Читать книгу Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman - Marie-Francoise - Страница 24

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Im Laufschritt betrat Dr. Ro-bert Daniel die Steinhausener Waldsee-Klinik. Der alarmierende Anruf von hier hatte ihn vor fünf Minuten in seiner Praxis erreicht – gerade als er geglaubt hatte, ihm wäre endlich einmal eine kleinere Atempause vergönnt.

»Robert, Gott sei Dank«, stieß die junge Gynäkologin Dr. Alena Reintaler hervor, als Dr. Daniel die Notaufnahme betrat. »Die Patientin wurde mit Schockzustand hier eingeliefert.«

»Ich weiß«, antwortete Dr. Daniel knapp. »Zuvor klagte sie angeblich über Unterleibsschmerzen.«

Alena nickte, während sie Puls und Blutdruck kontrollierte. »Der junge Sanitäter, der Frau Kortenhagen hergebracht hat, konnte noch kurz mit ihr sprechen. Blutdruck liegt jetzt bei 100 zu 60, Puls 120.«

Dr. Daniel nickte, dann legte er rasch und geschickt einen Zugang am Handgelenk der Patientin und schloß die Infusion an.

»Kontrollieren Sie weiterhin Blutdruck und Puls«, ordnete er an. »Und sagen Sie sofort Bescheid, wenn der Blutdruck noch weiter absacken sollte.«

Währenddessen begann Dr. Daniel schon mit einer ersten Untersuchung.

»Blutdruck steigt wieder, und der Puls ist auf 100 abgefallen«, meldete sich Alena, dann warf sie der Patientin einen raschen Blick zu. »Sie kommt allmählich zu sich.«

Dr. Daniel ging um die Untersuchungsliege herum und wartete neben der Patientin, bis sie die Augen aufschlug, dann griff er sanft nach ihrer Hand.

»Nicole, nicht erschrecken«, bat er mit ruhiger Stimme. »Du bist in der Waldsee-Klinik, und außer mir ist nur Frau Dr. Reintaler im Raum.«

Langsam wandte die junge Frau den Kopf. »Herr Doktor, ich hatte auf einmal so schreckliche Schmerzen.« Eine kaum sichtbare Röte huschte über ihr Gesicht. »Das stimmt eigentlich nicht so ganz. Die Unterleibsbeschwerden habe ich schon seit einiger Zeit, und wahrscheinlich hätte ich deswegen längst zu Ihnen kommen sollen.«

»Das ist richtig, Nicole«, bemerkte Dr. Daniel, dann berührte er ihr Gesicht. »Aber keine Sorge, wir kriegen das auch so wieder hin. Es wird vermutlich nur ein wenig länger dauern, als wenn du gleich zu mir gekommen wärst. Die erste Untersuchung hat ergeben, daß du allem Anschein nach an einer akuten Peritonitis – einer Bauchfellentzündung leidest. Die Ursache dafür muß ich erst noch herausfinden.«

Nicole erschrak. »Ist das schlimm? Ich meine… diese Entzündung?«

»Ungefährlich ist eine Bauchfellentzündung nie, aber mit Antibiotika-Infusionen werden wir sie rasch in den Griff bekommen. Wichtig ist vorerst nur, daß wir die Ursache dafür herausfinden.« Er ließ Nicoles Hand los. »Du mußt nicht erschrecken. Ich taste jetzt nur deinen Bauch ab.« Er bemerkte den verständnislosen Blick von Alena Reintaler und bedeutete ihr, draußen auf ihn zu warten.

»Der Blinddarm ist schon draußen«, stellte Dr. Daniel fest, als er die kleine, kaum noch sichtbare Narbe entdeckte.

»Ja, Herr Doktor, da war ich erst zwei oder drei Jahre alt«, antwortete Nicole.

»Versuche, dich zu entspannen, Nicole«, bat Dr. Daniel. »Ich lege deine Beine jetzt in spezielle, etwas hochgestellte Bügel, und dann muß ich eine gynäkologische Untersuchung vornehmen. Es könnte sein, daß dir das ein bißchen weh tun wird, falls eine Eileiterentzündung die Ursache für die Peritonitis sein sollte. Ich werde aber in jedem Fall sehr vorsichtig sein.«

Dr. Daniel untersuchte zuerst den Gebärmutterhals, nahm einen Abstrich und streifte sich dann dünne Plastikhandschuhe über. Als er Gebärmutter und Eierstöcke abtastete, zuckte Nicole zusammen.

»Das tut ganz schrecklich weh, Herr Doktor«, erklärte sie.

»Ich bin schon fertig, Nicole«, entgegnete er beruhigend. »Jetzt werde ich dir nicht mehr weh tun. Wie ich schon vermutet habe, hast du dir eine schwere Eileiterentzündung zugezogen, und die ist auch die Ursache für die Peritonitis.« Er streichelte über das halblange blonde Haar der jungen Frau. »Ich bringe dich auf die Station, und dann bekommst du Antibiotika gegen die Entzündungen in deinem Körper. Du wirst sehen, daß es dir bald wieder bessergehen wird.«

Nicole tastete nach Dr. Daniels Hand, dann lächelte sie ihn an. »Vielen Dank, Herr Doktor. Ich bin so froh, daß Sie sich um mich kümmern.«

»Das ist doch selbstverständlich. Immerhin kennen wir uns ja schon seit vielen Jahren, nicht wahr?«

Nicole nickte. »Ich war noch ein ganz kleines Mädchen, als ich mit Mutti zum ersten Mal in Ihre Praxis gekommen bin. Sie haben mir damals Gummibärchen geschenkt.«

Dr. Daniel lachte. »Daran erinnerst du dich noch?« Ohne viele Umstände nahm er Nicole auf die Arme und legte sie dann in das fahrbare Krankenbett, das die Stationsschwester der Gynäkologie schon bereitgestellt hatte. »Du bist immer noch so ein Federgewicht wie früher.«

»Nein, Herr Doktor, Sie sind so stark«, entgegnete Nicole lächelnd.

»Danke für das Kompliment«, meinte Dr. Daniel, dann schob er das Bett aus der Notaufnahme zum Lift, fuhr ins erste Stockwerk und brachte Nicole schließlich in ein ruhiges Einzelzimmer.

»Das Fenster geht zum Park hinaus«, erklärte er. »Soll ich es für ein paar Minuten aufmachen und ein bißchen frische Luft hereinlassen?«

Nicole nickte eifrig. »Das wäre schön.« Sie schwieg einen Moment. »Herr Doktor, wenn es mir bessergeht, darf ich dann in den Park hinuntergehen?«

»Natürlich, Nicole«, stimmte Dr. Daniel zu. »Aber zuerst mußt du mal strikte Bettruhe halten.« Er nahm die Infusion ab, hängte eine andere Flasche auf und regelte die Tropfgeschwindigkeit. »Es kann sein, daß dir auf die Antibiotika-Infusion ein bißchen übel wird.«

»Das ist egal«, behauptete Nicole. »Wenn nur die Schmerzen wieder vergehen.«

»Ganz bestimmt«, versicherte Dr. Daniel. »In zwei, drei Tagen wirst du dich schon besserfühlen.« Er griff nach Nicoles Hand und drückte sie sanft. »Ich muß jetzt in die Praxis zurück, aber nach der Sprechstunde komme ich noch einmal her.«

Er verließ das Zimmer und traf draußen mit Alena Reintaler zusammen.

»Ist mit Frau Kortenhagen etwas nicht in Ordnung?« fragte sie. »Ich meine… weil Sie jeden Handgriff so ganz genau erklärt haben.«

Dr. Daniel nickte. »Nicole ist blind.«

Alena erschrack sichtlich. »O mein Gott, das ist ja furchtbar. Sie ist doch noch so jung…« Einen Moment lang schwieg sie betroffen, dann erkundigte sie sich. »Ein Unfall?«

»Nein, sie ist von Geburt an blind gewesen, und dabei hatte sie genau genommen sogar noch Glück«, entgegnete Dr. Daniel. »Ihre Mutter litt an einem Herpes genitalis, als Nicole geboren wurde. Unglücklicherweise wurde das in der Entbindungsklinik übersehen. Das hat Nicole das Augenlicht gekostet, aber wenn man bedenkt, daß sie durch die Krankheit ihrer Mutter ebensogut eine schwere geistige Behinderung hätte davontragen können, hat sie eigentlich noch Glück im Unglück gehabt.«

Alena nickte. »So gesehen ja. Trotzdem ist die Blindheit eine ganz fürchterliche Krankheit. Ein junger Mensch, der nie die Sonne sehen wird… Sie wird niemals wissen, wie bunte Blumen aussehen…« Erschüttert schwieg sie, dann sah sie Dr. Daniel an. »Wurde denn nie versucht, ihr mit einer Operation zu helfen?«

»Nicoles Eltern waren bei den besten Augenchirurgen der Welt, aber es ist aussichtslos. Nicole ist blind, und sie wird es bis an ihr Lebensende bleiben.«

»Das ist ja schrecklich«, flüsterte Alena.

»Ich weiß nicht, ob sie es so empfindet«, erwiderte Dr. Daniel. »Wissen Sie, Alena, Nicole ist mit dieser Behinderung groß geworden. Ich kenne sie ja schon seit vielen Jahren, sie war immer ein ganz normales, fröhliches Kind. Inzwischen ist sie vierundzwanzig, hat einen Beruf als Lehrerin an einer Blindenschule und lebt in ihrer eigenen Wohnung. Sie ist sehr selbständig, und ich wage zu behaupten, daß sie auch glücklich ist.«

»So etwas ist für mich nur schwer vorstellbar«, gab Alena offen zu. »Aber wahrscheinlich haben Sie recht. Als sie vorhin lachte, das klang…« Sie zuckte die Schultern. »Es klang wie bei jedem anderen jungen Mädchen auch.«

Dr. Daniel lächelte. »Warten Sie nur ab, Alena, wenn es Nicole erst wieder bessergeht… wenn ihre Entzündung abgeklungen ist. Sie wird auf eigene Faust den Klinikpark erforschen, und ich denke, sie wird uns alle auch noch mit ganz anderen Sachen überraschen.«

*

Die Antibiotika-Infusionen wirkten rasch, und auch die von Dr. Daniel angekündigte Übelkeit hielt sich bei Nicole in Grenzen, so daß sie bereits an ihrem dritten Tag in der Waldsee-Klinik Lust auf einen Spaziergang verspürte.

»Na, Frau Kortenhagen, Sie haben aber einen gesegneten Appetit«, stellte Schwester Bianca fest, als sie kam, um das Geschirr abzuräumen.

Nicole lächelte. »Das Essen hier ist so gut, und vor allen Dingen muß ich es nicht selber kochen.« Sie seufzte leise. »Wissen Sie, Schwester Bianca, manchmal ist es furchtbar langweilig, für sich allein zu kochen.«

»Das glaube ich gern«, stimmte die junge Stationsschwester zu. »Als ich noch allein in meiner kleinen Wohnung lebte, ging es mir auch oft so. Aber jetzt habe ich Gesellschaft bekommen. Unsere Krankenpflegehelferin Darinka ist vor etlichen Monaten zu mir gezogen, und wir haben oft viel Spaß miteinander.«

»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Nicole. »Ich wollte meine Freundin aus der Blindenschule auch schon mal überreden, zu mir zu ziehen, aber noch hat sie nicht den Mut aufgebracht, ihr Elternhaus zu verlassen.«

Spontan setzte sich Bianca zu Nicole ans Bett. »Dazu gehört auch Mut. Ich weiß noch, wie einsam ich mich in der ersten Zeit gefühlt habe, und wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, wäre ich vielleicht sogar wieder nach Hause zurückgegangen.«

Nicole nickte. »Ja, die erste Zeit war für mich auch sehr schwer, doch jetzt möchte ich meine Selbständigkeit nicht mehr missen – auch wenn das Alleinsein nicht immer ganz einfach ist.« Mit einer raschen Handbewegung befühlte sie ihre Armbanduhr. »Schon gleich eins. Das bedeutet, daß meine Infusion bald durch sein müßte.«

Offene Bewunderung lag auf Biancas Gesicht. Es war für sie einfach unvorstellbar, wie man als Blinde so eigenständig und selbstbewußt sein konnte.

»Schwester Bianca, ich würde so gern einen kleinen Spaziergang machen«, fuhr Nicole fort. »Glauben Sie, daß ich das schon darf?«

»Natürlich darfst du«, erklang in diesem Moment Dr. Daniels Stimme von der Tür her. »Allerdings warne ich dich. Es ist bitter kalt draußen. Das heißt für dich, warm anziehen, und mehr als eine Viertelstunde ist auch nicht erlaubt.«

»Jawohl, Herr Doktor«, erklärte Nicole und legte dabei übermütig die flache Hand an die Stirn, als würde sie salutieren.

Dr. Daniel schmunzelte. »Mir scheint, dir geht’s schon wieder ganz hervorragend.«

»Die Schmerzen sind fast weg«, antwortete Nicole. »Diese Antibiotika sind die reinsten Wundermittel.«

»Richtig angewandt schon«, stimmte Dr. Daniel zu. »Leider lassen sich manche Ärzte immer wieder dazu verführen, auch bei harmlosen Erkältungskrankheiten Antibiotika zu verschreiben, und das ist dann der blanke Unsinn. Bei Virusinfektionen und vor allem auch bei Fieber sind Antibiotika nämlich völlig wirkungslos. Aber das nur nebenbei.« Er setzte sich neben Nicole auf das Bett und ergriff ihre Hand. »Auch wenn es dir gutgeht, kommen wir um eine Untersuchung nicht herum, und ich sage dir gleich, daß dir das noch immer ein bißchen weh tun wird.«

»Wenn ich Sie nicht so gern hätte, müßte ich Ihnen jetzt fast böse sein«, meinte Nicole. »Es ist unfair, mir gerade jetzt, wo ich mich schon richtig wohl fühle, mit einer schmerzhaften Untersuchung zu drohen.«

Dr. Daniel stupste sie scherzhaft an der Nase. »Ich drohe nicht nur, ich mache meine Drohung auch wahr. Nein, im Ernst, Nicole, ich werde ganz vorsichtig sein, und es wird auch sicher nicht so weh tun wie vor drei Tagen, als du in die Klinik eingeliefert wurdest.«

»Ich weiß, daß Sie nur Ihre Pflicht tun, Herr Doktor«, erklärte Nicole, dann stand sie auf, griff zielsicher nach ihrem Morgenmantel und verließ an Dr. Daniels Seite ihr Zimmer.

»Du kennst dich hier ja schon bestens aus«, stellte Dr. Daniel fest.

Nicole nickte lächelnd. »Ich habe mich gleich am ersten Tag von Bianca herumführen lassen.« Sie errötete. »Nicht schimpfen, Herr Doktor. Ich weiß schon, daß ich da noch gar nicht hätte aufstehen dürfen, aber ich hasse es, mich tastend vorwärtszubewegen. Ich will ein gewisses Maß an Sicherheit haben, und dazu ist es nötig, daß ich mich rasch mit meiner Umgebung vertraut mache.«

»Ich habe nicht vor zu schimpfen«, entgegnete Dr. Daniel und mußte dabei wieder lächeln. Es imponierte ihm, wie gut sich Nicole in ihrem Leben zurechtfand. »Wer darf dich denn heute in den Park begleiten?«

Wieder errötete Nicole ein wenig. »Eine Begleitung ist nicht nötig, Herr Doktor. Ich werde nur einen ganz kurzen Weg gehen, und den kenne ich bereits.«

»Meine liebe Nicole, jetzt wird es aber allmählich kriminell«, tadelte Dr. Daniel. »Ich habe dir die Bettruhe nicht zum Spaß verordnet. Es ist ganz okay, wenn du dich in deinem Zimmer und hier auf dem Flur hast herumführen lassen, aber wer immer dich in den Park begleitet hat, wird von mir eine gehörige Abreibung bekommen. Die Ärzte und Schwestern der Klinik wußten genau…«

»Bitte, Herr Doktor, nicht böse sein«, bat Nicole und streichelte besänftigend über seine Hand, mit der er sie jetzt ins Untersuchungszimmer führte. »Ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen keinen Kummer mehr machen werde.« Sie lächelte. »Im übrigen muß ich Ihnen leider sagen, daß ich nicht verraten werde, wer mich in den Park geführt hat. Ich kann es nämlich nicht verantworten, daß jemand meinetwegen auch noch ausgeschimpft wird.«

Dr. Daniel seufzte. »Du hast es faustdick hinter den Ohren, weißt du das?«

Sie nickte grinsend. »Es wurde mir gelegentlich schon gesagt.«

»Also, nun mach dich frei«, verlangte Dr. Daniel, konnte dabei ein Lächeln aber nicht unterdrücken, was Nicole an seiner Stimme hörte.

»Sie sind mir nicht mehr böse«, stellte sie fest. »Das freut mich.» Sie zog ihre Pyjamahose aus und ließ sich von Dr. Daniel auf den Gynäkologischen Stuhl helfen.

Das Abtasten der Eierstöcke verursachte Nicole noch immer leichte Schmerzen, doch Dr. Daniel behielt recht – so schlimm wie am ersten Tag war die Untersuchung bei weitem nicht.

»Ich bin sehr zufrieden mit dir«, erklärte Dr. Daniel, dann lächelte er wieder. »Auch wenn du es mit dem Gehorchen nicht so genau nimmst.«

Nicole grinste schelmisch. »In Zukunft werde ich dafür ganz brav sein.«

Dr. Daniel lachte. »Und das soll ich dir glauben?« Er legte einen Arm väterlich um ihre schmalen Schultern und begleitete sie wieder in ihr Zimmer. »Also, Nicole, du kannst jetzt für eine Viertelstunde in den Park, aber bitte wirklich nicht länger, ja?«

»Ehrenwort, Herr Doktor«, versprach Nicole, zögerte kurz und fragte dann: »Wenn ich schon fast gesund bin… heißt das, ich kann bald wieder nach Hause?«

»Du bist noch nicht fast gesund«, stellte Dr. Daniel richtig. »Die Entzündung ist immer noch da, wie du bei der Untersuchung vorhin feststellen konntest. Eine Woche mußt du mindestens noch hierbleiben, eher zehn Tage.«

Nicole seufzte. »Dieses Herumliegen gefällt mir gar nicht. Könnte ich mich denn nicht ein bißchen nützlich machen?«

Jetzt war es Dr. Daniel, der einen tiefen Seufzer ausstieß. »Du hast dich wirklich nicht verändert. Schon als Kind hattest du immer Ameisen in der Hose, wie man so schön sagt. Vielleicht erinnerst du dich noch daran, daß du vor drei Tagen mit einem Schock hier eingeliefert worden bist. Nicole, ich habe nichts dagegen, wenn du nachmittags ab und zu ein bißchen im Park spazierengehst, aber ansonsten solltest du wirklich im Bett bleiben – auch wenn es dir schwerfällt.«

»Ja, Herr Doktor«, stimmte Nicole gehorsam zu, doch Dr. Daniel befürchtete schon jetzt, daß sie sich nicht lange daran halten würde. Nicole war keine Faulenzerin, und wenn sie sich fast gesund fühlte, dann war es ihr beinahe peinlich, sich ins Bett zu legen und von den Schwestern bedienen zu lassen.

»Du mußt dir darüber keine Gedanken machen, Nicole«, meinte Dr. Daniel. »Du bist krank, auch wenn du es nicht mehr so recht wahrhaben willst, da ist es wirklich kein Luxus, wenn du von den Schwestern ein bißchen verwöhnt wirst.«

Nicole zuckte die Schultern. »Möglich. Aber wissen Sie, so krank fühle ich mich eben jetzt nicht mehr.« Dann lächelte sie. »Und nun werde ich erst mal ein bißchen spazierengehen.«

Kaum in ihrem Zimmer angekommen, holte sie ihre warme Thermohose aus dem Schrank und zog den Anorak an, bevor sie nach ihrem weißen Stock griff und den Raum verließ. So sicher, als könnte sie sehen, ging sie zur Treppe und verließ schließlich durch den rückwärtigen Ausgang die Klinik. Schneeflocken stoben ihr ins Gesicht, und Nicole hielt ihr Gesicht lachend der kalten weißen Pracht entgegen. Sie liebte es, wenn die kalten Flocken ihre Haut berührten.

Vor lauter Freude über den unerwarteten Schnee vergaß Nicole völlig, daß sich der Weg, den Bianca ihr vor zwei Tagen gezeigt hatte, nun völlig verändert hatte. Sie war schon eine Weile gegangen, als sie plötzlich merkte, daß sie nicht mehr im Schnee stand. Dem herben Duft nach mußte sie inzwischen den Wald erreicht haben.

Nicole bückte sich und berührte den Boden. Er war hartgefroren, und vereinzelte Schneeflocken hatten den Weg durch die dichten Äste gefunden, doch Nicole ertastete auch Steine – ein deutliches Zeichen, daß sie nicht mehr weit vom Waldsee entfernt sein konnte. Kurz vor der Uferböschung lagen viele Steine herum.

Nicole erhob sich wieder, machte kehrt und ging den Weg zurück, den sie gekommen war – zumindest glaubte sie das. Erst als sie den Wind fühlte, wußte sie, daß sie falsch gegangen war. Zuerst hatte sie den Wind im Rücken gehabt, jetzt kam er von der Seite. Wäre sie richtig gewesen, hätte er sie von vorne treffen müssen. Nicole wandte sich halb um und ging nun dem Wind entgegen.

Plötzlich hörte sie Schritte im Schnee. Sie wandte sich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.

»Hallo! Können Sie mir bitte helfen?« fragte sie.

»Frau Kortenhagen.«

Die männliche Stimme klang erstaunt, und Nicole wußte, daß sie diese Stimme schon einmal gehört hatte, doch im ersten Moment konnte sie sie nicht einordnen.

»Sie kennen mich?«

»Natürlich«, entgegnete der Mann. »Ich habe Sie doch schließlich in die Klinik gebracht. Mit meinem Kollegen natürlich«, fügte er rasch hinzu.

Plötzlich konnte sich Nicole erinnern. Das war der nette Sanitäter, der sich im Krankenwagen um sie gekümmert hatte, bevor sie ohnmächtig geworden war. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht.

»Wie schön, daß ich Sie hier treffe«, erklärte sie. »Da kann ich mich gleich bei Ihnen bedanken. Sie haben sich so rührend um mich bemüht.«

»Das war doch selbstverständlich«, betonte der Sanitäter, dann kam er näher. »Und wie kann ich Ihnen jetzt helfen? Haben Sie sich verletzt?«

Nicole schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Es ist nur… ich habe mich verlaufen, und nun finde ich nicht mehr zur Klinik zurück.«

Der Sanitäter schwieg einen Moment, und fast glaubte Nicole seine Verständnislosigkeit zu spüren. Anscheinend hatte er noch nicht bemerkt, daß sie blind war.

»Die Klinik ist doch deutlich zu sehen«, erklärte er da auch schon.

»Für mich leider nicht«, entgegnete sie und wies ihren Stock vor.

»Meine Güte, das tut mir leid.« Die Stimme des Mannes klang plötzlich sehr unsicher. Trotzdem war es für Nicole immer noch eine äußerst anziehende Stimme – weich und tief, ein angenehmer Bariton.

»Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen«, meinte Nicole lächelnd, dann tastete sie mit einer raschen Bewegung nach ihrer Uhr. »Meine Güte, schon so spät. Dr. Daniel hatte mir eigentlich nur eine Viertelstunde zugebilligt, und nun bin ich schon mehr als eine Stunde unterwegs.«

»Dann sollten wir uns aber beeilen«, meinte der Sanitäter. »Es wundert mich ohnehin, daß Sie schon aufstehen dürfen. Immerhin hatten sie vor drei Tagen einen massiven Schock.«

Dabei nahm er Nicole mit sanftem Griff am Arm. Es war eine feingliedrige Hand, die sie spürte, und sie wußte, daß sie einem jungen Mann gehören mußte. Die Haut war glatt und weich.

»Wie kommt es überhaupt, daß man Sie allein hier spazierengehen läßt?« erkundigte er sich. »Ich schätze Dr. Daniel sehr, aber in diesem Punkt halte ich ihn doch für recht verantwortungslos.«

Da lachte Nicole. »Ich bin nicht so unselbständig, wie Sie anscheinend glauben. Schwester Bianca hat mich vorgestern mit dem Weg vertraut gemacht. Allerdings lag da noch kein Schnee, und überdies habe ich den Fehler begangen, mich zu sehr über die weiße Pracht zu freuen, anstatt mich auf den Weg zu konzentrieren. Plötzlich war ich irgendwo im Wald, vermutlich in der Nähe des Sees und hatte die Orientierung verloren. Das kommt selten vor, aber es passiert eben doch mal.«

»Sie scheinen trotz Ihrer… Behinderung sehr selbständig zu sein.«

»Stimmt«, bekräftigte Nicole. »Und ich bin stolz darauf.«

»Das können Sie auch sein.«

Nicole spürte eine Bewegung und vermutete, daß er sie jetzt anschaute.

»Sie sehen sehr glücklich aus.« Die Worte kamen so, als wäre der Mann erstaunt über diese Feststellung.

Nicole hob den Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme kam. »Ich bin auch glücklich, das heißt… im Moment sehne ich mich nach Hause zurück. Ich fühle mich nämlich fast schon gesund, und da widerstrebt es mir, mich von den Schwestern so bedienen zu lassen, aber Dr. Daniel meint, mit einer Entzündung wäre nicht zu spaßen, und ich müßte mindestens noch eine Woche hierbleiben.« Sie seufzte. »Dabei gäbe es zu Hause und in der Schule so viel zu tun.«

»Sie sind… Lehrerin?« fragte der Mann mit hörbarem Erstaunen.

Nicole nickte. »An einer Blindenschule in der Kreisstadt. Es ist eine Arbeit, die mir sehr viel Spaß macht.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann erklärte der junge Mann: »Ich bewundere Sie, Frau Kortenhagen.«

Nicole lächelte ihn schelmisch an. »Das ist ungerecht. Sie kennen meinen Namen, aber ich weiß noch immer nicht, wer Sie sind.«

»Entschuldigen Sie bitte. Sie müssen mich ja für einen richtigen Flegel halten, aber ich kann Ihnen versichern, daß ich nicht immer so unhöflich bin. Ich heiße Mario. Mario Bertoni.«

»Mario Bertoni«, widerholte Nicole langsam, beinahe schwärmerisch. »Meine Güte, das klingt wie Urlaub in Italien. Sind Sie Italiener?«

Mario mußte lächeln. »Ja und nein. Mein Vater ist Italiener, aber er kam vor vielen Jahren nach Deutschland. Meine Mutter ist Deutsche, und ich wurde in München geboren. Seit einem Jahr lebe ich hier in Steinhausen. Allerdings spreche ich fließend italienisch.«

Nicole strahlte jetzt wie die liebe Sonne. »Das ist schön. Sagen Sie doch etwas auf Italienisch.«

Mario schmunzelte. »Und was?«

»Egal. Irgend etwas.«

»Uscirebbe con me stasera, mia bella ragazza?«

Nicole lächelte schwärmerisch. »Es klingt traumhaft. Wenn die Worte nur halb so schön sind, wie sie klingen…« Sie lächelte Mario an. »Was heißt es auf Deutsch?«

»Möchten Sie heute abend mit mir ausgehen, mein schönes Mädchen?«

Nicole lächelte. »Sie haben nicht nur einen italienischen Namen, Sie sind auch ein waschechter Italiener. Der erste Satz von Ihnen ist gleich eine Einladung.«

»Mir fiel im Augenblick nichts anderes ein.«

»Das war nun wieder weniger charmant. Sie hätten ja zumindest so tun können, als würden Sie wirklich gern mit mir ausgehen.«

»Da müßte ich nicht nur so tun«, gestand Mario leise.

Sie waren inzwischen weitergegangen. Jetzt blieb er stehen.

»Wir sind da.«

»Schon? Schade, ich hätte mich gern noch ein bißchen mit Ihnen unterhalten.«

Mario zögerte, dann sprach er aus, was er dachte. »Wenn Sie nichts dagegen haben… ich meine, ich könnte Sie ja mal besuchen, Frau Kortenhagen.«

In Nicoles Gesicht ging wieder die Sonne auf. »Das wäre schön! Und bitte, sagen Sie doch einfach Nicole zu mir.« Sie schwieg kurz, dann bekräftigte sie noch einmal: »Ja, Mario, besuchen Sie mich. Ich liege in der Gynäkologie auf Zimmer 12.«

»Ich komme ganz bestimmt«, versicherte Mario.

*

Karina Daniel saß in der ersten Reihe und verfolgte aufmerksam die Darbietungen der Karatekämpfer, die vor ihr auf der Bühne ihre Schaukämpfe austrugen. Normalerweise wäre sie zu diesem Wettkampf wohl gar nicht gegangen, doch Dr. Jeffrey Parker hatte sie eingeladen.

»Meine Damen und Herren, ich darf um Ihre Aufmerksamkeit bitten.« Die Stimme des Vereinsvorsitzenden unterbrach Karinas Gedanken. »Wir kommen nun zum Höhepunkt der heutigen Wettkämpfe. Ich freue mich außerordentlich, daß ich Ihnen unseren besten Karatekämpfer präsentieren kann. Er ist nicht nur Aushilfstrainer unseres Clubs, sondern auch der amtierende Bayrische Meister. Er ist Träger des 4. Dan und sollte aufgrund dieses Ranges schon längst nicht mehr nur Aushilfstrainer des Clubs sein, doch aus beruflichen Gründen mußte er eine richtige Trainertätigkeit leider bisher ablehnen, denn er ist Arzt und dadurch sehr eingespannt. Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir – Dr. Jeffrey Parker!«

Applaus brandete auf, als der junge Arzt auf die Bühne trat und sich nach asiatischer Manier verbeugte. Dann blickte er auf und direkt in Karinas Gesicht. Er lächelte und zwinkerte ihr freundschaftlich zu.

»Dr. Parker wird den letzten Kampf dieses Wettbewerbs bestreiten«, fuhr der Vorsitzende fort, dann lächelte er. »Mal sehen, ob sein Gegner eine Chance gegen ihn hat.«

Die hatte er nicht. Dr. Parkers Schnelligkeit und sein herausragendes Können ließen nicht zu, daß sein Gegner ihn ernsthaft gefährden konnte.

Gespannt verfolgte Karina den Kampf und mußte dabei unwillkürlich an die Nacht denken, in der sie Dr. Jeffrey Parker kennengelernt hatte. Damals hatte sie noch in Freiburg studiert und war auf dem Heimweg von sechs Halbstarken überfallen worden, doch bevor diese Burschen ihr wirklich hatten Gewalt antun können, war Dr. Parker zufällig dazugestoßen und hatte die Kerle mit ein paar gezielten Schlägen in die Flucht getrieben.

Für ihn und Karina war das der Beginn einer tiefen Freundschaft gewesen, und Dr. Parker hatte der jungen Medizinstudentin eine wirksame Selbstverteidigung beigebracht, die Karina bis jetzt glücklicherweise aber noch nie hatte anwenden müssen. Im Gegenzug hatte sie dem jungen Anästhesisten, der nach dem tragischen Tod seiner Verlobten seine Heimat in den Vereinigten Staaten verlassen hatte, die Stellung in der Waldsee-Klinik verschafft, und hier fühlte sich Dr. Parker nun zum ersten Mal seit langem wieder richtig wohl.

Der aufbrausende Applaus riß Karina in die Wirklichkeit zurück. Dr. Parker hatte den Schaukampf glatt nach Punkten gewonnen.

Karina erhob sich mit den anderen Zuschauern, doch sie strebte nicht dem Ausgang zu, sondern ging nach hinten zu den Garderoben.

»Bin gleich soweit!« rief Dr. Parker ihr zu, ehe er in dem Flur verschwand, der zu den Duschkabinen führte. Es dauerte dann auch tatsächlich nicht lange, bis er zurückkam, und jetzt hätte ihm niemand mehr den erstklassigen Karatekämpfer angesehen, denn in Jeans und Pulli sah er aus wie jeder andere attraktive Mann… vielleicht nur ein bißchen besser.

Das dunkelblonde Haar, das ihm gerade bis zum Nacken reichte, war noch ein wenig feucht, ebenso der gepflegte kurzgeschnittene Vollbart. Tiefblaue Augen dominierten in dem markanten Gesicht, und sein Lächeln zeugte von Güte und Herzenswärme.

»Wenn du mit diesen feuchten Haaren hinausgehst, holst du dir noch den Tod«, prophezeite Karina.

Dr. Parker grinste. »Du bist ja so besorgt um mich. Aber keine Angst, ich habe nicht vor, mich dem Schneewind auszusetzen. Wir gehen nur durch die Halle in das kleine Clubrestaurant. Da kann man nämlich sehr gemütlich zusammensitzen.«

Dr. Parker steuerte auf einen kleinen, hinter einem schmalen Paravent halb verborgenen Nischentisch zu, rückte Karina galant einen Stuhl zurecht und setzte sich dann ebenfalls.

»Ich hoffe, daß wir hier einigermaßen in Ruhe gelassen werden«, meinte er. »Nach solchen Schaukämpfen werde ich gelegentlich regelrecht belagert.«

»Kein Wunder«, urteilte Karina. »Du bist ja auch wirklich erstklassig.«

Bescheiden winkte Dr. Parker ab. »Ach was, Karate ist nur mein Hobby, sonst nichts.«

»Na, ich weiß nicht. Immerhin bist du Bayrischer Meister.« Sie lächelte. »Davon hattest du mir übrigens noch gar nichts erzählt.«

»Weil es nicht wichtig ist«, entgegnete Dr. Parker schlicht. »Ich betreibe Karate als Ausgleichssport, und wenn ich ganz ehrlich bin – es gefällt mir gar nicht, daß ich in diesem Club mehr oder weniger dazu genötigt wurde, als Aushilfstrainer tätig zu sein.« Er zuckte die Schultern. »Aber als Träger des 4. Dan kommt man in einem so kleinen Verein wohl nicht darum herum. In meinem ehemaligen Verein in den Staaten war das nichts Besonderes.«

»4. Dan… was ist das eigentlich?« wollte Karina wissen.

»Das entspricht einer Art Rangliste«, erklärte Dr. Parker. »Zuerst macht man die verschiedenen Gürtelprüfungen. Gelb, Grün und so weiter. Der schwarze Gürtel ist der letzte, dann beginnt man mit dem 1. Dan, wobei die Anforderungen hier immer schwieriger werden.«

»Das bedeutet, daß du mit diesem 4. Dan wirklich sehr gut sein mußtest«, meinte Karina.

Dr. Parker lächelte. »In den Staaten war ein Vereinskamerad von mir Träger des 9. Dan. Das ist wirklich eine Leistung, aber um soweit zu kommen, muß man acht Stunden pro Tag trainieren, und diese Zeit hätte ich nicht.« Er lächelte. »Schließlich bin ich nebenberuflich auch noch Arzt.«

Karina lachte. »Nebenberuflich ist gut. Soweit ich weiß, bist du mit Leib und Seele Arzt.«

»Ja, und wir sprechen hier nur von mir«, entgegnete Dr. Parker. »Es ist schon seltsam. Da wohnen wir nun im selben Ort und bekommen uns doch fast nie zu Gesicht.«

»Weil ich eine eifrige Studentin bin«, erklärte Karina, doch ihr Lächeln kam nun plötzlich nicht mehr von Herzen, was Dr. Parker sofort bemerkte.

»Was ist los, Karina? Hast du Probleme beim Studium?«

Sie versuchte seinem forschenden Blick auszuweichen. »Nicht direkt.«

»Also indirekt.« Dr. Parker lächelte, dann legte er eine Hand auf die von Karina. »Na komm, erzähl. Oder hast du etwa kein Vertrauen mehr zu mir?«

Karina seufzte. »Doch, Jeff, natürlich, aber… es ist wirklich nicht so wichtig.«

»Bist du sicher?« Er schwieg einen Moment. »Immerhin sitzt du hier mit einem Arzt, der dir vielleicht einen Rat geben könnte. Oder traust du mir das nicht zu?«

»Meine Güte, du bist aber hartnäckig«, stöhnte Karina. »Dabei… wenn ich mit dir spreche… du bist Anästhesist. Für dich ist das wahrscheinlich gar nichts Besonderes.«

»Aha, es geht also um die Anästhesie«, stellte Dr. Parker fest. »Hör mal, Karina, das ist mein Fachgebiet. In keinem Bereich der Medizin könnte ich dir besser helfen als dabei.« Er schüttelte den Kopf. »Im übrigen solltest du mich inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, daß ich kein Problem auf die leichte Schulter nehme – auch wenn es um etwas geht, was ich Tag für Tag mache und worin ich vielleicht keine Schwierigkeiten sehe. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß jeder für die Anästhesie geboren sein muß.«

Karina senkte den Kopf. »Ich bin es ganz bestimmt nicht.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie ihr langes, goldblondes Haar zurück. »Ich sollte heute intubieren… selbstverständlich nur an einem Modell…« Sie schüttelte den Kopf. »Noch nie habe ich mich so unfähig gefühlt.«

»Eine Intubation muß jeder Arzt beherrschen«, entgegnete Dr. Parker ernst. »Du kannst zu einem Norfall gerufen werden, dann mußt du bei einem möglichen Atemstillstand intubieren können.« Er überlegte einen Moment. »Ich habe in der Klinik ein Kopfmodell. Normalerweise wird es für etwas anderes benutzt, aber man kann daran auch eine Intubation demonstrieren.« Er lächelte. »Vor allem, weil man da besonders gut erkennen kann, ob der Schlauch in der Luft- oder in der Speiseröhre landet.«

Entsetzt starrte Karina ihn an. »Du willst doch wohl nicht jetzt noch…« Sie schüttelte den Kopf. »Jeff, es ist gleich Mitternacht.«

Ungerührt zuckte er die Schultern. »Na und? Ich nehme an, du mußt morgen wieder zur Uni, und da du heute bei der Intubation versagt hast, wirst du morgen noch mal drankommen. Also zeige ich dir jetzt, wie’s geht, morgen kannst du’s dann.«

Karina seufzte. »Also schön.«

Doch als sie eine halbe Stunde später vor dem Kopfmodell stand und den Tubus in der Hand hielt, wurde sie sich des prüfenden Blicks von Dr. Parker erst so richtig bewußt. Gerade hatte er ihr gezeigt, wie man richtig intubierte, doch Jeffs Anwesenheit verunsicherte sie. Lieber hätte sie es erst mal allein probiert. Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Laryngoskop griff, um die Stimmbänder zu prüfen, dann führte sie vorsichtig den Endotrachealtubus ein.

»Bist du sicher, daß du richtig intubiert hast?« wollte Dr. Parker wissen.

Karina zögerte, warf einen Blick auf das Schlauchende, das aus dem Mundwinkel des Modellkopfes ragte, und nickte. »Ja, er liegt in der Luftröhre.«

»Davon solltest du dich aber besser überzeugen, bevor deinem Patienten der Magen platzt«, entgegnete Dr. Parker und drehte das Modell um.

Entsetzt blickte Karina auf das andere Schlauchende, das aus der Speiseröhre ragte. Abrupt drehte sie sich um.

»Ich lerne es wohl nie!« stieß sie hervor.

»Doch«, erwiderte Dr. Parker fest. »Du versuchst es noch einmal – so lange, bis du es kannst.«

Mit einem Ruck fuhr Karina zu ihm herum. In ihren Augen glitzerten Tränen. »Du hast leicht reden! Du kannst es ja!« Dann ergriff sie die Flucht.

»Karina! Bleib hier!« rief Dr. Parker ihr nach.

»Laß mich in Ruhe!« gab sie zurück, während ihre Absätze auf dem PVC-Boden klapperten, dann hörte Dr. Parker, wie die Tür ins Schloß fiel.

Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf einem Stuhl nieder.

»Das war offensichtlich der falsche Ton«, murmelte er zu sich selbst. »Mein lieber Jeff, als Psychologe bist du eine glatte Null.«

*

Nicole mußte auf Marios Besuch nicht lange warten. Bereits am nächsten Tag kam er zu ihr. Als er das Zimmer betrat, blieb er einen Augenblick reglos stehen und sah sie nur an. Wie wunderschön sie doch ist!

Das zarte, madonnenhafte Gesicht, die halblangen, blonden Haare und die schönen tiefblauen Augen, die so voller Wärme waren, obwohl kein Licht in ihnen war.

»Mario?« fragte sie jetzt, und dabei waren ihre Augen auf sein Gesicht gerichtet, als könnte sie ihn sehen.

»Ja, Nicole, ich bin es«, erklärte er. »Entschuldige, daß ich nicht gleich etwas gesagt habe, aber… ich mußte dich einfach ansehen.«

Nicole lachte. »Gibt es da denn so viel zu sehen?«

Mario wurde verlegen und war beinahe froh, daß Nicole es nicht erkennen konnte. Im Grunde verstand er sich ja selbst nicht mehr. Er hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, doch jetzt… jetzt hatte es ihn voll erwischt. Noch niemals hatte er etwas Ähnliches gefühlt.

»Ja, Niki«, antwortete er, und in seiner Stimme lang die ganze Liebe, die er im Herzen trug. »Du bist wunderschön.«

Niki. Wie zärtlich das klang. Niki.

Wie in Trance verließ Nicole ihr Bett und ging mit einem liebevollen Lächeln auf Mario zu. Dabei bewegte sie sich so sicher, als könnte sie sehen.

»Niki, wie machst du das?« fragte er bewundernd. »Du bewegst dich so… ich weiß gar nicht, wie ich sagen soll… überhaupt nicht wie eine Blinde.«

Nicole mußte lachen. »Wie bewegt sich denn deiner Meinung nach eine Blinde?«

Wieder wurde Mario verlegen. »Nun ja… vorsichtig… tastend… vielleicht…« Er schwieg beschämt. »Du mußt mich ja für einen Idioten halten.«

Zärtlich berührte Nicole sein Gesicht. »Nein, Mario, das ganz bestimmt nicht. Du hast nämlich vollkommen recht. Ich bewege mich wirklich vorsichtig, wenn ich irgendwo fremd bin. Hier im Zimmer habe ich mich aber schon am ersten Tag gründlich umgesehen. Ich weiß genau, wo sich alle Einrichtungsgegenstände befinden. Da ist es nicht schwierig, sich sicher zu bewegen – vorausgesetzt, es ist niemand da, der irgend etwas umstellt, ohne es mir zu sagen. Das können für mich nämlich dann Fallen werden, deren Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen ist.«

Obwohl ihre Worte nicht traurig geklungen hatten, schnitten sie Mario ins Herz. Wie schwierig mußte Nicoles Leben sein! Und dabei war es für ihn nahezu unvorstellbar, wie sich ein blinder Mensch in dieser Welt überhaupt zurechtfinden konnte… wie es beispielsweise Nicole gelang, sich in einem ihr doch zumindest anfangs fremden Zimmer zurechtzufinden… in einem Zimmer, das sie nie gesehen hatte und niemals sehen würde.

»Darf ich dich jetzt auch ansehen?« fragte Nicole leise, fast schüchtern und riß Mario damit aus seinen Gedanken.

»Ansehen?« gab er erstaunt zurück. »Aber wie… wie willst du das…«

Ein zärtliches Lächeln glitt über ihr hübsches Gesicht, dann hob sie beide Hände. Ganz sanft, fast wie ein Hauch glitten ihre feingliedrigen Finger über sein Gesicht, erforschten Haare, Stirn, Brauen, Nase, Mund und Kinn.

»Und jetzt weißt du, wie ich aussehe?« fragte Mario skeptisch.

»So ungefähr«, antwortete Nicole. »Ganz genau kann man durch Ertasten natürlich nicht feststellen, wie ein Mensch aussieht, aber ich kann mir jetzt eine Vorstellung von dir machen, und das genügt mir.« Sie schwieg kurz. »Weißt du, Mario, viel wichtiger als dein Aussehen ist für mich deine Stimme. Ein Blinder entscheidet nach dem Klang der Stimme über Sympathie oder Antipathie.« Wieder glitt ein sanftes Lächeln über ihr Gesicht. »Deine Stimme klingt in meinen Ohren wie Musik.« Und ich trage sie bereits jetzt im Herzen, fügte sie in Gedanken hinzu. Dabei kenne ich dich doch kaum.

»Niki.« Seine Stimme klang weich und zärtlich.

Im nächsten Moment fühlte sie seine Hände, die sie behutsam streichelte, sie fühlte seinen Atem auf ihrem Gesicht und den sanften Druck, als sich seine Lippen auf die ihren legten.

Nicoles Herz klopfte zum Zerspringen. Es war der erste Kuß, den sie jemals bekommen hatte – es war eine so süße, wundervolle Erfahrung, die sie nie wieder missen wollte.

»Mario«, stammelte sie, als er sie wieder losließ.

Zärtlich streichelten seine Finger durch ihr Haar.

»Ich liebe dich, Niki«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, wie es so schnell passieren konnte, aber… ich liebe dich.«

*

Dr. Daniel saß mit seiner Familie am Frühstückstisch und genoß das friedliche Beisammensein. Selten genug kam es vor, daß sich die gesamte Familie Daniel einmal beim Essen traf. Die Harmonie wurde nur durch Karinas ernsten Gesichtsausdruck getrübt.

»Was ist los, Karinchen?« fragte Dr. Daniel sanft. »Hast du schlecht geschlafen?«

»Nein«, antwortete ihr älterer Bruder Stefan für sie. »Der Abend mit Jeff hat sich in die Länge gezogen.« Er grinste Karina an. »Höre ich da etwas läuten?«

»Nein!« Ungewöhnlich scharf kam Karinas Antwort. »Jeff kann mir gestohlen bleiben!«

Erstaunt zog Dr. Daniel die Augenbrauen hoch. Das waren ja ganz neue Töne, die er da von seiner Tochter vernahm.

»Ich dachte immer, ihr wäret befreundet«, meinte er. »Im übrigen verdankst du ihm…«

»Ja, ich weiß«, fiel Karina ihm ins Wort. »Er hat mich damals aus den Händen dieser Halbstarken befreit, aber deswegen muß ich ihm ja wohl nicht ein Leben lang dankbar sein.«

»Ursprünglich wolltest du das schon«, stellte Dr. Daniel richtig. »Aber wenn es zwischen euch Streit gegeben hat…«

»Dann geht euch das gar nichts an.« Wieder fiel Karina ihrem Vater ins Wort. »Ich bin mit Jeff schließlich nicht verheiratet. Wir gehen ja nicht mal zusammen. Zwischen uns besteht nicht mehr als eine flüchtige Freundschaft.« Dann stand sie auf. »Ich muß jetzt zur Uni.«

»Warum ist Karina so böse, Papa?« wollte die kleine Tessa wissen, als ihre große Schwester das Eßzimmer verlassen hatte.

Dr. Daniel seufzte. »Sie war nicht böse, Schätzchen. Ich glaube, Karina hat großen Kummer, aber zu gegebener Zeit wird sie sich hoffentlich helfen lassen.«

»Ich wette, sie hat sich in Jeff verliebt, und er hat ihr einen Korb gegeben«, vermutete Stefan, dann seufzte auch er. »Die arme Karina hat schon sehr viel Pech in der Liebe gehabt.«

Dr. Daniel schwieg dazu. Er war nicht sicher, ob Stefans Deutung der Situation richtig war, obgleich die Vermutung wirklich nahelag. Schließlich hatte Karina den Jungen Anästhesisten gestern zu diesen Karate-Schaukämpfen begleitet.

»Ich werde versuchen, heute abend noch einmal mit ihr zu sprechen«, beschloß er. »Und zwar allein.«

*

Währenddessen war Karina schon auf dem Weg zur Uni. Ihr graute vor dem heutigen Tag. Professor Schneider würde heute noch einmal die Intubation behandeln, und wahrscheinlich würde er sie wieder nach vorne holen, um das richtige Vorgehen zu demonstrieren. Nun wäre das alles halb so schlimm gewesen, wenn Professor Schneider nicht für seinen beißenden Sarkasmus bekannt gewesen wäre.

Karina machte sich also so klein wie möglich und hoffte, daß der Professor sie heute nicht wieder auswählen würde. Allerdings blieb das leider nur ein frommer Wunsch.

»Nun, Frau Daniel, haben Sie sich zu Herzen genommen, was ich Ihnen gestern gesagt habe?« wollte der Professor wissen. »Ihnen als Arzttochter müßte die Wichtigkeit der Intubation doch besonders geläufig sein.« Er lächelte spöttisch. »Also, Frau Daniel, dann demonstrieren Sie uns heute doch bitte eine richtige Intubation.«

Karinas Knie bebten, als sie die Stufen hinunterging.

»Unser Charly hier wartet ja nur darauf, von Ihnen intubiert zu werden«, fuhr Professor Schneider in anzüglichem Ton fort und wies dabei auf die lebensgroße Puppe, die so lag, daß die Studenten alles gut erkennen konnten.

Karina trat zum Kopfende des Modells, griff nach dem Laryngoskop und dem Tubus.

»Der Patient hat Muskelrelaxanzien bekommen«, erläuterte der Professor. »Und nun müssen Sie intubieren, denn die Spontanatmung wird aufgrund des Medikaments zum Erliegen kommen.« Er sah Karina an. »Worauf warten Sie, Frau Daniel?«

Karina beugte sich über den Kopf der Puppe, doch ihre Hände zitterten so sehr, daß es ihr nicht gelang, das Laryngoskop richtig einzuführen. Ein lautes Knacken erklang.

Professor Schneider grinste hämisch. »Sehr gut, Frau Daniel. Sie haben dem Patienten soeben den Kiefer gebrochen. Aber bitte, fahren Sie fort.« Er sah auf die Uhr. »Das Gehirn des Patienten ist bereits seit drei Minuten ohne Sauerstoffversorgung.«

Karina schloß für einen Moment die Augen und wünschte sich, der Erdboden möge sich auftun und sie verschlucken. Nun hatte sie sich gerade gestern erst so blamiert, und heute drohte ihr das gleiche noch einmal. Sekundenlang bereute sie, daß sie Jeff einfach in der Klinik stehengelassen hatte, anstatt sich von ihm die Intubation beibringen zu lassen. Seine Bemerkung vom geplatzten Magen war vielleicht ein wenig hart gewesen, doch so zynisch wie Professor Schneider war er ja wirklich nicht gewesen.

Vergeblich bemühte sich Karina, den Tubus in die Luftröhre einzuführen. Sie fühlte, wie ihr der Schweiß in Bächen über den Körper rann.

»Acht Minuten«, verkündete Professor Schneider, und Karina hatte den Eindruck, als würde seine Stimme außerordentlich fröhlich klingen.

Kraftlos ließ Karina den Tubus sinken. Würde es sich bei dieser Puppe um einen wirklichen Patienten handeln, dann wären ihm jetzt bereits schwerste Hirnschäden gewiß.

»Na los, machen Sie weiter!« drängte Professor Schneider. »Besser ein blöder Patient als ein toter.«

Karina errötete bis unter die Haarwurzeln. Sie haßte es, wenn der Professor so taktlos sprach, und das Gelächter einzelner Studenten grub sich schmerzhaft in ihr Herz.

Noch einmal versuchte sie, den Tubus einzuführen, und diesmal gelang es ihr endlich.

»Fertig?« wollte Professor Schneider wissen.

Karina nickte erschöpft.

»Gut«, meinte er. »Dann sollten Sie sich jetzt einen guten Anwalt nehmen, der vor Gericht erläutern wird, daß sie den Patienten nicht absichtlich getötet haben.« Er schaltete das Beatmungsgerät ein. Der Bauch der Puppe blähte sich auf und platzte dann mit lautem Knall. Karina zuckte zusammen.

»Das war der Magen«, verkündete Professor Schneider, dann wandte er sich Karina zu. »Ich gebe Ihnen einen guten Rat. Werden Sie niemals Anästhesistin. Da könnten Sie nur Schaden anrichten.« Er lächelte süffisant. »Wenn Ihr Vater auch ein guter Arzt ist, dann bedeutet das nicht zwangsläufig, daß Sie sein Talent geerbt haben. Sie können sich wieder setzen.«

Karina kehrte an ihren Platz zurück. Sie fühlte sich so elend wie selten zuvor.

»Nimm dir das nicht so zu Herzen«, flüsterte ihr eine Studienkollegin zu. »Er ist doch ein arrogantes Ekel.«

Karina nickte nur.

Der Rest der Vorlesung schwebte an ihr vorbei. Sie hatte das Gefühl, hier völlig fehl am Platze zu sein, und zum ersten Mal bereute sie, daß sie vor ein paar Jahren ihr Jurastudium aufgegeben und auf Medizin umgesattelt hatte. Sie eignete sich allem Anschein nach nicht zur Ärztin, auch wenn sie das immer geglaubt hatte.

*

»Mario! Wo bleibst du denn?« rief sein Kollege Richard Schermann ungeduldig.

Im Laufschritt kam Mario aus der Klinik und sprang in den Krankenwagen.

»Sag mal, welcher Magnet hat dich da eigentlich festgehalten?« wollte Richard wissen.

Ein glückliches Lächeln huschte über Marios markantes Gesicht.

»Ricky, ich bin verliebt«, gestand er offen. »Nein, nicht nur verliebt. Ich liebe sie. Ich liebe sie mehr als mein Leben.«

»Meine Güte, da hat dich ja

eine volle Breitseite erwischt«, stellte Richard grinsend fest. »Laß das bloß Fiona nicht hö-ren.«

Mario winkte ab. »Zwischen Fiona und mir ist doch längst Schluß.«

Richard warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte.

»So?« fragte er dann. »Davon scheint sie aber noch gar nichts zu wissen.«

Mario seufzte tief auf. »Ich habe es ihr klipp und klar gesagt – und das schon vor vier Wochen, aber du kennst ja Fiona. Sie will immer diejenige sein, die eine Beziehung beginnt oder beendet, und sie verkraftet es nicht, daß ich es war, der Schluß gemacht hat. Allerdings hatte ich meine Gründe dafür.«

»Du warst von Anfang an viel zu anständig für Fiona«, urteilte Richard. »Sie ist ein Biest.« Er schwieg kurz. »Jetzt kann ich es dir ja sagen. Sie wollte mit mir etwas anfangen, als ihr beide noch zusammen gewesen seid.«

»Damit erzählst du mir nichts Neues«, meinte Mario, zögerte kurz und entschloß sich dann für die Wahrheit. »Ich weiß, daß sie dir schöne Augen gemacht hat, und als ich sie vor die Wahl stellte, erklärte sie tatsächlich, daß sie nicht der Typ wäre, der nur einem Mann Liebe schenkt. Sie behauptete allen Ernstes, sie könne sich nicht zwischen uns entscheiden. Unter wirklicher Liebe verstehe ich etwa anderes.« Er winkte ab. »Das gehört alles der Vergangenheit an.« Dann lächelte er glücklich. »Ich habe jetzt die wirkliche Liebe gefunden.«

*

Als Karina an diesem Abend nach Hause kam, wollte sie nur eines – sich in ihrem Zimmer verkriechen und niemanden sehen. Allerdings wurde sie oben in der Wohnung schon von Dr. Parker erwartet.

»Was willst du denn noch von mir?« fragte Karina und gab sich dabei absichtlich patzig.

Dr. Parker betrachtete sie prüfend. »Du bist heute also voll hineingerasselt.«

Abrupt wandte sich Karina von ihm ab. Jeff sollte ihre Tränen nicht sehen.

»Ich habe erstklassig intubiert«, behauptete sie mit gepreßter Stimme.

»Und das soll ich dir glauben?« fragte Dr. Parker zurück. Er schüttelte den Kopf. »Versuch nicht, mir etwas vorzumachen, Karina. Ich kenne dich besser, als du glaubst.« Er berührte ihren Arm. »Komm mit mir in die Klinik, dann versuchen wir es noch einmal, und ich verspreche dir, daß ich diesmal keine dummen Bemerkungen machen werde.«

Unwirsch schüttelte Karina seine Hand ab. »Laß mich in Ruhe. Ich will von Intubation heute nichts mehr hören.«

In diesem Moment kam Dr. Parker eine Idee. »Also schön, Karina. Dann erwarte ich dich morgen im Operationssaal. Du wirst zusehen, wie ich vor dem Eingriff intubiere. Vielleicht nützt dir das mehr als alle Versuche an einer Puppe.«

Karina blieb eine Antwort schuldig, doch Dr. Parker ließ es nicht dabei bewenden. Er nahm sie bei den Schultern und drehte sie zu sich herum.

»Wenn du nicht kommst, dann hole ich dich«, prophezeite er. »Die Intubation ist wichtiger, als du jetzt vielleicht glaubst.«

»Ich gebe mein Studium auf«, erwiderte Karina, doch ihre Stimme zitterte dabei.

Dr. Parkers Stirn zog sich in bedrohliche Falten, sein Griff um Karinas Schultern verstärkte sich.

»Was soll dieser Unsinn?« fragte er nicht ohne Schärfe. »Willst du immer gleich aufgeben, wenn einmal Schwierigkeiten auftreten?« Er wartete auf eine Erwiderung, doch sie blieb aus. »Also, du bist morgen früh um acht bei mir im OP.«

Karina nickte ergeben.

»Wenn du meinst«, murmelte sie niedergeschlagen, dann wandte sie sich ab. »Laß mich jetzt allein, Jeff. Ich will nur meine Ruhe haben.«

Dr. Parker zögerte. Es widerstrebte ihm, Karina in dieser depressiven Stimmung sich selbst zu überlassen, doch sie gab ihm gar keine Gelegenheit mehr, zu einem anderen Entschluß zu gelangen, denn sie ging wortlos die Treppe hinauf in ihr Zimmer unter dem Dach.

Mit einem tiefen Seufzer sah Dr. Parker ihr nach, und zum ersten Mal, seit er sie kannte, fühlte er etwas ganz seltsames in seinem Herzen. Sekundenlang war er versucht, ihr nach oben zu folgen, doch damit würde er eindeutig zu tief in Karinas Privatleben vordringen, und das durfte er zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht… vielleicht würde er es auch nie können, denn ob Karinas Gefühle für ihn jemals eine harmlose Freundschaft übersteigen würden, stand in den Sternen.

Noch einmal seufzte Dr. Parker tief auf, dann wandte er sich um und verließ die Villa von Dr. Daniel. Als er eine knappe Viertelstunde später das Haus erreichte, wo er seine kleine Junggesellenwohnung hatte, sah er sofort den jungen Mann, der am Straßenrand saß und sich mit dem Rükken an den Gartenzaun lehnte.

»Manfred, was tust du denn hier?« fragte Dr. Parker erstaunt.

Der junge Mann stand auf und zeigte ein verlegenes Lächeln. »Ich habe auf dich gewartet, Jeff.«

»Na, dann komm herein«, meinte Dr. Parker und ging ihm voran ins Haus und die Treppe hinauf zu seiner Wohnung.

»Weißt du, Jeff, eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mir noch ein paar Unterrichtsstunden geben kannst«, rückte Manfred Steiner dann mit seinem eigentlichen Anliegen heraus. Unsicher blickte er zu Boden. »Mit der Bezahlung müßtest du dich allerdings gedulden, bis ich… nun ja, bis ich wieder zu Hause bin.«

Dr. Parker runzelte die Stirn. »Was soll das heißen, ›bis du wieder zu Hause bist‹?«

Hilflos zuckte Manfred die Schultern. »Du weißt, daß ich in meinem Beruf nicht so viel verdiene. Ich muß mir anderweitig Geld für mein einziges Hobby verschaffen, und wenn ich zu Studienzwecken Tabletten nehme, die noch nicht zugelassen sind und deren Nebenwirkungen vollends erforscht werden müssen…«

Mit einer heftigen Handbewegung brachte Dr. Parker ihn zum Schweigen. »Manfred, ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß du das lassen sollst. Weißt du überhaupt, in welche Gefahr du dich damit begibst? Und was meine Bezahlung betrifft – ich will von dir kein Geld! Karate ist nichts weiter als mein Hobby, das gilt auch dann, wenn ich dir Unterricht gebe. Also, vergiß die Bezahlung. Ich nehme dein Geld sowieso nicht, das weißt du doch.«

Manfred seufzte. »Ich will das aber nicht umsonst von dir annehmen, Jeff. Du opferst mir schließlich deine Freizeit.«

Freundschaftlich legte Dr. Parker seinen Arm um Manfreds Schultern. Er mochte den jungen Mann, der es in seinem Leben bisher nicht leicht gehabt hatte. Er stammte aus einer kinderreichen Familie, in der es oft für das Nötigste nicht gereicht hatte. Mit der Schulbildung war es ähnlich gewesen. Manfred war zwar intelligent, doch für eine höhere Schule war kein Geld übrig gewesen. Jetzt arbeitete Manfred in einer kleinen Firma und mußte das meiste Geld, das er verdiente, zu Haus abgeben, um damit die Eltern und die jüngeren Geschwister zu unterstützen. Gelegentlich verschaffte er sich einen zusätzlichen Verdienst, indem er sich bereit erklärte zur Erforschung von Nebenwirkungen nicht zugelassen Medikamente einzunehmen.

»Hör zu, Manfred, ich will nicht, daß du das Versuchskaninchen spielst«, erklärte Dr. Parker ernst. »Laß dich nicht noch einmal dabei erwischen, hast du gehört?«

Manfred nickte ein wenig halbherzig. »Ja, Jeff, aber…«

»Kein Aber!« fiel der Arzt ihm ins Wort. »Ich habe keine Lust zuzusehen, wie du dich kaputtmachst.« Er schwieg kurz. »Der Karate-Unterricht ist für dich kostenlos.«

Doch Manfred schüttelte den Kopf. »Wenn du mich nicht bezahlen läßt, dann möchte ich etwas anderes für dich tun. Mir ist keine Arbeit zu schwer. Bitte, Jeff.«

Dr. Parker seufzte. »Meinetwegen, dann…« Er stockte, weil ihm plötzlich ein Gedanke kam. »Du könntest vielleicht tatsächlich etwas für mich tun, Manfred. Es ist auch völlig ungefährlich.« Er schwieg kurz, dann sprach er weiter. »Es geht um eine junge Frau, die mir sehr viel bedeutet. Sie studiert Medizin und hat nun Schwierigkeiten mit der Intubation. Weißt du, was das ist?«

Manfred schüttelte den Kopf.

»Eine Intubation wird nötig, wenn ein Patient operiert werden muß oder aus anderen Gründen nicht selbständig atmen kann«, erklärte Dr. Parker. »Dabei wird ein dünner Plastikschlauch durch den Mund des Patienten in die Luftröhre geschoben. Über diesen Schlauch findet dann die künstliche Beatmung statt.«

»Und das willst du mit mir machen?« fragte Manfred entsetzt. Unwillkürlich griff er an seinen Hals. »Wenn ich mir das vorstelle…«

»Manfred, ich habe dir gesagt, daß es für dich völlig ungefährlich ist, und du wirst davon bestimmt nichts spüren«, versicherte Dr. Parker. »Du kannst dich auch frei entscheiden. Ich mache das Ganze nicht von dem Karate-Unterricht oder irgend etwas anderem abhängig, und wenn du ablehnst, habe ich dafür das vollste Verständnis.«

»Ich vertraue dir, Jeff«, erklärte Manfred schlicht. »Wenn du sagst, es wäre ungefährlich und ich würde nichts spüren, dann mache ich es auch.« Er lächelte. »Wenn ich nicht zugelassene Medikamente schlucken kann, dann ist diese Intu…dingsda ein Klacks für mich.«

Dr. Parker mußte lächeln. »Du wirst von mir eine Spritze bekommen, die dich einschlafen lassen wird, und während Karina den Tubus einführt, weiche ich nicht von deiner Seite. Das Ganze dauert höchstens fünf Minuten. Wenn du wieder aufwachst, hast du vielleicht für ein paar Stunden noch einen etwas rauhen Hals.«

Manfred nickte. »Ich stehe dir jederzeit zur Verfügung, Jeff.«

Doch Dr. Parker schüttelte den Kopf. »Denk erst mal gründlich darüber nach, Manfred. Du mußt dich nicht gleich entscheiden. Laß dir damit so viel Zeit, wie du brauchst.«

»Die brauche ich nicht«, entgegnete Manfred. »Ich mache das als Gegenleistung für den Karate-Unterricht.« Er lächelte. »Dann habe ich wenigstens das Gefühl, daß du nicht völlig umsonst arbeiten mußt.«

»Also schön«, meinte Dr. Parker. »Kannst du morgen früh so gegen neun Uhr in der Waldsee-Klinik sein?«

Manfred überlegte kurz, dann nickte er. »Ja, das geht. Morgen fängt meine Schicht erst mittags an. Bis dahin werde ich ja wieder fit sein, oder?«

»Mit Sicherheit«, bestätigte Dr. Parker.

*

Es dauerte nicht einmal vierundzwanzig Stunden, bis Fiona Hartwig wußte, daß sich Mario verliebt hatte.

»Wer ist sie?«

Wie aus dem Boden gewachsen, stand Fiona vor Richard Schermann, und er fragte sich, woher sie jetzt schon wissen konnte, daß Mario wieder eine Freundin hatte. Schließlich wußte er selbst es doch auch erst seit ein paar Stunden – und er fuhr ja immerhin zusammen mit Mario im Krankenwagen.

»Keine Ahnung«, behauptete Richard, obwohl er genau wußte, daß Fiona ihm nicht glauben würde.

Mit einer heftigen Handbewegung warf die junge Frau ihr wallendes platinblondes Haar zu-rück.

»Du solltest allmählich wissen, daß du mich nicht für dumm verkaufen kannst, Ricky!« erklärte sie wütend. »Also, wer ist sie?«

Richard seufzte. »Sie heißt Nicole Kortenhagen, und wir haben sie vor vier Tagen mit dem Krankenwagen zur Waldsee-Klinik gebracht. Gestern sind sie sich dann zufällig im Klinikpark begegnet.« Er zuckte die Schultern. »Es muß bei beiden Liebe auf den ersten Blick gewesen sein.« Dann berührte er Fionas Arm. »Bitte, laß sie in Frieden. Zwischen dir und Mario ist doch längst Schluß, und selbst wenn es dir gelingen sollte, einen Keil zwischen Mario und seine neue Freundin zu treiben – was würde dir das nutzen? Zu dir kommt er sowieso nicht mehr zurück.«

Stolz warf Fiona den Kopf zurück. »Das laß mal meine Sorge sein. Mario unterliegt einem gewaltigen Irrtum, wenn er glaubt, daß er mich so einfach loswerden könnte. Wenn jemand eine Beziehung beendet, dann bin ich es – und im Augenblick ist Mario für mich ein recht amüsantes Spielzeug, das ich noch nicht wegzulegen gedenke.«

Richard seufzte, dann schüttelte er den Kopf. »Was bist du nur für eine Frau?«

Ein überhebliches Lächeln umspielte Fionas perfekt geschminkte Lippen. »Ich bin eine Frau, die weiß, was sie will.« Dann verengten sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen. In diesem Moment sah sie sehr gefährlich aus, und Ri-chard wußte, daß sie das auch war. »Was ich will, das bekomme ich auch, verlaß dich drauf.«

*

Pünktlich um acht Uhr betrat Karina die Waldsee-Klinik und machte sich sofort auf den Weg zum Waschraum, dann betrat sie den Operationssaal.

»Na endlich«, meinte Dr. Parker. »Ich warte schon seit zehn Minuten auf dich. Du solltest um acht Uhr hier im OP sein.«

»Tut mir leid«, murmelte Karina, dann trat sie zu dem jungen Anästhesisten.

»Die Patientin schläft bereits«, erklärte Dr. Parker. »Jetzt bekommt sie das Muskelrelaxans.« Er injizierte das Medikament durch die Kanüle am Handgelenk direkt in die Vene, dann griff er nach dem Laryngoskop. »Komm her, Karina, damit du auch etwas siehst.«

Mit geübtem Griff führt Dr. Parker das Laryngoskop ein, prüfte die Stimmbänder und schob dann unter Sicht den Endotrachealtubus durch den Mund der Patientin in die Luftröhre. Das Beatmungsgerät wurde angeschlossen, und das Operationsteam trat herein.

»Hallo, Karina«, grüßte der Chefarzt Dr. Wolfgang Metzler. »Willst du mal wieder ein bißchen OP-Luft schnuppern?«

Karina brachte nur ein schwaches Lächeln zustande, das man wegen des Mundschutzes, den sie trug, aber ohnehin nicht sehen konnte.

»Ja, Wolfgang«, antwortete sie und wollte zum OP-Tisch gehen.

»Augenblick, mein Fräulein«, meldete sich Dr. Parker. »Du bleibst heute bei mir.«

»Ach, Jeff…« begann Karina bittend, doch der junge Arzt ließ sich nicht beirren.

»Ich weiß, daß dich die Operation mehr interessiert«, entgegnete er. »Aber heute steht für dich Anästhesie auf dem Programm. Also, komm wieder her.«

Er sah, wie es in Karinas Augen aufblitzte, und wußte, daß er sich mit seiner Entscheidung ihren Zorn zugezogen hatte.

»Deine Meinung dazu kannst du mir nachher mitteilen«, erklärte er.

Wütend preßte Karina die Lippen zusammen. Sie haßte die Anästhesie, und im Augenblick haßte sie auch den jungen Anästhesisten, der sie zwang, sich sogar an einem studienfreien Tag mit dem ungeliebten Fach zu beschäftigen.

»Kann ich jetzt gehen?« fragte sie ein wenig aggressiv, als die Operation beendet war.

»Nein, Karina, wir beide haben noch einen Patienten«, erwiderte Dr. Parker.

In diesem Moment brachte die OP-Schwester auch schon die fahrbare Trage herein.

»Was wird denn bei dem jungen Mann gemacht?« erkundigte sie sich leise. »Er steht gar nicht auf der Liste.«

»Weiß ich«, gab Dr. Parker zurück. »Er wird auch nicht operiert.«

Die OP-Schwester war sichtlich erstaunt, stellte aber keine weiteren Fragen und verließ den Operationssaal wieder.

Währenddessen war Karina schon dabei, sich keimfrei zu machen.

»Hallo, Manfred«, begrüßte Dr. Parker seinen jungen Freund. »Na, willst du immer noch?«

Manfred nickte. »Versprochen ist versprochen.« Dann lächelte er. »Und wenn du da bist, habe ich auch keine Angst.«

»Das ist gut«, meinte Dr. Parker. »In einer Viertelstunde sehen wir uns wieder.« Er drückte die Spritze auf die Infusionskanüle, die er dem jungen Mann zuvor schon gelegt hatte, und preßte den Inhalt direkt in die Vene. Im nächsten Moment war Manfred auch schon eingeschlafen. Dr. Parker legte ihm eine Maske über das Gesicht, aus der Narkosegas strömte, dann prüfte er die Reflexe, ehe er die Maske wieder entfernte.

»Er ist bereit zum Intubieren«, erklärte Dr. Parker, als Karina jetzt zu ihm trat, dann gab er ihr das Laryngoskop und den Tubus in die Hand. »Also los, zeig mir jetzt, ob du vorhin etwas gelernt hast.«

Aus weitaufgerissenen Augen starrte Karina ihn an. »Aber… das darf ich doch gar nicht!«

»Doch. Er weiß Bescheid, und er ist einverstanden. Außerdem stehe ich daneben und werde zusehen, ob du es richtig machst.« Er sah auf die Uhr. »Jetzt solltest du dich allerdings beeilen. Die Spontanatmung kann jederzeit zum Erliegen kommen.«

»Jeff, bitte…« begann Karina, und ihre Stimme bebte vor Angst und Nervosität.

»Beeil dich, Karina, oder willst du ihn umbringen?« fragte Dr. Parker. »Damit wäre er sicher nicht einverstanden.«

»Ich kann das nicht!« begehrte Karina auf und wollte dem Arzt Laryngoskop und Tubus in die Hand geben, doch Dr. Parker trat einen Schritt zurück.

»Nein, Karina, solange du es nicht wenigstens versucht hast, werde ich nicht eingreifen.«

Panik drohte in Karina aufzusteigen, doch sie spürte auch, daß Dr. Parker nicht scherzte. Sie mußte es versuchen, und wenn sie den Patienten vor Schlimmerem bewahren wollte, mußte der erste Versuch unbedingt gelingen.

Karina bemühte sich, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Vorsichtig führte sie das Laryngoskop ein, prüfte die Stimmbänder und schob den Tubus dann in den Mund des Patienten. Sie fühlte Dr. Parkers kritischen Blick, und ihre Hände begannen erneut zu zittern. Vorsichtig schob sie den Schlauch tiefer, dann richtete sie sich auf.

»Tubus ist drin«, erklärte sie.

Dr. Parker lächelte, was nur an den Fältchen um seine Augen zu erkennen war, denn er trug wie Karina einen Mundschutz.

»Sehr gut«, meinte er.

Zweifelnd sah Karina ihn an. »Ist e… richtig?«

Dr. Parker nickte. »Er liegt in der Luftröhre.« Dann lächelte er wieder. »Aber mir war von Anfang an klar, daß du es schaffen würdest.« Er trat zu dem Patienten. »So, jetzt wollen wir den Jungen aber schnell wieder von dem gräßlichen Schlauch befreien, bevor er wach wird.«

Verständnislos starrte Karina ihn an. »Bevor er… aber… er soll doch operiert werden. Das Muskelrelaxans…«

Inzwischen hatte Dr. Parker den Tubus bereits entfernt. Jetzt richtete er sich auf, nahm den Mundschutz ab und sah Karina an.

»Glaubst du wirklich, ich hätte dich intubieren lassen, wenn ich dem Patienten Muskelrelaxanzien gespritzt hätte? Ein solches Risiko wäre ich niemals eingegangen.« Er wies auf Manfred, der allmählich zu sich kam. »Er hat nur eine leichte Narkose bekommen, sonst nichts. Im übrigen war alles zwischen ihm und mir abgesprochen.«

Voller Wut riß Karina ihren Mundschutz herunter. Ihre sonst so sanften blauen Augen sprühten Zornesblitze.

»Du Scheusal!« fuhr sie Dr. Parker an. »Ahnst du eigentlich, welche Ängste ich ausgestanden habe, weil ich dachte…« Vor lauter Wut fand sie keine Worte mehr. Sie war bereits an der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte.

»Du hinterhältiger Schuft!« schleuderte sie Dr. Parker entgegen. »Ich will dich nie wieder sehen!«

Dann war sie draußen. Dr. Parker seufzte.

»Wie gesagt, Jeff«, murmelte er sich zu. »Als Psychologe bist du eine glatte Null.«

Dann wandte er sich Manfred zu, der inzwischen wieder erwacht war.

»Na, wie fühlst du dich?« wollte er wissen.

»Gut«, antwortete Manfred mit krächzender Stimme. Er räusperte sich. »Ein bißchen müde bin ich zwar noch, aber sonst geht’s mir gut.«

»Das ist das wichtigste«, meinte Dr. Parker. »Du hast jetzt auch noch Zeit, dich ein bißchen auszuruhen. Es ist erst knapp halb zehn«

Manfred lächelte. »Das ist schön.« Dann blickte er Dr. Parker prüfend an. »Konnte ich dir denn nun helfen?«

Unwillkürlich wanderte der Blick des Arztes zu der Tür, durch die Karina verschwunden war.

»Mir persönlich… nein, das wohl nicht. Ich fürchte sogar, daß ich durch dieses ganze Manöver eine gute Freundin verloren habe.« Dann sah er Manfred wieder an und zwang sich zu einem Lächeln. »Aber Karina hast du auf jeden Fall geholfen. Sie weiß jetzt, daß sie es kann, wenn es darauf ankommt.«

*

Es hatte Fiona Hartwig nicht viel Mühe gekostet herauszufinden, daß Nicole Kortenhagen noch immer in der Waldsee-Klinik lag. Dazu hatte sich bei ihren Nachforschungen überdies etwas ergeben, was für ihren Plan von großer Bedeutung war: Nicole war blind, und das kam der kalten, berechnenden Fiona sehr gelegen. Es würde für sie ein leichtes sein, die Beziehung zwischen Mario und Nicole zu zerstören. Dabei ging es ihr nicht wirklich um Mario oder gar um seine Liebe. Es war einfach nur billige Rache. Wenn sie Mario nicht haben konnte, dann sollte ihn auch keine andere haben.

Fiona wartete mit ihrem Besuch, bis Mario mit dem Krankenwagen unterwegs war, dann betrat sie die Waldsee-Klinik und erkundigte sich bei der Sekretärin Martha Bergmeier nach Nicoles Zimmernummer. Natürlich wußte sie längst, wo die junge Frau lag, doch auf diese Weise gelang es ihr, Martha gegenüber einfließen zu lassen, daß sie eine gute Freundin von Nicole sei. Fiona konnte damit sicher sein, daß sie die Klinik nach vollbrachter Tat unbehelligt würde verlassen können. Wer kümmerte sich schon um eine Patientin, die nur Besuch von einer Freundin gehabt hatte?

Beschwingt ging Fiona ins erste Stockwerk hinauf, klopfte an der Zimmertür und trat ein. Nicole wandte den Kopf, und Fiona wurde von grenzenloser Wut ergriffen, als sie das madonnenhafte Gesicht sah. Sie selbst konnte makellose Schönheit nur mit Hilfe von gezieltem Make-up erreichen, und es erfüllte sie mit Zorn und Eifersucht, daß Nicole ohne jedes Hilfsmittel ganz bezaubernd aussah.

»Guten Tag, Frau Kortenhagen«, grüßte sie und schaffte es dabei nicht ganz, aus ihrer Stimme das herauszuhalten, was sie beim Anblick der liebenswerten jungen Frau fühlte.

»Guten Tag«, erwiderte Nicole und blickte in die Richtung, aus der die unbekannte Stimme gekommen war.

»Wer sind Sie?« erkundigte sie sich und ließ sich dabei nicht anmerken, wie unangenehm diese fremde Frauenstimme in ihren Ohren klang.

»Mein Name wird Ihnen sicher nichts sagen«, erwiderte die unbekannte Besucherin. »Ich glaube nämlich nicht, daß Mario ihn jemals erwähnt hat.«

Unwillkürlich zuckte Nicole zusammen. Die Stimme der Frau klang kalt, nur Marios Namen hatte sie weich, beinahe zärtlich ausgesprochen. Was hatte das zu bedeuten? Was hatte diese fremde Frau mit Mario zu tun?

Sie hörte, wie die Zimmer-

tür geschlossen wurde, dann das energische Klappern der Absät-ze, als die Besucherin zu ihr trat und Nicole damit unbewußt signalisierte, wie selbstbewußt sie war.

»Woher kennen Sie mich?« wollte Nicole wissen und versuchte, das ungute Gefühl, das in ihr aufgekommen war, zu unterdrücken.

»Das tut nichts zur Sache«, erwiderte die Fremde, rang sich dann jedoch dazu durch, Nicole wenigstens ihren Namen zu verraten.

»Ich heiße Fiona Hartwig«, erklärte sie in einem Ton, der Nicole unwillkürlich zusammenzukken ließ. Sie spürte die Gefahr, die von dieser Frau für sie ausging.

»Lassen Sie Mario in Ruhe!« verlangte Fiona da auch schon, und ihr eisiger Ton ließ Nicole unwillkürlich frösteln.

»Welches Recht haben Sie…« begann sie, doch Fiona fiel ihr ins Wort.

»Das Recht der Liebe«, behauptete sie mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel an ihren Worten aufkommen lassen sollte. »Ich liebe Mario, und er liebt mich – schon seit mehr als einem Jahr.«

Eine eisige Angst griff Nicole ans Herz, aber noch war sie nicht gewillt, dieser fremden Frau bedingungslos zu glauben.

»Das kann nicht wahr sein«, erklärte sie und bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen.

Ein höhnisches Lachen war die Antwort.

»Aber, Kindchen, natürlich ist es wahr.« Die Stimme der Frau hörte sich an, als würde sie mit einem törichten kleinen Kind sprechen. Dann wurde sie unvermittelt wieder hart und kalt. »Glauben Sie allen Ernstes, daß Sie, eine Blinde, Mario das geben könnten, was er braucht? Wissen Sie, wie gut er aussieht?« Sie beantwortete ihre Frage gleich selbst. »Nein, woher sollten Sie auch. Aber Mario ist eitel, er will immer wieder hören, wie gut er aussieht. Ich kann es ihm sagen – Sie werden dazu niemals in der Lage sein.«

Fionas grausame Worte trafen Nicoles Herz wie spitze Pfeile.

»Hören Sie doch auf«, bat Nicole leise und preßte beide Hände gegen die Schläfen.

»Warum? Können Sie die Wahrheit nicht ertragen?«

Nicole schluchzte auf, doch keine Spur von Mitleid regte sich in Fionas hartem Herzen. Mit haßerfülltem Blick beugte sie sich vor, und ihre Stimme war ein heiseres Flüstern, als sie Nicole ins Gesicht schleuderte: »Sie sind ihm nur ein Klotz am Bein! Er kommt doch nur aus Mitleid zu Ihnen. Alles andere reden Sie sich bloß ein.«

Dann richtete sich Fiona wieder auf und ging zur Tür, doch dort drehte sie sich noch einmal um. Ungerührt betrachtete sie die völlig zusammengesunkene Nicole. Es war gelungen! Sie hatte Marios Liebchen zerstört. Niemand könnte ohne weiteres ertragen, was sie gerade gesagt hatte, und für eine Blinde, die ohnehin denken mußte, daß sie trotz aller Selbständigkeit immer eine Belastung sein würde, mußte das alles noch so viel schlimmer sein.

*

Fiona ahnte nicht einmal, wie schlimm es für Nicole wirklich war. Innerhalb von Minuten war eine Welt in ihr zusammengebrochen. Mario hatte doch gesagt, daß er sie liebte, und vor allem – sie hatte es ja auch gespürt. Seine Zärtlichkeit, wenn er sie küßte oder streichelte. Konnte das denn alles nur Mitleid… Lüge gewesen sein?

Nicole wollte es nicht glauben, und doch… Fionas Worte waren so voller Sicherheit gewesen. Sie hatte genau gewußt, worüber sie gesprochen hatte.

Mit einem Ruck warf Nicole die Decke zurück, stand auf und trat an den Kleiderschrank. Hastig zog sie ihren Pyjama aus, schlüpfte in Thermohose und Pulli, warf sich den Anorak über und griff nach ihrem Stock, bevor sie ihr Zimmer verließ.

»Na, Frau Kortenhagen, machen Sie wieder einen kleinen Spaziergang?« fragte Schwester Bianca, und an ihrer Stimme erkannte Nicole, daß sie lächelte.

»Ja«, flüsterte sie nur, dann setzte sie hastig ihren Weg fort. Sie wußte nicht, daß Bianca ihr erstaunt nachschaute. Normalerweise war Nicole nicht so kurz angebunden – ganz im Gegenteil. Für ein fröhliche, kleine Plaude-rei konnte man die junge Frau eigentlich immer haben.

Nicole hatte jetzt die Treppe erreicht und ging in die Eingangshalle hinunter. Sie zögerte kurz, dann verließ sie durch den rückwärtigen Ausgang die Klinik und machte sich auf den Weg zum Waldsee.

Und erst hier, in der Stille und Einsamkeit der kalten Winterlandschaft, die sie umgab, brach alles aus ihr heraus. Nicole schrie auf wie ein weidwundes Tier, schlug die Hände vors Gesicht und fühlte einen wahren Sturzbach von Tränen aus ihren Augen strömen – aus diesen Augen, die nicht sehen konnten. Zum ersten Mal verfluchte sie ihre Blindheit, verfluchte das Schicksal, das ihr bei der Geburt nur das Augenlicht und nicht gleich das Leben genommen hatte. Was hatte sie nur getan, um so gestraft zu werden – gestraft mit Blindheit und mit dem Mitleid des Mannes, den sie mehr liebte als alles andere auf dieser Welt.

»Mario«, stöhnte sie auf. »Mario, ich liebe dich doch so sehr.«

Sie wußte, daß nichts diese Liebe jemals aus ihrem Herzen würde reißen können, nichts – nur der Tod. Ein Tod, der Mario vor ihr und sie selbst von dieser unglücklichen Liebe befreien würde?

»Mario!«

Es war ein letztes Aufbäumen, und es klang wie ein Hilfeschrei – ein Hilfeschrei, den niemand hörte…

*

»Karinchen, was ist denn nur mit dir los?«

Die sanfte Stimme ihres Vaters ließ Karina erschrocken hochfahren. Jetzt wischte sie mit einer hastigen Handbewegung über ihre Augen, doch Dr. Daniel sah nur allzu deutlich die Tränenspuren auf ihren Wangen.

Spontan setzte er sich neben seine Tochter und legte einen Arm um ihre Schultern.

»Seit du gestern aus der Klinik gekommen bist, bist du ja wie umgewandelt«, meinte er. »Was ist passiert?«

»Jeff hat mich getäuscht«, erklärte Karina. »Mehr will ich dazu nicht sagen, Papa.«

Aufmerksam sah Dr. Daniel sie an. »Und das tut so weh?«

Heftig schüttelte Karina den Kopf. »Nein, es tut überhaupt nicht weh. Ich bin einfach nur wütend, weil ich mich habe reinlegen lassen.«

Doch ihr Gesicht drückte etwas völlig anderes aus, und Dr. Daniel konnte dies sehr wohl deuten. Trotzdem ließ er es vorerst dabei bewenden. Zuerst wollte er mit Dr. Parker über diese Angelegenheit sprechen.

Die Gelegenheit dazu ergab sich dann schon wenige Stunden später.

»Jeff, ich wüßte gern, was zwischen Ihnen und Karina vorgefallen ist«, kam Dr. Daniel gleich zur Sache.

Dr. Parker atmete tief durch. »Ich habe versucht, ihr zu helfen, aber sie hat das leider ganz falsch aufgefaßt.« Er senkte den Kopf. »Vielleicht hätte ich es ihr aber auch anders sagen sollen. Aus psychologischer Sicht habe ich mich vermutlich benommen wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen.«

Dr. Daniel seufzte. »Warum sprechen Sie eigentlich in Rätseln, Jeff? Können Sie mir nicht einfach klipp und klar sagen, was vorgefallen ist?«

Dr. Parker zögerte. »Karina hatte Probleme mit der Intubation. Ich habe es ihr gezeigt, und dann ließ ich sie selbst intubieren – allerdings unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Sie mußte den Eindruck bekommen, daß es um Leben und Tod ginge, was in Wirklichkeit gar nicht der Fall war.«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Mein lieber Jeff, das sind wirklich nicht erschöpfende Auskünfte, die ich da von Ihnen bekomme.« Er schwieg einen Moment. »Meine Tochter hüllt sich ebenfalls in Schweigen. Sie sagte mir nur, daß sie von Ihnen getäuscht worden wäre.«

Dr. Parker nickte. »So muß es für sie auch ausgesehen haben, aber… ich wollte das nicht. Ich wollte ihr wirklich nur helfen.« Jetzt war er es, der seufzte. »Ich wünschte, ich könnte es ihr erklären, aber… sie will mich nicht mehr sehen, und dafür habe ich unter den gegebenen Umständen eigentlich sogar Verständnis.« Er sah Dr. Daniel an. »Bitte, fragen Sie nicht weiter, Robert. Ich möchte zu dieser Angelegenheit nichts mehr sagen.«

Dann drehte er sich um und ging.

»Soll ich dir sagen, was passiert ist?«

Dr. Daniel fuhr herum und sah sich seinem Sohn Stefan gegenüber, der in der Waldsee-Klinik seine Assistenzzeit abgeleistet hatte und nun noch bis Ende des Jahres als Arzt hier arbeitete. Dann würde er in der Sommer-Klinik seinen Facharzt machen.

»Weißt du es denn?« fragte Dr. Daniel zurück.

Stefan nickte. »Ich habe es zufällig mitbekommen, weil ich noch im OP war. Jeff und Karina haben mich übrigens nicht bemerkt, und ich möchte auch nicht unbedingt, daß sie etwas davon erfahren.«

»Mein Dienst ist seit fünf Minuten beendet«, entgegnete Stefan, dann verließ er an der Sei-

te seines Vaters die Klinik. An

der Uni geht es gerade um die Anästhesie, und damit hat Karina schwere Probleme.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht liegt es letztlich an Professor Schneider. Er hat mich ja auch schon fürchterlich getriezt, als ich noch Student war.«

Dr. Daniel seufzte. »Ich kenne ihn. Er sieht immer rot, wenn Söhne oder Töchter von Ärzten Medizin studieren. Irgendwie scheint er nicht daran zu glauben, daß die Liebe zur Medizin in der Familie liegen könnte.«

»Wie auch immer. Er muß Karina jedenfalls ziemlich zugesetzt haben, und daraufhin hat sie sich vor der gesamten Studienklasse bist auf die Knochen blamiert, weil sie es nicht schaffte, den Tubus in die Luftröhre zu bringen.«

»Du bist ja wirklich gut informiert«, stellte Dr. Daniel fest. »Davon hat mir Karina kein Wort erzählt.«

Stefan grinste. »Aber ihrem Bruderherz hat sie sich anvertraut.« Dann wurde er wieder ernst. »Zumindest bis zu ihrer Blamage. Alles weitere habe ich nur noch durch Zufall mitbekommen.« Er schilderte, was sich im Operationssaal zugetragen hatte.

»Als Karina erfuhr, daß der junge Mann nur eine leichte Narkose bekommen hatte und kein Muskelrelaxans, wie sie angenommen hatte, war sie mehr als verärgert«, schloß Stefan schließlich. »Sie nannte Jeff unter anderem einen hinterhältigen Schuft und erklärte, daß sie ihn nie wieder sehen wolle.« Er schwieg einen Moment. »Dabei liebt sie ihn«, fügte er dann leise hinzu.

Dr. Daniel nickte. »Diesen Eindruck hatte ich auch schon gelegentlich, aber sie streitet es ganz entschieden ab.«

»Ich schätze, sie weiß es einfach selbst noch nicht, oder sie will es zumindest nicht wahrhaben«, vermutete Stefan. »Aber ich kenne meine Schwester. Hätte das ein anderer Arzt mit ihr gemacht, wäre ihre Reaktion völlig anders ausgefallen. Jeffs Betrug – wenn man das, was er getan hat, so bezeichnen will – hat sie mitten ins Herz getroffen.«

*

Dr. Daniel hatte nach dem Gespräch mit seinem Sohn die Praxis noch nicht ganz erreicht, als ihm seine Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau aufgeregt entgegenkam.

»Herr Doktor! Ein Anruf aus der Waldsee-Klinik!« rief sie schon von weitem. »Frau Kortenhagen ist verschwunden!«

Dr. Daniel seufzte auf. »Heute geht’s aber wirklich wieder rund.« Dann machte er kehrt, bestieg sein Auto und fuhr, so schnell es die winterlichen Straßenverhältnisse erlaubten zur Klinik zurück.

In heller Aufregung stand Schwester Bianca in der Eingangshalle.

»Ich hätte es mir denken müssen«, erklärte sie völlig aufgelöst. »Als ich ihr auf dem Flur begegnete… sie war so komisch… hat kaum ein Wort gesagt…«

»Wann war das?« wollte Dr. Daniel wissen.

»Vor über zwei Stunden«, gestand Bianca. »Ich habe sie gefragt, ob sie einen Spaziergang machen möchte, und sie hat bejaht. Sie kam mir gleich schon so seltsam vor, und eigentlich wollte ich ihr in den Park folgen, aber dann… auf der Station war so viel los. Als ich vor zehn Minuten in ihr Zimmer geschaut habe, war sie noch immer nicht da.« Mit

einer fahrigen Handbewegung strich Bianca ihr halblanges dunkles Haar zurück. »Ich mache mir solche Vorwürfe.«

»Das müssen Sie nicht, Bianca«, entgegnete Dr. Daniel beruhigend. »Nicole ist sehr selbständig, und es spricht auch absolut nichts dagegen, wenn sie allein in den Klinikpark geht. Das hat sie schon mehrfach getan, und sie hat immer wieder zurückgefunden. Es bestand für Sie also auch diesmal kein Grund, sie zu begleiten.« Er schwieg einen Moment. »Wir werden jetzt nach ihr suchen. So unübersichtlich ist der Park ja nicht, daß jemand verlorengehen könnte.«

»Und wenn sie… zum Waldsee gegangen ist?« gab Bianca ihrer ärgsten Befürchtung Ausdruck. »Ich meine… sie war so komisch… hat kaum ein Wort gesagt, dabei ist sie doch sonst immer so aufgeschlossen.«

Während Bianca noch gesprochen hatte, hatten sie und Dr. Daniel die Klinik bereits durch den rückwärtigen Ausgang verlassen.

»Hat Nicole über Schmerzen geklagt?« wollte Dr. Daniel wissen.

Bianca schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie dachte eine Weile nach. »Es schien mir, als hätte sie es ziemlich eilig, die Klinik zu verlassen.«

»Seltsam«, murmelte Dr. Daniel und dache dabei unwillkürlich daran, wie glücklich Nicole gewesen war, als er gestern abend noch nach ihr gesehen und sie untersucht hatte. Voller Begeisterung hatte sie von dem jungen Sanitäter Mario Bertoni erzählt, und Dr. Daniel hatte gespürt, daß sich zwischen den beiden jungen Leuten eine zarte Romanze entwickelt hatte.

Zusammen mit Bianca durchstreifte Dr. Daniel den Klinikpark. Gestern hatte es noch einmal geschneit, doch die stille Hoffnung des Arztes, daß Fußspuren über die Richtung Aufschluß geben würden, die Nicole eingeschlagen hatte, erfüllte sich nicht. Zu viele Patienten waren heute schon im Park gewesen.

»Wenn sie hier spazierengehen würde, müßte man sie doch sehen«, meinte Bianca und blickte suchend über die schneebedeckte Wiese. Sie und Dr. Daniel hatten jetzt etwa die Mitte des Klinikparks erreicht, und hier standen kaum noch Bäume, die die Sicht hätten verdecken können. Man konnte ohne große Mühe bis zum Waldrand sehen.

Dr. Daniel nickte. Auch seine Sorge wuchs jetzt.

»Bianca, wir werden uns trennen«, erklärte Dr. Daniel. »Gehen Sie zu Nicoles Wohnung. Möglicherweise ist sie ja einfach nur aus irgendeinem Grund aus der Klinik geflüchtet und hat den Weg nach Hause eingeschlagen. Kennen Sie die Adresse?« Er wartete Biancas Bestätigung ab, dann fuhr er fort: »Ich werde in der Zwischenzeit den Wald in der Umgebung des Sees absuchen.«

»In Ordnung, Herr Doktor«, stimmte Bianca rasch zu, dann lief sie los, während Dr. Daniel eiligst den Weg zum Waldrand zurücklegte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Wenn Bianca recht hatte, dann war Nicole jetzt seit ungefähr zweieinhalb Stunden in der Kälte unterwegs. Falls sie in Bewegung war, wäre das auch in der kalten Winterluft nicht weiter schlimm gewesen, doch wenn sie sich irgendwo hingesetzt hatte… oder gar…

Dr. Daniel wagte es nicht, den bedrohlichen Gedanken zu Ende zu führen, und dabei fragte er sich wieder, was Nicole nur veranlaßt haben könnte, so etwas zu tun.

Vielleicht ist sie ja doch zu Hause, dachte er ganz hoffnungsvoll.

»Nicole!« rief er, doch er bekam keine Antwort.

Inzwischen hatte er den Waldsee erreicht, den eine dicke Eisschicht überzog. Dr. Daniel blieb am Ufer stehen und blickte suchend über den vereisten See. Er wollte sich schon abwenden und im immer dichter werdenden Wald weitersuchen, als er plötzlich etwas Rotes zwischen den Bäumen am Ufer entdeckte.

Prüfend setzte Dr. Daniel einen Fuß auf den zugefrorenen See, doch das Eis war fest genug, um ihn zu tragen.

»Nicole!« rief er noch einmal, und jetzt sah er, wie sich die Gestalt am anderen Ende des Sees ein wenig bewegte.

So schnell es die glatte Eisfläche unter seinen Schuhen erlaubte, überquerte Dr. Daniel den See und ging dann vor der völlig apathisch wirkenden Nicole in die Hocke.

»Er ist zugefroren.«

Dr. Daniel hatte Mühe, die leise gesprochenen Worte zu verstehen, zumal Nicole bereits so unterkühlt war, daß ihr das Sprechen schwerfiel.

Kurzerhand nahm Dr. Daniel die junge Frau auf die Arme und ging mit ihr den Weg zurück, den er gekommen war. Kraftlos hing Nicole in seinen Armen und entwickelte dabei ein beachtliches Gewicht. Dazu kam, daß der Weg über den eisigen See mit jedem Schritt anstrengender wurde, so daß Dr. Daniel schon nach wenigen Minuten zu keuchen begann.

Endlich hatte er das andere Ufer erreicht und setzt Nicole für ein paar Augenblicke ab, um zu verschnaufen. Teilnahmslos ließ die junge Frau alles mit sich geschehen.

»Herr Doktor, sie ist nicht…« begann Bianca, die gerade aus dem Ort zurückkehrte und Dr. Daniel zwischen den Bäumen am Ufer gesehen hatte. Jetzt entdeckte sie auch Nicole und stieß einen Schreckenslaut aus, bevor sie sich im Laufschritt auf den Weg zur Klinik machte.

Inzwischen hatte Dr. Daniel Nicole wieder auf die Arme genommen und ging mit ihr auf den rückwärtigen Eingang der Klinik zu. Auf halbem Weg kamen ihm die beiden Krankenpfleger entgegen, die von Bianca alarmiert worden waren.

Nun ging es eiligst in die Klinik zurück, und hier wurde Nicole gleich versorgt. Durch die warme Kleidung, die sie getragen hatte, war die Unterkühlung glücklicherweise noch nicht allzuweit fortgeschritten. Viel mehr Sorge bereitete Dr. Daniel die Teilnahmslosigkeit seiner jungen Patientin, die einen völlig apathischen Eindruck machte.

»Nicole, was ist passiert?« fragte er behutsam und setzte sich dabei ohne große Umstände auf die Bettkante. »Warum warst du da am See?«

Langsam wandte Nicole ihm ihr Gesicht zu, und Dr. Daniel erschrak vor der Hoffnungslosigkeit, die er in ihren Zügen erkennen konnte.

»Er ist zugefroren«, wiederholte sie, schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Wäre jetzt nicht Winter, hätte ich es schon hinter mir.«

Dr. Daniel runzelte besorgt die Stirn. »Nicole, ich hoffe, daß ich dich da eben falsch verstanden habe.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Doktor, Sie haben ganz richtig verstanden. Ich will nicht mehr leben.«

»Nicole!« rief Dr. Daniel entsetzt. »Um Himmels willen, wie kommst du denn nur auf einen so schrecklichen Gedanken. Erst gestern…«

»Gestern war auch alles noch ganz anders«, fiel die junge Frau ihm traurig ins Wort. »Gestern glaubte ich noch, daß Mario mich lieben würde, doch heute weiß ich, wie es wirklich ist.«

»Und… wie ist es?« hakte Dr. Daniel nach.

Nicole schwieg so lange, daß er bereits dachte, sie würde seine Frage überhaupt nicht mehr beantworten. Dann aber begann sie plötzlich zu sprechen – leise und monoton, wie eine Puppe, die man aufgezogen hat. Sie erzählte, was vorgefallen war, so, als würde sie über einen wenig interessanten Zeitungsbericht sprechen. Doch gerade diese innere Gleichgültigkeit erschreckte Dr. Daniel. Nicole wirkte, als wäre ihr Lebenswille erloschen.

»Woher weißt du, daß diese Frau die Wahrheit gesagt hat?« fragte Dr. Daniel und hoffte, daß er Nicole aus dieser fürchterlichen Lethargie befreien könnte.

»Ich weiß es«, erwiderte Nicole nur, dann wandte sie Dr. Daniel ihr Gesicht wieder zu. »Und sie hat recht. Ich werde Mario nie sagen können, daß er gut aussieht. Ich könnte ihm höchstens sagen, daß seine Stimme in meinen Ohren wie Musik klingt und daß ich sie im Herzen trage.«

»Für mich ist das eine weit schönere Liebeserklärung«, entgegnete Dr. Daniel. »Glaubst du nicht, daß Mario genauso empfinden könnte?«

Nicole schüttelte den Kopf.

»Ich kenne ihn zwar nur flüchtig«, fuhr Dr. Daniel fort, »aber mein Eindruck von ihm unterscheidet sich grundlegend von dem was diese Frau behauptet hat.« Er griff nach Nicoles Hand und drückte sie sanft. »Gib ihm bitte Gelegenheit, die ganze Geschichte aus seiner Sicht zu schildern.«

Wieder schüttelte Nicole den Kopf, dann erschrak sie. »Er weiß, in welchem Zimmer ich liege!« Mit einem Ruck schlug sie die Decke zurück. Von ihrer Apathie war plötzlich nichts mehr zu spüren – ganz im Gegenteil. Plötzlich wirkte sie wie aufgedreht… nervös, fahrig. »Ich muß sofort von hier weg!«

»Nein, mein Fräulein, das kommt gar nicht in Frage«, widersprach Dr. Daniel entschieden. »Noch ist deine Entzündung nicht ausgeheilt, und ich bin sicher, daß sich dein Ausflug in die Kälte nicht positiv auf deine Genesung auswirken wird. Ein paar Tage wirst du schon noch hierbleiben müssen.«

Da brach Nicole in Tränen aus. »Ich will Mario nicht begegnen. Er würde mich doch nur wieder belügen. Bitte, Herr Doktor, lassen Sie mich nach Hause gehen. Ich werde auch im Bett bleiben, wenn Sie es verlangen, aber bitte… bitte zwingen Sie mich nicht, in der Klinik zu bleiben.«

Dr. Daniel seufzte tief auf, dann faßte er einen Entschluß.

»Gut, Nicole, ich sehe ein, daß du im Moment zu aufgewühlt bist, um dich mit Mario auseinanderzusetzen«, erklärte er. »Ich mache dir daher einen anderen Vorschlag. Du kommst mit in meine Villa. Da bist du dann nicht nur vor Besuchen jeglicher Art sicher, sondern du hast dort auch medizinische Betreuung, denn wenn ich nicht zu Hause bin, kann sich meine Frau um dich kümmern. Sie ist Allgemeinmedizinerin und…«

»Ich kenne Frau Dr. Carisi… ich meine Frau Dr. Daniel… Ihre Frau.«

Dr. Daniel mußte schmunzeln. Obwohl er mit Manon nun schon eine ganze Weile verheiratet war, hatte man sich in Steinhausen noch immer nicht an ihren neuen Namen gewöhnt.

»Also, dann nehmen wir die Übersiedlung in meine Villa jetzt gleich in Angriff«, beschloß Dr. Daniel. »Ich gehe aber davon

aus, daß du solche Dummheiten wie gerade eben nicht wieder begehst.«

Nicole schwieg eine Weile, dann ließ sie sich zu einem Zugeständnis hinreißen, das Dr. Daniel allerdings nicht beruhigen konnte.

»Solange ich in Ihrem Haus bin, werde ich Ihnen keine Schwierigkeiten machen, Herr Doktor.«

*

»Hallo, Schwesterherz, willst du ein bißchen Krankenhaus schnuppern?« fragte Stefan Daniel betont munter. Seit jenem Zwischenfall im Operationssaal hatte sich Karina mehr und mehr von ihrer Umwelt zurückgezogen. Wenn sie nicht in der Uni war, saß sie meistens in ihrem Zimmer und ließ niemanden mehr an sich heran.

Auf Stefans Angebot schüttelte sie nur den Kopf und wollte dann das Eßzimmer verlassen. Ihr Bruder warf einen Blick auf den Teller, wo nur eine Miniportion lag, die kaum angerührt war, dann stand er auf und folgte seiner Schwester.

»Komm schon, Karina, ich habe Nachtdienst«, erklärte er. »Da könntest du mir ruhig ein bißchen Gesellschaft leisten, und vielleicht lernst du zusätzlich auch noch etwas dabei.«

Mit gesenktem Kopf stand Karina da. »Ich will ihm nicht begegnen.«

Obwohl sie keinen Namen nannte, wußte Stefan sofort wen sie meinte.

»Er wird nicht hier sein«, entgegnete er. »Ich habe Nachtdienst, und Gerrit hat Bereitschaft. Du wirst Jeff also keinesfalls begegnen.«

Karina wurde schwankend. Ihrem Bruder beim Nachtdienst Gesellschaft zu leisten, hatte ihr immer gut gefallen. Überhaupt hatte sie es geliebt, ein bißchen in die Klinik hineinzuschnuppern, doch jetzt…

»Und? Was ist? Kommst du nun mit?« hakte Stefan nach, weil seine Schwester nichts mehr sagte.

Karina seufzte. »Du gibst ja doch keine Ruhe. Also schön, ich komme mit.« Sie zuckte die Schultern. »Ist ja auch egal, wo ich herumsitze, in der Klinik komme ich wenigstens nicht ins Grübeln.«

Stefan grinste. »Es sei denn, es wird ausnahmsweise eine ruhige Nacht.« Dann seufzte er. »Die hatte ich bisher aber nur höchst selten.«

Es sah auch diesmal nicht danach aus, wie Stefan schon bei der Dienstübergabe feststellen konnte. Auf der Chirurgie lagen etliche Patienten, die ihm vom Chefarzt und Oberarzt besonders ans Herz gelegt wurden. Dann waren Stefan und Karina mit der Nachtschwester allein.

»Ich mache gleich mal eine Runde«, beschloß Stefan und sah seine Schwester an. »Willst du mitkommen?«

Karina nickte, dann seufzte sie. »Hattest du es eigentlich auch so schwer?«

Aufmerksam betrachtete Stefan sie. »Was meinst du, Karina? Das Studium oder die Liebe?«

»Das Studium natürlich«, bekräftigte Karina. »Die Liebe kann mir ohnehin gestohlen bleiben!«

Mein lieber Mann, das sitzt aber tief, dachte Stefan, hütete sich jedoch davor, seine Gedanken auszusprechen.

»Mit Professor Schneider hatte ich schon meine liebe Not«, gestand er offen ein. »Und ich hatte ebenfalls meine Schwachstellen – zwar nicht mit der Intubation, aber…« Er winkte ab. »Nimm es dir nicht so zu Herzen, Karina. Dir liegt die Medizin im Blut, auch wenn Professor Schneider etwas anderes behauptet. Abgesehen von der Anästhesie hattest du bis jetzt doch noch keine Probleme.«

»Ja, schon«, räumte Karina ein, dann seufzte sie wieder. »Ich bin in letzter Zeit einfach so unsicher geworden. Professor Schneider hat ein paar Studenten intubieren lassen, aber keiner hat sich dabei so dämlich angestellt wie ich. Und Jeff hat gesagt, die Intubation müsse jeder Arzt beherrschen.« Niedergeschlagen ließ sie sich gegen die Wand sinken. »Im Grunde hätte er mir das gar nicht sagen müssen. Ich hätte es auch so gewußt, und deshalb dachte ich… ich dachte, daß ich doch lieber bei Jura hätte bleiben sollen. Irgendwie…«

»Herr Doktor, darf ich Sie kurz stören?«

Stefan drehte sich um und sah sich dem jungen Sanitäter Mario Bertoni gegenüber.

»Ich habe heute auch Nachtdienst«, erklärte er, dann blickte er zu Boden. »Ich… ich weiß nicht, an wen ich mich noch wenden soll. Nicole… Frau Kortenhagen… sie ist seit zwei Tagen spurlos verschwunden… und gleichgültig, wen ich frage… ich bekomme keine Antwort.«

Noch ein Liebeskranker, mußte Stefan unwillkürlich denken. Er hatte den jungen Sanitäter in den letzten beiden Tagen mehrmals wie ein Gespenst durch die Flure schleichen sehen.

»Haben Sie meinen Vater schon nach ihr gefragt?« wollte er wissen.

Mario schüttelte den Kopf. »Ihr Vater hat immer so viel zu tun, und ich dachte… es gehört sich nicht, wenn ich ihn auch noch damit belästige.«

»Er wäre Ihnen bestimmt nicht böse gewesen«, meinte Stefan. »Im übrigen ist er der behandelnde Arzt von Frau Kortenhagen. Wenn Ihnen also jemand etwas über den Verbleib der jungen Dame sagen kann, dann ist es mein Vater.«

Mario nickte. »Ich werde versuchen, morgen mit ihm zu sprechen.«

Dabei klang seine Stimme so deprimiert, daß Stefan Mitleid mit ihm fühlte.

»Es ist gerade mal halb zehn Uhr abends«, erklärte er. »Mein Vater ist also sicher noch nicht im Bett. Fahren Sie doch rasch zu ihm hinüber.«

Ein dankbarer Blick aus den dunklen Augen traf Stefan, doch die anfängliche Freude über dieses Angebot legte sich sofort wieder.

»Ich habe Dienst«, wandte Mario ein. »Eigentlich hätte Richard Schermann auch da sein müssen, aber er hat mich angerufen und gesagt, er wäre krank. Wenn ich jetzt auch noch gehe und es zu einem Notfall kommt…«

»Wenn es sein muß, kann ich einen Krankenwagen fahren«, entgegnete Stefan, obwohl er wußte, daß ein solches Angebot äußerst riskant war. »Im übrigen ist meine Schwester noch da und kann notfalls Erste Hilfe leisten. Außerdem werden Sie sicher nicht stundenlang unterwegs sein.«

Mario nickte eifrig. »In einer Viertelstunde bin ich wieder zurück.«

»Also, dann zischen Sie mal los«, meinte Stefan.

»Wolfgang wird dich zur Schnecke machen, wenn er etwas davon erfährt«, prophezeite Karina. »Er wird schon toben, wenn er hört, daß nur ein Sanitäter zum Nachtdienst da war, und wenn er dann noch herauskriegt, daß du diesen einen hast weggehen lassen, dann kannst du dein Testament machen.«

»Wirst du es ihm sagen?« wollte Stefan wissen.

»Unsinn«, wehrte Karina ab. »Glaubst du vielleicht, ich würde meinen lieben Bruder in Schwierigkeiten bringen?«

»Na, siehst du. Und die Wahrscheinlichkeit, daß während dieser Viertelstunde, in der der junge Bertoni weg ist, ein Notfall gemeldet wird, ist nicht sehr wahrscheinlich.«

»Mögest du recht behalten«, entgegnete Karina nur.

*

Blaß und schmal lag Nicole im Gästebett, das Dr. Daniel ihr zur Verfügung gestellt hatte. Ihr Blick schien aus dem Fenster zu gehen, obwohl sie den im letzten Sonnenlicht glitzernden Schnee nicht sehen konnte, ebensowenig wie den mächtigen Kreuzberg, der unmittelbar vor dem Fenster aufragte. Sie bemerkte auch nicht, daß Dr. Daniel in regelmäßigen Abständen nach ihr sah.

Er machte sich große Sorgen um die junge Frau. Manchmal, wenn sie schlief, lag auf ihrem Gesicht ein glücklicher Ausdruck, doch wenn sie dann erwachte, wirkte sie nur noch trauriger und niedergeschlagener als zuvor.

»Nicole, kann ich etwas für dich tun?« fragte Dr. Daniel, als er gegen halb zehn Uhr abends noch einmal zu ihr ins Zimmer kam.

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. »Manchmal habe ich das Gefühl, als müßte ich aufspringen und zur Klinik laufen… dorthin, wo Mario ist. Aber dann…« Sie schwieg und dachte an Fionas Worte: ›… Mario ist eitel, er will immer wieder hören, wie gut er aussieht. Ich kann es ihm sagen – Sie werden dazu nie in der Lage sein.‹

Nicole spürte, wie diese Worte immer mehr Kraft über ihren Körper und ihre Seele gewannen.

Ich werde noch verrückt, dachte sie. Nein, ich bin es schon. Verrückt vor Sehnsucht nach Mario.

»Ich sollte ihn hassen«, flüsterte sie. »Für das, was ich jetzt durchmache, sollte ich ihn hassen, aber… ich liebe ihn. Ich liebe ihn mehr als alles andere auf der Welt.«

»Dann solltest du ihm auch eine Chance geben«, meinte Dr. Daniel. »Konfrontiere ihn mit dem, was diese Frau gesagt hat, und bitte ihn, dir die Wahrheit zu sagen.«

Nicole senkte den Kopf. »Dazu fehlt mir leider der Mut, Herr Doktor. Was diese Frau gesagt hat, tat weh, aber das alles noch einmal aus Marios Mund hören zu müssen – das wäre mehr, als ich ertragen könnte. Daran würde ich zugrunde gehen.«

*

Dr. Daniel hatte das Gästezimmer nach dem Gespräch mit Nicole gerade verlassen, als es an der Haustür klingelte. Rasch lief er die Treppe hinunter und öffnete.

»Herr Bertoni.« Dr. Daniel war sichtlich überrascht. »Was führt Sie um diese Zeit noch zu mir?«

»Ihr Sohn hat gesagt… ich meine… ich suche Nicole«, stammelte Mario. »Wissen Sie, wo sie ist?«

Dr. Daniel zögerte einen Moment, dann ließ er den jungen Mann eintreten und begleitete ihn in die Praxis.

»Hier können wir uns ungestört unterhalten«, erklärte er. »Ich weiß tatsächlich, wo Nicole ist, aber ohne ihre Einwilligung darf ich Ihnen das natürlich nicht sagen.«

Mit beiden Händen fuhr sich Mario durch die tiefschwarzen Locken.

»Ich verstehe das einfach nicht«, seufzte er. »Ich liebe Nicole, und eigentlich dachte ich, sie würde für mich das gleiche fühlen. Vor drei Tagen waren wir noch zusammen und… ich war so glücklich mit ihr. Dann war sie plötzlich verschwunden…« Er zuckte die Schultern. »Ich verstehe das nicht«, wiederholte er.

Aufmerksam betrachtete Dr. Daniel den jungen Mann. Er hatte nicht den Eindruck, als würde Mario ihm etwas vorspielen. Seine Verzweiflung wirkte echt… ebenso echt wie seine Liebe zu Nicole.

»Sie haben Nicole also nicht nur aus Mitleid besucht und ihr nicht nur Gefühle vorgespielt. um sie über ihre Blindheit hinwegzutrösten?« fragte er, obwohl er sich die Antwort bereits denken konnte.

Entsetzt starrte Mario ihn an. »Wie kommen Sie denn auf einen solchen Gedanken? Ich liebe Nicole. Ich habe sie vom ersten Augenblick an geliebt… als sie im Krankenwagen lag und wir sie in die Waldsee-Klinik gebracht haben. Sicher, damals wußte ich noch nicht, daß sie blind ist, aber dann… im Klinikpark… ich hätte vor lauter Freude am liebsten einen Luftsprung gemacht, als ich sie so unverhofft wiedersah.« Er schwieg kurz. »Ich gebe offen zu – als ich erfuhr, daß sie blind ist… es war ein Schock für mich, aber dann… dann kam zu meiner Liebe noch grenzenlose Bewunderung hinzu.« Er stand auf und trat direkt vor Dr. Daniel hin. »Herr Doktor, ich kann und will ohne Nicole nicht mehr leben, und notfalls werde ich ganz Steinhausen auf den Kopf stellen, um sie zu finden.«

Dr. Daniel zögerte einen Moment, dann meinte er: »Warten Sie hier, Herr Bertoni. Ich werde mit Nicole sprechen. Ich kann Ihnen nicht versichern, daß sie Sie sehen will, aber ich werde jedenfalls mein Möglichstes für Sie tun.«

Für einen Moment dachte Mario an seinen Dienst, doch seine Liebe zu Nicole war stärker… seine Liebe zu ihr und das Bedürfnis mit ihr über ihr seltsames Verschwinden zu sprechen. Er mußte einfach wissen, warum sie das getan hatte… warum sie an seiner Liebe zweifelte, und dabei hoffte er inständig, daß es während seiner Abwesenheit von der Klinik zu keinem Notfall kommen würde.

*

Dr. Jeffrey Parker verabschiedete sich an diesem Abend sehr viel früher von seinen Vereinskameraden als sonst, aber er konnte sich jetzt wirklich nicht auf Karate konzentrieren, denn vor seinem geistigen Auge stand immer nur Karinas entsetztes Gesicht. Und ihre harten Worte hallten noch in seinen Ohren nach: »Du hinterhältiger Schuft! Ich will dich nie wieder sehen!«

Er stieg ins Auto und lehnte mit einem tiefen Seufzer die Stirn gegen das Lenkrad. In den vergangenen Tagen hatte er sich immer wieder gewünscht, er könnte das, was an jenem Tag im Operationssaal passiert war, ungeschehen machen. Was er getan hatte, war falsch gewesen, doch es war nun zu spät, um noch darüber nachzugrübeln, was hätte sein können…

Noch einmal seufzte Dr. Parker, dann ließ er den Motor an und fuhr langsam los. Es war keine weite Fahrt von hier bis zu seiner kleinen Wohnung in Steinhausen, doch bei den momentan herrschenden Straßenverhältnissen würde sie mehr Zeit in Anspruch nehmen als üblich.

»Was soll’s?« murmelte sich Dr. Parker zu. »Auf mich wartet ja niemand.« Und das stimmte ihn zum ersten Mal, seit er nach Deutschland gekommen war, richtig traurig. Der Wunsch, es würde jemand zu Hause sein und auf ihn warten, wurde so übermächtig in ihm, daß es beinahe schmerzte. Und er verband diesen Wunsch mit einem ganz bestimmten Gesicht. Doch seine letzte Erinnerung an dieses Gesicht waren nur zornfunkelnde Augen und harte Worte, die ihn mitten ins Herz getroffen hatten.

Auf der dunklen, schneebedeckten Straße vor ihm tauchte ein schwer mit Holz beladener Sattelschlepper auf. Dr. Parker nahm das Tempo noch mehr zurück, denn an ein Überholen war auf der gewundenen Landstraße ohnehin nicht zu denken. Der Sattelschlepper wurde langsamer, weil es jetzt bergauf ging. Dr. Parker schaltete in den zweiten Gang zurück, dann warf er einen kurzen Blick auf die Uhr. In fünf Minuten würde er zu Hause sein.

In diesem Moment hörte er ein eigenartiges Geräusch, das er erst deuten konnte, als einer der vereisten Holzstämme von dem Sattelschlepper herunterrutschte. Obwohl Dr. Parker sofort bremste und auszuweichen versuchte, rammte der Stamm noch den rechten Kotflügel seines Autos. Der Wagen drehte sich halb um die eigene Achse, während ein zweiter Holzstamm das Heckfenster durchschlug und mit solcher Wucht gegen den Fahrersitz prallte, daß Dr. Parker nach vorn geschleudert wurde. Das Lenkrad preßte sich gegen seine Brust,

und er junge Arzt fühlte noch die schier unerträglichen Schmerzen, als etliche Rippen brachen.

Unter dem Donnern der herabfallenden Baumstämme liefen vor Dr. Parkers geistigem Auge wie im Zeitraffer Bilder seines Lebens vorbei. Seine Verlobung mit Doreen, der tragische Tod seiner Verlobten, seine Übersiedlung nach Deutschland, seine erste Begegnung mit Karina…

Damals, nach Doreens Tod, hatte er sich so manches Mal gewünscht, er könnte auch sterben, doch jetzt… jetzt war plötzlich alles anders. Er wollte leben…

Dr. Parker hörte, wie jemand an das Seitenfenster seines Wagens hämmerte, doch er schaffte es nicht, sich zu bewegen. Die Schmerzen waren so schlimm, daß es ihm beinahe den Atem nahm. Röchelnd rang er nach Luft, er fühlte den Blutgeschmack auf der Zunge und hatte das untrügliche Gefühl, das sei jetzt das Ende.

Kraftlos sanken seine Arme herab, es wurde dunkel um ihn, und dann hörten die Schmerzen endlich auf…

*

»Herr Doktor!« rief Nachtschwester Irmgard aufgeregt. »Ein schrecklicher Unfall kurz vor Steinhausen! Von einem Sattelschlepper sind Baumstämme auf ein Auto gefallen.«

»Oh, nein«, knurrte Stefan, dann eilte er im Laufschritt zum Krankenwagen hinaus. »Komm, Karina, vielleicht brauche ich dich.«

»Die Gefahr, daß es während Marios Abwesenheit zu einem Notfall kommt, ist nicht sehr wahrscheinlich«, erinnerte Karina nicht ohne Sarkasmus, während sie zu Stefan in den Krankenwagen sprang. »Das war ein Irrtum, Bruderherz.«

»Wenn er wirklich nur eine Viertelstunde bei Papa geblieben wäre, dann wäre er jetzt längst wieder da«, entgegnete Stefan, schaltete Blaulicht und Martinshorn ein und jagte los, so schnell es die schneebedeckten Straßen erlaubten.

Die Fahrt zur Unfallstelle war kurz, doch das Bild, das sich den Geschwistern bot, dafür um so grauenvoller. Das Auto war halb unter tonnenschweren, vereisten Baumstämmen begraben, und Polizei und Feuerwehr bemühten sich darum, die Tür aufzustemmen.

»Er bewegt sich nicht!« stieß der Fahrer des Sattelschleppers hervor, dann strich er mit einer fahrigen Handbewegung über sein Gesicht. »Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte. Die Stämme waren doch festgezurrt… dreimal habe ich es noch überprüft…«

Karina hörte nicht mehr zu, denn in diesem Moment fiel ihr Blick auf das abgerissene Nummernschild, das unter einem der Baumstämme hervorschaute. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken.

»Das ist Jeffs Auto!« Ihre Stimme überschlug sich beinahe. »O mein Gott, das ist…«

Inzwischen hatte Stefan bereits die fahrbare Trage aus dem Krankenwagen geholt.

»Karina, du verständigst über Funk sofort die Klinik«, befahl er. »Wir brauchen das gesamte Team. Schwester Irmgard soll außerdem versuchen, Teirich herbeizuschaffen. So, wie das Auto aussieht, könnte ein Neurochirurg nötig sein.«

Jetzt endlich war es den Feuerwehrmännern gelungen, die Tür aufzustemmen und Dr. Parker, der zwischen Fahrersitz und Lenkrad eingeklemmt war, zu befreien. Vorsichtig wurde er auf die fahrbare Trage gelegt, und Stefan verschaffte sich einen ersten Überblick über die Verletzungen.

Karina eilte sofort herbei. Aus weitaufgerissenen Augen starrte sie auf das wächserne Gesicht des Mannes, von dem sie behauptet hatte, ihn zu hassen, dabei sprach ihr Herz doch etwas völlig anderes. Mit einem leisen Aufschluchzen sank sie auf die Knie und berührte Dr. Parkers Gesicht, dann zuckte sie erschrocken zurück.

»Stefan, er atmet nicht mehr!« stieß sie hervor.

Der junge Arzt murmelte etwas Unverständliches, dann warf er Karina einen kurzen Blick zu. »Du mußt intubieren.«

Entsetzt starrte sie ihren Bruder an. »Das kann ich nicht!«

»Doch!« erwiderte Stefan ziemlich energisch. »Jeff hat es dir beigebracht. Los, Karina, diesmal geht es wirklich um Leben und Tod, und ich kann dir jetzt nicht helfen. Ich muß an der Femoralis einen Druckverband anlegen, sonst verblutet er.«

Mit zitternden Händen griff Karina nach dem Laryngoskop und führte es vorsichtig ein, um die Stimmbändern zu prüfen, dann schob sie den Tubus durch seinen Mund in die Luftröhre. Ein kurzer Blick zu Stefan zeigte ihr, daß er keine Zeit haben würde, um zu überprüfen, ob sie richtig gearbeitet hatte.

Er liegt nicht in der Speiseröhre, versuchte sich Karina einzureden, doch ein Rest des Zweifels blieb zurück. Sie hatte schon so oft falsch intubiert. Jeffs Stimme klang ihr noch in den Ohren.

»Davon solltest du dich aber besser überzeugen, bevor deinem Patienten der Magen platzt.«

Doch Jeffs Magen platzte nicht. Sein Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus der künstlichen Beatmung.

»Okay!« rief Stefan in diesem Moment und sprang auf. »Jetzt ab in die Klinik, aber schnell.«

Er und Karina schoben die Trage zum Krankenwagen und hoben sie hinein.

»Du fährst«, befahl Stefan, während er zu Dr. Parker in den rückwärtigen Teil des Wagens stieg.

Karina schlug die Türen zu, dann setzte sie sich ans Steuer, schaltete das Martinshorn wieder ein und fuhr wie in Trance zur Klinik. Dabei wurde sie nur von einem einzigen Gedanken beherrscht: Jeff darf nicht sterben!

*

Nicole Kortenhagen war mehr als erstaunt gewesen, als Dr. Daniel an diesem Abend noch einmal an die Tür des Gästezimmers klopfte, das sie hier in der Villa bewohnte.

»Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt aber…« Er zögerte einen Moment. »Ich habe gerade Besuch bekommen.«

»Besuch?« wiederholte Nicole überrascht, dann dämmerte es ihr. »Mario.« Heftig schüttelte sie den Kopf. »Ich will ihn nicht sehen.« Dabei zog es sie mit jeder Faser ihres Herzens zu dem geliebten Mann hin.

»Nicole, ich will dich wirklich nicht beeinflussen«, entgegnete Dr. Daniel und setzte sich dabei auf die Bettkante, dann griff er nach der Hand der jungen Frau. »Mario ist ziemlich niedergeschlagen. Er versteht nicht, weshalb du so plötzlich aus seinem Leben verschwunden bist, und ich muß gestehen – ich glaube ihm. Vielleicht solltest du ihm eine Chance geben, alles aus seiner Sicht zu schildern.«

Nicole kämpfte mit sich, dann siegte die Sehnsucht in ihrem Herzen doch. »Also schön, ich spreche mit ihm. Aber nur, wenn Sie dabei sind. Sie können ihm in die Augen sehen, und in den Augen steht die Wahrheit geschrieben.«

Dr. Daniel war nicht ganz dieser Meinung. »Ich glaube nicht, daß du mich brauchen wirst. Die Wahrheit liegt auch in der Stimme, und diese feinen Nuancen hörst du viel besser heraus als ich.«

Nicole atmete tief durch. »Möglich.« Sie schwieg kurz, dann bat sie leise: »Bleiben Sie bitte bei mir… wenigstens am Anfang des Gesprächs.«

»Solange du es willst, Nicole«, sagte Dr. Daniel zu, doch er rechnete schon jetzt damit, daß die jungen Leute ihn nicht allzulange brauchen würden.

Er verließ das Zimmer und wartete draußen, bis sich Nicole angekleidet hatte. Dann begleitete er sie in seine Praxis. Bei ihrem Eintreten sprang Mario auf.

»Niki!«

Die Zärtlichkeit, die in diesem einen Wort lag, ließ Nicole vibrieren, doch dann kehrte die Erinnerung an das zurück, was Fiona gesagt hatte, und sie wich unwillkürlich vor ihm zurück.

»Sag mir die Wahrheit, Mario«, verlangte sie. »War es nur Mitleid, das dich zu mir geführt hat?«

»Nein, Niki«, wehrte Mario entschieden ab. »Ich schwöre dir, es war kein Mitleid! Wie kommst du nur auf so einen Gedanken?«

Nicole lauschte den Worten nach und spürte, daß Mario die Wahrheit sagte.

»Ich hatte Besuch«, erwiderte sie. »Eine Frau war bei mir und hat mir schreckliche Dinge erzählt.«

Im selben Moment wußte Mario Bescheid. »Fiona.« Grenzenloser Zorn stieg in ihm auf. »Dieses Biest!« Und dann konnte er sich nicht länger zurückhalten. Mit einem Schritt stand er vor Nicole, nahm sie zärtlich in die Arme und drückte sie an sich. »Sie hat gelogen, Niki. Das mußt du mir glauben. Fiona und ich… wir… wir waren eine Weile zusammen, doch es war bereits zu Ende, bevor ich dich kennenlernte.«

»Sie sagte, du würdest sie lieben.« Es fiel Nicole schwer, die Gemeinheiten der fremden Frau zu wiederholen, und nur die Gewißheit, daß Dr. Daniel noch hier war, und die beruhigende Nähe von Mario machten es ihr möglich, die nächsten Worte überhaupt auszusprechen. »Sie sagte, du wärst eitel und möchtest nur immer wieder hören, wie gut du aussiehst. Und… ich könnte dir das ja doch niemals sagen.« Sie hob den Kopf. »Mario… ist das wahr?«

Mario blickte in ihr wunderschönes Gesicht, sah die dunklen Augen, aus denen sich jetzt zwei glitzernde Tränen lösten, und er fühlte einen nie gekannten Schmerz – so, als würden die Tränen wie glühendes Eisen in sein Herz fallen.

»Es ist ganz dreist gelogen, Niki.« Seine Stimme klang leise und ein wenig heiser, weil ihm der Schmerz über die Qualen, die Nicole zugefügt worden waren, förmlich die Kehle zuschnürte. Er hatte das Gefühl, als könnte er kein weiteres Wort hervorbringen.

»Niki«, flüsterte er. »Geliebte kleine Niki, ich will in diesem Leben nur noch eines: Dich glücklich machen.«

Es war Nicole, als würde sich bei diesen Worten, vor allem bei dem Ton, in dem sie gesprochen waren, der schmerzhafte Knoten in ihrer Brust auflösen. Plötzlich waren alle Zweifel wie ausgelöscht. Mario sagte die Wahrheit, davon war Nicole jetzt restlos überzeugt, und mit einem seligen Seufzer lehnte sie sich gegen ihn.

»Ich liebe dich«, gestand sie leise. »Ich kann dir nicht sagen, ob du gut aussiehst oder nicht…«

»Das will ich auch gar nicht hören«, fiel Mario ihr ins Wort. »Ich bin nicht eitel… ich war es im übrigen noch nie. Und ich sehe auch überhaupt nicht gut aus.« Bei den letzten Worten vernahm Nicole, daß er lächelte.

»Das ist bestimmt nicht wahr«, meinte sie und brachte nun ebenfalls ein Lächeln zustande, dann hob sie den Kopf, und für einen Augenblick hatte Mario das Gefühl, als könnte sie sehen – bis auf den Grund seiner Seele.

»Ich kann dich fühlen, und ich höre deine Stimme, Mario«, fuhr Nicole fort. »Diese Stimme klingt in meinen Ohren wie Musik, und ich werde sie ein Leben lang in meinem Herzen tragen.«

Unwillkürlich stiegen Mario bei diesen Worten Tränen in die Augen. Liebevoll drückte er Nicole an sich, und dann fanden sich ihre Lippen zu einem zärtlichen Kuß. Sie waren so versunken, daß sie nicht hörten, wie die Tür leise ins Schloß fiel. Dr. Daniel war hinausgegangen, denn er wußte, daß er hier nicht mehr gebraucht wurde.

*

Das gesamte Team stand schon bereit, als der Krankenwagen eintraf. Dr. Parker wurde sofort in den Operationssaal gefahren.

»Ich will dabei sein!« rief Karina, doch Stefan hielt sie zurück.

»Nein, du wirst draußen warten«, erwiderte er energisch, denn er wußte genau, daß seine Schwester es niemals verkraften könnte, falls Jeff in ihrer Anwesenheit auf dem OP-Tisch sterben würde – und diese Möglichkeit war äußerst realistisch. Der junge Anästhesist befand sich in einem mehr als kritischen Zustand.

»Aber, Stefan!« begehrte Karina auf, doch da schlossen sich die Türen des Operationssaals auch schon hinter ihm. Karina war allein, und sie hatte das Gefühl, als würde eine Zentnerlast auf ihrem Herzen liegen.

»Jeff«, schluchzte sie leise, dann vergrub sie das Gesicht in den Händen. »O Gott, Jeff…«

»Hab keine Angst, Karina.«

Die junge Frau fuhr herum und sah sich der Krankenpflegehelferin Darinka Stöber gegenüber, die seit einiger Zeit Stefans Freundin war. Karina hatte keine Ahnung, weshalb das junge Mädchen mitten in der Nacht plötzlich in der Klinik aufgetaucht war, aber sie war froh, daß sie nun nicht mehr zu weiterem Alleinsein gezwungen war.

»Er hat die besten Ärzte«, fuhr Darinka mit sanfter Stimme fort. »Sie werden alles tun, um ihm zu helfen.«

Wie schutzsuchend lehnte sich Karina an das junge Mädchen.

»Ich war so häßlich zu ihm«, brachte sie mühsam hervor. »Dabei wollte er mir doch nur helfen… und… er hat es ja auch getan… er war immer gut zu mir… nett… verständnisvoll… wenn er stirbt… wenn ich ihm nicht mehr sagen kann…« Vor lauter Schluchzen konnte sie nicht mehr weitersprechen.

Tröstend nahm Darinka sie in den Arm. Sie wußte nicht, was sie noch sagen sollte, um Karina Mut zuzusprechen.

Plötzlich richtete sich Karina auf. »Ich muß Papa anrufen.«

Darinka wollte schon erwidern, daß Dr. Daniel in diesem Fall wohl auch nicht viel würde tun können. Schließlich war er Gynäkologe, doch, sie bremste sich im letzten Moment. Für Karina war jetzt nur wichtig, daß sie ihren Vater im Operationssaal wußte. Ob er für Jeff wirklich etwas tun könnte, war eine andere Sache.

Karinas Finger zitterten so sehr, daß sie es nicht einmal schaffte, die Nummer zu wählen. Darinka mußte ihr helfen, und als Dr. Daniel an den Apparat ging, stieß Karina nur hervor: »Jeff hatte einen entsetzlichen Unfall. Papa, du mußt ihm helfen! Wenn ihm jemand das Leben retten kann, dann du!«

»Ich bin in fünf Minuten da«, versprach Dr. Daniel, und es dauerte auch wirklich nicht länger, bis er und seine Frau Manon die Eingangshalle der Waldsee-Klinik betraten.

Im nächsten Moment hing Karina an seinem Hals.

»Er darf nicht sterben«, brachte sie unter Tränen hervor. »Papa… er darf nicht sterben… er darf es nicht…«

*

Währenddessen bemühten sich die Ärzte um den schwerverletzten Dr. Parker.

»Er hat Blut im Gehörgang«, stellte der Chefarzt fest. »Wir brauchen sofort ein Schädel-CT.«

Der junge Assistenzarzt Dr. Rainer Köhler holte den Rönt-

genapparat.

»Zeigen Sie die fertigen Aufnahmen dem Neurochirurgen«, fügte Dr. Metzler hinzu. »Er muß jeden Augenblick aus München eintreffen.«

»Intraabdominale Blutungen«, meldete der Oberarzt Dr. Scheibler. »Vermutlich ist die Milz gerissen.«

Dr. Metzler nickte. »Wir machen ihn auf.« Dann sah er Stefan an, der sich inzwischen keimfrei gemacht hatte und nun ebenfalls zum Operationsteam stieß. »Du machst eine Aufnahme vom Oberschenkel. Aufgrund der heftigen Blutungen vermute ich einen Oberschenkelschaftbruch.«

Währenddessen hatte Dr. Scheibler schon den Bauchschnitt gesetzt.

»Meine Güte«, stöhnte er jetzt auf. »Ein Wunder, daß er überhaupt noch lebt.«

Auch in Dr. Metzlers Augen zeigte sich Entsetzen, dann entfernte er die gerissene Milz. In diesem Moment betrat Dr. Franz Teirich den Operationssaal. Er arbeitete als Neurochirurg in der Münchner Thiersch-Klinik, sprang in Notfällen aber auch in der Waldsee-Klinik ein.

»Was sagen die Aufnahmen?« wollte Dr. Metzler wissen.

»Schädelfraktur mit Epiduralhämatom«, antwortete Dr. Teirich knapp. »Ich muß eine Kraniotomie vornehmen, um das Blut abzusaugen.« Er schwieg kurz. »Dabei kann ich nur hoffen, daß das Gehirn nicht beschädigt worden ist.«

»Petra, Sie assistieren Dr. Teirich«, ordnete Dr. Metzler an, woraufhin die OP-Schwester sofort den Standort wechselte. Ihren Platz nahm unaufgefordert der Assistenzarzt ein.

Stefan kam mit den Aufnahmen vom Oberschenkel zurück. Er sah Dr. Metzler an. »Du hattest recht. Oberschenkelschaftbruch.«

Wie aus dem Boden gewachsen standen plötzlich Dr. Daniel und seine Frau Manon im Operationssaal.

»Karina hat uns alarmiert«, erklärte Dr. Daniel und trat zu seinem Sohn. Dann betrachtete er die Bruchstelle. »Ich bin kein Chirurg, aber ich würde sagen, das läßt sich nur operativ einrichten.«

Stefan nickte, dann öffnete er die Bruchstelle und richtete die Bruchenden mit Hilfe seines Vaters ein, während Manon ihnen assistierte. Stefan fixierte die Bruchstelle mit einem Metallnagel, dann schloß er die Wunde. Das Bein wurde geschient und in einen Streckverband gelegt.

»Es tritt immer noch Blut in den Bauchraum«, murmelte Dr. Metzler. »Wenn ich nur wüßte…«

»Er kollabiert!« rief in diesem Moment seine Frau Erika, die in der Klinik neben Dr. Parker als zweite Anästhesistin arbeitete.

Dr. Metzler sah den Oberarzt an. »Gerrit, du legst einen arteriellen Zugang.« Rasch wandte er sich dem Assistenzarzt zu. »Rainer, bereiten Sie eine Bluttransfusion vor.« Er überlegte kurz. »Nein, geben Sie ihm das Blut besser im Druckbeutel.«

Dr. Köhler kam der Aufforderung unverzüglich nach, doch Dr. Parkers Zustand blieb weiterhin äußerst bedenklich.

Dr. Metzler spritzte ihm einen Milliliter Atropin, dann bereitete er eine Doparmin-Infusion vor, doch er kam gar nicht mehr dazu, sie anzuschließen.

»Multifokale Extrasystolen!« meldete Erika.

»Hundert Milligramm Lidocain intravenös!« ordnete Dr. Metzler an. Im selben Moment ertönte vom Monitor ein schriller Piepton, und die grade Linie zeigte, daß das Herz den Belastungen der Operation nicht mehr standhielt.

Mit einem Schritt war Dr. Metzler bei dem Patienten und begann mit der Herzmassage, während der Assistenzarzt den Defibrillator holte. Rasch trat Dr. Daniel hinzu und nahm Dr. Köhler die beiden Defibrillatorpaddel ab.

»Auf 200 laden«, kommandierte er, dann preßte er die Defibrillatorpaddel auf Dr. Parkers Brust. »Zurücktreten!« Er drückte auf den Knopf, der einen kurzen Stromstoß durch den Körper des Patienten jagte. Noch immer schrillte der entsetzliche Piepton durch den Raum.

»260!« ordnete Dr. Daniel an und wiederholte das ganze Manöver, doch auch diesmal reagierte Jeffs Herz nicht.

»300!« rief Dr. Daniel und drückte die Defibrillatorpaddel zum dritten Male auf Jeffs Brust. »Zurücktreten!« Wieder fuhr der Stromstoß durch den Körper des jungen Mannes. Der schrille Pfeifton verstummte und machte regelmäßigem Piepen Platz, das anzeigte, daß das Herz seine Arbeit wieder aufgenommen hat-

te.

»Wir haben ihn«, stieß Dr. Daniel hervor, und die Erleichterung war ihm dabei deutlich anzuhören. Währenddessen war Dr. Metzler schon zum Operationsfeld zurückgekehrt und stellte fast resignierend fest, daß noch immer Blut in den Bauchraum sickerte.

»Meine Güte, Junge, dich hat’s ja wirklich erwischt«, murmelte er, dann entdeckte er endlich die unscheinbare Verletzung, die zu den ständigen Blutungen führte.

»Endlich«, murmelte er. »Jetzt sollte sich auch der Blutdruck stabilisieren.«

»Hundert zu fünfzig«, meldete Erika.

Dr. Metzler nickte zufrieden, dann sah er zu dem jungen Neurochirurgen hinüber. »Wie sieht’s bei Ihnen aus, Franz?«

»Nicht schlecht«, urteilte der. »Ich muß nur noch die Schädeldecke schließen. Wegen der Infektionsgefahr sollte er allerdings noch Antibiotika bekommen.«

Dr. Metzler nickte.

»Er kommt auf Intensiv«, erklärte er, dann verließ er mit anderen Ärzten den Operationssaal und ging in den Waschraum hin-über.

Es wurde nichts gesprochen. Alle waren von der langen, anstrengenden Operation total erschöpft.

Dr. Daniel verließ den Wasch-raum als erster und trat auf den Flur. Im nächsten Moment kam Karina auf ihn zugelaufen. Ihr Gesicht war von beinahe durchscheinender Blässe, ihr Körper bebte wie im Schüttelfrost.

»Er lebt«, berichtete Dr. Daniel beruhigend.

Erleichtert atmete Karina auf, dann ließ sie sich kraftlos gegen ihren Vater sinken.

»Gott sei Dank«, flüsterte sie.

»Er liegt auf Intensiv«, fuhr Dr. Daniel fort, »ich bin sicher, daß Wolfgang nichts dagegen hat, wenn du zu ihm gehst.«

Karina nickte, wischte sich mit einer Hand die Tränen der Erleichterung beiseite und betrat dann die Intensivstation. Es tat ihr nahezu körperlich weh, Jeff so zu sehen – angeschlossen an piepsende und blinkende Apparate. Und dieses Piepsen und Blinken war das einzige, was bewies, daß er überhaupt noch am Leben war.

»Jeff«, flüsterte sie und fühlte schon wieder Tränen aufsteigen.

»Es wird eine Weile dauern, bis er aufwacht«, meinte Dr. Daniel, der seiner Tochter gefolgt war. »Er hat eine sehr schwere Operation hinter sich.«

Karina nickte, dann zog sie sich einen Stuhl an Dr. Parkers Bett.

»Ich werde bei ihm bleiben.«

Nach kurzem Zögern verließ Dr. Daniel die Intensivstation. Er wußte, daß er seine Tochter jetzt nicht würde bewegen können, nach Hause zu gehen.

»Keine Angst, Papa«, erklärte Stefan, der das besorgte Gesicht seines Vaters ganz richtig deutete. »Ich werde auf Karina aufpassen.« Er brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Mein Nachtdienst ist noch nicht zu Ende.«

»Die Nacht ist nicht mehr lang«, entgegnete Dr. Daniel.

»Trotzdem bleibe ich, bis Jeff aus der Narkose erwacht«, beschloß Stefan, und Dr. Daniel spürte, daß auch sein Sohn von dem einmal gefaßten Entschluß nicht abzubringen sein würde.

*

Es war bereits später Vormittag, als Dr. Parker zum ersten Mal die Augen aufschlug. Im selben Moment beugte sich Karina über ihn.

»Versuch nicht zu sprechen, Jeff«, bat sie. »Du hast einen Schlauch im Mund.«

Stefan hatte ihre Stimme gehört und betrat nun eilig die Intensivstation.

»Ist er wach?« fragte er.

Karina nickte nur, während ihr Blick voller Zärtlichkeit auf Jeffs Gesicht ruhte.

Gewissenhaft kontrollierte Stefan Temperatur, Puls und Blutdruck, dann suchte er Dr. Parkers Blick.

»Versuche tief einzuatmen, Jeff.«

Dr. Parker kam seiner Aufforderung nach, doch in seinem Gesicht zeichneten sich Schmerzen ab.

»Ja, Jeff, ich weiß, die gebrochenen Rippen tun noch weh.« Stefan überlegte einen Moment. »In diesem Fall werden wir die künstliche Beatmung noch ein bißchen aufrechterhalten. Hast du außer in den Rippen auch noch andere Schmerzen?«

Dr Parker nickte schwach.

»Ich gebe dir etwas in die Infusion«, versprach Stefan, zog eine Spritze auf und injizierte sie direkt in die Infusionskanüle. »Es wird gleich besser werden.« Dann verließ er die Intensivstation, weil er seiner Schwester Gelegenheit gegen wollte, mit Dr. Parker allein zu sein, auch wenn es ihm nicht möglich war, mit ihr zu sprechen.

Sanft berührte Karina sein Gesicht. »Jeff… es gäbe so vieles, was ich dir sagen müßte, aber… ich glaube, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«

Dr. Parker versuchte, eine Hand zu heben, doch sein Körper wollte den Befehlen des Gehirns noch nicht wieder gehorchen.

»Nicht anstrengen, Jeff«, bat sie leise und streichelte wieder über seine Wange. »Du hattest einen schrecklichen Unfall.«

Die Augen fielen ihm wieder zu. Er hätte so gern gewußt, ob Karina noch hier sein würde, wenn er wieder aufwachte. Mühsam zwang er seine Augen, sich noch einmal zu öffnen, und erneut versuchte er, Karina zu erreichen. Sie schien zu spüren, was in ihm vorging, denn in diesem Moment griff sie nach seiner Hand. Ihre zarten Finger fühlten sich kühl auf seiner heißen Haut an.

»Ich werde hier sein, wenn du aufwachst«, versprach Karina.

Dankbarkeit stand in seinen Augen und noch etwas anderes, doch daran wagte Karina nicht zu glauben. Sie fühlte nur, wie sich Jeffs Hand mit leichtem Druck um ihre Finger schloß, während ihm die Augen zufielen und er wieder in tiefen Schlaf sank.

*

Karina verbrachte jede freie Minute bei Dr. Parker. Er lag noch immer auf der Intensivstation und wurde künstlich beatmet, um seine gebrochenen Rippen zu schonen.

»So, Jeff, heute werden wir dich von dem gräßlichen Tubus befreien«, erklärte Stefan, als er an diesem Morgen die Intensivstation betrat. »Deine Rippen werden beim Atmen zwar immer noch ein bißchen weh tun, aber das wird jetzt von Tag zu Tag besser werden.« Er trat zu dem jungen Anästhesisten und löste vorsichtig das Pflaster, mit dem der Tubus fixiert war. »Du kennst diese Spielchen ja besser als jeder andere. Also, Jeff, tief einatmen und dann durch den Mund ausatmen.«

Dr. Parker gehorchte, trotzdem mußte er heftig würgen, als Stefan den Tubus herauszog.

»Schon vorbei«, meinte Stefan beruhigend, dann legte er Dr. Parker einen dünnen Pastikschlauch vor die Nase. Aus zwei kleinen Löchern strömte kühler Sauerstoff, der dem jungen Arzt das Atmen ein wenig erleichtern sollte.

»So, jetzt bist du endlich erlöst von meinen Quälereien«, meinte Stefan, dann verließ er die Intensivstation.

Dr. Parkers Blick richtete sich auf Karina, die jetzt wieder an sein Bett trat. Er streckte eine Hand aus, und die junge Frau ergriff sie.

»Karina«, flüsterte Dr. Parker, und dabei begann es in seinem Gesicht wieder zu zucken. Das Sprechen tat noch höllisch weh – jeder Ton verursachte Schmerzen im Hals und in seiner Brust.

Zärtlich streichelte Karina sein Gesicht.

»Nicht, Jeff«, erwiderte sie leise. »Es ist nicht nötig, daß du dich so quälst.«

»Aber… es gibt so viel… was ich dir sagen muß…« Jedes Wort tat weh, trotzdem zwang sich Dr. Parker weiterzusprechen. »Ich habe so viel… falsch gemacht…«

Sehr sanft legte Karina ihre Finger auf seine Lippen.

»Nicht, Jeff«, wiederholte sie. »Das Sprechen tut dir jetzt nur weh. Im übrigen lagen die Fehler bei mir.« Sie sah die Abwehr auf seinem Gesicht und fügte lächelnd hinzu: »Oder bei uns beiden. Aber darüber können wir sprechen, wenn du wieder gesund bist.«

Mit den Lippen berührte sie seine Wange.

»Ich muß zur Uni«, meinte sie bedauernd, dann lächelte sie ihn an. »Aber ich komme wieder, sobald ich aus München zurück bin.«

Sie winkte ihm noch zu, dann verließ sie die Intensivstation. Sie mußte sich beeilen, wenn sie pünktlich in der Uni sein wollte.

Dr. Parker sah ihr nach, dann breitete sich eine seltsame Leere in ihm aus. Karina war noch nicht einmal eine Minute weg, doch sie fehlte ihm jetzt bereits.

Er schloß die Augen und versuchte zu schlafen, doch die Schmerzen tobten wieder in seinem Körper. Langsam öffnete er die Augen und sah direkt in Dr. Daniels Gesicht.

»Nun, Jeff, wie fühlen Sie sicht?« wollte Dr. Daniel wissen.

»Schreckliche Schmerzen«, flüsterte Dr. Parker.

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, meinte Dr. Metzler, der ebenfalls hereingetreten war und die Worte des jungen Anästhesisten gehört hatte. »Sie wurden ja mehr oder weniger in Einzelteilen hier eingeliefert.« Er injizierte ein Schmerzmittel direkt in die Infusionskanüle, dann untersuchte er Dr. Parker gründlich.

»Auch wenn Sie es sich nicht vorstellen können, Ihr Zustand ist sehr zufriedenstellend«, meinte Dr. Metzler schließlich. »Wenn Sie weiter solche Fortschritte machen, dann können wir Sie bald auf die normale Station verlegen.«

»Fortschritte…« murmelte Dr. Parker. »Na, ich weiß nicht.«

Lächelnd setzte sich Dr. Daniel zu ihm auf die Bettkante. »Ein bißchen Geduld werden Sie schon noch haben müssen, Jeff, aber ich denke, daß Ihnen ab morgen die Zeit nicht mehr ganz so lang werden wird.« Er lächelte. »Karina hat dann nämlich Semesterferien.«

Ein Lächeln huschte über Dr. Parkers Gesicht. »Sie hat… so viel… für mich getan.«

»Karina hatte große Angst um Sie.«

»Zu Recht«, mischte sich Dr. Metzler ein. »Sie waren in einem entsetzlichen Zustand, als Sie hier eingeliefert wurden, und deshalb werden Sie jetzt auch schön schlafen, Jeff. Sie brauchen noch viel Ruhe.«

Dr. Parker nickte gehorsam. Die Schmerzen hatten dank des Medikaments, das der Chefarzt ihm gespritzt hatte, nachgelassen, und jetzt kehrte die Müdigkeit von vorhin zurück. Der junge Arzt schlief ein – in der Gewißheit, daß Karina wieder da sein würde, wenn er aufwachte.

*

Mit einem Mini-Christbaum in der einen und einem liebevoll verpackten Geschenk in der anderen Hand machte sich Karina am Nachmittag des Heiligen Abends auf den Weg zur Waldsee-Klinik. In der Eingangshalle begegnete ihr Dr. Metzler und sah sie überrascht an.

»Sag bloß, du willst damit zur Intensivstation.«

Karina nickte. »Richtig, und ich hoffe, du wirst nicht versuchen, mich davon abzuhalten.«

Dr. Metzler seufzte tief auf. »Ein Weihnachtsbaum auf der Intensivstation.« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich dürfte ich das nicht erlauben.«

»Es ist kein echter Baum«, wandte Karina ein. »Außerdem werde ich ihn nicht neben Jeffs Bett stellen.« Bittend sah sie den Chefarzt an. »Ach komm, Wolfgang, mach mir jetzt keine Schwierigkeiten. Jeff muß noch wochenlang hier in der Klinik sein, und er kann sein Bett nicht verlassen. Da könntest du ihm wenigstens ein bißchen Weihnachtsstimmung gönnen. Heute ist doch Heiligabend.«

Abwehrend hob Dr. Metzler beide Hände. »Na schön, du hast gewonnen.« Aufmerksam sah er Karina an. »Wirst du bei ihm bleiben?«

Sie nickte ohne zu zögern. »Selbstverständlich. Gerade heute soll er nicht allein sein.«

Da lächelte Dr. Metzler. »Ich schätze, er wird in Zukunft ohnehin nur noch selten allein sein.« Er drückte Karinas Hand. »Ich freue mich für euch.«

Da senkte Karina den Kopf. »Du redest, als wäre zwischen Jeff und mir schon alles klar, dabei…«

»Schau ihm mal in die Augen«, riet Dr. Metzler ihr. »Dann weißt du nämlich, daß alles klar zwischen euch ist.« Er lächelte wieder. »Und jetzt geh hinauf zu ihm. Er wartet schon ganz sehnsüchtig auf dich.«

Damit hatte Dr. Metzler recht. Jeff konnte Karinas Eintreffen tatsächlich kaum noch erwarten. Durch die Fenster der Intensivstation sah er, daß es schneite, und er wünschte, er könnte jetzt mit Karina einen Spaziergang machen… sie bei der Hand nehmen und ihr alles gestehen, was er in seinem Herzen fühlte.

Wieder wanderte sein Blick zum Fenster. Er versuchte, sich ein wenig aufzurichten, doch der stechende Schmerz, der dabei durch sein gebrochenes Bein und seinen Kopf jagte, ließ ihn dieses Vorhaben gleich wieder vergessen. Er seufzte tief auf, doch auch das verursachte ihm Schmerzen – in seiner Brust.

Mißmutig wandte er den Kopf zur Seite. Er haßte die Unbeweglichkeit, zu der er hier verdammt war.

»Frohe Weihnachten.«

Rasch wandte Dr. Parker sein Gesicht zur Tür, ignorierte den Schmerz, der dabei wieder in seinen Kopf fuhr, und genoß nur einfach das Bild, das sich seinen Augen bot: Wie ein Engel stand Karina vor ihm. Das lange, goldblonde Haar fiel weit über ihre Schultern, ihre wunderschönen blauen Augen strahlten, und in der Hand hielt sie einen kleinen, mit zarten Kugeln und winzigen Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum.

»Karina«, brachte Dr. Parker leise hervor. Das Sprechen tat ihm noch immer weh.

Sie stellte das Weinachtsbäumchen auf das Fensterbrett, wo Dr. Parker es gut sehen konnte, dann kam sie zu ihm und setzte sich auf die Bettkante.

»Wie geht es dir heute?« fragte sie besorgt.

»Gut«, antwortete er, obwohl jedes Wort in seiner Kehle brannte und jeder Atemzug in seiner Brust schmerzte, dann fügte er hinzu: »Weil du da bist.«

Karina lächelte, dann stupste sie ihn an der Nase. »Alter Schmeichler.«

Doch Dr. Parker schüttelte den Kopf. »Es ist nicht geschmeichelt, Karina. Wenn du bei mir bist, kann ich meine Schmerzen fast vergessen.« Sein Blick wurde traurig. »Manchmal denke ich, es wird nie wieder anders sein.«

Spontan legte Karina beide Hände um sein Gesicht. Es war noch immer heiß, und Karina wußte auch, daß er seit der schweren Operation ständig erhöhte Temperatur hatte, doch Dr. Metzler meinte, das sei eine normale Reaktion des Körpers und würde in ein paar Tagen wieder vergehen.

»Du mußt Geduld haben, Jeff«, erklärte sie eindringlich. »Als die Feuerwehrmänner dich aus dem Auto geholt hatten, da dachte ich…« Mit einer Hand bedeckte sie ihr Gesicht, denn allein die Erinnerung an jene schrecklichen Minuten trieb ihr bereits die Tränen in die Augen. »Du hast so fürchterlich geblutet… und dann… dann hast du plötzlich nicht mehr geatmet, und Stefan sagte… er sagte, ich müsse intubieren, und… ich hatte solche Angst…«

»Du hast…« begann Dr. Parker verblüfft, dann griff er nach ihrer Hand. »Karina…«

Mit tränenfeuchten Augen sah sie ihn an. »Ich hätte es nicht gekonnt… Jeff, wenn du nicht gewesen wärst… wenn du mich damals im OP nicht gezwungen hättest, dann hätte ich es nicht gekonnt.«

Da huschte ein Lächeln über Dr. Parkers Gesicht. »Doch Karina, das hättest du, denn dir liegt die Medizin im Blut – gleichgültig, was dieser seltsame Professor darüber sagen mag.«

»Woher weißt du das?« fragte Karina erstaunt.

»Stefan hat es mir erzählt.« Er nahm ihre Hände und drückte sie sanft. »Du wirst einmal genauso gut wie dein Vater sein.«

Verlegen und gerührt senkte Karina den Kopf, dann wechselte sie rasch das Thema.

»Und du wirst morgen vor lauter Schmerzen überhaupt nicht mehr sprechen können, wenn du jetzt nicht allmählich deinen Mund hältst«, erklärte sie und gab sich dabei betont streng.

Da zeigte der junge Arzt zum ersten Mal seit langem wieder sein typisches Jeffrey-Parker-Grinsen.

»Jawohl, Fräulein Doktor.« Dann wurde er wieder ernst. »Du hast vollkommen recht. Mein Hals und meine Brust tun noch höllisch weh. Ich habe das Gefühl, als würde ich jede einzelne der gebrochenen Rippen spüren.«

»Dann wirst du jetzt ganz schön still sein und das hier aufmachen.« Wie aus dem Nichts zauberte Karina bei diesen Worten ein kleines, liebevoll verpacktes Geschenk hervor.

»Karina, das ist doch…«

»Still sein«, fiel sie ihm ins Wort, gab ihm das Päckchen und zögerte einen Moment, ehe sie ihn auf die Wange küßte. »Frohe Weihnachten, Jeff.«

Er öffnete die zarte Schleife, wickelte das Geschenkpapier ab und hielt schließlich eine kleine schwarze Dose in der Hand. Neugierig öffnete er sie. Auf tiefrotem Samt lag eine grobgliedrige Goldkette mit zwei kleinen Anhängern – ein goldenes Kreuz und ein Herz.

»Du bist verrückt, Karina«, entfuhr es Dr. Parker. »Ein solches Geschenk…«

»Bist du endlich still?«

»Nein«, entgegnete Dr. Parker. »Auch wenn mir jedes Wort weh tut – ich muß dir einfach sagen…« Er stockte, betrachtete die Kette und strich mit dem Daumen über die beiden Anhänger. »Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich sagen soll.« Dann wiederholte er: »Du bist verrückt.«

Verrückt vor lauter Liebe zu dir, dachte Karina, laut jedoch sagte sie: »Ich wollte dir einfach eine kleine Freude machen.« Auch sie berührte jetzt die beiden Anhänger. »Sie sollen dir Glück bringen, Jeff.«

Ihre Augen trafen sich, und unwillkürlich mußte Karina an Dr. Metzlers Worte denken: »Schau ihm mal in die Augen. Dann weißt du nämlich, daß alles klar ist.«

»Ich liebe dich.«

Jeffs Worte rissen Karina in die Wirklichkeit zurück. Stumm sah sie ihn an, während ihr Herz einen wahren Trommelwirbel schlug. Sie wollte etwas sagen… ihn küssen, umarmen… irgend etwas – doch sie war zu keiner Bewegung fähig.

»Hast du gehört, Karina? Ich liebe dich.« Er schwieg einen Moment. »Ich liebe dich, seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Ich wußte es nur nicht, weil mein Herz damals noch an Doreen hing… weil ich ihren Tod noch nicht verwunden hatte. Aber dann… als du mir im OP so harte Worte an den Kopf geworfen hast… mir gesagt hast, daß du mich nie wieder sehen willst… ich glaubte, dich für immer verloren zu haben, und das tat so weh…«

Seine Stimme war mit jedem Wort leiser geworden, dann verstummte er, weil er vor Schmerzen wirklich kaum noch sprechen konnte.

»Jeff«, stammelte Karina.

»Eine Weile dachte ich, daß du mich auch…« Dr. Parker räusperte sich, doch es war zwecklos. Seine Stimme versagte nun endgültig. Es ging einfach nicht mehr – sosehr er es sich auch wünschte.

Da lächelte Karina ihn liebevoll an. »Ich glaube, es gibt nur eine Möglichkeit, dich endlich zum Schweigen zu bringen.«

Damit beugte sie sich zu ihm hinunter und küßte ihn zärtlich.

»Karina…«

Es war nicht mehr als ein heiseres Flüstern, und doch schwang so viel Zärtlichkeit in diesem einen Wort mit, daß es einer Liebes-erklärung gleichkam.

Sanft legte Karina ihm einen Finger auf den Mund.

»Pst«, flüsterte sie zärtlich. »Nicht mehr sprechen, Jeff. Es tut dir doch nur weh. Und wir haben noch so viel Zeit. Wenn du erst wieder gesund bist…« Erneut umschloß sie sein Gesicht mit beiden Händen, dann lächelte sie ihn voller Innigkeit an. »Ich liebe dich auch, Jeff. Ich liebe dich so sehr… nie hätte ich gedacht, daß es so etwas geben könnte, und die Trennung, die ich uns beiden in meinem hilflosen Zorn auferlegt habe, war das Schlimmste, was ich uns antun konnte.« Sie küßte ihn. »Aber jetzt ist es vorbei, und nie… nie wieder soll etwas zwischen uns treten.« Glücklich schmiegte sie sich an ihn. »Ich liebe dich.«

*

Auch in der kleinen Wohnung von Nicole Kortenhagen sollte ein besinnliches Weihnachtsfest stattfinden. Den ganzen Nachmittag über hatte Nicole gearbeitet, um nur ja alles schön festlich zu machen.

Mit unwahrscheinlichem Geschick hatte sie die zimmerhohe Tanne geschmückt und ganz nebenbei ein schmackhaftes Menü zubereitet. Jetzt glitten ihre Finger über den gedeckten Tisch, und ein zufriedenes Lächeln erschien auf ihrem zarten, madonnenhaften Gesicht. Es war alles perfekt – nun mußte nur noch Mario kommen.

Dann klingelte es endlich an der Tür, und Nicole öffnete mit einem glücklichen Lächeln.

»Sie haben es noch immer nicht begriffen!«

Die kalte, harte Frauenstimme ließ Nicole erschrocken zurückfahren. Ein angstvolles Zittern durchlief ihren Körper.

»Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß Sie Mario in Ruhe lassen sollen!« fuhr Fiona Hartwig fort.

»Warum tun Sie das?« fragte Nicole betroffen. »Ich habe mit Mario gesprochen. Er liebt mich. Warum…«

»Ach ja. Er liebt Sie also«, fiel Fiona ihr mit kalter Stimme ins Wort. »Deshalb sitzt er jetzt wohl bei mir, betrinkt sich und jammert mir etwas vor, weil er…«

»Wer jammert dir etwas vor?«

Nun war es Fiona, die erschrocken herumfuhr. Sie preßte die Lippen zusammen. Wie konnte Mario jetzt hier sein? Richard hatte ihr doch versichert, daß er und Mario heute gemeinsam Dienst hätten.

Mario wußte genau, was im Kopf der hartherzigen jungen Frau vorging.

»Ricky hat dich angelogen«, erklärte er, und in seiner Stimme schwang eine Art Befriedigung mit. »Ich war absolut sicher, daß du noch nicht aufgeben würdest, deshalb haben Ricky und ich die Sache mit dem angeblichen Dienst abgesprochen.«

Jetzt ging Mario an Fiona vorbei und legte einen Arm beschützend um Nicoles Schultern.

»Im übrigen hättest du dich sowieso vergeblich bemüht«, fuhr er fort. »Es gibt nichts, was Niki und mich noch trennen könnte, schon gar nicht deine bösartigen Intrigen. Ich würde dir raten, Steinhausen zu verlassen. Vielleicht findest du einen anderen Ort, wo du dein Unwesen treiben kannst.«

Fiona schnappte hörbar nach Luft. »Was erlaubst du dir!«

»Verschwinde«, verlangte Mario kalt. »Und laß dich nie wieder hier blicken.«

Fiona kochte vor Wut. Wie hatte ihr Plan nur so sehr mißlingen können?

»Weihnachten ist das Fest der Liebe«, erklärte Nicole in diesem Moment. »Darauf sollten Sie sich besinnen.«

Mit einem wütenden Laut drehte sich Fiona um und rauschte davon. Ihre Absätze klapper-ten auf der Treppe, dann fiel die Haustür ins Schloß.

Aufatmend lehnte sich Nicole an Mario.

»Als ich ihre Stimme hörte…« stammelte sie leise. »Einen Moment lang dachte ich, jetzt würde alles wieder von vorn beginnen.«

»Hast du etwa an mir gezweifelt?« wollte Mario wissen, und Nicole hörte den enttäuschten Unterton in seiner Stimme sofort heraus.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Mario, ich habe nicht an dir gezweifelt. Als du mir bei Dr. Daniel gesagt hast, daß du mich liebst, da wußte ich, daß es die Wahrheit ist. Doch jetzt… so allein mit dieser schrecklichen Frau…«

»Sie wird nie mehr wiederkommen, Niki«, versprach Mario. »Sie wird dir nicht mehr weh tun.«

Nicole hob den Kopf, und Mario sah die Zweifel auf ihrem Gesicht.

»Was macht dich so sicher?« fragte sie.

Zärtlich schloß Mario sie in die Arme. »Fiona ist ein Biest, aber sie weiß, wann sie verloren hat. Ich habe vorhin ihr Gesicht gesehen.« Sanft streichelte er über Nicoles blondes Haar. »Sie wird nicht wiederkommen.«

Zärtlich schmiegte Nicole ihr Gesicht an seine Brust. »Ich liebe dich, Mario.«

Er schloß sie sanft in die Arme. »Ich liebe dich auch, Niki.«

Arm in Arm betraten sie das Wohnzimmer, und dort blieb Mario einen Augenblick lang ergriffen stehen. Die fast zimmerhohe Tanne funkelte und glitzerte im flackernden Kerzenlicht, und Mario konnte sich nicht erinnern, jemals einen schöneren Baum gesehen zu haben. Dabei fragte er sich, wie Nicole das überhaupt geschafft hatte.

Allerdings war der herrliche Weihnachtsbaum noch nicht das Ende der Überraschungen. Neben dem Fenster stand der kleine Tisch, er war für zwei Personen gedeckt. Liebevoll gefaltete Servietten zierten die schlichten, weißen Teller, und in einem altmodischen Kerzenständer aus Messing standen zwei lange, rosafarbene Kerzen.

»Es ist wunderschön«, flüsterte Mario überwältigt.

Nicole lächelte ihn glücklich an. »Es ist nur für dich.«

»Niki…«

So viel Zärtlichkeit lag in diesem einen Wort, und Nicole hatte das Gefühl, in dieser Zärtlichkeit zu ertrinken. Mit einem seligen Lächeln lehnte sie sich an ihn.

»Meine Eltern möchten dich Silvester kennenlernen«, flüsterte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Ich konnte es nicht für mich behalten.«

Mario lachte leise. »Das macht doch nichts – im Gegenteil. Ich freue mich darauf, deine Eltern kennenzulernen.«

Es war dann auch spontane Sympathie auf beiden Seiten, und Mario fühlte sich in dem gemütlichen Haus der Kortenhagens sofort wohl. Es war, als wäre er nach langer Reise heimgekehrt. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er nichts ähnliches mehr empfunden.

»Du bist glücklich«, stellte Nicole fest, als sie und Mario einen Augenblick allein waren.

»Ja, Niki, ich bin glücklich… ich bin so glücklich wie schon lange nicht mehr.«

Dann kamen die Kortenhagens zurück. Nicoles Vater hatte die Sektflasche geöffnet, und ihre Mutter brachte auf einem kleinen Tablett die Sektgläser. Das Feuer im offenen Kamin knisterte behaglich, und als sie kurz vor Mitternacht auf die riesige Terrasse traten, fiel der Sternenglanz wie ein Diadem auf Nicoles Haar.

Mario konnte nicht anders, als sie nur immer wieder anzusehen, und dabei wanderte ein dankbarer Gedanke zu Dr. Daniel. Wenn er nicht gewesen wäre… wenn er dieses wichtige Gespräch zwischen Mario und Nicole nicht vermittelt hätte… wie wohl dann alles gelaufen wäre… ob er jetzt hier stehen würde und die geliebte Frau in den Armen halten könnte?

Dann schlug es von der Pfarrkirche St. Benedikt zwölf Uhr. Der bronzene Klang der Glocken vermischte sich mit dem silberhellen Klingen, als die Sektgläser gegeneinanderstießen. Und wäh-rend am nachtblauen Himmel unzählige bunte Raketen explodierten und die ganze Terrasse in einen Regenbogen aus Licht und Farbe tauchten, fanden sich Marios und Nicoles Lippen zu einem langen, zärtlichen Kuß. In liebevoller Umarmung standen sie auf der Terrasse und warfen im Licht des Feuerwerks nur einen einzigen Schatten.

Marios Lippen streiften über die feinen Härchen an Nicoles Schläfe und näherten sich dann ihrem Ohr.

»Ich möchte, daß du meine Frau wirst«, flüsterte er.

Da hob Nicole ihm ihr Gesicht entgegen… ein Gesicht, das vor lauter Glück von innen heraus zu leuchten schien.

»Mario«, stammelte sie.

Sanft streichelte er über ihre Wange.

»Heißt das… ja?« vergewisserte er sich, obwohl die Antwort schon in ihrem Gesicht geschrieben stand.

»Ja! Tausendmal ja!« antwortete sie, und es klang wie ein Jubelschrei…

– E N D E –

Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman

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