Читать книгу Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman - Marie-Francoise - Страница 33

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Mit einer heftigen Bewegung knallte Melanie Probst den Telefonhörer auf die Gabel. Ihr Gesicht war kalkweiß, in ihren Augen standen Wut und Verzweiflung. Sie hatte das dringende Bedürfnis, irgend etwas zu zerschlagen, um ihrem Frust Luft zu machen.

Die edle Blumenvase aus geschliffenem Kristall erschien ihr geeignet, vor allem weil sie ein Geschenk ihrer Zwillingsschwester war. Mit beiden Händen umfaßte Melanie das kostbare Stück und schleuderte es wütend auf den Steinfußboden. Klirrend zersprang die Vase, unzählige glitzernde Glasscherben waren wie kleine Diamanten über den Boden verstreut. Melanie starrte sie an. Sie hatte gehofft, daß sie Erleichterung empfinden könnte, doch das Zerschlagen der Vase hatte ihr keine Befriedigung verschafft. Noch immer nagten Haß und Verzweiflung an ihr, und die Gewißheit, daß sie die vielen Scherben jetzt wegräumen mußte, machte sie noch wütender.

Sie holte Schaufel und Besen und begann, die winzigen Splitter zusammenzukehren. Tränen tropften plötzlich auf den Fußboden, vermischten sich mit den Scherben und ließen sie noch deutlicher glitzern. Schaufel und Besen entglitten Melanies Händen. Schluchzend sank sie auf dem Fußboden zusammen. Spitze Glassplitter bohrten sich in ihre Knie, doch sie spürte es nicht. Die Tränenflut schien sie weg-spülen zu wollen.

Als Melanie den Schmerz registrierte, war die Hose bereits mit Blutflecken übersät. Mühsam rappelte sich die junge Frau auf und stellte fest, daß auch ihre Hände bluteten. Überhaupt sah der Fußboden aus, als hätte hier eine Schlacht stattgefunden.

»Melanie! Um Himmels willen…«

Karlheinz Probst stand in der geöffneten Haustür und blickte fassungslos auf die Szene, die sich seinen Augen bot. Seine Frau, blutend und verweint, inmitten unzähliger kleiner Glasscherben!

»Die Vase ist mir zerbrochen«, brachte sie mit tränenerstickter Stimme hervor.

Karlheinz stellte seine Aktentasche ab, dann eilte er zu Melanie und nahm sie tröstend in die Arme – ungeachtet der Tatsache, daß auch sein Anzug und sein Hemd Blutflecken abbekommen würden.

»Ich kann mir vorstellen, wie schlimm das für dich ist«, meinte er tröstend. »Die Vase war ein Geschenk von Manuela.«

Melanie schwieg. Wie eine leblose Puppe hing sie in den Armen ihres Mannes und war nicht fähig, seine Umarmung zu erwidern. Sie fand sich plötzlich fuchtbar kindisch. Was war ihr nur eingefallen, die Vase zu zerschlagen? Ihr anfänglicher Haß auf Manuela war wieder dieser unermeßlichen Traurigkeit gewichen, von der sie sich höchstens stundenweise einmal befreien konnte.

»Soll ich dich zum Arzt bringen?« fragte Karlheinz besorgt und riß Melanie aus ihren Gedanken.

Sie schüttelte den Kopf. »So schlimm sind die Wunden nicht. Ich kann sie selbst versorgen.«

Sie löste sich aus der Umarmung ihres Mannes und betrat das Bad. Vorsichtig zupfte sie die Glassplitter aus ihren Wunden. Es tat weh, doch sie empfand den Schmerz auf gewisse Weise sogar als wohltuend. Um ihn noch zu verstärken, nahm sie nicht das Desinfektionsmittel, das Karlheinz besorgt hatte, sondern pinselte Jod auf die Wunden. Es brannte wie Feuer, Melanie mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Gewissenhaft legte sie Verbandsmull auf die Wunden und klebte ihn mit breiten Pflasterstreifen fest.

Als sie das Bad verließ, hatte Karlheinz schon den Tisch fürs Abendbrot gedeckt. Melanie setzte sich, doch mit ihren verbundenen Händen fiel ihr das Essen nicht leicht. Karlheinz unternahm ein paar Versuche, ein harmloses Gespräch zu beginnen, doch Melanie ging nicht darauf ein. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit etwas anderem, und schließlich stellte Karlheinz seine fruchtlosen Versuche ein.

Unwillkürlich mußte er an die Zeit zurückdenken, als er seine Frau kennengelernt hatte. Wie ausgelassen und fröhlich sie gewesen war! Ein Energiebündel, immer heiter, immer lachend… es war eine Freude gewesen, mit ihr zusammenzusein, und es erschien Karlheinz unfaßbar, daß das alles schon zehn Jahre zurückliegen sollte. Zehn Jahre… nein, eigentlich nur sechs, denn in den ersten Ehejahren war Melanie die unbeschwerte Frau geblieben, doch dann hatte sie plötzlich angefangen sich zu verändern, und Karlheinz kannte auch den Grund dafür. Das Baby, das sie sich beide gewünscht hatten, blieb aus. Alle Versuche schlugen fehl, doch anstatt in ihrem Mann einen Gefährten zu sehen, der mit ihr durch diese schwierige Zeit ging, hatte sich Melanie immer mehr verschlossen, und mittlerweile schien es überhaupt keinen Weg mehr zu ihrem Herzen zu geben.

»Manuele erwartet ein Baby.«

Melanies Worte fielen beinahe drohend in die Stille, die zwischen ihr und Karlheinz herrschte. Der junge Mann schnitt seine Essiggurke in feine Scheiben und verteilte sie auf dem Wurstbrot.

»Das war also der Grund«, meinte er ohne aufzublicken. Die Gurkenscheiben auf dem Brot schienen seine ganze Konzentration zu erfordern.

Melanies Schweigen kam einer Antwort gleich. Im nächsten Moment sprang Karlheinz so ungestüm auf, daß der Stuhl umkippte und polternd zu Boden fiel.

»Ich halte das nicht mehr aus!« begehrte er auf. »Du neidest Manuela das Glück ihrer Familie! Du machst sie dafür verantwortlich, daß du kein Kind bekommen kannst! Manuela ist nicht schuld an unserer Kinderlosigkeit! Niemand ist schuld daran! Man kennt ja nicht einmal die Ursache dafür!«

Erschöpft von diesem Ausbruch stützte sich Karlheinz mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. Von Melanie kam keine Reaktion. Sie saß da wie erstarrt, kein Muskel bewegte sich in ihrem Gesicht, ihre Augen wirkten wie erloschen.

Mit einem Ruck stieß sich Karlheinz vom Tisch ab, dann verließ er die Wohnung. Er konnte das Zusammensein mit seiner Frau nicht länger ertragen.

Völlig unbeweglich blieb Melanie sitzen. Sie starrte das appetitliche Wurstbrot an, das Karlheinz hergerichtet und dann unberührt liegengelassen hatte. Schmerzhaft schlug ihr Herz gegen die Rippen, und unwillkürlich legte Melanie eine Hand um ihren Hals. Sie spürte schon wieder das entsetzliche Gefühl der Enge in ihrer Kehle. Keuchend rang sie nach Luft, schloß die Augen und wartete auf die Tränen, die den Kloß in ihrer Kehle wegschwemmen würden, doch diesmal dauerte es lange, bis sie weinen konnte.

Unaufhörlich rannen die Tränen über ihr Gesicht, aber Melanie empfand keine Erleichterung dabei. Sie war nur erschöpft und todunglücklich.

*

Fast eine Stunde lang irrte Karlheinz ziellos im Ort umher, dann fand er sich plötzlich vor dem Haus seines Bruders Udo wieder. Unschlüssig blieb er stehen und überlegte, ob er klingeln sollte oder nicht. Er hatte Udo schon so oft mir seinen Problemen belästigt.

Karlheinz wurde einer Entscheidung enthoben, als sein Bruder heraustrat.

»Komm schon herein, Kalle«, meinte er, und seine Worte bewiesen nicht nur, daß er Karlheinz bereits gesehen hatte, sondern auch, daß er wußte, weshalb er hier war.

Stumm folgte Karlheinz seinem Bruder ins Wohnzimmer, dann ließ er sich mit einem tiefen Seufzer auf das gemütliche Sofa fallen. Alles hier wirkte heimelig und warm, obwohl Udo und seine Frau Hannelore ähnliche Probleme hatten wie Melanie und er. Hannelore hatte von Anfang an gewußt, daß sie nie ein Kind würde haben können. Aufgrund einer Entwicklungsstörung fehlte bei ihr die Gebärmutter. Trotzdem führten sie und Udo eine glückliche Ehe, und Karlheinz fragte sich, warum das bei ihm und

Melanie nicht auch so sein konnte.

»Ich halte das nicht mehr aus.«

Karlheinz wurde bewußt, daß er diese Worte heute schon zum zweiten Mal aussprach. Aus traurigen Augen sah er seinen älteren Bruder an.

»Hat es zwischen dir und Hannelore nie Probleme gegeben?« wollte er wissen.

»Natürlich haben wir unsere Probleme«, antwortete Udo. »Eine Ehe ohne Probleme gibt es nicht, Kalle. Allerdings haben Hannelore und ich über das, was uns belastet hat, gesprochen… und wir tun das immer noch.«

Wieder seufzte Karlheinz. »Melanie und ich sprechen seit sechs Jahren nicht mehr miteinander… jedenfalls nicht wirklich. Wenn ich nach Hause komme, erzähle ich ihr von der Arbeit, und sie sagt mir, was sie den ganzen Tag über getan hat. Wir sprechen vom Wetter, über die steigenden Preise und über Politik, aber ein richtiges Gespräch…« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann ihr nicht sagen, was mich bewegt… wovor ich Angst habe, worüber ich mir Sorgen mache. Früher ging es, aber jetzt…« Er schwieg eine Weile. »Manchmal habe ich das Gefühl, als säße sie in einem Glashaus, und ich könnte nicht an sie heran. Selbst wenn ich sie umarme, ist sie meilenweit von mir entfernt.«

»Weißt du, Kalle, ich will dir jetzt nicht gleich zu einer Scheidung raten«, erwiderte Udo nachdenklich. »Aber eine Trennung auf Zeit… vielleicht könntet ihr danach wieder von vorn beginnen.«

Karlheinz zuckte die Schultern. »Daran habe ich auch schon gedacht, aber…« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann Melanie nicht einfach im Stich lassen. Gerade jetzt…« Für einen Augenblick senkte er den Kopf, dann sah er seinen Bruder wieder an. »Manuela erwartet ein Baby – ihr drittes.«

Jetzt war es Udo, der seufzte. »Hör mal, Kalle, ihr könnt nicht erwarten, daß Manuela und Horst auf Kinder verzichten, nur weil ihr keine bekommt.«

»Das weiß ich auch«, entgegnete Karlheinz etwas heftig. »Außerdem geht es darum überhaupt nicht. Es war für Melanie einfach wieder ein schwerer Schlag zu erfahren, daß ihre Zwillingsschwester zum dritten Mal schwanger ist, während sie…« Er fuhr sich mit beiden Händen durch die dichten, blonden Locken. »Die beiden gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Ich kann gut verstehen, daß es Melanie da schwerfällt, den Kindersegen ihrer Schwester zu akzeptieren. Wenn die beiden nebeneinanderstehen, habe sogar ich Probleme, sie auseinanderzuhalten.«

»Ich nicht«, entgegnete Udo. »Äußerlich gleichen sie sich zwar, aber charakterlich sind sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Manuela war schon immer ruhig, ausgeglichen und sanft, während Melanie ihr Temperament nur so versprühte. Und jetzt… du weißt selbst am besten, wie sehr sich Melanie verändert hat. Wann hast du sie das letzte Mal lachen sehen?«

Karlheinz zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Außerdem wollte ich vorhin mit der Ähnlichkeit der beiden etwas anderes ausdrücken. Es ist doch einfach verrückt… Manuela und Melanie sind eineiige Zwillinge, sie haben sich beide gleich entwickelt. Warum also kann Ma-

nuela Kinder bekommen und Melanie nicht?«

»Vielleicht liegt es an dir«, wandte Udo ein, doch Karlheinz schüttelte den Kopf. »Ich bin zeugungsfähig. Das wurde zweifelsfrei festgestellt.« Er seufzte tief auf. »Allerdings wurde auch bei Melanie zweifelsfrei festgestellt, daß sie fruchtbar ist.«

»Ihr seid also einer der Fälle, bei denen die Kinderlosigkeit ungeklärt bleibt«, stellte Udo fest, dann runzelte er die Stirn. »Die Untersuchungen, die ihr habt durchführen lassen, liegen doch schon mehr als fünf Jahre zurück, oder?«

Karlheinz nickte, wehrte aber sofort ab. »Noch einmal unterziehe ich mich dieser Prozedur nicht, falls du mir das vorschlagen willst. Ich bin sicher, daß sich auch Melanie nicht noch einmal quälen lassen will.«

Udo beachtete den Einwand gar nicht. »Drüben in Steinhausen gibt es doch die Waldsee-Klinik. Angeblich wurde dort ein Verfahren entwickelt, das in den meisten Fällen den Grund für die Kinderlosigkeit aufdeckt.«

Karlheinz schüttelte erneut den Kopf. »Es hat keinen Sinn, Udo. Die Ehe, die Melanie und ich führen, hält eine solche Belastung nicht mehr aus. Es war damals schon schwierig, aber jetzt… jetzt ist es unmöglich. Melanie und ich leben in derselben Wohnung, aber wir könnten uns ebensogut auf zwei verschiedenen Kontinenten aufhalten. Wir leben nicht mehr miteinander, sondern nur noch nebeneinanderher, und abgesehen von den wenigen Augenblicken, wo wir versuchen, ein halbwegs normales Ehepaar zu sein, könnte ich statt ihrer auch mit meiner Schwester zusammensein.«

Sehr lange sah Udo seinen Bruder an, dann legte er eine Hand auf dessen Arm.

»In diesem Fall solltest du wohl doch den Mut zur Trennung haben, Kalle«, riet er ihm.

»Ich bin achtunddreißig«, wandte Karlheinz ein. »Ich habe Angst vor dem Alleinsein.«

»Allein bist du jetzt auch schon«, entgegnete Udo ernst. »Nicht nach außen hin, aber in deinem Herzen.« Er schwieg einen Moment. »Sprich mit Melanie. Vereinbart eine Trennung auf Zeit. Ich bin sicher, die würde euch beiden guttun, denn oft bemerkt man erst, wenn man den anderen nicht mehr hat, was er einem bedeutet.«

Karlheinz lauschte diesen Worten nach, dann nickte er etwas halbherzig. »Ich werde darüber nachdenken.«

*

Das Wartezimmer in der Praxis von Dr. Robert Daniel war wieder einmal brechend voll. Zu den zahlreich angemeldeten Patientinnen hatten sich noch etliche Frauen gesellt, die keinen Termin hatten, dafür aber gesundheitliche Beschwerden, die sie unbedingt mit dem Arzt ihres Vertrauens besprechen wollten.

Die junge Empfangsdame Gabi Meindl war schier am Verzweifeln, und auch die Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau konnte vor lauter Arbeit kaum noch aus den Augen sehen. Als es kurz vor Mittag wieder klingelte, blickte Gabi genervt nach hinten.

»Wenn die auch nicht angemeldet ist, falle ich in Ohnmacht«, prophezeite sie ihrer Kollegin.

»Ich auch«, stimmte Sarina zu. Normalerweise war sie die Ruhe in Person, und ein stressiger Tag in der Praxis konnte sie nicht so leicht aus dem Gleichgewicht werfen, doch was heute hier los war, glich einer Invasion – und ein Ende schien immer noch nicht in Sicht.

Inzwischen hatte Gabi auf den Türöffner gedrückt. Eine hübsche junge Frau mit zwei kleinen Kindern trat ein und lächelte die Empfangsdame voller Herzlichkeit an.

»Grüß Gott, Fräulein Meindl, ich habe einen Termin bei Dr. Daniel«, erklärte sie. »Stumpe ist mein Name.«

Gabi warf einen Blick in den Terminkalender und hakte den Namen ab, doch als die junge Frau ins Wartezimmer gehen wollte, hielt Gabi sie zurück.

»Nehmen Sie gleich hier draußen Platz, Frau Stumpe«, bat sie. »Sie sind schwanger und haben überdies zwei kleine Kinder dabei, da müssen Sie nicht warten.«

Manuela Stumpe lächelte wieder in dieser einnehmenden Art. »Das ist aber nett, Fräulein Meindl.« Sie streichelte über ihr kleines Bäuchlein. »So beschwerlich ist die Schwangerschaft an sich noch nicht, aber ausgerechnet heute hat auch meine Mutter einen Arzttermin, so daß sie auf Anna und Florian nicht aufpassen kann. Als Schwangere mit den beiden unterwegs zu sein, kommt einer mittleren Katastrophe gleich.« Doch ihr glückliches Strahlen bewies, daß die Katastrophe für sie gar nicht so schlimm sein konnte. Sie war eben mit Leib und Seele Mutter.

Jetzt kam Dr. Daniel heraus, begrüßte Manuela und bat sie, schon mal im Sprechzimmer Platz zu nehmen, dann trat er an Gabis Schreibtisch.

»Fräulein Meindl, was habe ich nur verbrochen?« fragte er in komischer Verzweiflung. »Jetzt ist gleich Mittag, und auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Karteikarten. Ist in Steinhausen der Notstand ausgebrochen?«

»Es scheint so«, stimmte Gabi bekümmert zu. »Die Damen, die jetzt noch im Wartezimmer sitzen, sind allesamt ohne Termin gekommen, aber…« Hilflos zuckte sie die Schultern. »Es sieht so aus, als wären sie nicht grundlos hier.«

»Das sicher nicht«, meinte Dr. Daniel. »Ohne Grund geht ja wohl kaum jemand zum Arzt.«

Gabi schwieg dazu. Hier in der Praxis hatte sie nämlich des öfteren den Eindruck, als kämen die Patientinnen nur, um Dr. Daniel zu sehen und mit ihm zu sprechen. Er war ohnehin sehr beliebt, aber zumindest einige der Damen verehrten ihn so sehr, daß es fast an Schwärmerei grenzte, und für diese Patientinnen machte es auch keinen Unterschied, daß Dr. Daniel seit einiger Zeit wieder verheiratet war. Offensichtlich sahen sie in ihm noch immer den äußerst attraktiven Witwer, den es zu erobern galt.

Jetzt kehrte Dr. Daniel in sein Sprechzimmer zurück, doch an der Tür drehte er sich noch einmal um.

»Fräulein Meindl, seien Sie doch bitte so nett und sagen Sie meiner Frau Bescheid, daß ich heute keine Zeit haben werde, zum Mittagessen hinaufzukommen«, erklärte er. »Falls ich hier doch noch vor Beginn der Nachmittagssprechstunde fertig werden sollte, muß ich auf einen Sprung zur Waldsee-Klinik hin-über.«

»In Ordnung, Herr Doktor«, stimmte Gabi bereitwillig zu und griff gleich nach dem Telefonhörer, um über die Hausleitung in der im ersten Stockwerk gelegenen Wohnung von Dr. Daniel anzurufen.

Währenddessen hatte Dr. Daniel die Tür hinter sich geschlossen und begrüßte nun Manuela noch einmal mit dem ihm eigenen herzlichen Lächeln, bevor er sich zu den beiden Kindern hinunterbeugte und mit ihnen ein paar Worte sprach. Er brachte eine Kiste mit Bauklötzchen herein, über die sich Anna und Florian voller Begeisterung hermachten.

»Nun, Frau Stumpe, wie fühlen Sie sich?« wollte Dr. Daniel wissen. Die Kinder waren beschäftigt, also würde man für ein ausführliches Gespräch Zeit finden.

»Die Schwangerschaft bereitet mir keine Probleme«, antwortete Manuela, dann umschattete sich ihr Gesicht. »Ich mache mir große Sorgen um meine Schwester. Beim letzten Termin habe ich Ihnen ja schon erzählt, daß sie keine Kinder bekommen kann, was unser Verhältnis in den vergangenen Jahren zunehmend belastet hat. Melanie und ich waren immer mehr als Schwestern. Wir… wir fühlten uns manchmal, als wären wir nur zwei Hälften eines Ganzen.«

Dr. Daniel nickte. »Das kommt gerade bei Zwillingen nicht selten vor.«

Ein wenig nervös spielte Manuela mit dem Riemen ihrer Handtasche. Man merkte ihr genau an, wie sehr das gestörte Verhältnis zu ihrer Schwester sie belastete.

»Als Anna geboren wurde, war es noch gar nicht so schlimm«, fuhr sie fort. »Damals waren ja auch Melanie und Karlheinz vol-ler Zuversicht, doch dann begannen die Untersuchungen, und jeder Arzt bestätigte, daß einer Schwangerschaft nichts im Wege stehen würde. Trotzdem wollte sich das ersehnte Baby bei Melanie nicht einstellen. Dann war ich mit Florian schwanger, und da bemerkte ich zum ersten Mal die Distanz, die sich zwischen Melanie und mir auftat. Sie konnte nicht akzeptieren, daß ich das, was sie sich so sehnlichst wünschte, bekommen würde. Letzte Woche haben wir miteinander telefoniert, und… ich mußte es ihr einfach sagen. Ich bin doch schon im sechsten Monat.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie ihr langes, blondes Haar zurück. »Ich hatte Angst davor, es ihr zu sagen, aber ich konnte auch nicht warten, bis sie es selber sehen oder gar von jemand anderem erfahren würde.« Sie seufzte tief auf. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schlimm es war. Melanie… sie hat kein Wort gesagt. Es war, als hätte ich ihr den Todesstoß versetzt, und einen Augenblick fühlte ich mich tatsächlich wie eine Mörderin.«

»Ich kann gut nachempfinden, was in Ihnen vorgeht, Frau Stumpe«, entgegnete Dr. Daniel. »Ich habe selbst eine Schwester, der eigene Babys versagt blieben, während ich Vater von zwei Kindern wurde. Meine Schwester hatte manchmal so schreckliche Tiefs, daß ich es gar nicht wagte, meinen Sohn oder meine Tochter in ihrer Gegenwart überhaupt zu erwähnen. Allerdings – so sehr man es sich wünschen mag – man kann den anderen nicht ein Leben lang davor bewahren, mit einer ihn schmerzenden Wirklichkeit konfrontiert zu werden. Mittlerweile ist meine Schwester schon seit langem Witwe und führt uns hier den Haushalt. Sie liebt meine erwachsenen Kinder, als wären es ihre eigenen.«

Manuela schwieg eine Weile und dachte über diese Worte nach. »Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, daß Melanie meine Kinder lieben könnte. Ich habe vielmehr das Gefühl, als würde ich mich mit jeder Schwangerschaft weiter von ihr entfernen.«

Sehr ernst sah Dr. Daniel sie an. »Sie können nicht aus Liebe zu Ihrer Schwester Ihre Lebens-einstellung ändern. Ich erinnere mich noch sehr gut an Ihre erste Schwangerschaft. Sie steckten voller Vorfreude auf Ihr Baby. Das ist bei den meisten Müttern der Fall, doch bei einigen wird der Enthusiasmus durch die Geburtsschmerzen gedämpft. Viele können sich in den ersten Tagen oder Wochen nach der Geburt nicht vorstellen, jemals wieder schwanger werden zu wollen. Bei Ihnen war das anders. Unmittelbar nach Annas Geburt fragten Sie mich schon, wie lange Sie warten müßten, bis Ihr Körper eine zweite Schwangerschaft verkraften könnte.«

In der Erinnerung daran mußte Manuela lächeln. »An meiner Einstellung hat sich nichts geändert, Herr Doktor. Ich möchte noch viele Kinder haben. Unser Haus ist so groß, da hätte notfalls eine ganze Fußballmannschaft Platz… mit Ersatzspielern.«

Der Vergleich brachte Dr. Daniel zum Lachen. »Da haben Sie ja noch einiges vor, Frau Stumpe.«

Manuelas Lächeln erlosch. »Kann ich das meiner Schwester antun? Wissen Sie, damals, nach Annas Geburt, war unsere Welt noch in Ordnung. Ich zweifelte nicht daran, daß es bei Melanie auch klappen würde… eben nur ein bißchen später als bei mir. Wir sind Zwillinge… eineiige Zwillinge. Wie kann ich da ein Kind nach dem anderen bekommen, während sie ihr versagt bleiben?«

»Und nun wollen Sie Ihrer Schwester zuliebe auf weitere Kinder verzichten?« Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Das ist der falsche Weg, Frau Stumpe.«

»Ist es denn richtig, ihr die eigene Unfähigkeit durch meine vielen Kinder so deutlich bewußt zu machen?«

»Unfähigkeit«, wiederholte Dr. Daniel nachdenklich, dann sah er Manuela an. »Ich glaube nicht, daß die Kinderlosigkeit Ihrer Schwester etwas mit Unfähigkeit zu tun hat.« Er schwieg kurz. »Vielleicht sollten Sie ihr raten, einmal zu mir zu kommen. Ich will nicht etwa sagen, daß ich mehr kann als die Kollegen, von denen Ihre Schwester untersucht worden ist, aber wir hatten in unserer Waldsee-Klinik tatsächlich schon Fälle, die aussichtslos schienen und wo es uns dennoch gelungen ist, dem betreffenden Ehepaar zu einem eigenen Kind zu verhelfen.«

»Ich werde es ihr sagen«, versprach Manuela, doch ihr Ton und ihr Gesichtsausdruck bewiesen, daß sie nicht sehr zuversichtlich war, ihre Schwester zu diesem erneuten Arztbesuch bewegen zu können.

*

Wie in Trance starrte Natalie Meinhardt auf das mehrseitige Schreiben in ihrer Hand. Ihre Klage hatte Erfolg gehabt, doch Natalie konnte sich darüber nicht freuen. Ihr Leben war zerstört, auch wenn Dr. Kreutzer zur Strafe die ärztliche Zulassung entzogen worden war – ihr Leben würde für immer zerstört bleiben, denn was Dr. Kreutzer getan hatte, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Wegen Unterleibsschmerzen war sie damals in diese kleine Privatklinik gegangen, und Dr. Kreutzer hatte ihr zur Operation geraten. Sie hatte unter Endometriose gelitten, die der Chirurg auf radikalste Weise bekämpft hatte – er hatte ihr kurzerhand Gebärmutter und Eierstöcke entfernt. Die Endometriose war damit zwar ausgeheilt, doch Natalie hatte ganz plötzlich unter Wechseljahrsbeschwerden gelitten. Zum damaligen Zeitpunkt hatte sie noch nicht gewußt, was der verantwortungslose Arzt getan hatte. Erst als sie auf Empfehlung einer Apothekerin nach Steinhausen zu Dr. Daniel gegangen war, hatte sie die Wahrheit erfahren – eine Wahrheit, an der sie beinahe zugrunde gegangen wäre.

Langsam entglitt das Schreiben Natalies Händen. Sie sah, wie es zu Boden flatterte. Sie fühlte ein Brennen in den Augen, doch erst als Tränen auf das Papier tropften, merkte sie, daß sie weinte. Wie unter einem Zwang legten sich ihre Hände auf ihren Bauch, und fast glaubte sie die Leere da drin zu spüren.

Das Klingeln an der Tür riß sie aus ihren Gedanken. Mit einer müden Bewegung hob sie die heruntergefallenen Blätter auf, legte sie achtlos auf den Tisch und ging zur Tür, um zu öffnen.

»Tobias!« rief sie erstaunt. »Wie kommst du nach Steinhausen?«

Tobias Scholz grinste. »Überraschung gelungen?«

Natalie nickte und brachte sogar ein Lächeln zustande. »Und ob! Komm herein.«

Das ließ sich Tobias nicht zweimal sagen. Er schloß die Tür hinter sich, dann zog er Natalie in seine Arme.

»Ich habe dich schrecklich vermißt.«

Vertrauensvoll lehnte sie sich an ihn. »Ich habe dich auch vermißt, Tobias.« Sie blickte zu ihm auf. »Ich fühlte mich schrecklich einsam. Nach meiner Entlassung aus der Klinik… es war nicht einfach.« Sie bemühte sich um ein Lächeln, doch ihre Augen blieben ernst. »Aber jetzt bist du da. Wie lange kannst du bleiben?«

Da lächelte er sie liebevoll an. »In Zukunft wirst du nicht mehr so lange auf mich verzichten müssen. Patrick hat es endlich geschafft, sich gegen unseren Vater durchzusetzen. Zum nächsten Ersten wird er das Unternehmen meinem Bruder und mir übergeben.«

Bei diesen Worten mußte Tobias an die unerfreulichen Szenen denken, die beinahe zu einem dauerhaften Zerwürfnis geführt hätten. Sein Vater hatte die Leitung des Busunternehmens Tobias’ jüngerem Bruder Patrick übergeben wollen, und zu allem Überfluß war Tobias zu jener Zeit auch noch in Patricks Freundin verliebt gewesen – so sehr, daß er versucht hatte, seinen Bruder und Sabrina mit Hilfe einer bösen Intrige zu entzweien, doch er hatte sich gerade noch rechtzeitig besonnen und Patrick die Wahrheit gestanden. Sein Bruder hatte ihm verzeihen können, und dann war mit Natalie auch noch das wirkliche Glück bei ihm eingezogen, und er hatte erkannt, daß seine vermeintliche Liebe zu Sabrina eben doch nicht mehr als eine flüchtige Verliebtheit gewesen war, vielleicht auch nur Eifersucht auf seinen Bruder, der damals alles das besessen hatte, was Tobias sich erträumt hatte. Inzwischen gehörte das jedoch längst der Vergangenheit an.

»Was geschieht mit deinem Unternehmen in Köln, wenn du hier mit deinem Bruder zusammenarbeiten wirst?« fragte Natalie und holte ihn in die Gegenwart zurück.

»Das ist bereits verpachtet«, entgegnete Tobias und seufzte erleichtert auf. »Ich bin so froh, daß ich wieder zurückkommen kann. Es ist schön in Köln, aber es geht doch nichts über die Heimat.« Zärtlich berührte er Natalies Gesicht, dann fügte er hinzu: »Und über die Gewißheit, dich in meiner Nähe zu haben.«

Zusammen betraten sie das Wohnzimmer.

»Setz dich schon mal«, meinte Natalie. »Ich mache uns rasch Kaffee.«

»Fein«, urteilte Tobias, aber er hatte jetzt nicht die Geduld, sich auf das Sofa zu setzen und auf Natalies Rückkehr zu warten. Statt dessen lehnte er sich in den Rahmen der Küchentür und sah ihr zu, wie sie Wasser aufsetzte und Kaffeepulver in den Filter gab.

»Wie geht’s dir?« wollte er wissen.

Sie schwieg eine Weile, entschloß sich dann aber für die Wahrheit. »Nicht sehr gut.« Wieder machte sie eine Pause. »Dr. Kreutzer wurde die Approbation entzogen, aber das gibt mir meine Gebärmutter und die Eierstöcke nicht zurück.«

Tobias trat zu ihr, legte beide Hände auf ihre schmalen Schultern und küßte ihr weiches,

dunkles Haar.

»Ich kann mir wahrlich nicht einmal vorstellen, wie schlimm das für dich ist«, meinte er leise. »Trotzdem solltest du versuchen, die Vergangenheit zu vergessen. Ich liebe dich, und gemeinsam…«

Natalie drehte sich zu ihm um. »Wir werden niemals ein Kind haben können.«

Tobias nickte. »Ich weiß, Liebes, aber für mich ist das kein Grund, dich weniger zu lieben.« Er lächelte sie an. »Schau mal, Natalie, auf diese Weise können wir uns ganz auf unsere Pflichten als Tante und Onkel konzentrieren.«

Natalie wußte, daß er sie aufmuntern wollte, doch dieser Versuch mißlang kläglich.

»Glaubst du wirklich, daß es für mich einfacher wird, wenn ich das Familienglück deines Bruders und deiner Schwägerin sehe?« fragte sie ernst und mit Augen voller Traurigkeit.

Verlegen blickte er zu Boden. »Tut mir leid, Liebes. Das hätte ich nicht sagen sollen.«

Sie schmiegte sich an ihn. »Ich weiß schon, daß du es gut gemeint hast, aber…« Ihre Stimme wurde ganz leise. »Ich habe mir immer Kinder gewünscht.« Dann seufzte sie tief auf. »Ich glaube, ich werde nie darüber wegkommen.«

*

Die Sprechstunde bei Dr. Daniel war fast zu Ende, als seine Sprechstundenhilfe hereinkam und einen Brief auf seinen Schreibtisch legte. Dr. Daniel warf einen kurzen Blick darauf, sah den Gerichtsstempel und wußte sofort, daß der Umschlag nur das Urteil über Dr. Joachim Kreutzer enthalten konnte. Obwohl er ahnte, wie die Entscheidung des Gerichts ausgefallen war, drängte es ihn, seinen Verdacht zu bestätigen. Dennoch befaßte er sich zuerst mit der Patientin, die bei ihm im Zimmer saß. Als das Gespräch mit ihr und die nachfolgende Untersuchung beendet war, öffnete er den Umschlag und überflog das mehrseitige Urteil, dann nickte er befriedigt.

»Fräulein Sarina, wie viele Patientinnen warten denn noch?« wollte er von seiner jungen Sprechstundenhilfe wissen.

»Nur zwei«, antwortete sie und lächelte. »Es sieht so aus, als könnten Sie heute ausnahmsweise mal pünktlich zum Mittagessen gehen.«

Dr. Daniel nickte. »Dann kann ich mir auch noch ein kurzes Telefongespräch gönnen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Schicken Sie die nächste Patientin in fünf Minuten zu mir. Bis dahin bin ich fertig.«

Er nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Sommer-Klinik in München, dann ließ er sich mit dem dortigen Chefarzt verbinden, der seit vielen Jahren sein bester Freund war.

»Grüß dich, Schorsch, ich bin’s, Robert«, gab er sich zu erkennen.

»Ich weiß genau, weshalb du anrufst«, erwiderte Dr. Sommer. »Kreutzer wurde endgültig aus dem Verkehr gezogen.«

»Woher weißt du das schon?« fragte Dr. Daniel erstaunt zurück.

»Stell dir vor, in München gibt es Zeitungen«, erklärte Dr. Sommer, und Dr. Daniel hörte an seiner Stimme, daß er grinste. »Überdies bin ich auch des Lesens mächtig.«

»Erstaunlich«, spielte Dr. Daniel sofort mit. »Noch viel erstaunlicher aber ist, daß ein angeblich so vielbeschäftigter Chefarzt sich einen solchen Luxus wie Zeitunglesen leisten kann. Ein ewig gestreßter Gynäkologe hat dazu keine Zeit.«

»Ha!« machte Dr. Sommer. »Daß ich nicht lache! Woher hast du denn deine Weisheit?«

»Ich habe heute das Urteil bekommen«, erwiderte Dr. Daniel, dann wurde er ernst. »Immerhin war ich an dem Verfahren gegen Kreutzer ja beteiligt. Ohne die Aussagen von Köhler und mir wäre er womöglich wieder ungeschoren davongekommen.«

»Es ist ohnehin eine Schande, daß so einer überhaupt praktizieren durfte«, meinte Dr. Sommer. »Nun ja, jetzt gehört das Kapitel Kreutzer der Vergangenheit an.« Er zögerte einen Moment. »Wie geht es deiner Patientin?«

»Nicht besonders«, antwortete Dr. Daniel. »Du bist lange genug Arzt, um zu wissen, wie schwer Frauen eine Totaloperation verkraften. Wenn sie überdies auch noch unnötig war und ohne Wissen der Patientin durchgeführt wurde…« Er seufzte. »Ich mache mir große Sorgen um sie.«

»Vielleicht solltest du versuchen, sie zu einer Therapie zu überreden«, schlug Dr. Sommer vor.

»Ja, mal sehen«, entgegnete Dr. Daniel ausweichend. Im Augenblick war er nicht davon überzeugt, daß eine Psychotherapie für Natalie Meinhardt wirklich das Richtige wäre. »Ich muß Schluß machen, Schorsch. Auf mich wartet noch eine Menge Arbeit.«

Die Freunde verabschiedeten sich, dann legte Dr. Daniel auf. Kurz darauf begleitete Sarina von Gehrau die nächste Patientin ins Sprechzimmer.

»Fräulein Sarina, lassen Sie mich bitte nicht vergessen, daß ich nach der Sprechstunde bei Fräulein Meinhardt anrufe«, erklärte Dr. Daniel so leise, daß nur Sarina ihn verstehen konnte.

»Das wird nicht nötig sein«, entgegnete sie. »Fräulein Meinhardt ist die andere Patientin, die noch im Wartezimmer sitzt.« Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst. »Sie sieht sehr blaß aus.«

Dr. Daniel nickte. »Das kann ich mir vorstellen.« Doch dann gestattete er sich keinen Gedanken mehr an Natalie, sondern konzentriere sich auf die Probleme der Patientin, die jetzt bei ihm im Sprechzimmer saß. Sowohl das Gespräch als auch die Untersuchung zogen sich ziemlich in die Länge. Dr. Daniel nahm sich für jede Patientin so viel Zeit wie nötig, auch wenn es dadurch zu Terminverschiebungen kam. Als er nach beendeter Untersuchung in sein Sprechzimmer zurückkehrte, wartete Natalie dort bereits auf ihn.

Mit besonderer Herzlichkeit ergriff er ihre Hände.

»Fräulein Meinhardt, gut, daß Sie gekommen sind«, meinte er. »Ich habe heute schon an Sie gedacht.«

Die junge Frau nickte. »Ich nehme an, Sie haben das Urteil auch zugeschickt bekommen.« Sie wartete Dr. Daniels Antwort gar nicht ab, sondern fuhr sich mit einer nervösen Handbewegung über die Stirn. »Eine Weile dachte ich, es wäre ausgestanden, aber jetzt… Durch das Urteil kam alles wieder hoch.« Sie schwieg einen Moment, dann setzte sie scheinbar zusammenhanglos hinzu: »Seit gestern ist Tobias hier. Er wird in Steinhausen bleiben, aber… ich weiß nicht…« Sie sah Dr. Daniel an. »Kann ich ihm das zumuten? Ein Leben neben einer Frau, die gar keine richtige Frau mehr ist?«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Ihr Gedankengang ist nicht richtig, Fräulein Meinhardt. Herr Scholz liebt Sie, weil Sie so sind, wie Sie sind.«

Natalie seufzte. »Ja, das hat er auch gesagt, aber… ich werde ihm niemals ein Kind schenken können, und wenn ich meine Tabletten vergesse, dann…« Sie legte eine Hand über die Augen und schluchzte auf. »Ich fühle mich wie eine alte Frau… so, als wäre mein Leben schon vorbei, dabei bin ich doch erst zweiundzwanzig.«

»Ihr Leben ist noch lange nicht vorbei, Fräulein Meinhardt«, entgegnete Dr. Daniel eindringlich. »Ich habe oft genug erlebt, wie schwer Frauen eine derartige Operation verkraften, doch in all diesen Fällen war sie dringend geboten. Bei Ihnen war sie es nicht, das macht alles noch schlimmer. Trotzdem sollten Sie versuchen, Ihr Leben wieder neu zu gestalten, und ich bin sicher, daß Herr Scholz dabei eine maßgebliche Rolle spielen wird. Im übrigen haben wir Ihre körperlichen Beeinträchtigungen mit den Hormontabletten doch schon ganz gut in den Griff bekommen.«

Natalie nickte halbherzig. »Das ist zwar richtig, aber… der Gedanke an ein eigenes Kind, das ich nie haben kann, wird immer schlimmer. Wenn ich schwangere Frauen sehe, könnte ich weinen, das Lachen und Schreien von Kindern trifft mich mitten ins Herz, und seit Sabrina… die Frau von Tobias jüngerem Bruder, entbunden hat… ich kann das Baby nicht anschauen… ich bringe es einfach nicht übers Herz. Sabrina und Patrick haben angeblich Verständnis dafür, doch ich fürchte, daß sie in Wirklichkeit durch mein Verhalten sehr gekränkt sind.«

»Nein, Fräulein Meinhardt, das sind sie ganz bestimmt nicht«, widersprach Dr. Daniel. »Ich kenne Sabrina von Geburt an und weiß, daß sie eine sehr liebe, warmherzige junge Frau ist. Wenn sie sagt, daß sie Verständnis für Ihr Verhalten hat, dann ist das auch die Wahrheit.« Väterlich legte er einen Arm um Natalies Schultern. »Lassen Sie sich ein bißchen Zeit, Fräulein Meinhardt. Es wird mit Sicherheit noch eine ganze Weile dauern, bis Sie das, was Dr. Kreutzer Ihnen angetan hat, wirklich verkraftet haben, aber Sie sollen wissen, daß Sie in dieser Situation nicht allein sind. Wenn Sie mit mir sprechen wollen, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung – auch außerhalb der normalen Praxiszeiten.«

»Danke, Herr Doktor«, flüsterte Natalie gerührt. »Ich bin so froh, daß ich bei Ihnen gelandet bin. Sie und Tobias sind im Moment mein einziger Halt.«

Dr. Daniel überlegte eine Weile. »Vielleicht sollten Sie sich einer Selbsthilfegruppe anschlie-ßen. Hier in Steinhausen gibt es zwar keine, aber meines Wissens müßte so etwas in der Kreisstadt existieren.«

Doch Natalie schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Doktor, so etwas möchte ich nicht. Es mag egoistisch klingen, aber ich habe schon genug an meinem eigenen Schicksal zu tragen. Ich glaube nicht, daß es mir helfen würde, wenn mir andere auch noch ihr Leid erzählen würden.«

»Es klingt nicht egoistisch«, erwiderte Dr. Daniel. »Eine Selbsthilfegruppe stellt für viele Betroffene eine seelische Stütze dar, aber nicht für alle.« Wieder überlegte er eine Weile. »Vielleicht können Sie sich zu gegebener Zeit mit dem Gedanken an eine Adoption vertraut machen. Allerdings sollten Sie damit nichts überstürzen. Zuerst müssen Sie diesen tiefen Einschnitt in Ihr Leben verarbeitet haben.«

Natalie nickte.

»Ich werde darüber nachdenken«, versprach sie, dabei war sie jetzt schon überzeugt davon, daß eine Adoption für sie nicht in Frage kommen würde. In ihren Augen war es unmöglich, daß ein fremdes Kind ihr auch nur annähernd so viel bedeuten könnte wie ein leibliches, und eine Adoption könnte sie auch nie darüber hinwegtrösten, daß ihr eigene Kinder für immer versagt bleiben würden…

*

Es war ein stiller Sonntagvormittag. Melanie Probst stand am Herd und bereitete das Mittagessen zu, während Karlheinz hinter ihr am Tisch saß. Das Rascheln von Papier, das in regelmäßigen Abständen ertönte, bewies, daß er sich mit der Zeitung beschäftigte, doch als sich Melanie umdrehte, sah sie, daß er blicklos vor sich hin starrte.

Bereits während des Frühstücks war ihr ohnehin karges Gespräch völlig versiegt. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, und wieder einmal wurde Melanie bewußt, daß das, was sie führten, längst keine Ehe mehr war, doch seltsamerweise berührte es sie nicht einmal. Karlheinz war die Liebe ihres Lebens gewesen, doch dann waren die Jahre vergangen, und ihr sehnlichster Wunsch hatte sich nicht erfüllt. Mit der Zeit war ihr Karlheinz immer gleichgültiger geworden. Ihre ganzen Gefühle hatten sich um ihren unerfüllten Kinderwunsch gesammelt; für einen Mann war da kein Platz mehr. Melanie lebte in einer eigenen Welt, die aus Kummer und Sehnsucht bestand und in die sie Karlheinz keinen Zutritt gewährte.

»Melanie, wir müssen miteinander sprechen.«

Karlheinz’ Stimme fiel in ihre Gedanken. Sie starrte ihn an wie ein Wesen von einem anderen Stern. Für einen Augenblick hatte sie seine Anwesenheit völlig vergessen, und fast nahm sie es ihm übel, daß er sich durch seine Worte wieder in Erinnerung brachte.

»Ich muß kochen«, entgegnete Melanie lakonisch und widmete sich angelegentlich dem Topf, den sie auf dem Herd stehen hatte.

»Das Geschnetzelte kocht von allein«, hielt Karlheinz dagegen, dann stand er auf, nahm seine Frau bei den Schultern und drehte sie zu sich herum. »Bitte, Melanie.« Er schwieg und wartete auf eine Erwiderung, doch als diese ausblieb, fügte er hinzu: »Wenn dir unsere Ehe jemals etwas wert war, dann solltest du nicht versuchen, diesem Gespräch auszuweichen.«

Melanie seufzte. »Laß mich in Ruhe, Karlheinz.«

Etwas wie Schmerz zeichnete sich bei diesen Worten auf seinem Gesicht ab, als ihm bewußt wurde, wie lange Melanie ihn schon nicht mehr liebevoll »Kalle« genannt hatte.

»Ich werde dich verlassen.«

Karlheinz sprach die Worte aus, ohne es wirklich gewollt zu haben. Er hatte doch eigentlich über das Gegenteil reden wollen… über eine Chance für ihre Ehe.

Melanies Blick war gleichgültig. Desinteressiert zuckte sie die Schultern.

»Wenn du meinst.«

Völlig fassungslos starrte Karlheinz sie an. »Ist das alles, was du dazu sagst? Melanie, ich spreche nicht von einer Geschäftsreise oder einem Wochenende, das ich mit Freunden verplant habe. Ich werde dich verlassen, ich meine das vollkommen ernst. Ich gehe – vielleicht für immer.«

Melanie nickte. »Ich bin kein kleines Dummchen, Karlheinz. Ich habe deine Worte ganz richtig verstanden, und meine Antwort darauf ist, daß du gehen kannst, wenn du es für richtig hältst.«

Resigniert ließ Karlheinz den Kopf sinken. »Irgendwie dachte ich, unsere Ehe wäre dir etwas mehr wert… zumindest eine Reaktion, die beweist, daß du mehr als nur Gleichgültigkeit für mich empfindest.«

Mit einer müden Handbewegung strich sich Melanie über die Augen.

»Du bist mir nicht gleichgültig«, behauptete sie, doch kein bißchen Gefühl schwang in ihren Worten mit. Sie sah Karlheinz an, und dabei wirkten ihre Augen leer… wie erloschen. »Unsere Ehe ist nur noch eine Belastung. Es ist vermutlich besser, wenn du gehst.«

Karlheinz fühlte den brennenden Schmerz in seinem Herzen und hätte beinahe aufgestöhnt vor Qual.

»Melanie, ich…« Er stockte, wußte nicht, wie er vorbringen sollte, was ihn bewegte. Früher war alles so einfach gewesen. Sie hatten sich geliebt, und die Liebe hatte immer einen Weg gefunden. Jetzt schien es diese Liebe nicht mehr zu geben. »Vielleicht… in einem halben Jahr… ich meine… ich will ja nicht für immer gehen…«

Wieder zuckte Melanie die Schultern. »Du mußt tun, was du für richtig hältst.«

Karlheinz hatte das bedrückende Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Ihm war, als länge ein Zentnergewicht auf seiner Brust. Plötzlich überkam ihn das dringende Bedürfnis, Melanie zu schütteln, sie anzuschreien… um ihre Liebe zu flehen. Er wollte doch nicht gehen. Er wollte bei ihr bleiben. Er wollte, daß alles wieder so sein würde wie früher.

»Melanie, ich liebe dich.«

Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, und danach fühlte er sich so erschöpft, als hätte er eine lange körperliche Anstrengung hinter sich.

Melanie nahm seine Liebeserklärung so teilnahmslos hin, wie sie seine Mitteilung, sie zu verlassen, aufgenommen hatte. Ob Karlheinz sie liebte oder nicht, bedeutete ihr nichts mehr. Alle Gefühle, derer sie jemals fähig gewesen war, lagen jetzt in ihrem Unterleib und sehnten sich nach einem Kind.

»Bleibst du noch zum Essen?« fragte sie, als wäre Karlheinz ein flüchtiger Bekannter, der nur auf einen Sprung hereingeschaut hatte.

Er nickte zwar, doch er wußte schon jetzt, daß es ihm nicht schmecken würde. Wie verloren stand er in der Küche, sah zu, wie Melanie Nudeln kochte, das Rahmgeschnetzelte abschmeckte und schließlich den Tisch deckte.

Dann saßen sie nebeneinander und fühlten sich doch wie Fremde. Mühsam würgte Karlheinz ein paar Bissen hinunter, dann stand er abrupt auf und flüchtete beinahe aus der Küche. Wahllos warf er Hemden, Hosen, Unterwäsche und Socken in einen Koffer. Er wollte weg, bevor das Zusammensein mit Melanie noch unerträglicher werden würde.

Währenddessen saß Melanie am Tisch und aß so, wie sie in letzter Zeit alles tat – teilnahmslos und desinteressiert. Sie hörte, wie Karlheinz immer wieder hilflos aufschluchzte, doch kein Gefühl regte sich in ihr. Der Gedanke an ein Kind beherrschte ihr Leben, alles andere war ihr gleichgültig. Daher bedeutete es ihr auch nichts, als Karlheinz noch einmal hereinkam, um sich zu verabschieden.

»Ich gehe zu Udo«, erklärte er. »Zumindest für die erste Zeit.« Er schwieg, wartete auf eine Erwiderung. Als diese ausblieb, fügte er hinzu: »Ich meine nur… falls du mich erreichen möchtest…«

Falls du mich brauchst, hatte er eigentlich sagen wollen, doch er fühlte, daß Melanie ihn nicht mehr brauchte. Sie schien nichts und niemanden zu brauchen – nur ihr Selbstmitleid oder was immer es war, das sie so kalt und gefühllos machte.

Karlheinz verließ die Küche, doch dann blieb er unschlüssig vor der Haustür stehen. Er kam sich armselig… wie verloren vor, als er sich im Garderobenspiegel sah: Ein junger Mann mit einem Koffer… ein trauriges Bild. Sehnsüchtig blickte er zurück, hoffte auf ein Wort von Melanie… ein Wort, das ihn zurückhalten würde, doch es blieb still. Karlheinz seufzte, dann öffnete er die Tür, zögerte noch einmal und ging schließlich hinaus. Melanie würde ihn nicht zurückhalten, auch wenn er noch stundenlang warten würde.

*

Melanie verbrachte ihre Tage sehr einsam. Schon wenige Monate nach der Hochzeit mit Karlheinz hatte sie ihre Stellung aufgegeben, denn die finanzielle Lage ihres Mannes hatte ihr ein Dasein als Nur-Hausfrau gestattet. Damals war sie gar nicht so erfreut gewesen, denn die Hausarbeit allein hatte sie bei weitem nicht ausgefüllt, doch mit der Zeit hatte sie die angenehmen Seiten dieses Lebens schätzengelernt. Sie hatte auf diese Weise Zeit gehabt, um ihren Hobbys nachzugehen. Im Laufe der Jahre jedoch, als sich ihr Kinderwunsch nicht erfüllt hatte, waren die Hobbys immer spärlicher geworden. Melanie hatte ihre Zeit zunehmend damit verbracht, untätig herumzusitzen und mit dem Schicksal zu hadern, das die Zwillingsschwester zur mehrfachen Mutter gemacht hatte, während sie selbst zusehen mußte, wie sie noch immer kinderlos allmählich auf die Dreißig zuging. In ihrer Situation erschien ihr das schon schrecklich alt.

An diesem Nachmittag raffte sich Melanie mit Mühe zu einem Stadtbummel auf. Früher war das für sie ein Vergnügen gewesen, doch jetzt… wohin sie auch sah, begegneten ihr Schwangere oder Frauen mit Kinderwagen. Melanie quälte sich durch die Kaufhäuser und landete gegen ihren Willen immer wieder bei Umstandsmoden oder Babykleidung.

»Manuela! Das ist aber ein netter Zufall!«

Melanie drehte sich um und sah sich der freundlich lächelnden Barbara Gutmann gegen-über. Die rüstige Achtzigjährige kannte Manuela und Melanie von Kindheit an, hatte die Zwillingsschwestern aber nie auseinanderhalten können. Auch jetzt war sie nicht sicher, ob es tatsächlich Manuela war, die sie getroffen hatte, nahm es aber an, da sich die junge Frau in der Babyabteilung aufhielt. Früher hatte Melanie solche Verwechslungen amüsant gefunden und den Irrtum aus Spaß nicht aufgeklärt. Jetzt war es ihr eher unangenehm, für Manuela gehalten zu werden. Trotzdem brachte sie die Wahrheit nicht über die Lippen. Vielleicht war es einfach der Wunsch, einmal so zu sein wie ihre Schwester… eine glückliche Mutter…

»Wo hast du denn deine beiden Kleinen?« fragte Barbara Gutmann, beantwortete ihre Frage aber gleich selbst. »Wahrscheinlich bei der Oma, nicht wahr?«

Melanie konnte nur nickten, denn die gesprächige Rentnerin fuhr bereits fort: »Die Frau Mama ist ja überglücklich, weil sie zwei so goldige Enkelkinder hat.« Ihr Gesichtsausdruck änderte sich, sie wurde ernst. »Schade, daß es bei der Melanie überhaupt nicht mit einem Kind klappen will. Wann kommt denn jetzt das dritte?« Sie musterte Melanies Bauch. »Sehen kann man ja noch nichts.«

»Ach, wissen Sie, Oma Gutmann, unter diesen weiten Pullis kann man schon ein paar Pfunde verstecken«, antwortete Melanie schlagfertig, dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Warten Sie noch ein paar Wochen, dann wird man es bestimmt deutlicher sehen.«

Barbara lächelte. Sie selbst hatte leider nie Kinder gehabt, deshalb hatte sie es immer genossen, wenn Manuela und Melanie sie liebevoll Oma Gutmann genannt hatten.

»Du freust dich wahrscheinlich schon sehr darauf«, vermutete Barbara Gutmann.

Melanie legte die Hände auf ihren Bauch und wünschte sich sehnlichst, daß sie wirklich das wäre, was sie jetzt vorgab zu sein.

»Ja, Oma Gutmann, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue«, entgegnete sie leise. »Ich träume beinahe Tag und Nacht davon, mein Baby zärtlich in den Armen zu halten.« Schmerzlich wurde ihr bewußt, daß sie damit die Wahrheit sagte – ja, sie träumte davon… doch dieser Traum würde niemals Wirklichkeit werden.

*

Völlig erschöpft kehrte Melanie von ihrem Stadtbummel heim, doch das lag nicht an dem Menschengewühl in den Kaufhäusern, sondern an der Begegnung mit Barbara Gutmann und Melanies Lüge. Früher hatte sie solche Verwechslungsspiele nicht als Lügen empfunden. Es war ein harmloser Spaß gewesen, den sie immer sehr genossen hatte, doch diesmal war es weder harmlos noch ein Spaß gewesen.

Während des Gesprächs mit Barbara Gutmann war Melanie von einem seltsamen Hochgefühl ergriffen worden. Sie hatte empfunden wie ihre Zwillingsschwester, hatte die Freude über das zu erwartende Baby nicht mehr gespielt, sondern wirklich gefühlt. Doch dann war der tiefe Fall gekommen, der Sturz in die Wirklichkeit. Sie war nicht Manuela, nicht Mutter von zwei süßen kleinen Kindern und auch nicht schwanger. Alles nur Einbildung…

Wie in Trance griff Melanie nach der Einkaufstasche und zog das einzige Kleidungsstück heraus, das sie sich heute gekauft hatte – nach eingehender Beratung mit Barbara Gutmann. Melanie zog Rock und Bluse aus, dann schlüpfte sie in das Kleid. Es hing an ihr wie ein Sack. Lange betrachtete sich Melanie im Spiegel, dann hob sie den Saum des Hängerkleides an, griff nach einem Kissen, preßte es vor ihren Bauch und zog den Bund der Seidenstrumpfhose darüber. Es erschien ihr wie ein Wunder, denn plötzlich hatte das Kleid keinen sackähnlichen Charakter mehr. Mit der sanften Wölbung, die sich darunter abzeichnete, sah es sogar hübsch aus. Melanie drehte sich vor dem Spiegel, ein glückliches Strahlen erhellte ihr Gesicht, dann schloß sie die Augen und streichelte über den Bauch, den sie sich mit Hilfe eines Kissens hingezaubert hatte. Fast glaubte sie, die Bewegungen eines Babys zu spüren… dieses sanfte Pochen, von dem Manuela während ihrer ersten Schwangerschaft erzählt hatte. Damals war ihre Welt noch in Ordnung gewesen, sie hatten über alles sprechen können, doch jetzt…

Das Klingeln an der Haustür fiel in Melanies Gedanken. Erschrocken zuckte sie zusammen, dann lief sie zur Tür und öffnete, ohne sich daran zu erinnern, daß sie noch immer das Umstandskleid mit dem Kissen darunter trug.

Der gut sichtbare Bauch war denn auch das erste, was Manuela Stumpe ins Auge stach. Fassungslos starrte sie ihre Zwillingsschwester an.

»Melanie…«, brachte sie mühsam hervor, dann berührte sie mit den Fingerspitzen das Kleid. »Seit wann…«

Ein eisiger Schauer lief über Melanies Rücken. Was sollte sie jetzt tun? Die Wahrheit sagen? Gestehen, daß sie sich Barbara Gutmann gegenüber als Manuela ausgegeben hatte… nein, nicht ganz. Sie hatte ja nur den Irrtum der Rentnerin nicht aufgeklärt. Sollte sie sagen, daß sie zusammen mit Oma Gutmann das Umstandskleid ausgesucht hatte und sich jetzt ein einziges Mal wie eine Schwangere hatte fühlen wollen? Manuela würde sie für verrückt erklären, und vermutlich war sie das ja auch.

»Es hat endlich geklappt«, hörte sich Melanie sagen und fragte sich gleichzeitig, wie sie aus dieser Lüge jemals wieder herauskommen sollte.

Spontan umarmte Manuela ihre Schwester.

»Oh, Melanie, ich freue mich für euch!« rief sie, und ihr glückliches Lächeln bewies, daß sie diese Worte ernst meinte, dann glitt ihr Blick wieder zu Melanies Bauch. »Du mußt es aber doch schon länger wissen. Ich meine… nun ja, nach deinem Bäuchlein zu schließen, bist du nicht im zweiten oder dritten Monat. Ich vermute, daß wir beide in etwa zur selben Zeit entbinden werden.« Sie schwieg kurz. »Als ich dich angerufen und von meiner Schwangerschaft erzählt habe, da müßtest du es doch auch längst gewußt haben. Warum hast du nichts gesagt?«

Wieder wurde es Melanie abwechselnd heiß und kalt. Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen und die Wahrheit zu gestehen, doch jetzt konnte sie sich vor ihrer Schwester erst recht keine Blöße mehr geben.

»Komm erst mal herein, Manuela«, bat sie, dann begleitete sie ihre Zwillingsschwester ins Wohnzimmer. Sie setzten sich, und Melanie spielte nervös mit dem Saum ihres Kleides. Nur zu deutlich spürte sie den Druck des Kissens unter ihrer Seidenstrumpfhose.

»Weißt du, ich habe absichtlich so lange nichts gesagt, weil…« Melanie stockte. Es widerstrebte ihr, Manuele zu belügen, doch sie sah keinen anderen Ausweg, ohne sich bis auf die Knochen zu blamieren. Im Moment mußte sie die Lügen durchstehen und später nach einem Ausweg suchen. Vielleicht konnte sie ja behaupten, eine Fehlgeburt erlitten zu haben.

»Ich hatte anfangs immer wieder Blutungen«, fuhr Melanie fort und schämte sich dabei ganz entsetzlich. Warum hatte sie sich auf dieses Spiel eingelassen? Wenn sie gleich die Wahrheit gesagt… über ihren Kummer gesprochen hätte… Manuela hatte immer Verständnis gehabt.

»Ich hatte Angst, das Baby zu verlieren«, fuhr Melanie fort, dann senkte sie den Kopf. »Karlheinz… er weiß es auch noch nicht.«

»Wie bitte?« entgegnete Manuela überrascht. »Aber… er muß es doch sehen.«

Melanie errötete. »Er… er hat mich verlassen – schon vor fast zehn Wochen. Seitdem hatten wir keinen Kontakt mehr.«

Manuela war erschüttert. »Er hat dich verlassen? Aber… wenn du ihm gesagt hättest, daß du ein Kind erwartest. Melanie…«

Sie seufzte tief auf. »Es war eine schwierige Zeit, die wir hatten. Wir konnten nicht mehr miteinander sprechen, und ich… ich war so in Sorge um das Baby. Ich wollte es nicht verlieren.« Je länger sie erzählte, desto mehr rückte der Gedanke, daß es nur Lügen waren, in den Hintergrund. Wie im Gespräch mit Barbara Gutmann fühlte sich Melanie plötzlich, als wäre sie wirklich schwanger.

»Jetzt ist diese Gefahr vor-über«, erklärte Melanie. »Der Arzt hat gesagt, daß ich in ein paar Monaten ein gesundes Kind zur Welt bringen werde.« Sie lächelte glücklich. »Damit gibt es für Karlheinz und mich sicher einen neuen Anfang.«

Sie streichelte über die Wölbung, die sich unter ihrem Kleid abzeichnete, und fühlte das Kissen. Schlagartig wurde ihr wieder bewußt, daß sie ja gar kein Baby erwartete.

»Nun ja… vielleicht gibt es nicht gleich einen neuen Anfang«, schränkte sie ein. »Karlheinz und ich… wir werden sicher ein bißchen Zeit brauchen, um alle Probleme, die sich in den vergangenen Jahren angehäuft haben, beiseite zu räumen.«

»Wenn ihr euch liebt, kommt sicher alles in Ordnung«, meinte Manuela. Sie griff nach der Hand ihrer Schwester und drückte sie sanft. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich für dich freue. Du mußtest auf dieses Glück so lange warten.« Lächelnd drohte sie mit dem Zeigefinger. »Aber ein bißchen böse bin ich schon. Wir haben uns zwar wochenlang nicht gesehen, aber du hättest mich ja wenigstens mal anrufen können. Schließlich weißt du genau, wie sehr ich die ganze Zeit mit dir gelitten habe.«

Melanie senkte den Kopf. Sie spürte das Kissen in ihrer Strumpfhose und hätte am liebsten aufgeschrien vor Qual.

»Ich hatte Angst, darüber zu sprechen«, behauptete sie leise. »Irgendwie dachte ich… wenn ich gleich am Anfang gesagt hätte, daß ich schwanger bin… und ich hätte das Baby verloren… ich glaube, das hätte ich nicht verkraftet.«

Da legte Manuela einen Arm um die Schultern ihrer Schwester. »Dafür habe ich Verständnis, Melanie. Ich glaube, im umgekehrten Fall hätte ich es genauso gemacht.«

Liebevoll drückte sie Melanie an sich und fühlte sich ihrer Schwester dabei so nah wie schon lange nicht mehr. Die alte Verbundenheit war wieder da, diese unerschütterliche Liebe, dieses Einssein, das es nur bei Zwillingen gibt. In diesem Moment war Manuela vollkommen sicher, daß es nie wieder etwas geben würde, das zwischen sie und Melanie treten könnte.

*

Als Natalie Meinhardt das Sprechzimmer von Dr. Daniel betrat, wirkte sie noch blasser und niedergeschlagener als bei ihrem letzten Besuch vor sechs Wochen.

»Was ist los, Fräulein Meinhardt?« fragte Dr. Daniel behutsam. »Haben Sie Schmerzen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Jedenfalls keine körperlichen.« Dann senkte sie den Blick. »Ich werde mich von Tobias trennen.«

Aufmerksam betrachtete Dr. Daniel sie, dann meinte er: »Sie wirken nicht so, als wären Sie überzeugt, damit das Richtige zu tun.«

»Mein Entschluß steht fest«, behauptete Natalie, doch Dr. Daniel spürte ihre Unsicherheit.

»Warum kommen Sie dann zuerst zu mir, anstatt die Dinge gleich mit Herrn Scholz zu regeln?« wollte er wissen. Er stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und griff nach Natalies Hand. »Sie wollen von mir die Bestätigung, daß Ihr Entschluß richtig ist, aber die werden Sie nicht bekommen.«

»Ich kann Tobias nicht ein Leben lang an mich fesseln!« begehrte Natalie auf. »Er hat das Recht auf eine richtige Frau!«

»Sie sind eine richtige Frau«, entgegnete Dr. Daniel. »Im übrigen sollten Sie Herrn Scholz selbst entscheiden lassen, ob er das, was mit Ihnen geschehen ist, akzeptieren kann. Sie haben ihm von Anfang an die Wahrheit gesagt. Er weiß, daß Sie nie in der Lage sein werden, ihm ein Kind zu schenken. Trotzdem wollte er Sie auf jeden Fall wiedersehen. Er wollte mit Ihnen zusammensein, und ich nehme an, er will Sie auch heiraten. Warum sperren Sie sich gegen die Liebe, die Ihnen zuteil wird? Warum wollen Sie unbedingt darauf verzichten? Und vor allem – warum treffen Sie eine solche Entscheidung einfach für ihn?«

Natalie, die anfangs voller Abwehr gewesen war, wurde jetzt nachdenklich. So hatte sie das Ganze noch nicht gesehen – vielmehr, sie hatte es nicht so sehen wollen. Sie selbst hielt sich für minderwertig und war der festen Überzeugung, daß jeder sie für minderwertig halten mußte. Sie war nur nach außen hin noch eine Frau, innerlich hatte man ihr jede Weiblichkeit genommen. Doch Dr. Daniel hatte mit dem, was er gesagt hatte, vollkommen recht. Tobias hatte von Anfang an Bescheid gewußt, er sagte ihr ja immer wieder, wie sehr er sie liebte – trotz allem.

»Jetzt sind wir noch jung«, wandte Natalie halbherzig ein. »Wie wird es in ein paar Jahren aussehen?«

»Das kann Ihnen niemand sagen«, erwiderte Dr. Daniel ernst. »Für eine glückliche Beziehung oder eine Ehe gibt es keine Garantie – auch dann nicht, wenn beide Partner vollkommen gesund sind.«

Seufzend senkte Natalie den Kopf. »Ich habe Angst, daß es schiefgehen könnte. Irgendwann wird sich Tobias ein Kind wünschen… einen Stammhalter… oder ein süßes kleines Mädchen, das…« Sie zuckte die Schultern. »Er wird seinen Bruder um das Glück einer Familie beneiden.«

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Dr. Daniel.

Wieder zuckte Natalie die Schultern. »Ich kann es mir eben vorstellen.«

»Ich auch«, gab Dr. Daniel zu. »Aber selbst wenn wir beide uns das vorstellen können, heißt es noch lange nicht, daß es zwangsläufig eintreten muß.« Seine Stimme wurde eindringlich. »Fräulein Meinhardt, geben Sie sich und Herrn Scholz eine Chance. Wenn die Beziehung schiefgeht, dann sollte es einfach so sein, aber wenn Sie es gar nicht erst versuchen… woher wollen Sie dann wissen, ob es nicht vielleicht der größte Fehler Ihres Lebens gewesen ist?«

Natalie nickte nicht ganz überzeugt. Sie wußte, daß Dr. Daniel recht hatte, trotzdem konnte sie das, was Dr. Kreutzer ihr angetan hatte, nicht vergessen. Wieder hatte sie das Gefühl, als würde sie die Leere in ihrem Bauch spüren, und die Gewißheit, daß in ihr nie ein Baby heranwachsen würde, trieb ihr die Tränen in die Augen.

»Wie soll ich jemals damit fertig werden?« flüsterte sie.

»Lassen Sie sich Zeit«, riet Dr. Daniel ihr. »So etwas geht nicht von heute auf morgen. Vielleicht brauchen Sie Monate oder auch Jahre, um das, was Ihnen widerfahren ist, zu akzeptieren. Aber denken Sie immer daran: Sie sind nicht allein. Es gibt einen Menschen, der Sie liebt, und aus dieser Liebe sollten Sie Kraft schöpfen. Weisen Sie sie nicht zurück.«

Natalie atmete tief durch, dann nickte sie. »Ich werde mir Mühe geben, es so zu sehen.« Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht gelingt es mir ja irgendwann.«

*

Tobias Scholz saß in seinem Büro und starrte blicklos vor sich hin. Auf seinem Schreibtisch lag haufenweise Arbeit, doch heute gelang es ihm einfach nicht, sich richtig zu konzentrieren, dabei war es normalerweise ein sehr angenehmes Arbeiten, seit sich sein Vater aus dem Busunternehmen zurückgezogen und die Leitung seinen beiden Söhnen überlassen hatte. Zwischen Patrick und Tobias hatte es in dieser Beziehung auch keinen Streit gegeben, denn Tobias war derjenige, dem die Arbeit hinter dem Schreibtisch lag, während Patrick Busfahrer aus Leidenschaft war. Dabei wurde er so oft wie möglich von seiner jungen Frau Sabrina begleitet, obwohl diese seit der Geburt ihres gemeinsamen Kindes nicht mehr ganz so viel Zeit hatte wie zuvor.

»Was ist denn los, Tobias?«

Beim Klang von Patricks Stimme blickte Tobias von den Schriftstücken auf, in denen zu lesen er vorgegeben hatte, dann seufzte er.

»Nichts, Patrick«, entgegnete er wenig glaubhaft. »Nichts von Bedeutung.«

»So?« Patrick schüttelte den Kopf. »Das nehme ich dir nicht ab, Bruderherz. Du warst so in Gedanken versunken, daß du weder gehört hast, wie ich hereingekommen bin, noch wie ich dich gefragt habe, wohin meine nächste Tour gehen wird.«

Tobias errötete. »Na ja, ich habe nachgedacht. Ein derart großes Unternehmen zu leiten…«

»Falsch«, fiel Patrick ihm ins Wort. »Dem Unternehmen haben deine Gedanken ganz bestimmt nicht gegolten.« Er setzte sich halb auf die Schreibtischkante. »Eines gleich vorweg, Tobias. Wenn ich dir jetzt eine Frage stelle, dann bist du nicht verpflichtet, mir zu antworten. Ich hätte vol-les Verständnis, wenn du nicht darüber sprechen möchtest.« Er schwieg kurz. »Ist es, weil Natalie keine Kinder bekommen kann?«

Ohne zu zögern schüttelte Tobias den Kopf. »Das stört mich nicht.« Mit einer Hand fuhr er durch sein dichtes Haar. »Ich will ganz ehrlich sein, Patrick, ich müßte lügen, wenn ich behaupten würde, daß ich mir nie Kinder gewünscht hätte – im Gegenteil. Ich liebe Kinder, und eine große Familie hätte mich gewiß nicht schrecken können. Aber wenn eine Familie für mich bedeuten würde, mich von Natalie trennen zu müssen, dann verzichte ich lieber auf Kinder. Ich liebe Natalie mehr als alles andere.«

»Wo liegt dann das Problem?« hakte Patrick nach.

»Natalie kann die Operation, die dieser Dr. Kreutzer durchgeführt hat, einfach nicht verarbeiten. Mehr als einmal fiel von ihrer Seite die Bemerkung, daß sie jetzt keine richtige Frau mehr sei, und ich weiß auch nicht, wie ich ihr helfen soll. Meine Liebe allein reicht offenbar nicht.«

Patrick wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Er versuchte, sich in Tobias’ Lage zu versetzen, doch es wollte nicht gelingen.

»Vielleicht…«, begann er, verstummte dann aber.

Spontan legte Tobias eine Hand auf Patricks Arm.

»Schon gut. Ich weiß, daß du mir keinen Rat geben kannst, das habe ich auch nicht erwartet. Es hat mir bereits etwas geholfen, einmal alles aussprechen zu können.« Er stand auf. »Ich gehe jetzt nach Hause.« Mit einem Blick auf den Wust von Papier, der sich auf seinem Schreibtisch türmte, fügte er hinzu: »Meine Konzentrationsfähigkeit ist heute ohnehin so gut wie nicht vorhanden. Ich glaube, ich tue mir und der vielen Arbeit einen besseren Gefallen, wenn ich sie morgen früh erledige.«

»Vor mir mußt du dich ganz bestimmt nicht rechtfertigen«, entgegnete Patrick. »Der Schreibtisch gehört dir allein, du entscheidest, wie du dir deine Arbeit einteilst.«

Tobias lächelte. »Danke, Patrick.« Noch einmal streifte sein Blick den Schreibtisch. Es widerstrebte ihm, Arbeit liegenzulassen, andererseits zog es ihn jetzt mit aller Macht zu Natalie.

»Morgen früh ab acht hast du eine Tour nach Innsbruck«, erklärte Tobias, während er mit seinem Bruder das Büro verließ. »Der Steinhausener Kegelverein macht wieder seinen traditionellen Ausflug.«

»Fein«, urteilte Patrick erfreut. »Im hiesigen Kegelverein sind nette, fröhliche Leute. Da machen die Ausflüge auch für den Busfahrer Spaß.«

Patrick erzählte noch ein bißchen, doch Tobias hörte nur mit halbem Ohr hin. In Gedanken war er schon bei Natalie. Schließlich bemerkte Patrick die geistige Abwesenheit seines Bruders.

»Meine Güte, Tobias, ich langweile dich mit meinen Geschichten, aber…« Er winkte ab. »Geh ruhig zu Natalie. Sie wird sicher schon auf dich warten.«

Das war auch tatsächlich der Fall, doch Tobias bemerkte sofort, daß Natalie heute keinen guten Tag hatte. Sie war blaß und wirkte unruhig und zerstreut.

»Was ist los, Liebes?« fragte Tobias sanft.

Natalie sah ihn an. »Ich möchte, daß wir uns trennen.«

Tobias stand wie erstarrt, dabei hätte er nicht einmal behaupten können, daß Natalies Wunsch nach einer Trennung für ihn unerwartet kam. Sie hatte ja schon öfter diesbezügliche Andeutungen gemacht, trotzdem war jetzt etwas anders als sonst. Hinter Natalies Worten stand eine Entschlossenheit, die Tobias noch nie erlebt hatte und die ihn so betroffen machte.

»Ich liebe dich, Natalie«, entgegnete er, und seine Stimme zitterte dabei ein wenig. Er hatte Angst, die geliebte Frau nun doch zu verlieren.

Natalie seufzte tief auf. »Vor zwei Tagen hatte ich ein langes Gespräch mit Dr. Daniel. Er riet mir davon ab, mich von dir zu trennen, und im ersten Moment…« Sie zuckte die Schultern. »Seine Argumente klangen sehr überzeugend, doch dann… als ich wieder zu Hause war und meine Tabletten nehmen mußte…« Mit beiden Händen strich sie ihr langes, dunkles Haar zurück. »Ich kann dir das nicht zumuten, Tobias. Ein Leben neben einer Frau, die…«

»Sprich es nicht aus«, fiel Tobias ihr ins Wort. »In meinen Augen bist du die wunderbarste Frau auf der ganzen Welt. Natalie, ich liebe dich, und wenn du dir Gedanken darüber machst, daß ich… nein, daß wir uns beide irgendwann so sehr nach einem Kind sehnen würden…«

»Nein.« Jetzt war es Natalie, die ihn unterbrach. »Ich will von einer Adoption nichts hören. Ich weiß, daß ich ein fremdes Kind niemals so lieben könnte wie ein eigenes. Schwangerschaft, Geburt… das sind Erfahrungen, die ich niemals machen werde. Verstehst du, Tobias, ein adoptiertes Kind könnte mir das nicht geben. Es würde mir in die Arme gelegt, ohne daß ich dafür etwas getan hätte. Vor allen Dingen aber… zu einem eigenen Kind kann man als Mutter neun Monate lang eine Beziehung aufbauen. Wie also sollte ich ein fremdes Kind genauso lieben können?«

Tobias schüttelte den Kopf. »Jetzt ist auch noch gar nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen, Natalie. Wichtig ist vorerst nur, daß du die Operation verkraftest.« Er nahm die junge Frau bei den Schultern und suchte ihren Blick. Seine Stimme wurde eindringlich. »Ich flehe dich an, laß mich dir dabei helfen. Ich liebe dich, und wenn du mich jetzt wegschickst… ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll.«

Natalie senkte den Kopf, um nicht mehr in diese bittenden Augen blicken zu müssen. Sie wußte genau, daß Tobias nicht nur von Liebe sprach… in seinen Augen stand alles geschrieben, was er fühlte.

»Du wirst eine andere Frau finden«, entgegnete sie leise. »Eine, die es verdient, sich so zu bezeichnen… eine, die es wert ist, daß du sie liebst.«

Tobias schüttelte sie sanft. »Du bist genau diese Frau, Natalie.«

Sie befreite sich aus seinen Armen. »Tobias, mach es mir doch nicht so schwer.« Sie seufzte tief auf. »Ich war so überzeugt, mit dieser Trennung das Richtige zu tun… das Richtige für dich, aber jetzt…« Hilflos zuckte sie die Schultern, dann liefen plötzlich Tränen über ihr Gesicht. »Ich dachte… nun ja, ich dachte, ein Ende mit Schrecken wäre besser… besser für uns beide… als ein Schrecken ohne Ende.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie über ihre Stirn. »Du weißt doch gar nicht, was es bedeutet, mit mir zusammenzuleben. Täglich muß ich Tabletten nehmen, und wenn ich sie vergesse, bin ich wie eine Frau in den Wechseljahren… mit Hitzewallungen, Schlafstörungen…« Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht. »Wie kann ich dir das zumuten?«

In diesem Moment durchzuckte ihn ein Gedanke. »Hör zu, Liebes, ich respektiere deine Einstellung, aber vielleicht solltest du mich nicht gleich aus deinem Leben verbannen, sondern uns und unserer Liebe eine Chance geben. Im Mai hat unser Busunternehmen eine vierzehntägige Reise geplant. Es geht nach Paris und dann über die Camargue und

Nizza nach Italien. Ursprünglich sollte Patrick fahren, aber er ist von der Aussicht, zwei Wochen lang von zu Hause weg zu sein, ohnehin nicht sehr begeistert, und Sabrina kann ihn nicht begleiten. Dafür ist das Baby einfach noch zu klein.« Wieder umfaßte er Natalies Schultern. »Vielleicht sollten wir beide diese Reise als Probezeit benutzen. Patrick wird froh sein, wenn ich die Fahrt übernehme, und wir wären auf diese Weise einmal vierzehn Tage lang ständig zusammen. Da werden wir dann schon sehen, ob ich mit dir und deinen Tabletten leben kann… vielleicht auch damit, daß du sie einmal vergißt.« Er sah ihr in die Augen. »Ich bin überzeugt davon, daß ich dich nach diesen zwei Wochen genauso, wenn nicht noch mehr lieben werde, und vielleicht kann ich dann auch dich endlich von meiner Liebe zu dir überzeugen.«

*

Melanie Probst steckte in einer ausweglosen Situation. Ihre grenzenlose Sehnsucht nach einer Schwangerschaft, die sie während dieser schwachen Sekunden nach ihrem Stadtbummel dazu verführt hatte, sich selbst mit Hilfe eines Kissens das Gefühl einer werdenden Mutter vorzugaukeln, entwickelte sich nun zu einer nicht enden wollenden Tragödie.

In den beiden Jahren, die seit Florians Geburt vergangen waren, hatte Manuela ihre Zwillingsschwester nur noch sporadisch besucht, worüber Melanie dankbar gewesen war. Es war für sie zu schmerzlich, das Mutterglück ihrer Schwester zu sehen. Jetzt dagegen kam Manuela mindestens einmal pro Woche zu ihr, was Melanies Schmerz nur noch verstärkte, weil es im Gespräch mit der Schwester hauptsächlich um die Schwangerschaft ging, die überhaupt nicht existierte. Allerdings wußten davon mittlerweile schon so viele, daß es Melanie unmöglich gewesen wäre, ihre Lüge noch rückgängig zu machen. Wenn überhaupt, hätte sie das nur gleich am Anfang gekonnt.

»Weiß Karlheinz jetzt, daß er Vater wird?« wollte Manuela schließlich wissen.

Melanie zögerte, dann schüttelte sie wahrheitsgemäß den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Wenn zwischen uns alles in Ordnung wäre…« Sie seufzte. »Ich kann doch nicht einfach anrufen und sagen, daß ich im siebten Monat schwanger bin.«

»Warum nicht?« entgegnete Manuela. »Eure Situation ist durch die lange Kinderlosigkeit sehr schwierig geworden, und wenn du Karlheinz dann auch noch erzählst, daß die Schwangerschaft anfangs so problematisch war… ich bin sicher, daß er dafür Verständnis haben wird.« Spontan stand sie auf und holte das Telefon herein. »Komm, ruf ihn gleich an, dann hast du’s hinter dir.« Sie lächelte. »Ich werde gehen, damit ihr euch ungestört unterhalten könnt.«

Melanie nickte, nahm den Telefonhörer ab und zögerte, dann wählte sie die Nummer ihres Schwagers. Hannelore war am Telefon.

»Einen Augenblick, Melanie, ich hole Karlheinz sofort«, versprach sie, und es dauerte auch tatsächlich nicht lange, bis sich ihr Mann atemlos meldete.

Seine Stimme weckte Gefühle in Melanie, die sie längst verschüttet geglaubt hatte. Plötzlich war da wieder dieses Kribbeln in ihr und das Gefühl, als könnte sie Karlheinz’ Abwesenheit keine Sekunde länger ertragen. Sie sehnte sich nach ihm wie schon lange nicht mehr.

Eine Trennung auf Zeit, hatte Karlheinz an jenem letzten Tag gesagt. Das war mittlerweile mehr als drei Monate her… drei Monate, in denen sie anfangs kaum an ihren Mann gedacht hatte, doch jetzt überfiel sie die Sehnsucht nach ihm wie ein Schlag. Es war, als hätte es nur dieses Anrufs bedurft, um ihr klarzumachen, wie sehr sie Karlheinz vermißte.

Es wird alles gut, versuchte sie sich einzureden. Wenn er erfährt, daß ich ein Baby bekomme…

»Karlheinz, ich…« Schlagartig wurde ihr wieder bewußt, daß alles doch nur Lüge war. Unwillkürlich streichelte sie über ihren Bauch und wünschte, es wäre tatsächlich ein Baby darin. Mittlerweile benutzte sie kein Kissen mehr, sondern eine Art Sack, den sie mit Hilfe von zwei Gürteln so festschnallte, daß er nicht rutschen konnte.

»Melanie, was ist los?« Karlheinz’ Stimme klang besorgt, und wieder traf sie Melanie mitten ins Herz. Sie schluchzte auf, weil sie keinen Ausweg sah. Sie wußte, daß Karlheinz auf der Stelle zu ihr zurückkommen würde, wenn er annehmen müßte, daß sie ein Baby von ihm erwartete. Sollte er jedoch herausfinden, daß es nur eine Lüge war, dann würde sie ihn endgültig verlieren, denn für Karlheinz war die Wahrheit schon immer sehr wichtig gewesen. Und diesen Betrug würde er zwangsläufig aufdecken, denn aus ihrem Bauch würde in zwei Monaten kein Baby, sondern nur ein mit Sand gefüllter Sack kommen!

»Karlheinz…«, stammelte sie. Sie verwünschte sich, weil sie sich auf dieses Spiel eingelassen hatte, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. »Ich bin schwanger.«

Sekundenlang herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann wurde der Hörer einfach aufgelegt. Keine fünf Minuten später stand Karlheinz im Wohnzimmer. Er wirkte, als wäre er den Weg vom Haus seines Bruders bis hierher in rekordverdächtigem Tempo gerannt, und wahrscheinlich war er das ja auch. Jetzt blickte er völlig fassungslos auf Melanies Bauch, der sich unter dem Umstandskleid deutlich wölbte.

»Melanie!« stieß er hervor, dann stand er mit einem Schritt vor ihr. »Du mußt es gewußt haben. Als ich ging… mußt du es doch schon gewußt haben.«

Sie nickte. Manuela gegenüber war ihr die Lüge schon schwergefallen, doch jetzt, bei Karlheinz, war es noch schlimmer. Sie hatte das Gefühl, an ihren Worten ersticken zu müssen.

»Die Schwangerschaft… es war schwierig«, brachte sie mühsam hervor. »Ich… ich mußte Angst haben… vor einer Fehlgeburt…« Sie senkte den Kopf. Es gelang ihr einfach nicht mehr, Karlheinz anzuschauen, während sie ihn belog.

Zärtlich nahm er sie in die Arme. »Melanie, Liebling, wenn ich das gewußt hätte… niemals hätte ich dich verlassen.« Er küßte sie. »Es tut mir leid. Ich… ich hätte mehr Geduld haben müssen.« Dann glitt ein glückliches Strahlen über sein Gesicht. »Aber nun wird alles wieder gut. Ich komme zurück, und gemeinsam…«

Doch Melanie schüttelte den Kopf. »Ich… ich weiß nicht, ob das gut wäre.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie ihr langes Haar zurück. »Wir hatten ziemliche Probleme, und ich weiß nicht, ob das Baby sie alle lösen wird.«

Verständnislos und auch etwas gekränkt sah Karlheinz sie an. »Die Probleme entstanden doch aus unserer Kinderlosigkeit.« Mit beiden Händen umschloß er ihr Gesicht. »Oder liebst du mich nicht mehr?«

»Doch, Karlheinz«, antwortete sie und war sich ihrer Liebe dabei so sicher wie nie zuvor… nicht einmal während ihrer schönsten Zeit. Sie wußte plötzlich, daß sie niemals aufgehört hatte, ihn zu lieben. Das hatte sie über ihrer Sehnsucht nach einem Baby nur vergessen… verdrängt. Dabei wurde ihr erneut schmerzlich bewußt, daß sie Karlheinz’ Liebe endgültig zu verlieren drohte. Wenn er erst erfuhr, daß das mit dem Baby nur eine Lüge war…

Er darf es nicht erfahren, dachte Melanie verzweifelt. Wenn ich schon kein Baby haben kann, dann will ich ihn wenigstens nicht verlieren.

»Kalle.« Voller Zärtlichkeit kam sein Name über ihre Lippen. »Ich… es ist möglich… ich kann das Baby noch immer verlieren. Der Arzt sagt… ich muß sehr vorsichtig sein. Wir dürfen also auch nicht… ich meine… ich darf nichts tun, was die Schwangerschaft gefährden könnte.«

Karlheinz nickte. »Das ist doch ganz selbstverständlich, Liebling.« Dabei strahlte sein Gesicht vor Glück. Endlich hatte Melanie ihn wieder Kalle genannt – wie früher, als sie so unsagbar ineinander verliebt gewesen waren. Kalle – es schien ihm, als würde sein Leben… nein, ihrer beider Leben von vorn beginnen.

Zärtlich schloß er sie in seine Arme.

»Ich liebe dich, Melanie«, flüsterte er an ihrem Ohr.

Sie hatte das Gefühl, als schnüre ihr jemand die Kehle zu.

Jetzt, dachte sie. Ich muß ihm die Wahrheit sagen. Auf der Stelle…

»Wenn das Baby erst da ist, wird unser Glück grenzenlos sein.«

Seine zärtlich gesprochenen Worte machten ihren Vorsatz zunichte. Verzweifelt preßte sie sich an ihn.

Es muß eine Lösung geben, dachte sie. Es muß… es muß…

*

Melanie hatte den ganzen Tag bis ins Detail geplant. Als Schwangere verließ sie das Haus, ging zum Bahnhof und stieg in den nächsten Zug nach München. Im Hauptbahnhof führte ihr erster Weg zur Toilette. Sie zog ihr Kleid aus, entfernte den Sandsack und schlüpfte in einen eleganten Hosenanzug. Sack und Umstandskleid deponierte sie in einem Schließfach, dann stieg sie in die Straßenbahn. Zwanzig Minuten später war sie am Ziel.

Das schlichte graue Gebäude wirkte fast furchteinflößend, doch es bot ihr die einzige Chance, heil aus ihrer ganzen Lügengeschichte herauszukommen. Sie trat ein, stieg die steilen Stufen hinauf und klopfte schließlich an eine Tür auf der rechten Seite.

»Ja, bitte!«

Melanie trat ein und sah sich einer gepflegten Dame mittleren Alters gegenüber. Ihr Gesichtsausdruck wirkte streng, und auch ihr angedeutetes Lächeln ließ sie nicht sanfter erscheinen.

»Probst ist mein Name«, stellte sich Melanie vor. »Ich habe den heutigen Termin vereinbart… wegen einer Adoption.«

»Stege«, erwiderte die Dame knapp, dann musterte sie Melanie prüfend. »Ich dachte, Sie wären verheiratet.«

»Das bin ich auch«, beeilte sich Melanie zu versichern.

Frau Stege zog mißbilligend die Brauen hoch. »Dann sollten Sie auch mit Ihrem Mann kommen. Schließlich muß ich mir von Ihnen beiden ein Bild machen, ehe ich Sie in die Warteliste aufnehmen kann.«

»Warteliste?« wiederholte Melanie gedehnt. »Aber… ich dachte… ich möchte das Kind bis in… in zwei Monaten etwa.«

Frau Stege seufzte entnervt auf. »Meine liebe Frau Probst, ich glaube, Sie stellen sich das ein bißchen zu einfach vor. Ahnen Sie überhaupt, wie viele Ehepaare ein Kind adoptieren wollen?« Sie blätterte in einigen Unterlagen, doch Melanie vermutete, daß das nur pro forma geschah. Frau Stege schien genau zu wissen, was sie zu sagen hatte. »Sie könnten ein größeres Kind adoptieren… mit acht oder zehn Jahren. Möglicherweise auch ein behindertes Kind. Das alles aber nur unter der Voraussetzung, daß ich Sie und Ihren Mann für geeignet befinde, um Ihnen ein Kind anzuvertrauen.«

»Aber ich brauche ein Baby!« entfuhr es Melanie.

»Da müssen Sie mit einer Wartezeit von einigen Jahren rechnen«, entgegnete Frau Stege kühl. »Wobei ich nicht extra betonen muß, daß Sie in die Warteliste überhaupt nur aufgenommen werden, wenn ich Sie und Ihren Mann als geeignet befinde…«

Melanie sprang auf und flüchtete aus dem Raum. Draußen brach sie in Tränen aus. Sie hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Es hieß doch immer, daß so viele Mütter ihre Babys zur Adoption freigeben würden.

»Was ist los? Ist Ihnen nicht gut?«

Die angenehm tiefe, männliche Stimme ließ Melanie hochfahren. Sie sah sich einem grauhaarigen Mann Anfang sechzig gegenüber, der sie besorgt anschaute.

»Ich möchte ein Baby!« stieß Melanie hervor. Im Augenblick war es ihr ganz gleichgültig, was dieser Mann von ihr denken würde. Sie wußte nur eines: In spätestens zwei Monaten mußte sie ein Baby haben, oder ihre Ehe würde endgültig zerbrechen. Noch vor wenigen Wochen hätte sie dieser Gedanke nicht sehr erschreckt, doch jetzt… ihr Zusammenleben mit Karlheinz war so schön, seit er dachte, sie wäre schwanger. Sicher, es war Tag für Tag wie ein Tanz auf dem Seil, denn wenn er sie nur ein einziges Mal unbekleidet überraschen würde, dann wäre alles aus. Doch dieses Risiko nahm sie gern in Kauf, denn er war so zärtlich

und rücksichtsvoll… Sie konnten plötzlich wieder miteinander sprechen. Es war, als hätte ihr Leben neu begonnen, aber in zwei Monaten würde es völlig zerstört sein, wenn sie bis dahin kein Baby hatte.

Der Mann warf einen Blick zur Tür, aus der Melanie gerade gekommen war.

»Ich weiß schon, junge Frau, sie macht es einem nicht gerade leicht«, erklärte er. »Allerdings hat sie auch eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit. Schließlich darf man etwas so Wertvolles und Verletzliches wie ein Kind nicht jedem anvertrauen. Es ist ihre Pflicht, die Leute gewissermaßen auf Herz und Nieren zu prüfen, wenn sie ein Kind adoptieren wollen.« Er berührte Melanies Hand. »Ich weiß genau, woran Sie jetzt denken, junge Frau… an eine illegale Adoption, nicht wahr?«

Aus verweinten Augen blickte Melanie ihn an. Auf so etwas wäre sie gar nicht gekommen, doch jetzt, wo der Mann davon sprach…

»Tun Sie es nicht, junge Frau«, fuhr er schon fort. »Es ist strafbar, und Sie tun dem Kind, das Sie aus seiner Heimat weg nach Deutschland holen, vielleicht auch keinen Gefallen.«

Im selben Moment verwarf Melanie den Gedanken wieder. Ihre Lüge mit der Schwangerschaft reichte voll und ganz. Sie mußte sich nicht auch noch strafbar machen. Außerdem würde ihr ein Kind aus dem Ausland ja nichts nützen.

»Ich wünsche mir seit Jahren ein Baby«, entgegnete sie leise. »Eine Adoption war meine letzte Hoffnung. Dieses Kind hätte es gut bei mir, ich würde es mit Liebe überschütten. Ich würde…« Sie stockte, dann drehte sie sich um und verließ mit langsamen, schleppenden Schritten das graue Gebäude.

Eine Adoption war aussichtslos. Um Karlheinz nicht zu verlieren, gab es jetzt nur noch eine Möglichkeit: Sie mußte eine Fehlgeburt vortäuschen.

Doch auch dieser Weg erwies sich als Sackgasse, wie Melanie zu Hause feststellte. Manuela hatte ihr sämtliche Bücher geliehen, die sie sich gekauft hatte, als sie mit Anna schwanger gewesen war.

Melanie war jetzt im siebten, fast schon im achten Monat schwanger – zumindest täuschte sie das vor. Zu diesem Zeitpunkt würde ein tatsächlich existierendes Baby auch außerhalb des Mutterleibes bereits lebensfähig sein. Sie hatte zu lange gezögert, nun war ihr der Weg zu einer Fehlgeburt versperrt.

Verzweifelt schlug Melanie die Hände vors Gesicht.

»Was soll ich nur tun?« stöhnte sie. »Was soll ich nur tun?«

*

Natalie Meinhardt war bis zuletzt unsicher, ob die Reise mit Tobias wirklich das Richtige für sie sein würde. Die Koffer waren bereits gepackt, als sich Natalie ganz überstürzt auf den Weg zu Dr. Daniel machte.

»Herr Doktor, ich weiß nicht, was ich tun soll«, gestand sie und wirkte dabei sichtlich nervös, dann erzählte sie von Tobias’ Vorschlag. »Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich mitfahren soll. Wenn wir nun unterwegs merken, daß es nicht geht… daß wir uns nicht verstehen… nicht miteinander leben können…« Sie stockte und zuckte hilflos die Schultern.

Dr. Daniel betrachtete sie eine Weile, dann schüttelte er den Kopf. »Sie haben keine Angst davor, daß es nicht gehen könnte, sondern vielmehr fürchten Sie, daß sich durch diese Reise Ihre Beziehung zu Herrn Scholz festigen wird. Fräulein Meinhardt, Sie haben sich schon viel zu sehr in den Gedanken verrannt, daß Sie es nicht wert sind, geliebt zu werden. Das ist natürlich blanker Unsinn, denn Sie können schließlich nichts für den groben Fehler, der Dr. Kreutzer bei der Opera-tion an Ihnen unterlaufen ist.«

»Darum geht es nicht«, behauptete Natalie. »Ich glaube manchmal, Tobias hat die Endgültigkeit dieser Operation noch immer nicht begriffen. Vielleicht denkt er…«

»Fräulein Meinhardt.« Mit besonders sanfter Stimme fiel Dr. Daniel ihr ins Wort. »Ich kenne Herrn Scholz nur flüchtig, aber er scheint mir doch ein Mann zu sein, der mit beiden Beinen im Leben steht. Sie können versichert sein, daß er ganz genau weiß, was es bedeutet, wenn einer Frau Gebärmutter und Eierstöcke herausoperiert worden sind. Allerdings sollten Sie einfach glücklich darüber sein, daß Herr Scholz Ihnen eine so aufrichtige, tiefe Liebe entgegenbringt.«

Hartnäckig schüttelte Natalie den Kopf. »Er weiß doch gar nicht, was es bedeutet, mit mir zusammenzuleben. Wenn ich meine Tabletten nicht nehme, bin ich wie eine Frau in den Wechseljahren.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte auf. »Herr Doktor, ich habe Angst vor diesem Zusammenleben. Ich habe Angst, Tobias zu verlieren.«

Spontan kam Dr. Daniel um seinen Schreibtisch herum und beugte sich zu Natalie hinunter. Mit sanfter Gewalt nahm er ihr die Hände vom Gesicht und suchte ihren Blick.

»Machen Sie diese Reise mit Herrn Scholz«, riet er ihr. »Lassen Sie sich davon überzeugen, daß er Sie so liebt, wie Sie sind.« Behutsam drückte er ihre Hand. »Es wird noch eine Weile dauern, bis Sie die folgenschwere Operation verarbeitet haben, und vielleicht noch länger, bis Sie Ihren Körper so, wie er jetzt ist, akzeptieren können. Aber eines kann ich Ihnen mit absoluter Sicherheit sagen: Sie sind durch diese Operation kein Mensch zweiter Klasse geworden, und vor allen Dingen – Sie sind es wert, geliebt zu werden.«

*

Das Gespräch mit Dr. Daniel hatte Natalie geholfen, trotzdem war sie noch nicht restlos überzeugt, das Richtige zu tun, als sie tags darauf in den Reisebus stieg und hinter dem Fahrersitz Platz nahm. Tobias drehte sich zu ihr um und lächelte sie an. Dabei sprach sein ganzes Gesicht von Liebe, seine Augen streichelten sie, und Natalie fühlte, wie ihr unter diesem Blick ganz warm wurde.

»Es ist ein seltsames Gefühl für mich, wieder hinter dem Steuer zu sitzen«, gestand Tobias, obwohl er eigentlich etwas völlig anderes hatte sagen wollen. Er wollte sagen, wie glücklich er war, weil sie nach der langen Zeit des Zögerns nun doch an der Reise teilnahm… ihnen beiden und ihrer Liebe damit eine Chance gab… eine Zukunft…

»Abgesehen von ein paar Linienbusfahrten habe ich die letzten Jahre überwiegend am Schreibtisch verbracht«, fuhr er fort, während seine Augen das reinste Liebeslied sangen.

Natalie lächelte. »Ich glaube, du bist ein guter Fahrer.« Für einen Augenblick legte sie ihre Hand auf seinen Arm. »Ich freue mich auf die Zeit mit dir.«

Tobias’ Herz machte einen Luftsprung. Bis zuletzt hatte er damit rechnen müssen, daß sich Natalie doch noch gegen die Reise mit ihm entscheiden würde. Damit wäre klar gewesen, daß es ihr mit dem Wunsch nach einer Trennung ernst gewesen war, doch nun stand die Tür zu einer gemeinsamen Zukunft zumindest einen Spaltbreit offen.

»Hallo, Bruderherz.«

Mit diesen Worten stieg Patrick in den Bus, lächelte Tobias an und wandte sich dann Natalie zu. »Ihr werdet eine wunderbare Zeit haben. Warst du schon einmal in Paris?«

Natalie schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

Da grinste Patrick. »Was heißt hier ›leider‹? Paris darf man nicht allein kennenlernen. Man muß es zusammen mit einem Menschen sehen, den man liebt. Und dazu muß man bei Nacht oder bei Regen dort ankommen.«

Erstaunt sah Natalie ihn an. »Bei Regen? Na, das stelle ich mir aber nicht sehr erbaulich vor.«

»Keine Stadt der Welt duftet so süß wie Paris im Regen«, erklärte Patrick, dann wandte er sich seinem Bruder zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Fahr’ vorsichtig, Tobias.«

Dieser schmunzelte. »Du klingst ja wie ein besorgter Vater.«

Patrick blieb ernst. »Der Bus ist mein zweites Zuhause, ich weiß, wie gefährlich es oft ist. Du hast keine Routine mehr, Tobias, also bitte, sei vorsichtig, ja?«

»Keine Sorge, Patrick, ich bringe sowohl die Reisegesellschaft als auch deinen Bus heil wieder nach Hause. Im übrigen gab es auch für mich mal eine Zeit, wo der Bus mein zweites Zuhause war, und ich kann mich an die Gefahren einer längeren Busfahrt sehr gut erinnern.«

Die Brüder verabschiedeten sich, dann fuhr Tobias los, lenkte den Bus aus der Einfahrt und steuerte die erste Haltestelle an, an der sie Reisende aufnehmen würden. Natalie lehnte sich zurück, doch sie sah nicht aus dem Fenster. Ihr Blick ruhte auf Tobias’ Händen, die so sicher auf dem riesigen Steuer des Busses lagen und von denen sie wußte, wie zärtlich sie sein konnten. Fast glaubte sie, das sanfte Streicheln zu fühlen.

Unwillkürlich mußte sie an Dr. Daniels Worte denken. »Sie sind es wert, geliebt zu werden.«

Allein mit seinem Blick hatte Tobias ihr bewiesen, daß er ebenso dachte, und Natalie fragte sich, weshalb sie es ihm nicht einfach glauben konnte. Mit beiden Händen berührte sie ihren Bauch, und dabei hatte sie wieder das Gefühl, als könnte sie die Leere da drin spüren. Tränen brannten in ihren Augen, ihr Herz schmerzte. Sie sehnte sich so verzweifelt nach Liebe… nach einer Ehe… einem Kind…

Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus, und sie zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Dabei wurde sie das Gefühl nicht los, daß sie mit dieser Fahrt doch einen Fehler gemacht hatte.

*

Am zweiten Tag ihrer Reise erreichten sie Paris. Die Nacht war bereits hereingebrochen, und wie alle anderen im Bus war auch Natalie hingerissen von der funkelnden Lichterstadt.

»Wir werden zwei Tage in Paris bleiben«, erklärte die junge Reisebegleiterin, die in München zugestiegen war, durch das Mikrofon, während Tobias den Bus in die Tiefgarage des Hotels lenkte. »Morgen vormittag um zehn Uhr haben Sie die Möglichkeit, an einer Stadtrundfahrt teilzunehmen, der Nachmittag steht zu Ihrer freien Verfügung. Am Donnerstagvormittag unternehmen wir einen Ausflug nach Versailles und beabsichtigen, am frühen Nachmittag von dort weiterzufahren. Unsere nächste Station wird die Camargue sein.« Sie machte eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu: »Ich wünsche Ihnen – auch im Namen von Herrn Scholz – eine gute Nacht.«

Die Fahrgäste applaudierten, dann stiegen sie aus und ließen sich von der jungen Reisebegleiterin zur Rezeption des Hotels begleiten. Nur Natalie blieb im Bus. Lächelnd drehte sich Tobias zu ihr um.

»Hast du noch Lust auf einen kleinen Spaziergang?« wollte er wissen.

Natalie nickte. »Das Erlebnis, mit dir zusammen Paris bei Nacht zu entdecken, lasse ich mir doch nicht entgehen.«

Arm in Arm verließen sie die Tiefgarage und stellten fest, daß es leicht zu regnen begonnen hatte. Ganz tief atmete Natalie ein, dann lächelte sie Tobias an.

»Patrick hatte recht«, meinte sie. »Paris duftet bei Regen wirklich süß.«

»So süß wie du«, murmelte Tobias ihr zu, dann nahm er sie in die Arme und küßte sie zärtlich. Während sich ihre Lippen wieder und wieder fanden, konnte Natalie zum ersten Mal vergessen, was vor mittlerweile fast einem Jahr in der kleinen Privatklinik in München geschehen war. Für ein paar selige Augenblicke war sie wieder die unbeschwerte junge Frau, die sie vor der schicksalsschweren Operation gewesen war.

Eine gute Stunde später kehrten sie ins Hotel zurück und betraten die exklusiv ausgestattete Bar. Tobias wählte einen kleinen Nischentisch und bestellte Champagner. Erstaunt sah Natalie ihn an.

»Champagner?«

Tobias lächelte. »Es wäre eine Sünde, in Paris etwas anderes zu trinken – noch dazu mit einer so bezaubernden jungen Frau wie dir.«

Natalie errötete. »Du kannst ja ein richtiger Charmeur sein.«

Tobias grinste lausbubenhaft. »Ich war einmal hauptberuflich Busfahrer, Liebling, da ist es Pflicht, charmant zu sein.«

Auch Natalie mußte lächeln. »Du warst also ein richtiger Herzensbrecher, habe ich recht?«

»Der Kavalier genießt und schweigt«, entgegnete Tobias noch immer grinsend, dann wurde er ernster und griff nach Natalies Hand. »Wirklich erobert hat mein Herz aber nur eine.« Sein Blick wurde wieder zärtlich. »Diese eine sitzt mir gegenüber.«

Ihre Blicke versanken ineinander, und dabei wurde Natalie bewußt, daß sie ohne Tobias nicht mehr leben wollte. Sie gehörten einfach zusammen – und plötzlich schwand Natalies Angst vor der Zukunft ein wenig. Vielleicht hatte Dr. Daniel doch recht, und ihre gegenseitige Liebe würde immer stärker sein als der nie erfüllbare Wunsch nach einem eigenen Kind.

*

Die Nachricht, daß ihre Zwillingsschwester entbunden hatte, traf Melanie wie ein Schlag, doch sie wußte, was sie Manuela schuldig war, auch wenn es sie noch so schmerzte. Noch am selben Nachmittag betrat Melanie die Steinhausener Waldsee-Klinik und sah sich suchend um. Obwohl sie nur wenige Kilometer weiter im Nachbarort wohnte, war sie noch niemals hier gewesen, dabei hatte Manuela nun schon das dritte Baby in dieser Klinik bekommen.

»Suchen Sie etwas?«

Die tiefe Stimme ließ Melanie erschrocken herumfahren. Hinter ihr stand ein großer, athletisch wirkender Mann mit dichtem blondem Haar und gütigen blauen Augen.

Allerdings erschrak der Mann jetzt beinahe ebenso wie Melanie und blickte fassungslos von ihrem Gesicht zu ihrem Bauch, dann schüttelte er den Kopf und mußte plötzlich lächeln.

»Meine Güte, jetzt haben Sie mich für einen Moment tatsächlich hinters Licht geführt«, meinte er. »Sie müssen die Schwester von Frau Stumpe sein, nicht wahr?«

Melanie konnte nur nicken. Das Verhalten des Mannes brachte sie völlig durcheinander, zugleich fühlte sie sich auf seltsame Weise zu ihm hingezogen. Seine Ausstrahlung vermittelte ihr das Gefühl grenzenlosen Vertrauens.

»Ich bin Robert Daniel«, stellte er sich nun vor. »Der hiesige Gynäkologe und zugleich Direktor dieser Klinik. Ich nehme an, Sie wollen Ihre Schwester besuchen.«

»Ja«, antwortete Melanie und spürte, wie unsicher ihre Stimme klang. »Horst… mein Schwager hat mich angerufen und gesagt… Manuela hätte… sie hätte schon entbunden.«

Dr. Daniel nickte, dann lächelte er Melanie an. »Bei Ihnen dürfte es ja auch bald soweit sein. Vielleicht finden Sie dann den Weg in die Waldsee-Klinik. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Ihrem Baby ebenfalls auf die Welt helfen dürfte, obwohl ich Sie während der Schwangerschaft nicht betreut habe.«

Melanie errötete, was Dr. Daniel zwar bemerkte, aber nicht recht zu deuten wußte.

»Ich… ich bin schon seit vielen Jahren… ich meine… ich würde nicht gern den Frauenarzt wechseln…« Sie stockte, wäh-rend sich die Röte auf ihrem Gesicht noch vertiefte.

»Dafür habe ich durchaus Verständnis«, stimmte Dr. Daniel zu, dann begleitete er Melanie in die Gynäkologie hinüber und zu Manuelas Zimmer.

»Ich bringe Besuch für Sie, Frau Stumpe«, erklärte er, dann schmunzelte er. »Für einen Augenblick dachte ich, ich hätte die Entbindung von heute nacht nur geträumt.«

Verblüfft starrte Manuela ihn an, dann verstand sie und lachte. »Ach, Herr Doktor, Sie sind wahrlich nicht der einzige, der Melanie und mich verwechselt.« Liebevoll griff sie nach der Hand ihrer Schwester, die inzwischen an ihr Bett getreten war. »Schön, daß du hier bist.« Dann stand sie auf. »Komm, wir wollen Peter besuchen. Er kam ja fast drei Wochen zu früh, deshalb muß er noch ein paar Tage auf der Säuglingsstation bleiben.«

Alles in Melanie sträubte sich dagegen, das Baby anzuschauen, doch sie wußte, daß sie diese schlimmen Minuten würde durchstehen müssen. Dr. Daniel hatte sich bereits wieder zurückgezogen, und Melanie ertappte sich plötzlich bei dem Wunsch, er wäre noch hier, um ihr beizustehen.

»So ein Häuflein Mensch wirst du auch bald in den Armen halten«, meinte Manuela in zärtlichem Ton, während sie das schlafende Baby betrachtete, das in einem Brutkasten lag. »Nächste Woche darf er heraus, dann kann ich ihn endlich zu mir holen, wann immer ich möchte.«

Mit brennenden Augen schaute Melanie das winzige, hilflose Baby an. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Brust.

Erstaunt sah Manuela die Zwillingsschwester an, dann legte sie tröstend einen Arm um Melanies Schultern. »Jetzt mußt du doch nicht mehr weinen. In ein paar Tagen, spätestens in zwei, drei Wochen wirst du auch ein Baby haben.«

Doch Melanie konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Wie ein Sturzbach liefen die Tränen aus ihren Augen, dann wurde es plötzlich dunkel um sie. Sie fühlte noch einen stechenden Schmerz am linken Ellenbogen, ehe sie vollends in der Finsternis versank.

*

Als Melanie erwachte, lag sie in einem Krankenbett, und ihr linker Arm steckte in einem

festen Verband. Erschrocken fuhren ihre Hände an ihren Bauch, doch die Wölbung war weg. Erst jetzt registrierte Melanie, daß sie ein Kliniknachthemd trug.

»Wie fühlen Sie sich, Frau

Probst?«

Mit dieser Frage trat Dr. Daniel zu ihr und setzte sich auf die Bettkante.

Melanie atmete heftig und mit offenem Mund, so als wäre sie eine weite Strecke gerannt und jetzt völlig außer Atem.

»Niemand außer mir und der Stationsschwester weiß Bescheid«, erklärte Dr. Daniel, der natürlich genau wußte, in welche Richtung Melanies erschrockene Gedanken gingen. »Sie wurden auf dem Flur vor der Säuglingsstation ohnmächtig. Schwester Bianca und ich haben Sie dann in den Untersuchungsraum gebracht…«

Melanie schluchzte auf. »Werden Sie es… Manuela sagen? Und… und meinem Mann?« Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht. »Ich will Kalle nicht verlieren! Nie… nie darf er erfahren…« Sie stockte, als sie den feinen Stich fühlte.

»Keine Angst, Frau Probst«, meinte Dr. Daniel mit beruhigender Stimme. »Das war nur ein leichtes Beruhigungsmittel. Sie müssen jetzt erst mal ein bißchen zur Ruhe kommen. Im übrigen kann ich Ihnen versichern, daß niemand etwas erfahren wird, solange Sie es nicht wollen.« Mit einer sanften Geste berührte er Melanies Hand. »Wir werden Gelegenheit haben, darüber zu sprechen. Versuchen Sie jetzt erst einmal zu schlafen. Ich sorge dafür, daß Sie ungestört bleiben.«

Melanie fühlte, wie das Medikament zu wirken begann und sie müde wurde. Trotzdem schaffte sie es, nach Dr. Daniels Hand zu greifen.

»Helfen Sie mir«, flehte sie leise. »Bitte… helfen Sie… mir…« Mit dem letzten Wort schlief sie ein.

Dr. Daniel blieb noch eine Weile an ihrem Bett stehen und betrachtete das Gesicht, in dem es immer wieder zuckte. Er erkannte die tiefe Verzweiflung, die dieser vorgetäuschten Schwangerschaft zugrunde lag. Dabei mußte er unwillkürlich an Natalie Meinhardt denken, die sich wegen ihrer Kinderlosigkeit sogar von dem Mann, den sie über alles liebte, trennen wollte und es vielleicht immer noch beabsichtigte.

Im selben Moment wußte Dr. Daniel, daß er in seinem Beruf nie aufhören würde zu lernen. Seit fast dreißig Jahren arbeitete er nun schon als Gynäkologe, trotzdem gab es sogar für ihn noch immer Überraschungen. Eine Frau, die sich von dem Mann ihres Herzens trennen wollte, weil sie nie in der Lage sein würde, ihm ein Kind zu schenken. Und hier eine Frau, die unter dem Kindersegen ihrer Schwester litt und eine Schwangerschaft vortäuschte, um… ja, warum eigentlich? Um ihren Mann zu halten? Sie mußte doch gewußt haben, daß dieser Schwindel in absehbarer Zeit auffliegen würde.

Dr. Daniel seufzte. Er war immer bestrebt, seinen Patientinnen zu helfen… und gelegentlich auch den Menschen, die nicht unbedingt zu seinem Patientenkreis gehörten. Allerdings mußte auch er gelegentlich erkennen, daß es nicht immer möglich war zu helfen. Natalie Meinhardt war das beste Beispiel dafür. Er konnte ihr die Fruchtbarkeit, die der gewissenlose Dr. Kreutzer ihr in einer fehlerhaft durchgeführten Operation genommen hatte, nicht zurückgeben, sondern nur versuchen, ihr beizustehen, damit sie irgendwann in der Lage sein würde, ihr Leben so zu meistern, wie es jetzt war.

Sein Blick wanderte wieder über Melanies Gesicht, in dem es noch immer wie im Schmerz zuckte. Dabei hoffte er inständig, daß er ihr würde helfen können… daß ihrer Kinderlosigkeit ein Problem zugrunde lag, das er beheben konnte.

*

Natalie und Tobias hatten zwei zauberhafte Tage in Paris verbracht, und dabei fiel die Tatsache, daß Tobias als Busfahrer ziemlich eingespannt war, überhaupt nicht ins Gewicht, denn Natalie hatte ja Gelegenheit, ständig mit ihm zusammen zu sein. Wenn er am Steuer saß, war sie direkt hinter ihm und brauchte nur eine Hand auszustrecken, um ihn berühren zu können. Sie tat es oft, wenn auch heimlich, weil sie nicht wollte, daß die Damen und Herren der Reisegesellschaft und auch die junge Reisebegleiterin zuviel von ihrer Liebe zu Tobias mitbekamen. Diese Liebe, die von Stunde zu Stunde wuchs, sollte etwas sein, was ihr und Tobias ganz allein gehörte.

An dem freien Nachmittag hatte Tobias ihr »sein« Paris gezeigt. Hoch oben auf dem Eiffelturm hatte er ihr die Stadt der Liebe zu Füßen gelegt. Spätestens seit dieser Stunde, die sie über den Dächern von Paris zugebracht hatten, gab es für Natalie keinen Gedanken mehr an Trennung. Sie und Tobias gehörten zusammen – auch ohne Kind. Den Problemen, die sich daraus vielleicht ergeben würden, würde sie sich erst stellen, wenn es soweit war. Das hatte sie sich fest vorgenommen.

Dann kehrten sie Paris den Rücken und fuhren weiter Richtung Süden. Am Donnerstagabend erreichten sie Orange, eine lebhafte Kleinstadt in der breiten Rhôneebene. Hier übernachteten sie und brachen am nächsten Morgen zu einem der reizvollsten Abschnitte ihrer Reise auf. Es ging quer durch die Camargue; die Ursprünglichkeit dieses Fleckchens Erde rührte Natalie an.

Am frühen Vormittag stieg die gesamte Reisegesellschaft aus, als ein Schwarm Flamingos in einer rosaroten Wolke über den Bus hinwegzog. Wenig später wurden sie von der jungen Reisebegleiterin erneut aufgefordert auszusteigen, denn sie hatte einige Gar-

diens auf den Bus zukommen sehen, die auf ihren Pferden eine Herde schwarzer Stiere vor sich hertrieben. Das alles war so urwüchsig, so voller Natur, daß die meisten Mitglieder der Reisegesellschaft nur dastanden und Reiter, Pferde und Stiere entzückt beobachteten.

Dann erreichten sie den riesigen Étang de Vaccarès, auf dem sich Reiher und buntschillernde Enten tummelten. Wieder stiegen die Reisenden aus, gingen zu Fuß des Rest des Weges bis hinunter zum See und bewunderten Vögel, die sie noch nie im Leben gesehen hatten, während der über den Lagunen stehende Leuchtturm le phare de la Gacholle wie ein einsamer Wächter zu ihnen herüberzugrüßen schien. Eine sanfte Brise trug den Salzgeruch des Meeres bis hierher.

Ein wenig abseits der Reisegesellschaft waren Tobias und Natalie stehengeblieben. Trotz der vielen Leute fühlten sie sich hier, als wären sie allein auf der Welt. Zärtlich griff Tobias nach Natalies Hand und drückte sie sanft.

»Man nennt die Camargue das Land ohne Zeit«, erklärte er leise. »Sie besitzt keinen Horizont… alles scheint unendlich zu sein – auch die Liebe.« Er schwieg kurz. »In diesem Land wünscht man sich, eine Wurzel zu sein, damit man nie wieder von hier weggehen muß.«

Natalie bedachte ihn mit einem langen Blick. »Es wäre schön, wenn wir einfach hierbleiben könnten.«

Tobias sah zu der Reisegesellschaft hinüber. »Das geht leider nicht.« Dann lächelte er Natalie wieder an. »Aber es steht uns ja frei, zurückzukommen.«

Da seufzte Natalie leise.

»Steht es uns wirklich frei?« fragte sie, schüttelte den Kopf und gab die Antwort gleich selbst. »Wir haben Verpflichtungen, Tobias – du noch viel mehr als ich.«

»Was zählen Verpflichtungen in einem Land ohne Zeit?«

Wieder versanken ihre Blicke ineinander, und erst der warnende Schrei eines über sie hinwegziehenden Reihers riß sie in die Wirklichkeit zurück. Als letzte bestiegen sie den Bus und fühlten sich einander dabei so nah wie nie zuvor.

Nach einem echt provencalischen Mittagessen, das sie in der traditionsreichen Stadt Arles einnahmen, setzten sie ihre Fahrt Richtung Marseille von dort an der Küste entlang fort. Sie passierten St. Tropez, Cannes, Antibes und erreichten gegen Abend schließlich Nizza. Hier wollte Tobias den Zauber vom Vormittag wieder einfangen.

»Ich möchte noch einen kleinen Ausflug mit dir machen«, erklärte er, als die Reisegesellschaft ausgestiegen war. Die meisten verschwanden noch in der kleinen Hotelbar, einige unternahmen einen abendlichen Spaziergang über die Strandboulevards, doch für Tobias war das alles nicht romantisch genug.

Natalie lächelte ihn an. »Heißt das, der Bus gehört jetzt nur uns beiden?«

Tobias mußte schmunzeln. »Ich weiß schon, für einen romantischen Ausflug ist ein Reisebus nicht das passendste Gefährt, aber im Augenblick habe ich nichts anderes zur Verfügung.« Er verbeugte sich theatralisch. »Darf ich bitten, Mademoiselle?«

Natalie mußte lachen, und dabei fiel ihr wieder auf, wie fröhlich sie in der vergangenen Woche geworden war. Tobias und Dr. Daniel hatten recht gehabt: Diese Reise tat ihr wirklich gut. Sie hatte seit der Abfahrt so viel Schönes erlebt, und die Liebe zu Tobias füllte sie so sehr aus, daß ihre Gedanken immer seltener um die schicksalsschwere Operation kreisten, die nun schon seit mehr als einem Jahr hinter ihr lag.

Es war keine weite Fahrt, die Tobias geplant hatte. Sie ging nur bis zu dem beschaulichen Ferienort Villefranche, hier kannte Tobias ein gemütliches kleines Bistro. Als er wieder Champagner bestellte, schmunzelte Natalie.

»Ich dachte, es wäre nur in Paris eine Sünde, etwas anderes als Champagner zu trinken«, neckte sie ihn.

»Nicht nur in Paris«, entgegnete Tobias, »sondern überall in Frankreich, wenn man eine schöne Frau bei sich hat.«

Er wartete, bis der Ober den Champagner serviert hatte, dann zog er mit einer feierlichen Geste ein kleines Päckchen aus der Innentasche seines Jacketts.

»Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um dir eine Frage zu stellen«, begann er, während er das Päckchen über den Tisch zu Natalie schob. »Ursprünglich wollte ich mir das für Venedig aufheben, doch ich halte es nicht länger aus. In den vergangenen Tagen habe ich gespürt, was mit uns passiert ist, und ich glaube, dir geht es genauso. Ich wußte bereits vor der Abfahrt, daß ich ohne dich nicht mehr leben will, und so wie ich dich in der vergangenen Woche erlebt habe…« Er beendete den Satz nicht, sondern schob das Päckchen noch ein bißchen näher zu Natalie hin. »Mach es auf.«

Mit zitternden Fingern öffnete sie das schmale Band und nahm schließlich das Geschenkpapier mit den winzigen Veilchen ab. Zum Vorschein kam ein schwar-zes Kästchen. Als Natalie nach kurzem Zögern den Deckel aufmachte, konnte sie einen leisen Ausruf des Entzückens nicht unterdrücken. Auf tiefblauem Samt lag ein zarter goldener Ring,

den ein herzförmiger Diamant schmückte.

»Wenn wir zu Hause sind, möchte ich, daß du meine Frau wirst«, fuhr Tobias jetzt fort, dann nahm er den Ring heraus und steckte ihn Natalie an den Finger, doch danach ließ er ihre Hand nicht wieder los, sondern hielt sie fest, während seine Augen in den ihren zu lesen versuchten. »Bitte, Natalie, sag ja.«

Ein sanftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Wie sollte ich da nein sagen können?« Dann wurde sie ernst. »Ich habe noch immer Angst vor diesem Zusammenleben, Tobias, aber in einem hast du recht. Ich kann mir ein Leben ohne dich auch nicht mehr vorstellen. Die Tage mit dir waren so schön… das möchte ich nie wieder missen.« Sie schwieg kurz, sah Tobias aber immer noch mit diesem ernsten Blick an. »Ich will dir nur ein Versprechen abnehmen. Solltest du irgendwann merken, daß deine Sehnsucht nach einem eigenen Kind größer wird als deine Liebe zu mir, dann sei ehrlich. Wenn du nur aus Mitleid oder Pflichtgefühl bei mir bleiben würdest… das möchte ich auf keinen Fall.«

»Es wird auch nicht passieren«, versicherte Tobias. »Ich liebe dich, Natalie.«

Sie konnte nun ebenfalls lächeln. »Ich liebe dich auch, Tobias.«

*

Trotz des langen Schlafs fühlte sich Melanie Probst müde und ausgelaugt. Noch immer lag sie in der Waldsee-Klinik, und Dr. Daniel hatte sein Versprechen gehalten, niemanden zu ihr zu lassen. Das stellte sich allerdings als gar nicht so einfach heraus. Nicht genug damit, daß Dr. Daniel von Manuela ständig bedrängt wurde, weil sie sich um ihre Zwillingsschwester große Sorgen machte – am Abend kam auch noch Karlheinz Probst und verlangte nachdrücklich, seine Frau zu sehen.

»Es tut mir leid«, erklärte Dr. Daniel mit Bestimmtheit. »Ihre Frau braucht im Moment absolute Ruhe, und ich kann Ihnen versichern, daß sie selbst darum gebeten hat.«

»Wir lieben uns!« begehrte Karlheinz auf. »Ich glaube Ihnen nicht, daß sie mich nicht sehen will. Seit Melanie schwanger ist, ist unsere Ehe wieder völlig in Ordnung. Es gibt keine Probleme mehr zwischen uns.«

»Trotzdem kann ich Sie im Augenblick noch nicht zu Ihrer Frau lassen«, entgegnete Dr. Daniel. »Ich habe ihr zugesichert, daß niemand außer mir ihr Zimmer betreten wird. Bitte, Herr Probst, zwingen Sie mich nicht, dieses Versprechen zu brechen.«

Karlheinz’ Blicke schienen den Arzt förmlich zu durchbohren, doch dann senkte er plötzlich den Kopf.

»Sie würden sich bestimmt nicht zwingen lassen«, vermutete er. »Manuela schwärmt schon immer in den höchsten Tönen von Ihnen, und von ihr weiß ich auch, daß Sie keinen Millimeter nachgeben, wenn es um das Wohl Ihrer Patientinnen geht.« Er schwieg kurz und sah Dr. Daniel bittend an. »Sagen Sie mir nur eines: Geht es Melanie und dem Kind gut?«

»Gerade darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben«, erwiderte Dr. Daniel bedauernd. »Ich werde heute noch mit Ihrer Frau sprechen, vielleicht kann ich Ihnen danach mehr sagen.«

Damit mußte sich Karlheinz zufriedengeben, auch wenn seine Sorge um Melanie dadurch nur noch größer geworden war.

In der Zwischenzeit hatte Dr. Daniel schon das Zimmer seiner Patientin betreten, und Melanie zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte die Stimme ihres Mannes gehört und irgendwie damit gerechnet, Dr. Daniel würde ihm letztlich doch einen Besuch bei ihr erlauben.

»Wenn ich ein Versprechen gebe, dann halte ich es auch«, antwortete Dr. Daniel, obwohl sie gar keine Frage gestellt hatte. Allerdings hatte ihm ein Blick in ihr Gesicht genügt, um zu wissen, was in ihr vorgegangen war.

Jetzt setzte er sich wieder auf die Bettkante und griff beinahe väterlich nach ihrer Hand.

»Erzählen Sie mir alles«, verlangte Dr. Daniel schlicht.

Melanie schluchzte auf, dann fuhr sie sich mit ihrer freien Hand durch die Haare und über die Augen.

»Wo soll ich denn anfangen?« fragte sie, und offene Verzweiflung klang dabei aus ihrer Stimme.

»Am besten ganz von vorn«, meinte Dr. Daniel. »Ich habe Zeit – heute, morgen, die ganze Woche. Wir können über alles sprechen… solange Sie wollen und die nötige Kraft dazu aufbringen können.«

Ein wohliges Gefühl der Wärme, Sicherheit und Geborgenheit breitete sich in Melanie aus. Endlich war da jemand, der sich wirklich Zeit für sie nahm, der ihr zuhörte, vielleicht sogar versuchen würde, ihr zu helfen. Die Anspannung fiel von ihr ab. Sie begann zu sprechen, erst leise und stockend, dann immer flüssiger. Sie erzählte alles – wie Karlheinz ihre erste große Liebe geworden war, wie sie geheiratet hatten und wie glücklich sie gewesen waren. Sie erzählte von Manuelas Baby, über das sie sich beide so gefreut hatten, und über ihre eigenen fruchtlosen Versuche, die zu immer schlimmeren Phasen der Depression geführt hatten. Die vielen Untersuchungen und Behandlungen, die fehlgeschlagen waren, schließlich die Kapitulation, die Melanie als so schmerzlich empfunden hatte – alles kam zur Sprache. Die Zeit der Probleme, weil Karlheinz mit ihrem veränderten Verhalten nicht mehr zurechtkam… die Trennung.

»Ich vermißte Kalle nicht einmal«, gestand Melanie tonlos. »In meinem Kopf drehte sich alles nur noch um ein Baby. Für Kalle war da kein Platz mehr.«

»Aber Sie lieben ihn noch immer.« Es waren die ersten Worte, die Dr. Daniel während dieses Gesprächs äußerte.

Melanie nickte ohne zu zögern. »Ich will Kalle nicht verlieren. Die letzten Wochen waren so schön… sie machten mir bewußt, welch einen wertvollen Menschen ich an meiner Seite habe. Ich weiß nicht, ob unsere Ehe gutgehen wird, aber ich liebe Kalle, ich liebe ihn mehr als je zuvor.«

»Haben Sie die Schwangerschaft vorgetäuscht, um ihn zurückzugewinnen?« wollte Dr. Daniel wissen. Das war die Frage, die ihn beschäftigte, seit er Melanies Betrug entdeckt hatte.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe das nicht beabsichtigt. Es… es ist einfach geschehen.« Sie erzählte von dem Stadtbummel, der Begegnung mit Barbara Gutmann und dem unsinnigen Kauf eines Umstandskleides.

»Ich weiß nicht, wie ich so etwas tun konnte, aber… der Wunsch, nur einmal auszusehen wie eine schwangere Frau…« Sie preßte die Lippen zusammen, um ein schmerzliches Schluchzen zu unterdrücken.

Spontan nahm Dr. Daniel sie in die Arme.

»Weinen Sie«, riet er ihr mit sanfter Stimme. »Es ist niemand hier, vor dem Sie sich schämen müßten. Weinen Sie sich einmal richtig aus.«

Allein diese Worte genügten, um die Tränen fließen zu lassen, und es dauerte lange, bis sich Melanie wieder beruhigen konnte.

»Als es an der Tür klingelte…« Langsam und stockend fuhr sie in ihrer Erzählung fort. »Ich öffnete, ohne daran zu denken, daß ich noch immer dieses Kleid trug… das Kleid und das Kissen, das ich mir in die Strumpfhose gestopft hatte.« Sie schwieg kurz. »Es war Manuela, und eigentlich wäre es ein leichtes für mich gewesen, die Wahrheit zu sagen, aber… dieses Eingeständnis… ich konnte es einfach nicht. Ich spielte die Schwangere und dachte… ich dachte, irgendwie würde ich da schon wieder herauskommen, aber… es ging einfach nicht mehr. Ich versuchte sogar ein Baby zu adoptieren, um…« Wieder ließ sie ihren Kopf kraftlos gegen Dr. Daniels Schulter sinken. »Ich weiß mir keinen Rat mehr. Kalle… er wird das niemals verstehen…«

»Wenn er Sie wirklich liebt, dann wird er auch Verständnis haben«, entgegnete Dr. Daniel. »Natürlich wird es für ihn schmerzlich sein – nicht nur der Gedanke, belogen worden zu sein, sondern… nun ja, er hat sich auf sein Baby sehr gefreut.«

Erneut mußte Melanie mit den Tränen kämpfen.

»Manchmal… ich freute mich so richtig auf das Baby und vergaß dabei völlig… es war ja gar nicht da…«

Tröstend streichelte Dr. Daniel ihren bebenden Rücken. »Es ist vielleicht zu früh, um darüber zu sprechen, aber hier in der Klinik haben wir die Möglichkeit, sowohl Sie als auch Ihren Mann gründlich zu untersuchen.« Er hob eine Hand, als Melanie sich von ihm löste und zu einer Erwiderung ansetzen wollte. »Ich weiß genau, was Sie sagen wollen. Sie haben schon unzählige Untersuchungen hinter sich gebracht, aber seitdem sind einige Jahre vergangen, in denen die Medizin auch auf diesem Gebiet ihre Fortschritte gemacht hat. Zu gegebener Zeit sollten Sie mit Ihrem Mann darüber sprechen und sich überlegen, ob Sie es nicht doch noch einmal versuchen wollen. Sie wären beide ja noch jung genug dafür.«

Melanie nickte zögernd, dann hielt sie plötzlich mitten in der Bewegung inne. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte den Schrecken wider, der ihr in alle Glieder gefahren war.

»Das bedeutet… ich muß Kalle die Wahrheit sagen«, flüsterte sie, als wage sie es nicht, die Worte laut auszusprechen. »Ich dachte… ich habe so gehofft, daß… nun ja, daß Sie mir helfen könnten. Ich meine…« Sie schwieg.

Wieder griff Dr. Daniel nach ihrer Hand. »Ich weiß schon, woran Sie gedacht haben, Frau Probst, aber glauben Sie wirklich, daß Sie Ihr künftiges Glück auf einer weiteren Lüge aufbauen könnten? Sie haben Ihren Mann hintergangen, wenn es auch aus unglücklichen Umständen heraus geschehen ist, aber ich bin sicher, daß er es verstehen wird, wenn er erst die ganze Geschichte erfahren hat. Eine weitere Lüge jedoch…«

»Er würde es doch nie erfahren«, warf Melanie dazwischen, und Dr. Daniel hörte die Verzweiflung aus ihrer Stimme heraus – Verzweiflung und auch Angst.

»Das mag schon sein, aber die Möglichkeit, daß Sie später einmal versehentlich die Wahrheit sagen, ist immer gegeben. Wollen Sie ein solches Risiko wirklich eingehen?«

Melanie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines: Ich will Kalle nicht mehr verlieren. Ich brauche ihn, und um ihn zu behalten, würde ich beinahe alles tun.«

Dr. Daniel betrachtete sie eine Weile, dann berührte er ihren Arm. »Lassen Sie sich Zeit, Frau Probst. Ich werde mit Ihrem Mann sprechen und ihm klarmachen, daß das von Ihnen gewünschte Alleinsein nichts mit mangelnder Liebe zu tun hat. Denken Sie über alles, worüber wir gesprochen haben, gründlich nach. Hier in der Klinik haben Sie die nötige Ruhe und die Gewißheit, daß Sie nicht gestört werden. Und wenn Sie zu einem Entschluß gefunden haben, werde ich Ihnen beistehen, soweit es in meiner Macht steht.«

Aufmerksam sah Melanie ihn an. »Gleichgültig, wie ich mich entscheide?«

Dr. Daniel nickte ohne zu zögern. »Was und wieviel Sie Ihrem Mann sagen, liegt allein bei Ihnen. Ich habe Ihnen zur Wahrheit geraten, weil ich, wenn ich mich in die Lage Ihres Mannes versetze, die Wahrheit, so schmerzlich sie ist, eher verzeihen könnte als eine weitere Lüge, wenn sie denn doch herauskäme. Was Sie letztlich tun, ist Ihre Sache, aber das bedeutet nicht, daß ich Ihnen meinen Beistand versagen werde, wenn Sie meinen Rat nicht befolgen. Entscheiden Sie sich ganz frei. Sie haben dafür soviel Zeit, wie Sie brauchen.«

Da griff Melanie nach seiner Hand und drückte sie voller Dankbarkeit.

»Jetzt kann ich verstehen, weshalb Manuela immer so von Ihnen geschwärmt hat. Sie sind ein wundervoller Mensch.«

*

Die Fahrt von Nizza nach Rom endete für Tobias Scholz und seine Reisegesellschaft mit einer Tragödie. Zum ersten Mal während dieser bisher traumhaft schönen Reise regnete es in Strömen. Die Straße war naß und glitschig, doch Tobias war sich der Gefahren, die hier drohten, voll bewußt und paßte seine Geschwindigkeit den ungünstigen Straßenverhältnissen an.

»Durch die starken Regenfälle wird sich die Ankunft in Rom ein wenig verzögern«, gab die junge Reisebegleiterin über das Mikrophon bekannt. »Wir werden voraussichtlich noch einmal übernachten müssen und dann erst morgen im Laufe des Tages Rom erreichen.«

Doch sie erreichten es nicht. Der Erdrutsch kam schnell und unerwartet. Innerhalb von Sekunden verwandelten sich schlammige Erde, Steine und Geröll in eine tödliche Lawine, die alles, was sich auf der Straße befand, mit sich riß. Wie Spielzeugautos wurden der Bus, etliche Autos, Wohnwagen und ein riesiger Sattelschlepper weggefegt und unter Bergen von gerölldurchsetzter Erde begraben.

Gellende Schreie drangen durch den Bus, als er wie ein willkürlich geworfener Ball den Abhang hinunterrollte. Dann blieb er mit einem letzten, entsetzlich knirschenden Geräusch auf der Seite liegen. Nasse Erde, Steine und kleine Felsbrocken drückten sich durch die zerbrochenen Scheiben und vermischten sich mit den Glasscherben zu einer gefährlichen Masse. Die Schreie waren für wenige Augenblicke tödlicher Stille gewichen, dann hörte man schmerzvolles Jammers und Stöhnen, ein kleines Kind begann zu weinen und nach seiner Mama zu rufen.

Natalie war halb unter den Sitz gerutscht und dadurch verhältnismäßig unversehrt geblieben, wenn man von einer kleinen Platzwunde am Kopf und aufgeschürften Armen und Beinen absah.

»Tobias!« Ihr angstvoller Schrei vermischte sich mit dem Jammern und Klagen anderer Verletzter, doch Tobias’ Stimme war nicht darunter.

Auf allen vieren kroch Natalie über Geröll und nasse Erde. Ein paar der herausragenden Glassplitter bohrten sich in ihre Knie und Hände, doch Natalie spürte es gar nicht. Ihre Angst um Tobias war viel größer. Dann sah sie ihn. Er war zwischen Fahrersitz und Armaturenbrett hilflos eingeklemmt und bewegte sich nicht.

Eine eisige Angst griff Natalie ans Herz.

»Tobias.« Sie flüsterte es nur noch und wagte gar nicht daran zu denken, daß er tot sein könnte. Mit zitternden Händen berührte sie ihn. Er stöhnte leise auf, dann öffnete er die Augen.

»Natalie.« Es kostete ihn große Mühe zu sprechen. Sein Atem kam röchelnd, und mit Entsetzen sah Natalie, daß ein dünner Blutfaden aus seinem rechten Ohr lief. Auch aus Nase und Mund blutete er. Verzweifelt versuchte sich Natalie an den Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern, den sie vor noch nicht einmal zwei Jahren besucht hatte, doch in ihrem Kopf herrschte nur gähnende Leere.

Das Jammern und Schreien der anderen Reisenden drang an Natalies Ohr und auch das Weinen des kleinen Kindes.

»Mami!« rief es immer wieder. »Mami!«

Doch nicht nur im Innern des Busses herrschte Tumult, auch von draußen drangen Schreie und andere Geräusche herein, die Natalie nicht zu deuten wußte.

Mit lautem Krachen gab ein weiteres Fenster dem Druck von Erde und Geröll nach. Eine schlammige Lawine ergoß sich in den Bus, was zu erneuten Hilfeschreien führte.

Dann tauchte ein Gesicht in dem kaputten Fenster auf und brüllte einen Schwall italienischer Worte herein, die niemand verstand. Die Reisebegleiterin war nirgends zu sehen. Vermutlich war sie wie viele andere unter der nassen Erde oder herausgerissenen Sitzen begraben.

»Hilfe!« schrie Natalie.

»Uno momento!« rief der Italiener und fügte dann in stark akzentuiertem Deutsch hinzu: »Hilfe ist unterwegs.«

Er hatte nicht zuviel versprochen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Bus soweit von Schlamm und Steinen befreit war, daß der Sanitäter hereinsteigen und sich einen ersten Überblick über die Verletzten verschaffen konnte. Die Reisebegleiterin und etliche Frauen und Männer, die auf der rechten Seite des Busses gesessen hatten, wurden schwerverletzt aus den Trümmern geborgen, während sich vier Feuerwehrmänner um den eingeklemmten Tobias bemühten.

Das Kind weinte nicht mehr. Nur ein schwaches Wimmern drang noch an Natalies Ohr. Sie wußte, daß sie für Tobias nichts tun konnte. Ihm nützte es nichts, wenn sie daneben auf dem Boden kauerte. Dabei war sie den Hilfskräften sogar eher im Weg.

»Signora«, wurde sie angesprochen, doch sie schüttelte den Kopf und versuchte zu dem Kind vorzudringen. Sie erinnerte sich an die Kleine, die mit Vater und Mutter diese Reise gemacht hatte.

»Patricia!« rief Natalie, als ihr der Name der Zweijährigen einfiel. Die gesamte Reisegesellschaft hatte die Kleine mit dem sonnigen Wesen ins Herz geschlossen, und daß sich Natalie immer ein wenig zurückgehalten hatte, lag nur daran, daß Patricia genau das Kind war, das sie selbst sich immer gewünscht hatte. Natalie hatte keine Wunden aufreißen wollen, die ohnehin noch nicht völlig verheilt waren, doch jetzt galten andere Voraussetzungen. Noch konnte niemand wissen, was mit Patricias Eltern geschehen war.

»Patricia!« rief Natalie noch einmal.

»Mami«, erklang das jetzt schwache Stimmchen.

Im selben Moment sah Natalie die Kleine zwischen Steinen und Felsbrocken am Boden liegen. Ein Sitz war aus der Verankerung gerissen worden und lag so über dem Kind, daß es von der nachrutschenden Erde nicht hatte erreicht werden können. Wäre der Sitz nicht gekippt, so hätte die nasse, schlammige Erde das Mädchen unter sich begraben und unweigerlich erstickt.

Vorsichtig zog Natalie die Kleine aus ihrem unbequemen Gefängnis.

»Mami«, schluchzte Patricia, während sie ihre Ärmchen fest um Natalies Nacken schlang – offensichtlich froh, überhaupt einen Menschen zu sehen.

»Wir werden deine Mami suchen«, versprach Natalie und hielt das weinende Mädchen fest.

»Signora.« Ein Sanitäter sprach sie an. »Verletzt?«

Natalie nickte. »Ein bißchen.« Doch jetzt erst spürte sie die brennenden Schmerzen an Armen und Beinen, und als sie mit einer Hand über ihr Gesicht tastete, die danach voller Blut und Schlamm war, konnte sie sich in etwa vorstellen, wie schlimm sie aussehen mußte.

Der Sanitäter wollte ihr das Kind abnehmen, damit sie leichter aus dem Bus klettern könnte, doch Natalie hielt die kleine Patricia fest, obwohl es sehr beschwerlich war, sich mit dem Kind durch das einzige Fenster zu zwängen, das nicht mehr von Erde und Geröll verstopft war. Draußen wurden Natalie und Patricia von anderen Sanitätern in Empfang genommen, die sie und das Kind auf eine Trage legten und zu den weiter entfernt stehenden Krankenwagen brachten. Noch immer war die Luft erfüllt vom Stöhnen der vielen Verletzten, und Natalie fragte sich besorgt, wo Tobias wohl sein mochte. Plötzlich war die Angst um ihren Verlobten, die sie über der Sorge um Patricia beiseite geschoben hatte, wieder da.

»Tobias Scholz«, sprach sie den jungen Arzt an, der sich im Krankenwagen um sie und vier andere Verletzte kümmerte. »Der Busfahrer.«

Bedauernd zuckte der Arzt die Schultern, und Natalie war nicht sicher, ob er damit ausdrücken wollte, wo Tobias war, oder ob er sie überhaupt nicht verstanden hatte.

Sie erreichten das nächste Krankenhaus. Da man annahm, Natalie sei die Mutter des kleinen Mädchens, das sie so innig an sich gedrückt hielt, brachte man sie gemeinsam in ein Zimmer. Patricia war in Natalies Armen völlig erschöpft eingeschlafen, weinte aber immer wieder kläglich auf.

Erneut kam ein Arzt zu Natalie, diesmal einer mit eisgrauem Haar und sanften dunklen Augen, der sich als Dottore Angelo Scarleppi vorstellte.

»Sprechen Sie Deutsch?« fragte Natalie hoffnungsvoll.

»Ein bißchen, Signora«, antwortete er, dann lächelte er bedauernd. »Erwarten Sie aber nicht zuviel.«

»Mein Verlobter«, begann Natalie, und ihre Stimme bebte ein wenig. So dringend sie etwas über Tobias erfahren wollte, so groß war andererseits ihre Angst davor. »Tobias Scholz… er war der Fahrer des Busses. Ist er… ist er hier?«

Der Arzt nickte ohne zu überlegen, und Natalie fragte sich bang, ob das nun ein gutes oder eher ein schlechtes Zeichen war.

»Er wird operiert«, antwortete der Arzt. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist hier ein sehr gu-tes Krankenhaus.«

Natalie nickte nur. Sie hatte Angst… schreckliche Angst. Nur am Rande nahm sie wahr, daß Dottore Scarpelli sie untersuchte und ihre zahlreichen Schürf- und Schnittwunden behandelte. Die Platzwunde am Kopf mußte genäht werden, dann sah der Arzt von ihr zu dem schlafenden Kind.

»Ihre Tochter?« wollte er wissen.

Natalie schüttelte den Kopf. »Sie heißt Patricia.« Angestrengt versuchte sie sich an den Nachnamen des Kindes zu erinnern. »Koch. Patricia Koch. Ihre Eltern waren auch mit im Bus, aber ich konnte sie nicht finden. Nach dem Unfall herrschte ein schreckliches Durcheinander.«

Dottore Scarpelli nickte. »Es war ein fürchterliches Unglück.« Über die vielen Toten schwieg er sich aus. Es war unnötig, der jungen Frau die schrecklichen Einzelheiten zu berichten. »Ich werde mich nach den Eltern der Kleinen erkundigen.«

»Danke«, flüsterte Natalie, dann beugte sie sich über die schlafende Patricia, streichelte ihr seidiges Haar und drückte schließlich einen sanften Kuß auf ihre Stirn. Dabei fühlte sie sich diesem Kind so nah, als würde sie es schon ganz lange kennen. In den vergangenen Stunden war es ihr so ans Herz gewachsen, daß sie sich beinahe vor dem Augenblick fürchtete, an dem sie es den Eltern zurückgeben mußte.

Natalie wich zurück, als der Arzt begann, das kleine Mädchen vorsichtig zu untersuchen. Patricia schlug die Augen auf, dann verzog sich ihr Gesichtchen zu einem kläglichen Weinen.

»Oh, bambina mia, nicht weinen«, bat Dottore Scarpelli und lächelte die Kleine an, doch Patricia wollte sich nicht beruhigen. Erst als sie Natalie sah, versiegten die Tränen allmählich.

»Sie hatte Glück«, stellte der Arzt schließlich fest, dann hob er Patricia hoch und gab ihr ein Zäpfchen, bevor er ihr rasch und geschickt die Windel wieder anlegte. Patricia begann erneut zu weinen und zu strampeln.

»Ich weiß, bambina, Zäpfchen ist nicht schön«, meinte Dottore Scarpelli tröstend. »Geht aber gleich vorbei.« Er wandte sich Natalie zu. »Das Medikament wird sie beruhigen und schnell einschlafen lassen.«

Natalie konnte nur nicken. Auch sie fühlte sich erschöpft und müde, wußte aber, daß die Sorge um Tobias sie nicht schlafen lassen würde. Das schien auch der Arzt zu befürchten, denn er sprach kurz mit der Schwester, die ihn begleitet hatte, und bekam von ihr wenig später eine vorbereitete Spritze gereicht.

»Nicht erschrecken, Signora«, bat er. »Es ist nur ein kleiner Pieks, dann werden Sie sehr müde werden.«

Das Medikament wirkte tatsächlich schnell. Natalie konnte die Augen nicht mehr offenhalten. Mit letzter Kraft versuchte sie, Patricias kleines Händchen zu erreichen, dann schlief sie ein.

*

Tagelang lag Melanie Probst in ihrem Bett und überlegte, was sie Karlheinz sagen sollte. Endlich die Wahrheit oder weitere Lügen? Melanie konnte zu keinem Entschluß finden. Sie wollte Karlheinz nicht ein zweites Mal verlieren, aber gleichgültig wie sie sich letztlich entscheiden würde – die Möglichkeit, daß Karlheinz sie für immer verlassen würde, lag erschreckend nahe.

Mitternacht war längst vor-über. Mit einer Hand tastete sie nach ihrem Bauch, doch er war flach. Plötzlich wurde ihre Sehnsucht nach der Wölbung, die sie während ihrer vorgetäuschten Schwangerschaft gefühlt hatte, übermächtig.

»Mein Baby«, schluchzte sie leise und verdrängte den Gedanken, daß es nur ein Sandsack gewesen war, den sie sich unter das Kleid geschnallt hatte.

Wie in Trance verließ sie ihr Zimmer und fand wie von selbst den Weg zur Säuglingsstation. Durch das große Fenster betrachtete sie die vielen Babys, die zumeist schlafend in ihren Bettchen lagen.

»Na, Frau Stumpe, haben Sie Sehnsucht nach Ihrem kleinen Peter?«

Erschrocken fuhr Melanie herum und sah sich der jungen Da-rinka Stöber gegenüber, die hier als Krankenpflegehelferin tätig war und heute Nachtschicht hatte. Auf der Säuglingsstation arbeitete sie besonders gern, und sie hatte auch eine glückliche Hand im Umgang mit Babys.

»Sie wissen doch, daß Sie jederzeit kommen und den Kleinen zu sich holen können«, fuhr Da-rinka lächelnd fort. »Jetzt muß er ja nicht mehr im Brutkasten liegen.«

Währenddessen hatte sie Melanie ins Säuglingszimmer zu einem der vielen Bettchen gebracht. Mit sehnsüchtigem Blick sah Melanie ihren kleinen Neffen an, dann berührte sie vorsichtig das kleine Büschelchen dunkler Haare auf seinem Kopf.

»Nur für ein paar Minuten«, murmelte sie, dann schob sie das Bettchen mit dem Baby hinaus.

Erstaunt sah Darinka ihr nach. Die Patientin war ihr heute doch sehr verändert vorgekommen. In den vergangenen Tagen hatte sie sich nie gescheut, das Baby zu holen und es wiederzubringen, wenn sie sich ein wenig ausruhen wollte. Und auch nachts hatte sie den Kleinen geholt, wenn die Zeit zum Stillen nähergerückt war. Doch dann zuckte Darinka die Schultern. Vielleicht war Manuela Stumpe einfach nur müde gewesen. Darinka fragte sich ohnehin, wie sie es schaffte, immer rechtzeitig wach zu werden. Die meisten jungen Mütter mußten nachts geweckt werden, wenn ihre Babys Hunger hatten.

In der Zwischenzeit hatte Melanie das fahrbare Bettchen in ihr Zimmer ganz am Ende des Flurs gebracht. Fast eine Stunde stand sie da, betrachtete das schlafende Baby und hatte plötzlich das Gefühl, als könne sie es nicht wieder hergeben, ohne daß ihr das Herz brechen würde.

In fliegender Hast begann sie sich anzukleiden, dann wickelte sie den kleinen Peter sorgfältig in eine warme Decke und verließ mit ihm ihr Zimmer. Vorsichtig spähte sie den Flur entlang, doch es war niemand da, der sie hätte sehen können. Die Nachtschwester machte einen Rundgang durch die Klinik, und Darinka hatte ein weinendes Baby auf dem Arm, wie Melanie sehen konnte, als sie rasch an der Säuglingsstation vorübereilte.

Dann stand sie vor der Klinik auf der Straße und lief einfach los, das Baby liebevoll an sich gedrückt. Sie hatte keinen weiten Weg zu bewältigen, denn schon an der nächsten Telefonzelle rief sie sich ein Taxi, das sie nach Hause brachte.

Erst als sie das Haus betrat und im dunklen Flur stand, begann sie zu denken. Sie betrachtete das Baby in ihren Armen, und mit Entsetzen wurde ihr bewußt, daß sie es ihrer Schwester gestohlen hatte.

In diesem Moment flammte Licht auf. Völlig verschlafen, in einem zerknitterten Pyjama stand Karlheinz in der geöffneten Schlafzimmertür und starrte sie an.

»Melanie«, brachte er hervor, dann war er mit einem Schlag hellwach und stand im nächsten Augenblick neben ihr. Fassungslos blickte er auf das schlafende Baby in ihren Armen. »Du hast… meine Güte, warum weiß ich denn nichts davon? Dieser Dr. Daniel wollte mir nichts sagen, dabei… wann hast du entbunden? Und warum wurde ich nicht benachrichtigt? Ich hätte doch dabeisein wollen!«

In diesem Augenblick brach Melanie in Tränen aus.

»Es ist Peter!« stieß sie hervor. »Alles ist gelogen… die Schwangerschaft… alles… ich wollte doch so gern ein Baby… ich…« Vor lauter Schluchzen konnte sie nicht mehr weitersprechen, und Karlheinz stand ratlos daneben. Er begriff nicht, wovon Melanie da eigentlich sprach.

»Wir müssen in die Klinik zurück«, fuhr die junge Frau fort, als sie endlich wieder Worte fand. »Ich muß… o Gott, was habe ich getan? Aber ich wollte doch nur ein einziges Mal…«

Der kleine Peter begann zu weinen und suchte dabei verzweifelt nach der Brust der Mutter.

»Komm, Kalle, wir müssen in die Klinik«, drängte Melanie und war dabei schon wieder den Tränen nahe. Sie fühlte sich hilflos, weil sie wußte, daß sie dem Baby nicht geben konnte, wonach es verlangte. Sie war nicht seine Mutter, und wahrscheinlich würde sie niemals eine Mutter sein.

Karlheinz begriff noch immer nicht, was eigentlich los war, aber er spürte, daß jetzt nicht der Zeitpunkt war, um Fragen zu stellen. Rasch zog er Hose und Hemd über den Schlafanzug, dann brachte er Melanie und das schreiende Baby zur Waldsee-Klinik zurück.

*

Zur selben Zeit betrat Manuela das Säuglingszimmer. Sie kannte den Rhythmus ihres kleinen Sohnes schon und wußte, daß er bald Hunger bekommen mußte. Prüfend besah sie sich die Bettchen, und plötzlich griff eine eisige Angst an ihr Herz. Peter war nicht hier.

»Darinka!« rief sie, und ihre Stimme bebte dabei. »Ist etwas mit Peter?«

Erstaunt sah die junge Krankenpflegehelferin sie an. »Peter? Aber den haben Sie doch vor mehr als einer Stunde mit in Ihr Zimmer genommen, Frau Stumpe. Wir haben uns doch noch unterhalten und…«

Manuela schüttelte den Kopf. Dabei standen in ihren Augen gleichermaßen Entsetzen und Fassungslosigkeit.

»Melanie«, flüsterte sie, machte auf dem Absatz kehrt und lief den Flur entlang bis zu dem Zimmer, in dem sie ihre Schwester vermutete. Dr. Daniel hatte ihr zwar den Zutritt verwehrt, und Manuela hatte sich bis jetzt daran gehalten, wenn es ihr auch schwergefallen war, weil sie sich um Melanie große Sorgen gemacht hatte. Doch jetzt ging es um Peter!

Mit einem Ruck riß Manuela die Tür auf, doch das Zimmer war leer, und der schmale Schrank in der Ecke stand offen. Dann fiel Manuelas Blick auf das Babybettchen, das halb verborgen hinter dem großen Krankenbett stand. Mit wenigen Schritten eilte Manuela darauf zu, und dann fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Das Bettchen war leer! Ihr Sohn war weg – gestohlen von ihrer eigenen Schwester.

Das jämmerliche Schreien eines Babys ließ Manuela herumfahren. Sie kannte dieses Stimm-chen. Wie gehetzt rannte sie auf den Flur und sah, wie Melanie so abrupt stehenblieb, als sei sie gegen eine Wand gelaufen. Manuelas Schritt stockte nur für einen Augenblick, dann lief sie auf ihre Schwester zu und riß ihr das Baby aus den Armen. In ihren Augen flackerte es gefährlich, doch ihre Lippen zitterten, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen.

»Manuela«, flüsterte Melanie und versuchte, die Schwester zu berühren, doch Manuela wich vor ihr zurück, als hätte Melanie eine ansteckende Krankheit.

Währenddessen stand Karlheinz zwischen den Zwillingsschwestern, blickte von einer zur anderen und wußte doch nicht so recht, was er von dieser Situation halten sollte. Er spürte nur, daß sich zwischen Melanie und Manuela ein Drama anbahnte, doch er hatte keine Ahnung, wie er es verhindern sollte.

Bevor ein Wort fiel, stieß Dr. Daniel zu der kleinen Gruppe. Nach Manuelas Flucht aus dem Säuglingszimmer hatte Darinka ihn angerufen, und im Gegensatz zu ihr gelang es Dr. Daniel rasch, die Situation richtig einzuschätzen. Daher wußte er auch, daß Eile geboten war.

Jetzt stellte er sich zwischen die beiden jungen Frauen, sah zuerst Manuela, dann Melanie an und begann schließlich zu sprechen. »Vielleicht hätte ich ahnen müssen, daß so etwas passieren könnte.«

Diese wenigen Worte, in dem einfühlsamen Ton gesprochen, über den Dr. Daniel verfügte, entspannten die Situation. Jetzt wandte er sich Manuela zu.

»Sie sollten den Kleinen stillen und dann in sein Bettchen bringen«, riet er ihr. »Danach sollten wir uns alle zusammensetzen, denn ich glaube, ein offenes Gespräch ist jetzt unumgänglich geworden.«

»Ich verstehe das alles nicht«, mischte sich Karlheinz ein. »Wenn das Manuelas Baby ist… Melanie war doch auch schwanger…«

»Nein«, flüsterte Melanie, dann sah sie ihren Mann flehend an. »Bitte, Kalle, verzeih mir. Ich… ich habe…« Ihre Stimme brach.

Mit einem Blick voller Schmerz, aber auch voller Kälte sah Karlheinz sie an, dann drehte er ihr den Rücken zu und machte einen Schritt, doch Dr. Daniel hielt ihn zurück.

»Sie sollten jetzt nicht so einfach gehen, Herr Probst«, meinte er.

Karlheinz fuhr herum. »Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun? Melanie umarmen und ihr für den Betrug danken, den sie an mir… an uns allen begangen hat?« Er musterte Dr. Daniel feindselig. »Aber Sie stehen ja auf ihrer Seite. Sicher wußten Sie schon längst, daß alles nur Lüge und Betrug gewesen ist. Deshalb durfte ich auch Melanies Zimmer nicht betreten.« Er sah seine Frau wieder an. »Dieses ganze Ma-növer bedeutete aber nur einen Aufschub. Ich werde gehen.«

Wieder drehte er sich um.

»Kalle! Ich liebe dich!« rief Melanie verzweifelt.

Es war nicht ihre Liebeserklärung, die seinen Schritt stokken ließ, sondern der Kosename und vor allem die Art, wie sie ihn ausgesprochen hatte. Der Klang ihrer Stimme beschwor in ihm die Erinnerung an glückliche Tage herauf. Langsam wandte er sich ihr zu, und in seinen Augen konnte sie Schmerz und Enttäuschung erkennen.

»Warum?« wollte er nur wissen.

Da brach alles aus Melanie heraus. Ihre grenzenlose Sehnsucht nach einem Kind, die Verwechslung und der Beginn ihrer vorgetäuschten Schwangerschaft, die Liebe zu Karlheinz, die während dieser Zeit wieder zur vollen Blüte gereift war, aber auch ihre Verzweiflung, weil sie doch genau gewußt hatte, daß ihre Schwangerschaft niemals mit einer Geburt enden würde.

Als sie nach fast zwei Stunden endlich schwieg, stand sie zusammengekauert und mit tränen-überströmtem Gesicht da – verzweifelt, verloren und todunglücklich. Aber auch in den Augen von Karlheinz glitzerten Tränen. Melanies Geschichte hatte ihn tief getroffen.

Ein wenig zaghaft berührte er ihre Schulter, dann zog er sie in seine Arme.

»Ich weiß nicht, ob ich dir verzeihen kann«, gestand er. »Im Moment weiß ich überhaupt nur sehr wenig, aber… wenn ich gehe… wenn ich dich jetzt verlasse, dann… dann mache ich vielleicht alles nur noch schlimmer.«

Auch Manuela trat nun zu den beiden. Sie hatte ihren kleinen Sohn gestillt und wieder ins Säuglingszimmer gebracht. Den Anfang von Melanies Geständnis hatte sie dadurch verpaßt, doch was sie gehört hatte, hatte ausgereicht, um ihr begreiflich zu machen, daß Melanie den kleinen Peter nicht wirklich hatte entführen wollen.

»Ich glaube, wir haben viel aufzuarbeiten«, meinte sie. »Wir alle. So wie bisher können wir nicht weitermachen, das steht fest, aber vielleicht sollten wir jetzt einfach zusammenhalten und versuchen, noch einmal von vorn zu beginnen.«

Dr. Daniel zog sich diskret zurück, als er sah, wie Karlheinz und Melanie Manuela in ihren Kreis zogen. Er wußte, daß hier noch vieles im argen lag, aber zumindest der Anfang einer Besserung war gemacht.

*

Fast drei Tage lang hatte Tobias Scholz mit dem Tod gerungen, doch dann hatte sein Lebenswille gesiegt. Für die Ärzte an der ita-lienischen Klinik kam das fast einem kleinen Wunder gleich. Schädelbasisbruch, innere Verletzungen, Blutungen, die nur mit Mühe zu stillen gewesen waren – niemand hatte sich allzu große Hoffnungen gemacht, daß der junge Mann diesen schrecklichen Unfall überleben würde, doch nun war er auf dem Weg der Besserung, und seine erste bange Frage galt Natalie.

Dottore Scarpelli holte die junge Frau unverzüglich zur Intensivstation. In den vergangenen Tagen war Natalie kaum zum Schlafen gekommen, weil sie ständig zwischen Tobias und der kleinen Patricia hin- und hergependelt war. Die Zweijährige hatte unter den Nachwirkungen des Unfalls ganz entsetzlich gelitten, hatte hohes Fieber bekommen und schreckliche Alpträume gehabt. Doch auch um Tobias hatte Natalie furchtbar zittern müssen, und so war ihr die ausgestandene Angst noch deutlich anzusehen.

Trotzdem brachte sie ein zärtliches Lächeln zustande, als sie mit beiden Händen Tobias’ schmal gewordenes Gesicht umschloß und ihn sanft küßte.

»Liebling«, flüsterte sie nur.

Auch Tobias lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war. Er hatte noch immer große Schmerzen, die ihm nicht einmal die verabreichten Medikamente nehmen konnten, und er wußte, daß es noch lange dauern würde, bis er wieder völlig genesen wäre.

»Natalie«, flüsterte er, und jede Silbe verursachte ihm Schmerzen. »Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch«, versicherte Natalie und konnte dabei nicht aufhören, sein Gesicht zu streicheln. Erst jetzt wurde ihr wirklich bewußt, wie nahe sie daran gewesen war, den Menschen zu verlieren, der ihr auf dieser Welt am meisten bedeutete. Dabei fiel ihr nun auch die kleine Patricia wieder ein.

»Tobias«, begann sie, doch da war er unter der Einwirkung der starken Medikamente, die er wegen seiner Schmerzen bekam, schon wieder eingeschlafen.

Es dauerte mehr als eine Woche, bis sich Tobias soweit erholt hatte, daß er längere Zeit wach bleiben und eingehendere Gespräche führen konnte. Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde er auch von der Intensivstation auf die normale Station verlegt.

»Wie schlimm war es?« wollte er schließlich von Natalie wissen. »Mir sagen die Ärzte ja nichts.«

»Aus gutem Grund«, entgegnete Natalie und zeigte ihre Besorgnis dabei ganz offen. »Du bist noch immer äußerst erholungsbedürftig, Tobias. Es war ein schreckliches Unglück, das du nur mit knapper Not überlebt hast.«

»Haben… alle überlebt?« fragte er stockend, weil er sich entsetzlich vor der Antwort fürchtete.

Natalie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Es hat viele Tote gegeben… zu viele… nicht nur im Bus, sondern auch… der Erdrutsch hat etliche Autos mitgerissen.« Sie legte eine Hand auf die seine. »Tobias…«

Die hereintretende Schwester unterbrach sie. Es war die hübsche Donatella, die immerhin gebrochen Deutsch sprach. Jetzt hatte sie die kleine Patricia auf dem Arm.

»Will zu ihrer Mama«, erklärte Schwester Donatella mit starkem Akzent, dann übergab sie Natalie die Zweijährige, streichelte noch einmal über das runde Pausbäckchen des Kindes und verließ dann das Zimmer.

Natalie drückte die Kleine liebevoll an sich, und Patricia schmiegte ihr Gesichtchen vertrauensvoll an Natalies Schulter, während ihre runden Ärmchen den Nacken der jungen Frau umschlungen hatten. Wortlos betrachtete Tobias diese Szene, die von so viel Liebe und Vertrauen geprägt war und die für ihn nur eine Deutung zuließ.

»Patricias Eltern… sind sie…« Er sprach die Worte leise aus und brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden.

Natalie sah ihn an, dann nickte sie. »Patricia ist völlig allein auf der Welt. Während der letzten Tage habe ich mich erkundigt – sie hatte nur ihre Eltern und jetzt… jetzt hat sie niemanden mehr außer uns.« Mit dem Kind auf dem Arm setzte sie sich auf die Bettkante und griff nach Tobias’ Hand. »Ich liebe dieses Kind. Ich kann es nicht erklären, Tobias. Weißt du noch, wie ich sagte, ein fremdes Kind könnte mir nie soviel bedeuten wie ein eigenes?« Sie wartete seine Antwort gar nicht ab. »Ich wurde eines Besseren belehrt. Als ich Patricia zwischen den Trümmern hervorholte… als ich sie so weich und warm an meinem Körper fühlte… dieses kleine Leben in den Armen hielt… ich kann dir gar nicht beschreiben, was da in mir vorgegangen ist.«

Noch ein wenig mühsam hob Tobias eine Hand und streichelte über Patricias weiche, blonde Löckchen, dann sah er Natalie mit einem zärtlichen Lächeln an.

»Das heißt, daß wir als Familie heimkommen werden«, meinte er.

Natalie nickte. »Es gibt zwar noch viele Formalitäten zu regeln, aber…« Ihr liebevoller Blick wanderte von Tobias zu Patricia, die sich noch immer in ihre Arme kuschelte. »Ich gebe dieses Kind nicht mehr her. Ich will Patricia ein neues Zuhause geben, ich will ihr eine zärtliche Mutter sein.«

Tobias dachte an das junge Ehepaar, das mit seinem Kind so glücklich gewesen war, bis ein grausames Schicksal sie getrennt hatte. Patricia war noch immer verstört und unsicher, doch sie schien die Geborgenheit in Natalies Armen zu genießen, und irgendwann würde sie die Schrecken des Unfalls vergessen.

»Wir haben dich sehr lieb, kleine Patricia«, flüsterte Tobias und dachte dabei: Wir werden dir gute und liebevolle Eltern sein.

Patricia schmiegte sich noch immer in Natalies Arme, doch mit ihren kleinen Fingerchen berührte sie nun Tobias’ Hand, und dann huschte sogar der Ansatz eines Lächelns über ihr rundes Gesichtchen.

Sehr sanft streichelte Natalie über Patricias seidenweiches Haar und mußte dabei unwillkürlich an Dr. Daniel denken, der ihr so dringend zu dieser Reise geraten hatte. »Sie sind es wert, geliebt zu werden«, hatte er gesagt, und jetzt wußte sie, wie recht er gehabt hatte. Die Tatsache, daß sie durch die fehlerhafte Operation niemals schwanger werden würde, hatte ihr schwer zu schaffen gemacht, und meistens hatte sie sich nicht mal mehr als vollwertige Frau gefühlt, doch jetzt war alles anders. Sie liebte und wurde geliebt – von ganzem Herzen, und die Krönung dieser Liebe würde von nun an die kleine Patricia sein.

*

Dr. Daniels Sprechstunde war fast zu Ende, als Melanie Probst das Zimmer betrat. Noch immer war sie sehr blaß, und ihr Gesichtsausdruck war ernst, beinahe traurig. Spontan kam Dr. Daniel ihr entgegen und begleitete sie zu einem der beiden Sessel, die vor seinem Schreibtisch standen.

»Wie geht es Ihnen?« wollte Dr. Daniel wissen.

»Nicht sehr gut«, antwortete sie leise. »Im Augenblick stehen Kalle und ich vor einem Scherbenhaufen, der einmal unsere Ehe gewesen ist. Es gibt soviel aufzuarbeiten, und manchmal denke ich, daß wir es nie schaffen werden.«

»Lieben Sie ihn?« fragte Dr. Daniel.

Melanie nickte ohne zu zögern. »Mehr als alles andere.«

»Dann wird es Ihnen gelingen, die Probleme aus dem Weg zu schaffen«, meinte Dr. Daniel zuversichtlich. »Die Liebe ist eine unbezwingbare Macht.«

»Hoffentlich«, flüsterte Melanie, dann blickte sie Dr. Daniel an. »Ich habe in letzter Zeit oft über Ihr Angebot, mich noch einmal zu untersuchen, nachgedacht. Natürlich muß ich mit Kalle darüber sprechen, aber… ich für meinen Teil würde es gerne noch einmal versuchen.«

Dr. Daniel nickte bedächtig. »Dagegen ist im Grunde nichts einzuwenden, Frau Probst. Ich selbst hatte Ihnen das ja vorgeschlagen, allerdings kann eine Kinderwunschbehandlung für beide Partner sehr belastend sein, und gerade im Augenblick würde ich Ihnen nicht empfehlen, Ihre ohnehin wacklige Ehe auf diese harte Probe zu stellen.«

»Das hatte ich auch nicht vor«, verwahrte sich Melanie. »Im Moment ist mir nur wichtig, meine Ehe mit Kalle zu retten, aber danach…« Sie seufzte leise. »Ich möchte doch so gern ein Baby von ihm haben.«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Dr. Daniel, dann griff er tröstend nach Melanies Hand. »Kommen Sie zu mir, wann immer Ihnen danach zumute ist.« Bei diesen Worten fühlte er sich wieder so machtlos wie vor wenigen Monaten, als es ihm nicht gelungen war, Natalie Meinhardt wirklich zu helfen. Auch sie wäre an ihrem unerfüllbaren Kinderwunsch beinahe zugrunde gegangen, und Dr. Daniel hatte nichts anderes tun können, als ihr tröstende Gespräche anzubieten. Mittlerweile hatte er zwar erfahren, daß Natalie und Tobias heiraten und das kleine Waisenmädchen Patricia adoptieren würden, und er hatte sich dar-über besonders für Natalie gefreut, doch nun stand er bei Melanie wieder nahezu vor dem gleichen Problem. Da war eine junge Frau, die sich schmerzlich nach einem Baby sehnte, und er konnte im Augenblick nichts anderes für sie tun, als ihr anzubieten, jederzeit für sie dazusein. Dr. Daniel hätte so gern viel tatkräftiger geholfen.

»Ich bin froh, daß ich durch diese ganze vertrackte Geschichte wenigstens Sie kennengelernt habe«, erklärte Melanie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Sie geben mir immer wieder Mut und Kraft zum Weitermachen.«

»Das ist das Mindeste, was ich tun kann«, meinte Dr. Daniel.

Melanie stand auf und reichte ihm die Hand. »Vielen Dank, Herr Doktor.« Sie brachte ein Lächeln zustande. »Vor allem dafür, daß es Sie gibt.«

Auch Dr. Daniel mußte nun lächeln. »Dafür kann ich nichts. Da müßten Sie sich dann bei meinen Eltern bedanken.«

Er sah ihr nach, als sie das Sprechzimmer verließ, dann wandte er sich dem Fenster zu. Unten auf dem Patientenparkplatz stand Karlheinz Probst und wartete auf seine Frau. Jetzt trat sie heraus. Ein wenig zögernd gingen die beiden aufeinander zu. Man spürte die Unsicherheit, die zwischen ihnen herrschte, aber gleichzeitig auch die tiefe Liebe, die sie wie ein unsichtbares Band umschloß.

Nebeneinander gingen sie der untergehenden Sonne entgegen, und als Dr. Daniel sah, wie sie sich liebevoll bei den Händen nahmen, da wußte er, daß sie es schaffen würden. Sie würden ihre Welt wieder in Ordnung bringen…

– E N D E –

Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman

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