zu großen Eingeständnisse machen wollte. Aber sie liebte ihre Eltern von Herzen.

*

»Ich fahre jetzt los, Papa«, erklärte Elio Sandrini. »Chiara und ich müssen pünktlich in der Klinik sein.« Er warf einen kurzen Blick auf die wenigen Tische, die besetzt waren. »Im Moment ist es ja ziemlich ruhig, und bis zum Abend bin ich bestimmt wieder zurück.«

Paolo Sandrini nickte mit mürrischem Gesicht, was Elio natürlich nicht entging.

»Papa, ich habe dir erklärt…«, begann er, doch sein Vater ließ ihn gar nicht aussprechen.

»Ich weiß schon«, fiel er Elio ins Wort. »Diese Untersuchung ist ja so wichtig.« Seine Stimme triefte dabei vor Sarkasmus, dann sah er seinen Sohn mit funkelnden Augen an. »Ich hätte eine solche Frau längst zum Teufel geschickt, aber du läßt dir von Chiara ja auf der Nase herumtanzen. Nur eine kleine Träne, und schon wirst du in ihren Händen weich wie Wachs, und das weiß dieses Luder ganz genau.«

»Papa! Ich will nicht, daß du in dieser Weise über Chiara sprichst!« erklärte Elio energisch. »Sie ist immerhin deine Schwiegertochter, und als ich sie geheiratet habe, warst du überglücklich…«

»Weil ich dachte, daß ein so schönes Mädchen wundervolle Kinder zur Welt bringen würde«, erwiderte Paolo Sandrini. »Dabei ist sie in Wirklichkeit eine totale Niete!« Er überlegte einen Moment. »Aber wer weiß…, vielleicht ist diese Untersuchung ja gar nicht so schlecht. Ich traue ihr zu, daß sie irgend etwas gemacht hat, um nicht schwanger zu werden. Es gibt da diese komischen Dinger, die sich Frauen heutzutage einsetzen lassen, nur damit sie kein Kind bekommen.«

»Du bist unmöglich, Papa!« erklärte Elio, dann drehte er sich um und verließ die Pizzeria. Diese Diskussionen, bei denen sein Vater immer wieder derartige Verdächtigungen vorbrachte, gingen ihm allmählich auf die Nerven, und dabei merkte Elio gar nicht, wie die Pflänzchen des Mißtrauens, die sein Vater seit Monaten immer wieder gesetzt hatte, langsam ihre Wirkung zeigten.

Rasch stieg Elio in sein Auto und fuhr zu dem kleinen Haus, das er mit Chiara bewohnte. Sie mußten sich beeilen, wenn sie noch pünktlich bei der kleinen Klinik des Klosters eintreffen wollten.

Chiara wartete schon auf ihn, und Elio bemerkte, wie entsetzlich blaß sie war. Unwillkürlich mußte er an die Worte seines Vaters denken, und obwohl er diesen Verdacht weit von sich weisen wollte, blieb doch ein Rest Zweifel in ihm zurück.

Immer wieder ließ Elio einen Blick über seine zierliche Frau gleiten und fragte sich dabei, ob sie ihn wohl tatsächlich betrügen würde…, ob ihre Kinderlosigkeit womöglich tückische Berechnung war. Sein Gefühl lehnte diesen schrecklichen Verdacht kategorisch ab, doch in seinem Kopf hatte er sich festgesetzt und war nicht mehr zu verscheuchen.

»Hast du Angst?« fragte er, doch in seiner Stimme lag dabei nicht so viel Mitgefühl, wie es dieser Situation angemessen gewesen wäre.

Chiara nickte.

»Ja, Elio«, flüsterte sie. »Ich habe sogar schreckliche Angst.«

Elio zögerte. Er spürte, daß Chiara die Wahrheit sagte, und er wußte auch, daß sie nur Angst hatte, weil ihr Vater sie in seiner Praxis so oft mit seiner entsetzlichen Grobheit gequält hatte.

»Und wovor?« hörte er sich trotzdem fragen. »Nur vor der Untersuchung oder etwa auch vor dem Ergebnis?«

Ziemlich erstaunt sah Chiara ihn an. »Du sagst das so komisch, Elio.«

Er zuckte die Schultern. »Bekomme ich dennoch eine Antwort?«

»Natürlich, Elio«, erwiderte Chiara leise. »Ich habe vor beidem Angst… vor der Untersuchung, weil ich glaube, daß sie mir schrecklich weh tun wird… und vor dem Ergebnis, weil…, weil es das Ende unserer Ehe bedeuten kann.«

Wieder wußte Elio, wie ihre Worte gemeint waren, daß sie Angst hatte, unfruchtbar zu sein, doch der Zweifel, den sein Vater geweckt hatte, saß bereits zu tief, als daß Elio sich noch vollständig davon hätte befreien können.

Wenn mein Vater recht hat, dachte er, wenn sie nur kein Kind bekommt, weil sie sich mit Verhütung besser auskennt als ich, dann werde ich die Ehe wirklich annullieren lassen.

*

Dr. Daniel wartete bereits auf Chiara und Elio. Er war absichtlich früher hergefahren, um sich mit den Räumlichkeiten der Klinik vertraut zu machen. Dabei hatte er auf den ersten Blick gesehen, daß eine so detaillierte Untersuchung, wie er sie in der Waldsee-Klinik hätte machen können, hier nicht möglich war. Aber vielleicht würde es ja schon ausreichen, bei Chiara die Durchgängigkeit der Eileiter zu kontrollieren.

Jetzt ging er dem jungen Ehepaar entgegen und ergriff väterlich Chiaras Hände.

»Sie müssen keine Angst haben«, erklärte er, und seine sanfte, tiefe Stimme erfüllte dabei ein weiteres Mal seinen Zweck. Chiara wurde etwas ruhiger, wenn auch die beinahe unnatürliche Blässe ihrer ansonsten sanft gebräunten Haut bestehen blieb.

Dr. Daniel begrüßte nun auch Elio und bemerkte dessen plötzlich so distanzierte Haltung. Er bedachte den jungen Mann mit einem prüfenden Blick, doch Elio senkte ausweichend den Kopf.

»Kommen Sie, Chiara«, bat Dr. Daniel und brachte die junge Frau in das Ärztezimmer, das man ihm für die Dauer der Untersuchung und der notwendigen Besprechungen zur Verfügung gestellt hatte. Um Elio und sein seltsames Verhalten würde er sich später noch kümmern.

»Darf ich mitkommen?« wollte der junge Mann wissen.

Dr. Daniel warf Chiara einen kurzen Blick zu, dann sah er Elio an. »Nur wenn Ihre Frau damit einverstanden ist.« Er bemerkte, wie es bei diesen Worten in Elios Gesicht wetterleuchtete, und begriff wieder nicht, was in den wenigen Tagen mit dem jungen Italiener für eine Veränderung vorgegangen sein konnte.

»Chiara?«

Elio sprach nur dieses eine Wort aus – fragend und mit einem fast drohenden Unterton.

»Natürlich kannst du dabeisein, Elio«, flüsterte Chiara, dann sah sie Dr. Daniel mit angstvollem Blick an. »Oder… muß ich mich da… ausziehen?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, im Moment noch nicht. Ich werde Ihnen erst mal erklären, wie die Untersuchung überhaupt abläuft.« Er sah, wie Chiaras Hände wieder zu zittern begannen, und legte impulsiv einen Arm um ihre Schultern. »Ich werde Ihnen nicht weh tun.«

Das junge Ehepaar nahm Dr. Daniel gegenüber Platz. Dabei schien Elio peinlich darauf bedacht zu sein, daß er Chiara nicht berührte. Von der Zärtlichkeit, die er noch wenige Tage zuvor gezeigt hatte, war nichts mehr zu spüren. Dr. Daniel war versucht, ihn sofort darauf anzusprechen, unterließ es aber, weil er Chiara mit einem möglichen Konflikt jetzt nicht noch mehr verunsichern wollte.

»Wenn wir nachher ins Untersuchungszimmer hinübergehen, muß ich als erstes eine ganz normale gynäkologische Untersuchung vornehmen«, begann Dr. Daniel schließlich zu sprechen. »Die meisten Frauen empfinden das zwar als unangenehm, doch es ist nicht schmerzhaft und dauert auch nur wenige Augenblicke.«

Dr. Daniel sah, wie Chiara nach Elios Hand tastete. Er ließ es zwar geschehen, daß sich ihre Finger um seine Hand schlossen, tat aber nichts, um ihr auch nur einen Funken Sicherheit zu geben, indem er etwa ihre Hand gestreichelt oder zumindest festgehalten hätte.

»Herr Sandrini, ist alles in Ordnung?« wollte Dr. Daniel jetzt wissen.

Elio wich seinem forschenden Blick aus. »Ja, natürlich.«

Na warte, mein Junge, dachte Dr. Daniel. Ich kriege schon noch heraus, was mit dir auf einmal los ist.

»Als nächstes muß ich die Durchgängigkeit der Eileiter prüfen«, fuhr er dann fort. »Das geschieht mit Hilfe einer Hysterosalpingografie. Dazu wird ein Röntgenkontrastmittel in die Gebärmutter gespritzt. Theoretisch könnte diese Untersuchung auch ohne Narkose durchgeführt werden, aber sie verursacht bisweilen krampfartige Schmerzen, daher nehme ich lieber eine örtliche Betäubung vor.« Dr. Daniel schwieg einen Moment, dann fuhr er fort: »Anschließend mache ich einige Röntgenaufnahmen, auf denen ich feststellen kann, ob das Kontrastmittel durch die Eileiter in die Bauchhöhle abfließt. Gleichzeitig sehe ich, ob die Gebärmutter normal gebaut ist, ob Polypen oder Myome vorhanden sind und ob sich eventuell Verwachsungen unmittelbar außerhalb der Eileiter befinden.«

Chiara schluckte schwer, und ihre Angst wuchs noch. Sie umklammerte Elios Hand so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten, aber noch immer erfolgte von ihm keine Reaktion.

»Normalerweise würde diese Untersuchung erst am Ende einer Sterilitätsbehandlung stehen«, fuhr Dr. Daniel fort und sah dabei Chiara an. »Aber in diesem Fall will ich eine Ausnahme machen, weil ich mich nur noch kurze Zeit hier aufhalte und Sie von mir persönlich untersucht werden wollen.«

Chiara zögerte, dann sprach sie die Frage, die ihr am Herzen lag, doch aus: »Wenn die Untersuchung nun nichts ergeben sollte?«

»Auch dann werde ich versuchen, einen Weg zu finden, um Ihnen zu helfen. Es gibt hier auf Sardinien sicher einen rücksichtsvollen Kollegen, der sich gern um Sie kümmern wird.«

In Chiaras Gesicht stand Abwehr. Sie wollte zu keinem anderen Arzt gehen. Obgleich sie auch vor der Untersuchung durch Dr. Daniel Angst hatte, zu ihm hatte sie inzwischen immerhin Vertrauen gefaßt.

»Sind von Ihrer Seite jetzt noch Fragen offen?« wollte Dr. Daniel wissen und riß Chiara damit aus ihren Gedanken.

Elio sah den Arzt an, als wollte er etwas sagen, unterließ es dann jedoch, was Dr. Daniel erstaunte. Noch vor ein paar Tagen war der junge Mann so aufgeschlossen gewesen. Was mochte nur geschehen sein, daß er sich in dieser kurzen Zeit so gravierend verändert hatte?

»Gut«, meinte Dr. Daniel, dann stand er auf und nahm Chiara mit einer sanften Geste am Arm. »Ich bringe Sie jetzt in einen kleinen Raum, wo Sie sich ungestört entkleiden können.« Er spürte ihr angstvolles Beben und tätschelte aufmunternd ihre Hand. »Sie müssen wirklich keine Angst haben, Chiara. Ich habe Ihnen doch versprochen, daß ich Ihnen nicht weh tun werde.«

Die junge Frau nickte tapfer, warf ihrem Mann noch einen beinahe flehenden Blick zu und senkte schließlich niedergeschlagen den Kopf, weil Elio ihr geflissentlich auswich. Mit langsamen, beinahe schleppenden Schritten folgte sie Dr. Daniel nach draußen.

Der Arzt öffnete eine Tür und ließ Chiara eintreten.

»Wenn Sie fertig sind, gehen Sie bitte durch diese Zwischentür in den Untersuchungsraum«, erklärte er. »Ich warte dort auf Sie.« Er schwieg kurz. »Sie müssen sich nicht beeilen. Nehmen Sie sich ruhig so viel Zeit, wie Sie brauchen.«

Chiara bedachte ihn mit einem dankbaren Blick. Sie wußte, wie er diese Worte meinte. Es genügte nicht, daß sie sich entkleidete – sie mußte auch innerlich für die Untersuchung bereit sein.

Dr. Daniel ließ sie allein, dann kehrte er zu dem Arztzimmer zurück.

»Was ist mit Ihnen los, Elio?« fragte er und benutzte dabei absichtlich den Vornamen des jungen Mannes, weil er die Distanz, die plötzlich zwischen ihnen herrschte, überbrücken wollte. »Ich erwarte, daß Sie mir diesmal die Wahrheit sagen.«

»Nichts, was soll schon mit mir los sein?« entgegnete Elio, und Dr. Daniel spürte die versteckte Agressivität, die hinter diesen Worten stand.

»Als ich Sie und Chiara das erste Mal gemeinsam sah, waren Sie voller Zärtlichkeit Ihrer Frau gegenüber«, erklärte Dr. Daniel. »Heute dagegen benehmen Sie sich deutlich distanziert…, beinahe kalt, und ich möchte gern den Grund dafür wissen.«

Elio kämpfte sichtlich mit sich, und dann stellte er eine Frage, mit der Dr. Daniel nicht gerechnet hatte.

»Wenn Chiara verhüten würde…, würden Sie das bei dieser Untersuchung bemerken?«

Verständnislos blickte Dr. Daniel ihn an. »Wieso sollte Ihre Frau verhüten, wenn sie sich doch ein Kind wünscht, und vor allem…, warum sollte sie eine solche Untersuchung auf sich nehmen, wenn sie von vornherein wüßte…«

Elio sackte in sich zusammen. »Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt von mir denken, aber… ich bekomme diese schrecklichen Zweifel einfach nicht mehr aus mir heraus.«

»Vor ein paar Tagen waren diese Zweifel aber offensichtlich noch nicht da«, erwiderte Dr. Daniel ruhig.

»Doch, aber ich habe sie unterdrückt…, ich unterdrücke sie jetzt schon seit Monaten.« Elio seufzte tief auf. »Mein Vater stichelt bei jeder sich bietenden Gelegenheit in mich hinein, und fast immer fallen dabei solche Behauptungen… Chiara würde bestimmt irgend etwas tun, um nicht schwanger zu werden.« Er schwieg einen Moment. »Ich war immer ziemlich sicher, daß sie die Pille nicht nehmen könnte, ohne daß ich es merken würde, aber heute sagte mein Vater etwas…, nun ja, es gibt da diese Spiralen, die sich Frauen einsetzen lassen, und… das würde ein Mann doch nicht merken, oder?«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete Dr. Daniel ehrlich. »Ich kann Ihnen aber versichern, daß ich eine solche Spirale bei der Untersuchung, die ich vornehmen werde, sehen würde. Allerdings bin ich überzeugt, daß ich in dieser Hinsicht nichts finden werde.« Seine Stimme wurde noch eindringlicher. »Elio, denken Sie doch einmal logisch. Ihre Frau hat schreckliche Angst davor, von Ihnen verlassen zu werden, weil sie keine Kinder bekommen kann. Glauben Sie denn wirklich, daß sie in einem solchen Fall ihre Kinderlosigkeit auch noch provozieren würde?«

Elio fragte sich, weshalb er nicht selbst auf dieses Gegenargument gekommen war, obwohl es doch eigentlich äußerst naheliegend war.

»Ich glaube, ich habe mich in den vergangenen Stunden schrecklich dumm benommen«, gestand er zerknirscht ein. »Ich habe mich von meinem Vater mit den ständigen Zweifeln, die er in mir gesät hat, vollkommen in die Irre führen lassen, und ich fürchte, wenn Sie nicht gewesen wären…, wenn Sie mich jetzt nicht mehr oder weniger gezwungen hätten, die Wahrheit zu sagen, dann wäre unsere Ehe wirklich in Gefahr geraten.«

»Machen Sie sich deswegen keine Vorwürfe«, riet Dr. Daniel ihm. »Ihre Ehe steht ja praktisch unter einer dauernden Belastung. Da ist nicht nur der Kinderwunsch von Ihnen und Ihrer Frau, der unerfüllt geblieben ist, sondern auch noch die Tatsache, daß Sie Ihre Ehe vor Eltern und Schwiegereltern ständig verteidigen müssen. So etwas ist zermürbend und führt zwangsläufig zu Krisen. Wichtig ist, daß Sie sich Ihrer Liebe zu Chiara bewußt sind und daß Sie beide in jeder Situation fest zusammenhalten.« Er schwieg kurz. »Von Vorteil wäre es auch, wenn Sie sich zumindest für eine Weile von Ihren Eltern und Schwiegereltern fernhalten könnten. Dasselbe gilt natürlich für Chia-ra.«

Elio seufzte. »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein, Herr Doktor. Mein Vater und ich führen die Pizzeria gemeinsam. Ich kann ihn jetzt nicht mit der ganzen Arbeit allein hängenlassen.«

Dr. Daniel nickte verständnisvoll. »Das erschwert die Sache natürlich noch zusätzlich, aber ich kann Ihren Standpunkt da sehr gut nachvollziehen. Ich würde in einem ähnlichen Fall wohl nicht anders handeln.« Dann stand er auf. »Jetzt werde ich erst mal die nötige Untersuchung durchführen, und wer weiß…, vielleicht ergibt sich ja ein Anhaltspunkt, worauf die Kinderlosigkeit Ihrer Frau tatsächlich zurückzuführen ist.«

»Ja, hoffentlich«, murmelte Elio, dann sah er Dr. Daniel an. »Ich weiß, daß Chiara mich bei dieser Untersuchung nicht dabeihaben will. Sie würde sich zu sehr schämen. Aber bitte…, sagen Sie ihr, daß ich an sie denke…, daß ich sie liebe.«

»Das mache ich ganz gewiß«, versprach Dr. Daniel, dann verließ er das Arztzimmer und betrat den Untersuchungsraum. Hier wartete Chiara schon auf ihn.

»Es tut mir leid, daß ich nicht gleich zur Stelle war«, entschuldigte sich Dr. Daniel, »aber ich hatte noch ein dringendes Gespräch zu führen.« Er schwieg einen Moment. »Von Ihrem Mann soll ich Ihnen übrigens sagen, daß er Sie sehr liebt und in Gedanken jetzt bei Ihnen ist.«

»Danke«, hauchte Chiara, doch Dr. Daniel spürte, daß sie ihm nicht ganz glaubte, aber das war nach der mehr als zurückhaltenden Art, die Elio in den vergangenen Stunden an den Tag gelegt hatte, auch nicht verwunderlich. Für einen Augenblick überlegte der Arzt, ob er etwas dazu sagen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Das war wohl eine Sache, die Elio selbst klären mußte.

Dr. Daniel begleitete die junge Frau nun zu dem gynäkologischen Stuhl. »Setzen Sie sich bitte dort hinauf, und legen Sie Ihre Beine in die Bügel.«

Chiara errötete tief. Allein die Vorstellung, sie würde in dieser entwürdigenden Haltung vor einem Mann liegen, verursachte ihr Übelkeit, und dabei machte es für sie keinen Unterschied, daß Dr. Daniel Arzt war und sicher schon unzählig viele Frauen an ihren intimsten Stellen untersucht hatte.

Sie entdeckte im hinteren Teil des Raumes eine Untersuchungsliege und sah Dr. Daniel nahezu flehend an. »Kann ich mich nicht dort hinlegen?«

Dr. Daniel konnte sehr gut nachvollziehen, was jetzt in Chiara vorging, und normalerweise wäre er gern bereit gewesen, die gynäkologische Untersuchung auf der Liege durchzuführen, doch gerade in diesem Fall war es wichtig, daß die junge Frau wirklich gründlich untersucht wurde.

»Es tut mir leid, Chiara«, entgegnete er bedauernd. »Auf der Liege kann ich nicht genügend sehen.«

Chiara warf dem Untersuchungsstuhl noch einen ängstlichen Blick zu, dann bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und begann hilflos zu schluchzen.

Tröstend legte Dr. Daniel seinen Arm um ihre Schultern und führte sie in den kleinen Raum zurück, wo sie sich zuvor entkleidet hatte.

»Ziehen Sie Ihren Rock an, Chiara«, riet Dr. Daniel ihr. »Wenn Sie das Gefühl haben, vor mir nicht völlig entblößt zu liegen, dann wird es für Sie vielleicht eher zu ertragen sein.«

Chiara nickte und schlüpfte hastig in ihren Rock. Ihre Finger zitterten, als sie die Knöpfe schloß, trotzdem fühlte sie sich jetzt ein wenig sicherer – wenn sie auch Mühe hatte zu vergessen, daß sie unter dem Rock keinen Slip trug.

Zögernd trat sie nun zu dem Untersuchungsstuhl und versuchte ihre schreckliche Angst zu unterdrücken, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen. Unwillkürlich warf sie Dr. Daniel einen Blick zu. Mit seinen ein-undfünfzig Jahren hätte er durchaus ihr Vater sein können, andererseits sah er als Mann ausgesprochen gut aus. Die dichten blonden Haare, die ein markantes Gesicht umrahmten, und die strahlend blauen Augen ließen ihn wesentlich jünger wirken, als er tatsächlich war. Trotzdem lag in seinem Gesicht so viel Güte, daß es schwer gewesen wäre, zu ihm kein Vertrauen zu haben. Und daran mangelte es bei Chiara ja auch gar nicht. Es war ja nur der Gedanke, sich dort oben präsentieren zu müssen, der sie so sehr erschreckte.

Noch einmal atmete sie tief durch, dann stieg sie auf den Stuhl und legte die Beine in die beiden Bügel. Dabei versuchte sie, unter dem weiten Rock ihre Weiblichkeit zu verstecken.

»Ich weiß schon, daß es gerade für Sie nicht ganz einfach sein wird, sich dort oben zu entspannen«, meinte Dr. Daniel. »Aber bitte, versuchen Sie es trotzdem. Denken Sie an irgend etwas Angenehmes.«

Chiara schloß die Augen und versuchte sich vorzustellen, daß sie am Strand liegen würde, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen. Sie spürte die kalten Bügel an ihren Beinen und hörte das Klappern der Instrumente, die sich Dr. Daniel jetzt bereitlegte. Dann rückte er mit seinem fahrbaren Stuhl näher und schob vorsichtig den Rock beiseite, mit dem Chiara sich bedeckt hatte. Die junge Frau zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.

»Nicht erschrecken, Chiara, ich werde Ihnen bestimmt nicht weh tun«, erklärte Dr. Daniel mit ruhiger Stimme. »Versuchen Sie, sich wieder zu entspannen. Ich muß als erstes einen Abstrich nehmen.«

Chiara fühlte, wie der Arzt den Abstrich nahm, und unwillkürlich begannen ihre Beine zu zittern.

»Nicht verkrampfen, Chia-ra«, bat Dr. Daniel. »Es ist gleich vorbei.« Er stand auf. »Ich muß noch die Gebärmutter und die Eierstöcke abtasten. Letzteres empfinden die meisten Frauen als sehr unangenehm, aber ich werde mich bemühen, vorsichtig zu sein.«

Chiara versteifte sich schon, als sie nur sah, wie Dr. Daniel die Plastikhandschuhe überstreifte. Die unzähligen schmerz-

haften Untersuchungen, die ihr Vater an ihr durchgeführt hatte, waren ihr natürlich im Gedächtnis. Mit beiden Händen krallte sie sich an dem gynäkologischen Stuhl fest.

Dr. Daniel spürte ihren massiven Widerstand, und dabei stieg eine maßlose Wut in ihm auf. Wie entsetzlich grob und unsensibel mußte dieser Dottore Cardello mit seiner Tochter umgegangen sein, daß sich so viel Angst in ihr hatte aufstauen können?

»Bitte, Chiara, entspannen Sie sich.« Dr. Daniels Stimme klang immer noch ruhig und sanft. Es war genau der Ton, der in seinen Patientinnen so großes Vertrauen weckte, und Chiara machte darin keinen Unterschied – auch wenn es bei ihr ein wenig länger dauerte, bis

die Verkrampfungen allmählich nachließen. »So ist es gut.«

Chiara schloß wieder die Augen und wartete mit zusammengebissenen Zähnen auf den unerträglichen Schmerz, doch dieser blieb überraschenderweise aus.

»Den ersten Teil der Untersuchung haben Sie schon überstanden«, meinte Dr. Daniel lächelnd.

Chiara riß die Augen auf und sah in sein sympathisch wirkendes Gesicht.

»Aber…, das hat ja gar nicht weh getan«, erklärte sie erstaunt.

»Das soll eine gynäkologische Untersuchung ja auch nicht«, erwiderte Dr. Daniel, dann griff er mit einer väterlichen Geste nach ihrer Hand und drückte sie sanft. »Glauben Sie, daß Sie es über sich bringen würden, sich jetzt auch oh-

ne den Rock dort hinaufzu-

legen? Das wäre für die nöti-

gen Röntgenaufnahmen nämlich besser.«

Chiara zögerte, dann nickte sie bereitwillig.

»Sie müssen auch vor dieser Untersuchung keine Angst haben«, meinte Dr. Daniel, als sie wieder auf dem Stuhl lag. »Ich nehme jetzt die örtliche Betäubung vor. Den Einstich werden Sie noch spüren, alles andere fühlen Sie zwar, aber Sie werden keine Schmerzen haben. Und ich erkläre Ihnen jeden Handgriff, bevor ich ihn ausführe.« Er schwieg kurz und setzte die Injektion. »Na also, den kleinen Pieks haben Sie schon überstanden. War’s schlimm?«

»Nein«, flüsterte Chiara tapfer, obwohl ihr der Einstich doch weh getan hatte. Aber das kam wahrscheinlich daher, daß sie schon wieder ziemlich verkrampft war.

»Wir warten jetzt noch einen Moment, bis die Spritze wirkt«, meinte Dr. Daniel, dann bereitete er alles für die weitere Untersuchung vor und lächelte Chiara schließlich aufmunternd an.

»Ich glaube, wir können anfangen.« Er hielt die Instrumente so, daß Chiara sie nicht sehen konnte, um zu verhindern, daß sie wieder Angst bekam. Normalerweise bevorzugte Dr. Daniel für die Hysterosalpingografie ein Pertubationsgerät, das gewährleistete, daß das Kontrastmittel kontinuierlich und mit stabilem Druck in den Uterus gepreßt wurde, doch ganz so modern war man in dieser kleinen Klinik noch nicht eingerichtet.

»Mit Hilfe eines Katheters spritze ich nun das Kontrastmittel in Ihre Gebärmutter und in die Eileiter«, erklärte er mit einem kurzen Blick zu Chiara. »Keine Angst, Sie werden nichts davon spüren.«

Dann schob Dr. Daniel das Röntgengerät über ihren Unterleib und machte einige Aufnahmen.

»So, Chiara, das war’s schon«, meinte er schließlich. »Sie bleiben jetzt bitte noch ein bißchen hier liegen. Die örtliche Betäubung wird bald nachlassen.« Fürsorglich breitete er noch eine dünne Decke über sie, um ihr dadurch ein wenig Sicherheit zu vermitteln.

»Herr Doktor, wann wissen Sie, ob ich Kinder bekommen kann?« fragte Chiara leise.

»Die Röntgenaufnahmen müssen erst entwickelt werden«, antwortete Dr. Daniel. »Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wie lange das hier dauern wird, aber ich nehme an, daß wir das Ergebnis der Untersuchung spätestens Anfang nächster Woche besprechen können.«

Chiara nickte, dann griff sie nach Dr. Daniels Hand und brachte dabei sogar ein leichtes Lächeln zustande.

»Danke, Herr Doktor. Sie sind wirklich ein wundervoller Mensch.«

*

Die Heimfahrt von Elio und Chiara verlief schweigend. Die junge Frau saß im Auto, hatte die Hände im Schoß verkrampft und hielt den Kopf gesenkt. Elio hatte ihr bereits mehrere Male einen kurzen Blick zugeworfen, doch Chiara verharrte so bewegungslos wie eine Statue. Schließlich hielt Elio es nicht mehr länger aus. Er brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen, schaltete den Motor aus und wandte sich dann Chiara zu.

»Cara mia«, sprach er sie leise an und legte dabei zärtlich eine Hand auf ihren Arm. Chiara zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.

Mit einem Ruck wandte sie ihm ihr Gesicht zu, und in ihren dunklen Augen lag ein Ausdruck, den er noch nie bei ihr gesehen hatte. Es war eine Mischung aus Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

»Cara mia«, wiederholte Elio. »Ich…, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Gerade jetzt…, wo du mich am dringendsten gebraucht hättest, habe ich total versagt.« Hilflos zuckte er die Schultern. »Verzeih mir bitte.«

Chiara wandte den Blick wieder ab. Ihr Kopf sank nach unten, und ihr langes schwarzes Haar verdeckte ihr Gesicht wie ein dichter Schleier.

»Warum, Elio?« wollte sie nur wissen, und ihre Stimme war dabei nicht mehr als ein heiseres Flüstern.

Der junge Mann atmete tief durch. Er wußte, daß er Chiara jetzt die Wahrheit sagen mußte, aber das Eingeständnis, an ihr gezweifelt zu haben, tat weh.

»Ich habe einen Fehler gemacht«, erklärte er und bemühte sich dabei, seiner Stimme Festigkeit zu geben, was ihm aber nicht so ganz gelang. Er wünschte, er könnte alles, was vorgefallen war, ungeschehen machen. »Ich habe meinem Vater geglaubt, obwohl ich seine Vorwürfe weit von mir hätte weisen müssen. Ich hätte…, ich hätte dir vertrauen sollen, doch das habe ich nicht getan.«

Langsam hob Chiara den Kopf und strich mit einer Hand ihr langes Haar zurück.

»Du hast gedacht, ich würde verhüten.«

Unwillkürlich zuckte Elio zusammen, als Chiara diese Behauptung aussprach. Viel schlimmer, als die Worte selbst war jedoch die Gelassenheit, mit der sie sie vorbrachte. Es schien, als würde sie ohne jede innere Anteilnahme sprechen.

Um so mehr schockierte es Elio, daß sie unmittelbar darauf in Tränen ausbrach. Ihr ganzer Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt.

»Wie konntest du nur!« brachte sie mühsam hervor. »Wenn ich das wirklich getan hätte…, was würde es mir dann ausmachen, dich zu verlieren?«

Elio fühlte sich elend. Natürlich hatte Chiara völlig recht. Wie hatte er auch nur einen Gedanken an diesen unsinnigen Verdacht verschwenden können?

»Cara mia, es tut mir leid«, flüsterte Elio zerknirscht, doch Chiara reagierte überhaupt nicht. Noch immer schluchzte sie leise vor sich hin.

Elio zögerte, doch dann tat er das einzig richtige. Er zog Chia-ra in seine Arme und drückte sie liebevoll an sich.

»Es wird nie mehr passieren«, versprach er, und Chiara spürte, daß er das nicht einfach so dahinsagte. »Nie wieder werde ich an dir zweifeln – egal, was auch geschieht.« Er schwieg noch einen Moment, dann gestand er leise: »Ich liebe dich.«

Mit tränennassen Augen sah Chiara ihn an, berührte sanft sein Gesicht und brachte dann ein zaghaftes Lächeln zustande, das um so rührender wirkte, weil noch immer Tränen über ihre Wangen rollten.

»Ich liebe dich auch, Elio. Ich liebe dich so sehr, daß es mir manchmal Angst macht.«

Zärtlich streichelte Elio ihr Gesicht. Er wußte genau, wovor sie wirklich Angst hatte.

»Du wirst mich nicht verlieren, Chiara«, versicherte er. »Niemals.« Wieder zog er sie in seine Arme und hielt sie fest an sich gedrückt. »Nichts und niemand wird unsere Ehe jemals zerstören.«

*

»Stell dir vor, Horst, jetzt muß ich morgen noch mal in die Klinik«, beklagte sich Jana Kemmerer bei ihrem Mann, dann seufzte sie. »Wenn Dr. Daniel hier wäre, würde bestimmt alles viel leichter gehen, der würde um die Geburt keinen solchen Zirkus machen.«

»Er hat aber auch gesagt, daß ein Kaiserschnitt besser wäre«, wandte Horst ein. »Und als du letztes Mal aus der Klinik gekommen bist, warst du von Dr. Daniels Sohn ganz begeistert.«

»Bin ich ja auch«, räumte Jana ein. »Er ist bestimmt ein gu-ter Arzt und genauso rücksichtsvoll wie sein Vater, aber… er ist doch noch so jung. Wahrscheinlich ist er deshalb so besorgt. Dabei besteht überhaupt kein Grund dazu. Immerhin hat Patricia bei der Geburt auch acht Pfund gewogen, und Corinna hat trotzdem normal entbunden.«

»Deine Schwester ist auch ein bißchen breiter gebaut als du, und Patricia war ihr zweites Kind«, entgegnete Horst, dann legte er einen Arm um Janas Schultern. »Vielleicht solltest du doch besser auf den jungen Dr. Daniel hören. Er mag zwar noch nicht so viel Erfahrung haben wie sein Vater, aber…«

»Ach, Unsinn«, wehrte Jana ab, dann machte sie ein enttäuschtes Gesicht. »Jetzt habe ich mich schon so auf eine natürliche Geburt gefreut. Wozu haben wir denn die ganzen Kurse gemacht, wenn ich letzten Endes doch eine Narkose bekomme und mir das Baby herausoperiert wird wie ein entzündeter Blinddarm?«

Trotz des Ernstes der Lage mußte Horst über diesen Vergleich lachen. »Also weißt du, Jana, so ist es ja nun auch wieder nicht. Im übrigen könntest du einen Kaiserschnitt ebenfalls wach miterleben. Ich habe erst kürzlich gelesen…«

»Ja, ich auch«, fiel Jana ihm ins Wort, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Nein, Horst, ich stelle mir das so schrecklich vor. Sicher, durch die Periduralanästhesie hätte ich keine Schmerzen, aber trotzdem würde ich fühlen, wie da an mir herumgeschnitten wird.« Sie sah ihren Mann an. »Möchtest du dir vielleicht unter örtlicher Betäubung den Bauch aufschneiden lassen?«

Ein eisiger Schauer rann Horst über den Rücken. »Wenn ich ehrlich bin – nein.« Er grinste. »Aber ich bin ja sowieso ein Hasenfuß, wenn es um so etwas geht.« Dann wurde er wieder ernster. »Wenn ich mir vorstelle, was du bei einer normalen Geburt auszuhalten hast…, an deiner Stelle würde ich das alles ganz gern verschlafen und dann als frischgebackene Mami aufwachen.«

»Ahnst du überhaupt, wie man sich nach einem Kaiserschnitt fühlt? Beate hat mir die reinsten Schauermärchen erzählt.«

Horst zog eine Grimasse. »Beate! Wenn die sich nur in den Finger schneidet, macht sie schon ein Drama daraus. Also wirklich, Jana, auf Beate würde ich in dieser Hinsicht an deiner Stelle nicht hören.«

Die junge Frau seufzte tief auf, dann streichelte sie über ihren gerundeten Bauch. »Wie auch immer. Ich werde jedenfalls morgen früh wieder in die Klinik gehen und mich noch einmal untersuchen lassen.« Sie schwieg kurz. »Ich glaube allerdings nicht, daß ich mich zu einem Kaiserschnitt überreden lassen werde.«

*

Daran glaubte auch Stefan Daniel schon fast nicht mehr. Die erneute Abmessung des Babys hatte ergeben, daß es mindestens acht, wenn nicht gar neun Pfund schwer sein würde, doch sein wiederholter Versuch, Jana Kemmerer von der Notwendigkeit eines Kaiserschnitts zu überzeugen, war gescheitert.

»Warten Sie bitte noch einen Augenblick hier«, bat er die junge Patientin, dann holte er die Gynäkologin der Klinik, doch auch Alena Reintaler hatte bei Jana nicht viel Glück.

»Dr. Daniel hat gesagt, eine Spontangeburt ist möglich, wenn ich in der Klinik entbinde«, erklärte Jana fest entschlossen. »Und das werde ich ja auch tun, aber ein Kaiserschnitt kommt für mich nicht in Frage. Es sei denn, Sie könnten mir beweisen, daß wirklich wichtige Gründe dafür vorliegen würden.«

Alena seufzte. »Ich glaube eigentlich, die Größe und das Gewicht des Kindes sind schon Grund genug.« Sie betrachtete die Bemerkungen, die Stefan auf das Krankenblatt geschrieben hatte. »Frau Kemmerer, wir können Sie nicht zum Kaiserschnitt zwingen, aber schon im Interesse Ihres Babys sollten Sie zustimmen, und ich bin sicher, daß Dr. Daniel derselben Meinung wäre, wenn er jetzt die Möglichkeit hätte, Sie zu untersuchen.«

»Er hat mich doch vor sieben Wochen noch untersucht«, wandte Jana ein. »Damals war das Baby auch schon groß. Er hat es ja selbst gesagt.«

»Und er hat Ihnen zum Kaiserschnitt geraten«, fügte Alena hinzu.

»Ja«, räumte Jana widerwillig ein. »Aber als ich sagte, ich würde lieber normal entbinden, hatte er auch nichts dagegen.«

»In der Zwischenzeit ist das Baby aber nochmals entscheidend gewachsen«, erklärte Alena. »Und zwar ganz beträchtlich. Das konnte Dr. Daniel damals jedoch noch nicht vorhersehen. Bitte, Frau Kemmerer, hören Sie auf uns. Lassen Sie es nicht darauf ankommen, daß Ihrem Baby am Ende etwas passiert.« Sie warf einen Blick in den Mutterpaß. »Das Kleine ist geburtsreif. Wenn wir heute oder spätestens morgen den Kaiserschnitt machen würden…«

»Nein«, widersprach Jana

energisch. »Ich will eine natürliche Geburt.« Sie stand auf. »Ich will die Ankunft meines ersten Kindes nicht verschlafen.«

»Es ist hoffnungslos«, erklärte Alena niedergeschlagen, als Jana gegangen und sie mit Stefan allein war.

Verständnislos schüttelte auch der junge Assistenzarzt den Kopf. »Wie kann man nur so verbohrt sein? Warum begreift sie nicht, daß sie mit ihrer Halsstarrigkeit nicht nur das Baby, sondern womöglich auch noch sich selbst in Gefahr bringt?«

Alena zuckte die Schultern. »Mit solchen uneinsichtigen Patienten müssen wir uns leider immer wieder herumschlagen.« Sie seufzte. »Wir können nur hoffen, daß unser Team vollständig vertreten sein wird, wenn sie mit Wehen hier in der Klinik ankommt, denn daß es bei dieser Geburt zu Komplikationen kommen wird, ist schon so gut wie vorprogrammiert.«

*

»Was schaust du da für Fotos an, Papa?« fragte Tessa neugierig und sah Dr. Daniel über die Schulter.

»Da kann man ja überhaupt nichts drauf erkennen«, erklärte sie enttäuscht, dann schüttelte sie mißbilligend den Kopf. »Da hat Monsignore Antonelli aber schönere Fotos gemacht.«

Dr. Daniel mußte lachen. »Das sind keine Fotos, Mäus-chen, sondern Röntgenaufnahmen.« Er stand auf. »Ich muß rasch zu den Sandrinis hin-über.«

Genußvoll leckte sich Tessa die Lippen. »Bringst du mir dann eine Pizza mit? Die ›San-drini Speciale‹ ist die beste Piz-za, die es auf Sardinien gibt.«

Liebevoll nahm Dr. Daniel sein Töchterchen auf den Arm. »Ich dachte, Mario würde die beste Pizza machen?«

»Ja, aber Elio macht die zweitbeste«, entgegnete Tessa schlagfertig.

Manon schmunzelte. »Um eine Antwort ist unsere Tochter wirklich nie verlegen.«

Dr. Daniel nickte. »Das Gefühl habe ich auch.« Er gab Tessa einen Kuß auf die Wange, bevor er sie wieder auf den Boden stellte. »Also schön, Mäuschen, ich bringe dir deine heißgeliebte Pizza mit.«

»Aber nur die ›Sandrini Speciale‹«, betonte Tessa noch einmal.

»Ich werde mich hüten, dir etwas anderes zu bringen«, versprach Dr. Daniel lächelnd, dann wandte er sich Manon zu. »Ich beeile mich. In spätestens einer halben Stunde bin ich wieder hier.«

Seine Frau schmunzelte. »In einer halben Stunde? Mein lieber Robert, das glaubst du ja wohl selbst nicht.« Sie küßte ihn zärtlich. »Laß dir nur Zeit, Schatz. Tessa und ich werden uns in der Zwischenzeit schon zu beschäftigen wissen.«

»Ja, wir gehen schwimmen und Eis essen«, verkündete Tessa.

»Das grenzt ja schon fast an Folterei«, beschwerte sich Dr. Daniel, doch er lächelte dabei. »Ich muß ein ernstes Gespräch führen, und meine beiden Damen gehen in der Zwischenzeit schwimmen und Eis essen.«

»Wir lassen dir auch was übrig, Papa«, versprach Tessa, dann grinste sie schelmisch. »Vom Meer. Damit du später auch noch ein bißchen schwimmen kannst.«

Dr. Daniel lachte und wirbelte das kleine Mädchen herum, daß es vor Vergnügen quietschte. »Du bist ja ein richtiger kleiner Schlingel.«

»Kann ich gar nicht sein«, entgegnete Tessa altklug. »Ich bin nämlich ein Mädchen.«

»Ja, und was für eines«, meinte Dr. Daniel, dann küßte er Tessa auf die Wange und wandte sich schließlich Manon zu, um sich auch von ihr zärtlich zu verabschieden.

»Ich beeile mich«, versprach er noch einmal, dann machte er sich auf den Weg zu Chiara und Elio Sandrini.

Wie immer am frühen Nachmittag war Elio zu Hause, denn der große Trubel in der Pizzeria begann erst am Abend, dauerte dann aber auch bis weit nach Mitternacht.

»Herr Doktor, so rasch hatten wir mit Ihnen gar nicht gerechnet«, erklärte Elio, während er Dr. Daniel eintreten ließ. Dabei vibrierte seine Stimme förmlich. Man merkte ihm an, wie angespannt er war.

Chiara war allerdings nicht weniger nervös. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie durch ihr langes schwarzes Haar.

»Ich will Sie nicht lange auf die Folter spannen«, erklärte Dr. Daniel ohne weitere Umschweife. »Die Untersuchung war sehr aufschlußreich. Chiara, Ihre beiden Eileiter weisen schwere Verwachsungen auf.«

Impulsiv preßte Chiara eine Hand auf den Mund. Sie war nicht ganz sicher, was diese Diagnose für sie bedeutete.

Elio warf ihr einen kurzen Blick zu, dann sprach er aus, was sie dachte, aber nicht zu fragen wagte.

»Heißt das… Chiara wird niemals ein Kind bekommen?«

Dr. Daniel erkannte die Angst in den Augen der jungen Frau und wußte, was jetzt in ihr vorging. Sie sah sich schon im Kloster – genauso, wie ihr Vater es ihr angedroht hatte.

»Sagen wir mal so«, entgegnete Dr. Daniel. »Diese Verwachsungen müßten operativ beseitigt werden, aber das kann ich nicht machen.«

»Chiara müßte also in eine Klinik.« Elio zuckte die Schultern. »Das wird doch kein so großes Problem sein.«

»Für einen derartigen Eingriff ist in jedem Fall ein Mikrochirurg nötig«, wandte Dr. Daniel ein, dann zuckte er die Schultern. »Ich bin mit den hiesigen Verhältnissen nicht vertraut, daher kann ich Ihnen auch nicht sagen, an wen Sie sich da wenden könnten.«

»Es ist hoffnungslos«, erklärte Chiara leise. »Mikrochirurg… so etwas habe ich noch niemals gehört.« Sie reckte sich hoch und versuchte eine Entschlossenheit zu zeigen, die sie gar nicht besaß. »Du kannst einen Antrag auf Annullierung unserer Ehe einreichen, Elio. Ich kann dir nicht zumuten, daß du weiterhin mit einer Frau verheiratet bist, die keine Kinder bekommen kann.«

»Das ist doch Unsinn!« wehrte Elio energisch ab. »Wenn Dr. Daniel sagt, daß man solche Verwachsungen beseitigen kann, dann werden wir auch eine Klinik finden, in der so etwas gemacht wird. Abgesehen davon, daß ich dich auch dann nicht verlassen würde, wenn die Verwachsungen nicht zu beseitigen wären.«

Erleichtert ließ sich Chiara gegen ihn sinken. Elio hatte das, was er vor wenigen Tagen im Auto zu ihr gesagt hatte, also wirklich ernst gemeint, und gerade jetzt tat es ihr unheimlich gut, seine tiefe Liebe zu spüren.

Dr. Daniel war ebenfalls froh über Elios Einstellung, aber im Grunde hatte er das nach dem eingehenden Gespräch, das er in der Klinik mit ihm geführt hatte, nicht mehr anders erwartet.

»In Deutschland wäre das alles kein Problem«, fuhr Dr. Daniel jetzt fort. »Mein Freund ist ein erstklassiger Mikrochirurg, aber… Sie müßten dazu in seine Klinik nach München kommen.«

Elio und Chiara tauschten einen Blick.

»München«, murmelte Elio, dann sah er Dr. Daniel an. »Wenn Chiara operiert wird…, ich meine… es gibt vermutlich keine Garantie, daß sie danach schwanger werden kann, oder?«

»Nein, eine Garantie gibt es nicht«, gab Dr. Daniel zu. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß Dr. Sommer schon mehrfach solche Operationen durchgeführt hat, und in sehr vielen Fällen haben die Frauen danach tatsächlich ein Baby bekommen.«

»Dann versuchen wir es«, beschloß Elio spontan.

Ein glückliches Lächeln huschte über Chiaras Gesicht, während sie nach der Hand ihres Mannes griff und sie sanft drückte.

Dr. Daniel lächelte das junge Ehepaar an. »Ich glaube, da haben Sie soeben eine gute Entscheidung getroffen.«

*

Als Stefan Daniel zum Nachtdienst in die Waldsee-Klinik kam, wartete der Chefarzt bereits auf ihn.

»Bin ich zu spät?« fragte Stefan und warf einen erschrockenen Blick auf die Uhr.

Dr. Metzler schüttelte lä-chelnd den Kopf. »Nein, Stefan, ganz und gar nicht. Du hast sogar noch eine halbe Stunde Zeit bis zu deinem Dienstbeginn, und wenn ich auf dich warte, dann bedeutet das nicht zwangsläufig etwas Schlechtes.«

Inzwischen hatten sie das Büro des Chefarztes erreicht, und Dr. Metzler ließ Stefan vorangehen, dann bot er ihm Platz an, bevor auch er sich setzte.

»Es geht um folgendes«, erklärte er. »Gerrit und ich sind heute abend bei den Gröbers eingeladen, das heißt, daß du uns im Notfall nicht zu Hause erreichen kannst. Alena hat zwar Bereitschaftsdienst, aber sie ist Gynäkologin und würde dir im Falle einer Notoperation vermutlich nicht viel nützen.«

»Kein Problem«, urteilte Stefan. »Wenn etwas sein sollte, dann rufe ich beim Gröber-Hof an. Seit Martin die Zufahrtsstaße hat bauen lassen, ist man von dort oben innerhalb einer Viertelstunde in Steinhausen.« Er grinste. »Ihr könntet natürlich auch eure Piepser mitnehmen.«

»Eben nicht«, entgegnete Dr. Metzler. »Du weißt, wie oft die Dinger in letzter Zeit schon verrückt gespielt haben. Seit zwei Tagen sind sie in Reparatur.«

»Na ja, vielleicht wird es eine ruhige Nacht«, meinte Stefan. »Und wenn nicht, dann weiß ich ja, wo ich euch erreichen kann.«

»Gut.« Dr. Metzler betrachtete die Krankenakten, die er sich hergerichtet hatte. »Auf der Station liegen noch ein paar Patienten, auf die du ein besonderes Auge haben solltest.« In knappen, präzisen Worten umriß er die jeweiligen Fälle, und Stefan machte sich Notizen.

»Ich schätze, in dieser Nacht wird es mir nicht langweilig werden«, vermutete er, als Dr. Metzler fertig war. »Wenn auf der Gynäkologie auch noch ein paar Problemfälle liegen sollten, dann bin ich rund um die Uhr beschäftigt.«

Dr. Metzler lächelte. »Das denke ich auch, aber ein bißchen Arbeit hat noch keinem Assistenzarzt geschadet.«

»Danke für deine aufmunternden Worte«, erwiderte Stefan, mußte dabei aber ebenfalls lächeln, dann stand er auf. »Ich gehe jetzt in die Gynäkologie hinüber. Mal sehen, was Alena noch alles für mich hat.«

Doch Stefans Bedenken erwiesen sich als unbegründet. Auf der Gynäkologie war alles ruhig, und Alena versicherte, daß es zumindest hier für Stefan nach einer eher ruhigen Nacht aussah.

»Nur ich persönlich habe noch ein Attentat auf Sie vor«, gestand die Gynäkologin mit einem verlegenen Lächeln. »Mein Schwiegervater feiert heute nämlich seinen fünfundsechzigsten Geburtstag und hat seine langjährige Haushälterin Leni, Markus und mich in ein ganz exklusives Restaurant eingeladen.« Sie seufzte leise. »Eigentlich hätte ich ja Bereitschaft, aber ich glaube, Papa wäre sehr enttäuscht, wenn ich nicht dabei wäre.«

»Das ist doch nicht so tragisch, Alena«, entgegnete Stefan. »Im Notfall kann ich Sie ja anpiepsen. Oder muß Ihr Piep-ser auch repariert werden?«

Alena schüttelte den Kopf. »Nein, glücklicherweise nicht. Bis jetzt hatte er jedenfalls noch keine Ausfälle irgendwelcher Art.« Sehr ernst sah sie Stefan an. »Ist es auch wirklich in Ordnung? Ich meine, wenn Sie Bedenken haben, dann bleibe ich selbstverständlich in Steinhausen, wo ich innerhalb weniger Minuten in der Klinik sein könnte.«

»Ach was«, wehrte Stefan ab. »Während meiner bisherigen Nachtschichten habe ich noch nie den Bereitschaftsarzt gebraucht, und ich denke nicht, daß das heute anders sein wird. Fahren Sie also ruhig nach München, Alena. Ich komme hier schon klar.«

Lächelnd drückte Alena ihm die Hand. »Danke, Stefan. Dafür haben Sie etwas bei mir gut.«

»Da hätte ich auch gleich einen Vorschlag. Wie wär’s denn mit dem Du?« fragte der junge Assistenzarzt. »Seit ich mit Jeff per Du bin, sind Sie die einzige, die mich immer noch siezt.«

Alena lächelte. »Das können wir gerne ändern, Stefan.«

»Fein«, meinte er, dann machte er sich auf seine erste Runde durch die Klinik, begrüßte die Nachtschwester Irmgard Heider, die inzwischen ebenfalls ihren Dienst angetreten hatte, und ließ sich schließlich im Arztzimmer der Chirurgie nieder. Bis jetzt war alles ruhig – auch bei den Patienten, die Dr. Metzler ihm ans Herz gelegt hatte, und Stefan hoffte, daß es so bleiben würde.

Draußen machte gerade ein greller Blitz die Nacht sekundenlang zum Tag, dem unmittelbar darauf ein grollender Donner folgte. Stefan trat ans Fenster und schaute hinaus. Strömender Regen prasselte gegen die Scheiben.

»Genau das richtige Wetter für eine Nachtschicht«, murmelte er, betrachtete noch eine Weile das Schauspiel der zuckenden Blitze, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte.

*

Jana Kemmerer wollte gerade zu Bett gehen, als ein schier unerträglicher Schmerz sie buchstäblich festnagelte. Mit einem Aufschrei griff sie an ihren Bauch, und im nächsten Au-

genblick war Horst an ihrer Seite.

»Liebling, was ist?« fragte er erschrocken.

Doch Jana brachte kein Wort hervor. Der Schmerz hämmerte und pochte in ihr, und es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er wieder verebbte.

»Meine Güte«, stöhnte sie und ließ sich erschöpft auf den nächstbesten Sessel fallen. »Wenn das eine Wehe war…« Sie schüttelte den Kopf. »Frau Lüder hat doch gesagt, der Schmerz würde langsam anschwellen.«

Mit besorgtem Gesicht sah Horst sie an. »Wir sollten sofort in die Klinik fahren.«

Jana nickte, doch als sie aufstehen wollte, wurde sie schon wieder von diesem unerträglichen Schmerz überfallen. Im ersten Augenblick blieb Horst zögernd neben ihr stehen. Es widerstrebte ihm, seine Frau gerade jetzt allein zu lassen, doch dann sagte er sich, daß es bestimmt wichtiger sei, sie rasch in die Klinik zu schaffen. Im Laufschritt eilte er ins Schlafzimmer, schnappte sich den bereitgestellten Koffer und trug ihn hinaus. Achtlos warf er ihn in den Kofferraum seines Wagens, dann kehrte er schnellstens zu Jana zurück.

Die Wehe war inzwischen verklungen, doch Jana war so erschöpft, um allein aufzustehen und hinauszugehen. Horst mußte sie stützen, und kaum im Auto angekommen, wurde Jana bereits wieder vom Wehenschmerz gepeinigt.

Die Straßen waren menschenleer, so kam Horst zügig voran. Bereits nach wenigen Minuten erreichte er die Waldsee-Klinik und stürzte in die Eingangshalle.

»Wo ist ein Arzt?« schrie er. »Schnell! Ich brauche einen Arzt!«

Die Nachtschwester eilte zu ihm. »Was ist passiert?«

»Meine Frau! Sie hat schreckliche Wehen!«

»Kann sie gehen? Oder hatte sie einen vorzeitigen Blasensprung?«

Horst schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht…, das heißt, nein, sie hatte ganz sicher keinen. Aber die Wehen…«

»Bringen Sie Ihre Frau in die Gynäkologie«, fiel Schwester Irmgard ihm ins Wort und wies dabei auf die undurchsichtige Glastür, die zum linken Flügel der Klinik führte. »Ich hole inzwischen Dr. Daniel.«

»Dr. Daniel? Er ist hier?« fragte Horst, und die Schwester hörte dabei die Erleichterung, die aus seiner Stimme klang.

»Ich meine den jungen Dr. Daniel«, erwiderte Irmgard, dann machte sie sich schnellstens auf den Weg zur Chirurgie.

Ziemlich beunruhigt kehrte Horst zu seinem Auto zurück.

»Der junge Dr. Daniel hat Dienst«, erstattete er seiner Frau sofort Bericht. »Ich weiß nicht, ob das in dieser Situation wirklich gut ist. Du bräuchtest doch jetzt einen Arzt mit Erfahrung.«

Doch Jana war mittlerweile schon alles egal. Was um sie herum vorging, interessierte sie nicht mehr. In ihrem Leben gab es in diesem Moment nur noch den unerträglichen Schmerz, der sie immer wie aus heiterem Himmel überfiel, und der sich vollkommen von dem unterschied, was die Hebamme ihr in der Geburtsvorbereitung gesagt hatte.

Jana und Horst hatten die Glastür, die zur Gynäkologie führte, noch nicht ganz erreicht, als Stefan mit Schwester Irmgard durch die Eingangshalle auf sie zukam.

»Seit wann haben Sie Wehen, Frau Kemmerer?« wollte er sofort wissen und mußte dabei unwillkürlich an Alenas Worte denken. »Wir können nur hoffen, daß unser Team vollständig vertreten sein wird, wenn sie mit Wehen hier in der Klinik ankommt, denn daß es bei die-

ser Geburt zu Komplikationen kommen wird, ist schon so gut wie vorprogrammiert. Und nun war er ausgerechnet heute allein hier in der Klinik.

»Seit einer Viertelstunde vielleicht«, antwortete Jana atemlos. »Herr Doktor, es tut so schrecklich weh. Der Schmerz kommt nicht langsam, sondern wie ein Schlag.« In diesem Moment krümmte sie sich schon wieder zusammen und schrie auf.

Irmgard holte eine fahrbare Trage, und mit Hilfe von Horst gelang es Stefan, die hochschwangere Frau hinaufzuheben, dann ging es im Laufschritt zum Kreißsaal. Dort nahm Stefan eine erste Untersuchung vor.

»Der Muttermund ist bereits drei Zentimeter offen«, erklärte er. »Das ist bei einer Erstgebärenden sehr ungewöhnlich, aber nicht unbedingt besorgnis-erregend.« Er sah Jana an. »Versuchen Sie, die Wehen so zu veratmen, wie Sie es im Vorbereitungskurs gelernt haben. Schwester Irmgard wird bei Ihnen bleiben. Ich alarmiere inzwischen die Hebamme.« Und noch ein paar Leute mehr«, fügte er in Gedanken hinzu, dann ging er zur Tür, doch dort blieb er noch mal stehen und sah zu der Nachtschwester zurück. »Wir müssen Frau Kemmerer an den Wehenschreiberanschließen.«

»Ich erledige das«, erkärte Irmgard mit unerschütterlicher Ruhe. »Gehen Sie ruhig, Herr Doktor.«

Eiligst verließ Stefan den Raum, und Horst sah ihm besorgt nach, dann wandte er sich der Nachtschwester zu.

»Könnten Sie nicht einen anderen Arzt alarmieren?« fragte er. »Ich meine… Dr. Daniel ist noch so jung.« Er zögerte. »Ist er überhaupt schon ein richtiger Arzt?«

»Ja, Herr Kemmerer, keine Sorge«, entgegnete Irmgard, während sie Jana an den Wehenschreiber anschloß. »Der junge Dr. Daniel ist sogar ein ganz ausgezeichneter Arzt. Und das hier ist auch nicht die erste Entbindung, die er vornimmt. Bei ihm ist Ihre Frau wirklich in gu-ten Händen.«

Doch Horst schien nicht vollends beruhigt zu sein. »Er wirkte doch sehr nervös.«

Das hatte natürlich auch Irmgard bemerkt, doch sie wußte auch, daß Stefan einen bestimmten Grund für diese Nervosität haben mußte. Vermutlich kannte er die Patientin bereits und rechnete mit Komplikationen.

»Wenn es einen Notfall gibt, kommt es immer zu kurzfristiger Hektik«, wich Irmgard aus. »Sie werden schon sehen, Herr Kemmerer, Dr. Daniel ist die Ruhe in Person, wenn er erst alles Nötige veranlaßt hat.«

»Ja, hoffentlich«, murmelte Horst, dann setzte er sich zu seiner Frau und hielt ihre Hand, während sie sich von einer erneuten schmerzhaften Wehe erholte. »Es wird alles gut, mein Liebling.«

Doch Jana reagierte nicht. Sie war völlig in dem immer wiederkehrenden Schmerz gefangen.

*

Währenddessen war Stefan ins Ärztezimmer der Gynäkologie geeilt und wählte die Nummer der Hebamme Anna Lüder, die bei Entbindungen in der Waldsee-Klinik immer einsprang. Sie versprach auch, sofort zu kommen. Als nächstes piepte Stefan Alena Reintaler an. Es dauerte keine Minute, bis das Telefon neben ihm klingelte. Stefan riß den Hörer an sein Ohr.

»Alena? Frau Kemmerer ist mit Wehen gekommen. Nach einer Viertelstunde war der Muttermund bereits drei Zentimeter offen. Ich fürchte, es wird jetzt ganz schnell gehen.«

»Ich bin schon unterwegs«, versprach Alena und legte auf.

Stefan zögerte. Sollte er sicherheitshalber auch Wolfgang und Gerrit alarmieren? Immerhin konnte es ja über eine halbe Stunde dauern, bis Alena von München aus hier sein würde, und wenn sich Janas Muttermund weiter in dieser Geschwindigkeit öffnete, dann würde die sogenannte Eröffnungsphase nicht mehr allzu lange dauern.

Kurz entschlossen wählte er die Nummer des Gröber-Hofs, doch nur das Besetztzeichen drang an sein Ohr. Stefan versuchte es noch dreimal, dann gab er auf. Entweder führten die von da oben ein Dauergespräch, oder aber das Gewitter, das noch immer unvermindert tobte, hatte die Leitung beschädigt.

Wieder zögerte Stefan einen Moment, dann hob er den Hörer erneut ab und wählte die Nummer des Anästhesisten Dr. Jeffrey Parker.

»Bitte, Jeff, sei du wenigstens zu Hause«, murmelte er wie beschwörend vor sich hin.

In diesem Moment wurde der Hörer abgehoben.

»Parker«, meldete sich der junge Arzt mit seiner angenehm tiefen Stimme.

»Jeff, Gott sei Dank«, stieß Stefan hervor. »Ich brauche dich dringend in der Klinik. Du bist im Moment der einzige Arzt, den ich auftreiben kann.«

»Nur die Ruhe, Stefan«, erklärte Dr. Parker. »Ich bin in fünf Minuten bei dir.«

Er hielt Wort und betrat schon wenig später die Eingangshalle. Schwester Irmgard kam ihm entgegen.

»Der junge Dr. Daniel ist im Kreißsaal«, erklärte sie. »Eine Risikopatientin, die partout eine Spontangeburt will. Mehr konnte er mir auf die Schnelle nicht sagen.«

Dr. Parker seufzte. »Warum hören diese Leute denn nie auf uns Ärzte?« Er zögerte kurz, ehe er hinzufügte: »Ich gehe besser nicht hinein. Das könnte den Anschein erwecken, als müsse ich ihn kontrollieren. Sagen Sie ihm nur, daß ich hier bin.«

Schwester Irmgard nickte, dann kehrte sie zu Stefan, der Hebamme und dem Ehepaar Kemmerer in den Kreißsaal zurück. Jana schrie und weinte, weil der Wehenschmerz für sie immer unerträglicher wurde, und Stefan erkannte mit wachsender Besorgnis, daß sie mit Riesenschritten auf die Austreibungsphase zuging. Unauffälig schielte er auf die Uhr. Alena sollte jetzt eigentlich jeden Moment eintreffen.

»Dr. Parker ist hier«, flüsterte Irmgard dem jungen Assistenzarzt zu.

Unmerklich atmete Stefan auf. Es tat gut zu wissen, daß er nicht mehr völlig allein war, wenn ihm der Anästhesist im Ernstfall auch nicht viel helfen konnte. Sicher, für die Narkose brauchte er ihn unbedingt, aber wenn der Kaiserschnitt tatsächlich unvermeidbar sein würde, dann würde Stefan ganz allein am OP-Tisch stehen.

»Sie hat schon fast zehn Zentimeter«, erkärte die Hebamme, dann sah sie Stefan sehr ernst an. »Es ist ein großes Kind, nicht wahr?«

»Ja, ich fürchte sogar, ein sehr großes.«

»Gibt es Probleme?« mischte sich Horst besorgt ein. Er hatte gemerkt, wie Arzt und Hebamme leise miteinander gesprochen hatten.

»Nein, im Moment läuft alles normal«, antwortete Anna Lüder, dann lächelte sie die werdende Mutter aufmunternd an. »Sie machen das ganz prima, Frau Kemmerer.«

»Normal?« kreischte Jana beinahe hysterisch. »Wenn das normal ist, dann will ich nie wieder ein Kind haben! Und was soll ich prima machen? Ich werde nur von unerträglichen Schmerzen gepeinigt, gegen die ich nichts machen kann! Aber das wurde in den Kursen nicht gesagt, und…« Sie verstummte abrupt, weil wieder eine Wehe kam. Hilflos krallte sie sich an Horst fest und schrie dabei aus voller Kehle.

»Helfen Sie ihr!« fuhr Horst die Hebamme und Stefan an.

»Das kann ich nicht«, entgegnete der junge Assistenzarzt bedauernd. »Für eine PDA… eine Periduralanästhesie ist es bereits zu spät. Bis sie wirken würde, hätte Ihre Frau das Kind vermutlich schon zur Welt gebracht. Alles andere kann ich zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht verantworten.«

»Weil Sie noch gar kein richtiger Arzt sind!« fuhr Horst ihn an. »Ihr Vater würde meine Frau nicht so leiden lassen!«

Der Vorwurf traf Stefan zutiefst, obwohl er wußte, daß die Worte des nervösen und mit sei-ner Frau leidenden Mannes nicht ganz ernstzunehmen waren.

»Ihr Vater hätte dieselbe Entscheidung getroffen«, meinte Anna Lüder leise, weil sie Stefans Gesichtsausdruck sehr wohl deuten konnte, dann sah sie Horst an. »Eine Geburt ist nun mal schmerzhaft, aber in der Regel ist sie durchaus auch ohne Schmerzmittel auszuhalten – vor allem, wenn die Eröffnungsphase so kurz ist wie bei Ihrer Frau, und das kommt selten genug vor.«

Doch ihre Worte verhallten ungehört, denn Horst widmete sich ganz seiner Frau, die jetzt wieder erschöpft in den Kissen lag. Währenddessen ging Anna Lüder daran, eine erneute Untersuchung vorzunehmen, dann kniete sie sich auf das breite Bett.

»So, Frau Kemmerer, jetzt werden Sie nicht mehr schreien, sondern fest pressen«, erklärte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

»Pressen?« wiederholte Jana verständnislos, als hätte Anna Lüder chinesisch gesprochen, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kann nicht mehr!«

»Doch, Kindchen, Sie können. Ihr Baby will jetzt raus.«

Die nächste Wehe überrollte Jana.

»Pressen! Pressen! Pressen!« befahl Anna Lüder.

Währenddessen wandte sich Stefan an die Nachtschwester. »Rufen Sie Dr. Leitner an. Wenn das Baby da ist, brauchen wir unbedingt einen Kinderarzt.«

Schwester Irmgard eilte hinaus und kehrte wenige Minuten später wieder zurück.

»Dr. Leitner ist unterwegs.« Sie zögerte, wußte aber, daß sie auch die andere Nachricht, die sie empfangen hatte, weitergeben mußte. »Frau Dr. Reintaler steckt auf der Autobahn fest. Es hat einen schweren Verkehrsunfall gegeben, der die ganze Fahrbahn blockiert hat. Sie steht im Stau.«

Sekundenlang schloß Stefan die Augen. Auch das noch! Dann warf er Anna Lüder einen kurzen Blick zu und sah, daß hier eigentlich alles so lief wie immer. Es hatte den Anschein, als würde das Baby doch auf normale Weise geboren werden, und alle seine Bedenken waren vielleicht ja doch umsonst gewesen.

»Versuchen Sie es auf dem Gröber-Hof noch einmal«, ordnete Stefan trotzdem an. »Mir wäre wohler, wenn der Chefarzt oder der Oberarzt kommen könnten.«

Wieder verschwand Irmgard nahezu lautlos, und diesmal dauerte es länger, bis sie zu-rückkehrte. Bedauernd zuckte sie die Schultern. »Es ist belegt.«

Stefan seufzte, dann trat er neben Anna Lüder. Das Köpfchen des Babys war bereits zu sehen. Stefan atmete auf. Anscheinend hatte er die Pferde doch grundlos scheu gemacht.

»Das Kind steckt fest«, erklärte die Hebamme in diesem Moment.

»Aber der Kopf ist doch schon zu sehen«, meinte Stefan. In diesem Moment rückte die Hebamme ein wenig zur Seite, und nun konnte Stefan sehen, daß der Kopf des Kindes fast vollständig geboren war. Es steckte offensichtlich mit einer Schulter am Schambein der Mutter fest.

»Oh, mein Gott«, stieß Stefan hervor, dann drängte er Anna Lüder zur Seite und versuchte vorsichtig, das Baby freizubekommen, doch es ging nicht. Das Kleine steckte fest, und es konnte sich nur noch um wenige Augenblicke handeln, bis es unweigerlich in Lebensgefahr geraten würde.

»Sofort in den OP!« befahl Stefan, dann sah er Anna Lüder an. »Drücken Sie das Kind zurück. Ich werde einen Kaiserschnitt machen.«

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starrte Horst den jungen Assistenzarzt an. »Jezt auf einmal entschließen Sie sich zum Kaiserschnitt? Meine Güte, das Baby ist doch fast geboren!«

Aber Stefan hörte nicht auf ihn. Für ihn war jetzt nur noch wichtig, daß Jana Kemmerer auf der Stelle in den Operationssaal kam. In fliegender Hast wurde die Patientin auf eine fahrbare Trage gehoben. Jana schrie und krümmte sich vor Schmerzen, während die Hebamme auf der Trage kniete und das Baby vorsichtig, aber mit dem nötigen Kraftaufwand in den Geburtskanal zurückschob. Die Herztöne des Kindes, die der Wehenschreiber aufzeichnete, begannen zu holpern – ein untrügliches Zeichen, daß es jetzt wirklich schnell gehen mußte, wenn das Baby noch gerettet werden sollte.

Dr. Parker hatte inzwischen schon mitbekommen, daß eine Notoperation erforderlich wurde. Während sich Stefan eiligst, aber dennoch mit der gebotenen Gründlichkeit die Hände wusch, leitete der Anästhesist schon die Narkose ein. Im Laufschritt kam Stefan in den OP, blieb dann aber abrupt stehen.

Er sah die Patientin an, die jetzt reglos auf dem OP-Tisch lag, und die Hebamme, die noch immer das Baby zurückdrückte. Übelkeit stieg in ihm auf.

»Jeff, meine Güte, was soll ich jetzt bloß tun?« wandte er sich verzweifelt an den Anästhesisten. »Ich habe noch nie einen Kaiserschnitt gemacht.«

»Aber du warst schon oft dabei, Stefan«, entgegnete Dr. Parker, und der Assistenzarzt fragte sich, woher Jeff seine Gelassenheit nahm. Er selbst war im Moment das reinste Nervenbündel.

»Komm schon«, fuhr Dr. Parker drängend, aber noch immer mit bewundernswerter Ruhe fort. »Hier sind zwei Menschen, die dich dringend brauchen. Das Baby wird sterben, wenn du nicht sofort den Kaiserschnitt machst.« Der Blick seiner blauen Augen war zwingend. »Stefan, du bist ein erstklassiger Arzt – genau wie dein Vater. Du kannst es.«

Der junge Assistenzarzt wurde jetzt merklich ruhiger. Er trat an den OP-Tisch und versuchte sich an die Kaiserschnitte zu erinnern, bei denen er assistiert hatte, doch in seinem Kopf

herrschte gähnende Leere. Wieder drohte er in Panik zu geraten, doch da fielen ihm die Worte ein, die sein Vater nach einer schwierigen Operation einmal zu ihm gesagt hatte.

»Weißt du, Stefan, es nützt niemanden, wenn man angesichts einer solchen Situation die Nerven verliert. Das ist zwar manchmal leichter gesagt als getan, aber wenn du einmal in eine solche Lage geraten solltest, atme tief durch, zähle in Gedanken bis zehn, und dann fang mit deiner Arbeit an. Mach das Wichtigste zuerst und kümmere dich nicht um den Zustand des Patienten. Dafür ist der Anästhesist zuständig, und wir haben hier an der Waldsee-Klinik mit Erika und Jeff die besten Anästhesisten, die man sich nur wünschen kann.«

Stefan schloß die Augen und atmete tief durch, dann warf er Dr. Parker einen kurzen Blick zu, bevor er die Hand ausstreckte.

»Skalpell.«

Schwester Irmgard, die einmal eine Weile als OP-Schwester gearbeitet hatte, reichte ihm mit einer raschen, gezielten Bewegung das Skalpell. Stefan setzte an, um den Bauchschnitt durchzuführen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. War da nicht etwas mit der Blase? Angestrengt runzelte er die Stirn, dann nahm er den Bauchschnitt vor.

»Können Sie mir assistieren?« wollte er von der Hebamme wissen, die sich inzwischen ebenfalls keimfrei gemacht und den Operationssaal wieder betreten hatte. Jetzt war es nicht mehr nötig, das halb geborene Kind zurückzudrücken, denn die Wehentätigkeit war mit dem Einleiten der Narkose ohnehin zum Erliegen gekommen.

»Ich kenne das alles nur aus der Theorie«, entgegnete Anna Lüder wahrheitsgemäß. »Aber versuchen kann ich es zumindest.«

»Absaugen bitte«, wandte sich Stefan an Schwester Irmgard, dann sah er Anna Lüder kurz an. »Ich teile jetzt das Peritoneum. Wenn ich drin bin, ziehen Sie bitte an dieser Seite.«

Anna Lüder nickte, doch als es soweit war, hatte sie doch gewisse Hemmungen.

»Kann ich da wirklich nichts kaputtmachen?« fragte sie etwas unsicher.

Stefan schüttelte den Kopf. »Ziehen Sie noch ein bißchen fester.« Wieder runzelte er angestrengt die Stirn. »Man schneidet den Uterus im unteren Segment auf.«

Anna Lüder warf ihm einen kurzen Blick zu. »Fragen Sie mich?«

»Nein, ich frage Gott«, entgegnete Stefan, und die Hebamme war nicht sicher, wie er das tatsächlich meinte.

Vorsichtig versuchte Stefan die Gebärmutter zu öffnen, doch er war zu zaghaft, weil er das Baby nicht verletzen wollte. Erst mit dem zweiten Schnitt kam er durch. Im selben Moment schoß ihm ein Schwall Blut entgegen.

»So ein Mist«, knurrte Stefan. »Die Plazenta beginnt bereits, sich zu lösen. Jeff, die Patientin braucht Blut.«

»Bin schon dabei«, entgegnete der Anästhesist, der durch den rapide sinkenden Blutdruck der Patientin gemerkt hatte, wie es um Jana stand. »Kümmere dich ruhig erst um das Baby.«

Vorsichtig griff Stefan in den Bauch der Patientin und hob das Kind heraus. Dabei blieb ihm fast das Herz stehen.

»Mein Gott, ist der blau«, entfuhr es ihm. »Irmgard, schnell, den Mund absaugen.«

»Nabelschnur ist frei«, meldete die Hebamme, klemmte ab und durchtrennte die Nabelschnur. Kaum fünf Minuten waren vergangen, seit sie alle den Operationssaal betreten hatten, trotzdem schien es, als wäre es für das Kind bereits zu spät.

»Er atmet nicht«, stieß Stefan hervor, dann trug er das Baby schnellstens nach nebenan. »Wo ist Dr. Leitner?«

»Ich weiß nicht, wo er bleibt«, erwiderte Schwester Irmgard, die ihm gefolgt war. »Er müßte längst hier sein.«

»Ist jetzt egal«, urteilte Stefan. »Dann müssen wir es eben ohne ihn schaffen. Der Kleine muß beatmet werden. Ich intubiere.«

Es war schwierig, bei dem Baby einen Tubus einzuführen, doch Stefan schaffte es schon beim ersten Versuch. Ungefragt übernahm Irmgard die künstliche Beatmung, während Stefan jetzt eine Spritze mit einem Atemstimulans aufzog und geschickt injizierte.

»Er braucht eine Glukoselösung«, murmelte Stefan.

»Er hat noch keine Venen«, gab Irmgard zu bedenken.

»Das weiß ich. Ich muß die Infusion am Kopf legen.«

Irmgard warf ihm einen kurzen Blick zu. »Haben Sie das denn schon mal gemacht?«

»Nein, aber ich habe auch noch nie zuvor einen Kaiserschnitt gemacht, und er ist mir trotzdem gelungen.«

Als Stefan die Infusionskanüle zur Hand nahm, hielt Irmgard unwillkürlich den Atem an, doch der junge Assistenzarzt bewies auch jetzt, daß ihm sein Beruf im Blut lag – genau wie es bei seinem Vater der Fall war.

»Infusion läuft«, erklärte er schließlich, und aus seiner Stimme klang dabei deutlich Erleichterung.

»Er wird langsam rosig«, meldete sich Irmgard, dann lächelte sie. »Ich glaube, Sie haben’s geschafft, Herr Doktor.«

Stefan nickte knapp. Seine Gedanken waren bereits bei Jana, die noch immer im Operationssaal lag und in der Zwischenzeit von Dr. Parker versorgt wurde – soweit das möglich war.

»Den Tubus festkleben und weiter beatmen«, ordnete Stefan an. »Wenn Dr. Leitner kommt…«

»Bin schon hier!« rief der Kinderarzt atemlos. »Tut mir leid, daß ich so spät komme, aber…«

Stefan hörte nur mit halbem Ohr hin. »Ich muß wieder hin-über. Irmgard, einen neuen Kittel bitte.«

Die Nachtschwester beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen, dann folgte sie Stefan in den OP. Der Kinderarzt würde auch ohne sie fertig werden, aber Stefan brauchte sie wahrscheinlich noch.

»Wie sieht’s aus, Jeff?« fragte der Assistenzsarzt, kaum daß er den Operationssaal betreten hatte.

»Sie hat zwei Blutkonserven bekommen und einen Liter Kochsalzlösung«, antwortete Dr. Parker. »Der Blutdruck ist allerdings noch ziemlich niedrig. Achtzig zu fünfzig. Puls hundertzwölf.«

Stefan nickte. »Damit kann ich leben. Und sie kann es auch.«

Er trat an den OP-Tisch und machte da weiter, wo er zuvor aufgehört hatte. Vorsichtig entfernte er die Plazenta und vergewisserte sich, daß die Blutung zum Stillstand gekommen war, bevor er den Uterus gewissenhaft schloß.

»Blutdruck steigt«, erklärte Dr. Parker, dann sah er Stefan an. »Du hast ihr das Leben gerettet.«

Doch der junge Assistenzarzt schien das gar nicht zu hören. Er konzentrierte sich auf seine Arbeit, und erst als die Naht fertig war, nahm er seine eigene Erschöpfung überhaupt wahr. Er hatte das Gefühl, als würde er seit einer Ewigkeit im Operationssaal stehen, dabei war seit Beginn der Operation gerade mal eine Stunde vergangen.

»Jeff, bitte, sei so nett und bringe die Patientin auf Intensiv«, bat Stefan, während er mit müden Bewegungen den grünen Kittel und die Handschuhe abstreifte. »Ich kümmere mich dann gleich um sie.«

Dr. Parker, Schwester Irmgard und die Hebamme sahen ihm nach, wie er mit schleppenden Schritten in den Waschraum hinausging.

»Ganz der Vater«, urteilte Dr. Parker anerkennend. »Stefan ist fix und fertig, aber er will sich persönlich um die Patientin kümmern. Dr. Daniel hätte im gleichen Fall genauso gehandelt.«

»Er hätte auch alles andere so gemacht wie der junge Dr. Daniel«, fügte Irmgard hinzu. »Wahnsinn, was er da gerade geleistet hat.«

Dr. Parker und Anna Lüder nickten zustimmend.

»Ein Kaiserschnitt unter solchen Bedingungen hätte eigentlich einen erfahrenen Gynäkologen verlangt«, meinte die Hebamme. »Aber er hat nicht nur die Mutter beispielhaft operiert, sondern auch noch das Baby gerettet.« Sie sah Dr. Parker an. »Sie haben recht, der junge Dr. Daniel wird als Arzt einmal genauso gut wie sein Vater.«

*

Völlig erschöpft saß Stefan im Waschraum. Er hatte es gerade noch geschafft, seine Hände zu waschen und Horst Kemmerer zu informieren, daß er einen gesunden Sohn hatte und der Zustand seiner Frau zufriedenstellend war. Jetzt saß Horst im Säuglingszimmer bei seinem Baby, und Stefan hatte das Gefühl, als wäre er zu keiner Bewegung mehr fähig.

»Frau Kemmerer liegt auf der Intensiv«, erklärte Dr. Parker und riß ihn damit aus seinen Gedanken.

Langsam hob Stefan den Kopf. »Danke, Jeff. Ich gehe sofort zu ihr.«

Doch der junge Anästhesist legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Irmgard kümmert sich bereits um die Patientin. Laß dir also ruhig ein bißchen Zeit, Stefan.« Prüfend sah er den Assistenzarzt an. »Ich glaube, du könntest jetzt einen starken Kaffee vertragen.«

Stefan nickte. »Das ist im Augenblick wirklich der einzige Gedanke, der mich begeistern kann.«

Dr. Parker wusch sich die Hände, dann trat er zu Stefan und legte ihm einen Arm um die Schultern.

»Na komm, gehen wir ins Ärztezimmer.«

Aber Stefan zog es nun doch zuerst zur Intensivstation. Er kam gerade rechtzeitig, denn Jana schlug jetzt zum ersten Mal die Augen auf.

»Mein Baby«, flüsterte sie schwach.

»Alles in Ordnung, Frau Kemmerer«, beruhigte Stefan sie. »Ich habe Ihren kleinen Sohn mit einem Kaiserschnitt geholt. Anfangs gab es ein paar Probleme, aber jetzt geht es ihm gut. Ihr Mann ist bei ihm, und sobald es Ihnen bessergeht, dürfen er und der Kleine Sie besuchen.«

Jana atmete erleichtert auf, dann fielen ihr die Augen wieder zu. Stefan blieb noch einen Moment neben ihrem Bett stehen, dann verließ er die Intensivstation wieder. Er wußte, daß Schwester Irmgard ein besonderes Auge auf die Patientin haben würde.

Mit aller Macht zog es Stefan nun ins Ärztezimmer, weil er wußte, daß Dr. Parker ihm in der Zwischenzeit einen heißen Kaffee aufgebrüht haben würde, doch sein Pflichtbewußtsein den Patienten gegenüber war stärker, und so zwang er sich zu einem Rundgang durch die Station, aber hier war alles ruhig. Auch die Patienten, die Dr. Metzler ihm noch ans Herz gelegt hatte, schliefen, und so konnte sich Stefan schließlich beruhigt ins Ärztezimmer zurückziehen.

Eine Tasse dampfenden Kaffees stand auf dem Tisch, und daneben lag ein Zettel von Dr. Parker.

Bin gleich wieder zurück, um Dir Gesellschaft zu leisten.

Stefan lächelte. Jeff war ein wirklicher Freund und dazu ein Mensch, auf den man sich blind verlassen konnte – sowohl im Beruf als auch privat.

»Ich habe gehört, was du geleistet hast.«

Stefan blickte auf und direkt in Alena Reintalers Gesicht. Sie sah abgekämpft aus, und das Gefühl, an allem, was passiert war, schuld zu sein, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Du kannst doch nichts dafür, Alena«, erklärte Stefan, doch die junge Gynäkologin schüttelte nur den Kopf.

»Ich hatte Bereitschaft, und wenn ich in Steinhausen geblieben wäre…« Sie zögerte. »Ich fürchte, Wolfgang wird mich zur Verantwortung ziehen, und vermutlich komme ich auch nicht ungestraft davon, aber das ist dann nur recht und billig. Immerhin wäre ich schuld gewesen, wenn…«

Stefan schüttelte den Kopf. »Es ist aber nichts passiert, und wenn es nach mir geht, muß Wolfgang nicht unbedingt etwas davon erfahren. Niemand wird dir Vorwürfe machen…«

»Das mache ich schon selbst«, fiel Alena ihm ins Wort. »Und ich persönlich werde Wolfgang von dem Vorfall unterrichten.« Sie schwieg einen Moment und sah Stefan dann voller Bewunderung an. »In der Eingangshalle habe ich Jeff getroffen. Er hat mir erzählt, wie du diesen Kaiserschnitt gemacht hast.«

Bescheiden winkte der junge Assistenzarzt ab. »Wenn Jeff nicht gewesen wäre, hätte ich vermutlich gar nicht erst damit angefangen.«

»Doch, Stefan, das hättest du«, mischte sich Dr. Parker ein, der unbemerkt hereingekommen war. »Du bist nämlich viel zu sehr Arzt, als daß du eine Patientin in dieser Situation im Stich gelassen hättest.« Freundschaftlich legte er einen Arm um Stefans Schulter und lächelte ihn an. »Dein Vater kann stolz auf dich sein.«

*

Was Stefan in jener Nacht geleistet hatte, erfuhr Dr. Daniel dann auch schon an seinem Rückreisetag in Steinhausen. Stefan selbst hätte über seine Heldentat sicher Stillschweigen bewahrt, denn es gefiel ihm überhaupt nicht, daß diese Geschichte nun so sehr ins Licht gerückt wurde. Er war viel zu bescheiden, um sich auf das, was er da vollbracht hatte, etwas einzubilden.

Auch die Tatsache, daß Alena für ihre Dienstverletzung gerügt worden war, paßte Stefan überhaupt nicht. Schließlich hatte er sie ja sogar noch gedrängt, zu dieser Geburtstagsfeier zu fahren. Wenn jemand die Schuld daran trug, daß er in jener Nacht allein in der Klinik gewesen war, dann doch er selbst und vielleicht das Gewitter, das die Telefonleitung zum Gröber-Hof beschädigt hatte. Aus diesem Grund waren nämlich auch Dr. Metzler und Dr. Scheibler nicht erreichbar gewesen.

Doch das alles interessierte Dr. Daniel nur am Rande. Was für ihn zählte, war einzig die Tatsache, daß sich sein Sohn in dieser schwierigen Situation bewährt hatte.

»Ich bin stolz auf dich, mein Junge«, erklärte er, und Stefan freute sich über dieses schlichte Lob mehr als über alles andere, was man ihm schon zuvor anerkannt hatte.

»Ich habe versucht, das zu tun, was du in derselben Situation auch getan hättest«, meinte er schlicht. »Und ich glaube, es ist mir ganz gut gelungen. Der kleine Jürgen ist jedenfalls wohlauf, und Dr. Leitner ist sicher, daß er trotz der anfänglichen Atemschwierigkeiten keine Behinderung zurückbehalten wird. Frau Kemmerer hat sich auch schon mindestens tausendmal bei mir bedankt.« Er schwieg kurz. »Sie war ganz geknickt, weil sie wegen des Kaiserschnitts nicht auf Alena und mich gehört hatte.«

Dr. Daniel nickte. »Mit dieser Halsstarrigkeit hat sie sich und vor allem das Baby in große Gefahr gebracht.« Er seufzte. »Aber ich selbst habe ja schon vor meinem Urlaub versucht, sie von der Notwendigkeit eines Kaiserschnitts zu überzeugen, doch das war vergebliche Liebesmüh’. Sie war fast schon besessen von dem Gedanken, ihr Baby normal zur Welt zu bringen.«

Stefan nickte, dann lächelte er. »Wir reden hier nur von mir. Wie war denn eigentlich euer Urlaub? Habt ihr euch gut erholt?«

»Erholt?« fragte Manon schmunzelnd, weil sie Stefans letzte Worte noch gehört hatte. »Das ist wohl nicht das richtige Wort, Stefan. Dein Vater hat natürlich gearbeitet.«

»Du übertreibst!« wehrte Dr. Daniel energisch ab. »Ich habe nur versucht, einem jungen Ehepaar zu helfen und…«

»Stefano!« Tessas glückliches Stimmchen fiel in Dr. Daniels Verteidigungsrede.

Stefan bückte sich und fing die Kleine auf, dann schenkte er ihr ein strahlendes Lächeln.

»Tessa, mein Goldspatz«, begrüßte er sie. »Ich hatte ja schon solche Sehnsucht nach dir.«

Ganz fest schlang die Kleine ihre Ärmchen um Stefans Hals. »Ich auch, Stefano.« Dann strahlte sie wieder über das ganze Gesicht. »Gerade haben mir Mama und Karina mein Zimmer gezeigt. Die schöne Puppe mit dem blonden Haar… ist die vielleicht von dir?«

Stefan nickte. »Gefällt sie dir?«

»Und wie!« bekräftigte Tessa, umarmte Stefan noch einmal voller Innigkeit und wollte dann wieder auf den Boden zurück. Hier in der Villa gab es ja noch so viel zu schauen und zu entdecken!

»Da kommt jetzt Leben in unser Haus«, meinte Stefan, als er dem eilig davonwieselnden Mädchen nachschaute.

»Worauf du dich verlassen kannst«, stimmte Dr. Daniel zu, doch sein glückliches Lächeln bewies, wie sehr er sich schon darauf freute.

*

Mit sehr gemischten Gefühlen kamen Chiara und Elio Sandrini nach München. Das fremde Land und die Tatsache, daß sich Chiara hier einer komplizierten Operation unterziehen mußte, verunsicherten Elio sehr, während die junge Frau ihre Angst noch immer nicht ganz überwunden hatte. Nach wie vor war sie nicht sicher, ob sie Elio letzten Endes nicht doch verlieren würde, wenn die Operation nicht den gewünschten Erfolg bringen würde.

Wie versprochen holte Dr. Daniel die Sandrinis vom Flughafen ab und brachte sie persönlich in die Klinik seines besten Freundes Dr. Georg Sommer. Dieser war dann auch schon darüber informiert, worum es bei Chiara ging. Auch die Röntgenbilder kannte er, und die Aufnahmen bereiteten ihm gewisse Kopfzerbrechen.

»Ich will ganz offen sein«, meinte er, als er vor Chiara, Elio und Dr. Daniel dargelegt hatte, wie er bei dem Eingriff vorgehen würde. »Eine Garantie kann ich nicht geben. Die Verwachsungen sind leider ziemlich ausgeprägt, und ich bin auch nur ein Arzt.«

»Aber einer der besten auf diesem Gebiet«, warf Dr. Daniel dazwischen.

Dr. Sommer schwieg dazu. Er ließ sich nicht gern als Genie hinstellen, weil er das seiner Meinung nach gar nicht war. Er tat für seine Patienten, was er konnte, aber manchmal war eben auch er machtlos.

»Ich werde mir jedenfalls die größte Mühe geben«, versprach er.

Mit ängstlichem Blick sah Chiara ihn an. »Ist es denn… völlig aussichtslos?«

»Nein, Signora Sandrini«, antwortete Dr. Sommer wahrheitsgemäß. »Wenn es aussichtslos wäre, dann würde ich überhaupt nicht operieren.« Er zögerte, dann räumte er ein: »Ich will auch zugeben, daß ich schon ein paarmal so schwere Fälle wie bei Ihnen erfolgreich operiert habe, aber wie gesagt – eine Garantie kann ich Ihnen nicht geben.«

Chiara wurde nach diesem Gespräch gleich stationär in der Klinik aufgenommen, während Dr. Daniel ihrem jungen Ehemann anbot, bei ihm in Steinhausen zu bleiben, bis Chiara wieder entlassen werden würde. Elio nahm das Angebot dankend an, blieb an diesem Abend aber noch sehr lange bei seiner Frau.

»Ich bin sicher, daß dieser Dottore Sommer dir helfen kann«, erklärte er, während er liebevoll ihre Hand hielt. »Hast du Vertrauen zu ihm?«

Chiara zögerte, dann nickte sie. »Ja, ich denke schon…, wenn auch nicht so viel wie zu Dottore Daniel.« Sie seufzte leise. »Wenn nur er die Operation machen könnte.«

»Er wird immerhin dabeisein.«

Chiara und Elio erschraken zutiefst, als von der Tür her die tiefe Stimme von Dr. Sommer erklang. Seine zwar spärlichen, aber doch vorhandenen Italienisch-Kenntnisse hatten es ihm erlaubt, Chiaras Worte zu verstehen. Jetzt trat er an ihr Bett und lächelte sie freundlich an.

»Es tut mir leid, Herr Doktor«, entschuldigte sich Chiara und wurde dabei über und über rot. »Sie müssen mich ja für sehr undankbar halten…«

»Nein, Signora Sandrini, ich halte Sie ganz bestimmt nicht für undankbar.« Er setzte sich ohne große Umstände auf die Bettkante. »Dr. Daniel ist seit vielen Jahren mein bester Freund, daher weiß ich, wie beliebt er bei seinen zahlreichen Patientinnen ist. Das kommt auch nicht von ungefähr, denn er ist nicht nur ein ausgezeichneter Arzt, sondern auch ein sehr warmherziger Mensch, zu dem man einfach Vertrauen haben muß.« Er lächelte. »Wissen Sie, ich habe schon bei dem Gespräch vorhin bemerkt, wie Sie zu Dr. Daniel stehen, deshalb habe ich ihm vorgeschlagen, daß er bei dem Eingriff zugegen sein soll. Er wird neben Dr. Kastner, den Sie heute ja auch schon kennengelernt haben, die zweite Assistenz übernehmen.«

Chiara brachte ein kurzes Lächeln zustande. »Vielleicht wird doch noch alles gut.«

*

Am nächsten Morgen wartete Chiara nervös und angespannt darauf, daß sie in den Operationssaal gefahren würde. Vor einer Stunde hatte sie bereits eine Tablette bekommen, die sie unter der Zunge hatte zergehen lassen müssen, und nun sollte sie eigentlich müde werden, doch ihre Nervosität stand dem anscheinend entgegen.

Dann wurde sie von zwei Pflegern in den Operationssaal hinuntergefahren, und hier erwartete Dr. Sommer sie schon. Er trug einen Mundschutz, und so erkannte sie ihn nur an den wachen blauen Augen, denen wohl nichts verborgen blieb, wie sie unwillkürlich denken mußte.

»Herr Doktor«, stieß sie ängstlich hervor. »Wenn ich nicht einschlafen kann, dann…, dann können Sie mich doch auch nicht operieren.«

Dr. Sommer lächelte, was nur an den kleinen Fältchen zu erkennen war, die sich um seine Augen bildeten.

»Keine Sorge, Signora San-drini, bis jetzt ist noch jeder meiner Patienten eingeschlafen, und ich bin sicher, daß auch Sie da keine Ausnahme machen werden.«

»Ich sollte auf die Tablette hin müde werden, aber das bin ich überhaupt nicht.«

»Das kommt noch«, versprach Dr. Sommer. »Unser Anästhesist wird Ihnen jetzt gleich ein Medikament in die Infusionskanüle spritzen, die man Ihnen vorhin gelegt hat, und dann werden Sie rasch einschlafen.«

Damit hatte Dr. Sommer nicht zuviel versprochen. Chiara sah nur noch, wie der Anästhesist die Spritze auf die Infusionskanüle steckte und den Inhalt so direkt in die Vene preßte. Nahezu im selben Moment hatte die Narkose ihre Wirkung erfüllt.

»Dann wollen wir mal«, meinte Dr. Sommer und trat an den Operationstisch.

»Tubus ist drin«, meldete sich der Anästhesist.

Dr. Sommer nickte, dann schaute er durch das spezielle Mikroskop auf die Operationsstelle und führte mit routinierter Sicherheit den Bauchschnitt. Dr. Kastner, der bei derartigen Operationen grundsätzlich die erste Assistenz übernahm, konnte auf der gegenüberliegenden Seite durch das Mikroskop sehen, während Dr. Daniel neben ihm das Operationsfeld über-blicken konnte.

»Meine Güte«, stieß Dr. Sommer hervor, als er einen ersten Blick auf die Eileiterverwachsungen werfen konnte.

Auch Dr. Daniel hielt unwillkürlich den Atem an. So schlimm hatte es nicht einmal auf den Röntgenbildern ausgesehen.

»Das ist ja aussichtslos«, meinte Dr. Kastner. »Die arme Frau wird nie Kinder haben können.«

Doch damit wollte sich Dr. Sommer jetzt nicht so einfach zufriedengeben.

»Wir versuchen es«, beschloß er. »Mehr als schiefgehen kann es ja nicht.« Er bemerkte, wie Dr. Daniel aufatmete, und warf ihm einen kurzen Blick zu. »Du kennst mich doch, Robert. Ich gebe erst auf, wenn ich überhaupt keine Chance mehr sehe.«

»Siehst du hier denn eine?«

Dr. Sommer zögerte mit der Antwort. Angestrengt blickte er durch das Mikroskop. Es schien wirklich fast aussichtslos zu sein.

»Sagen wir mal so…, ich möchte mir diese Chance erarbeiten.«

Dann vertiefte er sich in seine Arbeit, die nach mehrstündiger Operation schließlich tatsächlich von Erfolg gekrönt war.

»Du bist wirklich ein Phänomen«, urteilte Dr. Daniel neidlos.

Dr. Sommer errötete.

»Ach was«, wehrte er bescheiden ab. »Wie ich vorhin schon sagte…, ich gebe nur nicht so schnell auf.«

*

»Ich kann wirklich ein Baby bekommen?«

Zum ersten Mal, seit Dr. Daniel die junge Frau kennengelernt hatte, strahlte Chiara Sandrini über das ganze Gesicht, dann umarmte sie zuerst Dr. Daniel, dann Dr. Sommer und schließlich ihren Mann.

»Wir werden ein Baby haben, Elio.«

»Langsam, kleine Frau«, bremste Dr. Sommer ihren Optimismus noch ein wenig. »In ihrem Körper bestehen jetzt die besten Voraussetzungen dafür, aber das, was Dr. Daniel Ihnen auf Sardinien gesagt hat, dürfen Sie dennoch nicht außer acht lassen. Möglicherweise dauert es noch eine ganze Weile, bis Ihr normaler Zyklus wieder in Gang kommt. Laden Sie sich dann keinen unnötigen Streß auf, indem Sie voller Verbissenheit versuchen, schwanger zu werden.«

»Sie und Elio müssen die Vorwürfe Ihrer Eltern und Schwiegereltern versuchen zu vergessen«, fügte Dr. Daniel hinzu. »Sie können ein Baby haben, das allein muß für Sie jetzt wichtig sein. Wann es passieren wird, ist völlig egal. Gehen Sie entspannt und vor allen Dingen voller Liebe an diese Sache heran. Ein Baby zu zeugen, soll ja keine Pflichtübung sein. Vertrauen Sie ganz Ihrem Körper. Er bestimmt, wann der Zeitpunkt für eine Schwangerschaft gekommen ist, und lassen Sie sich darin von nichts und niemandem verunsichern.«

Chiara nickte. »Ich werde es versuchen, Herr Doktor, das verspreche ich Ihnen.«

*

Es war ein lauer Herbst-abend, den Dr. Daniel mit seiner Frau Manon und der kleinen Tessa auf dem Balkon genoß. Tessa hatte von ihrem großen Bruder ein Puzzle bekommen, mit dem sie sich eifrig beschäftigte.

»Ich befürchte, Stefan verwöhnt dich ein bißchen zu sehr«, meinte Dr. Daniel, doch seiner Stimme war anzuhören, daß er darüber bestimmt nicht böse war. »Mindestens einmal pro Woche bringt er dir etwas mit.«

Tessa war so vertieft in das Puzzle, daß sie gar nicht hörte, was ihr Vater sagte. Doch Manon nickte.

»Ich habe schon mit ihm geschimpft«, erklärte sie. »Aber mit seinem unwiderstehlichen Lächeln hat er gesagt, es würde ihm eben Spaß machen, Tessa mit solchen Kleinigkeiten zu verwöhnen.« Sie mußte lachen. »Was sollte ich darauf noch erwidern?«

»Gar nichts«, meinte Dr. Daniel amüsiert. »Ich kenne meinen Sohn schließlich und weiß, wie gut er argumentieren kann – vor allem, wenn er dabei lächelt. Damit hat er mich schon immer herumgekriegt, als er noch ein kleiner Junge war.«

»Glaub’ ihm kein Wort«, mischte sich Stefan ein. »Gerade mit mir konnte Papa immer gnadenlos streng sein.«

»Genauso schaust du auch aus«, meinte Manon schmunzelnd.

»Ich glaube, wir sollten dieses Thema nicht weiter vertiefen«, lenkte Stefan nun verschmitzt ab, dann reichte er seinem Vater ein Kuvert. »Für dich, Papa. Aus Sardinien.«

Dr. Daniel mußte gar nicht auf den Absender sehen, um zu erkennen, von wem dieser Brief kam. Rasch riß er das Kuvert auf und überflog die Zeilen, dann sah er Manon lächelnd an.

»Chiara Sandrini ist schwanger. Im Frühsommer wird sie ihr erstes Baby zur Welt bringen.«

»Das ist schön«, urteilte Manon. »Dann werden wir ihr Baby bei unserem nächsten Urlaub ja schon bewundern können.« Sie beugte sich zu ihrem Mann und küßte ihn. »Und du hast wieder einmal einen Fall zur vollsten Zufriedenheit gelöst.«

Dr. Daniel nickte. »Ja, ich freue mich sehr für die beiden. Es ist immer wieder…«

»Robert!« rief seine Schwester Irene in diesem Moment aus dem Wohnzimmer. »Anruf aus der Waldsee-Klinik! Eine Frau mir Unterleibsblutungen ist gerade eingeliefert worden!«

Ohne zu zögern stand Dr. Daniel auf. »Ihr entschuldigt mich, aber ich werde gebraucht.«

Manon sah ihm nach, dann seufzte sie leise. »Schade. Gerade jetzt wäre es so schön gemütlich geworden.«

»Das Schicksal einer Arztfrau«, urteilte Stefan. »Vor allem, wenn ihr Mann so pflichtbewußt ist wie mein Vater.«

Doch da lächelte Manon. »Ich bin doch froh, daß er so ist. Das ist ja einer von vielen Gründen, weshalb ich ihn so sehr liebe…«

– E N D E –

Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman

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