Читать книгу Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman - Marie-Francoise - Страница 27

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Die erste Patientin, die an diesem Morgen das Sprechzimmer von Dr. Robert Daniel betrat, war die pummelig wirkende Martina Greiff. Wie immer versuchte sie, ihr Übergewicht unter weiten Pullis zu verstecken, was sie aber nur noch unförmiger aussehen ließ. Heute floß ihr Gesicht auch noch vor Tränen über.

Erschrocken kam Dr. Daniel ihr entgegen und begleitete sie fürsorglich zu einem der beiden Sessel, die vor seinem Schreibtisch standen.

»Martina, was ist denn passiert?« fragte er.

Das junge Mädchen zog ein Taschentuch hervor und versuchte die Tränen abzuwischen, doch das war ein sinnloses Unterfangen. Es strömten immer wieder neue nach.

»Ich bin so häßlich!« stieß sie hervor.

Dr. Daniel betrachtete das runde Gesicht, das eigentlich recht hübsch war, wenn es nicht gerade – wie jetzt – vom Weinen völlig rot und verquollen war.

»Das stimmt nicht, Martina«, widersprach Dr. Daniel ruhig. »Du bist nicht häßlich.«

»Sehen Sie mich doch an!« verlangte Martina. »Ich bin sechzehn und muß Kleidergröße 42 kaufen.« Wieder begann sie zu schluchzen und sank auf dem Sessel in sich zusammen. »Die anderen sind alle so hübsch, nur ich…« Vor lauter Weinen konnte sie nicht mehr weitersprechen.

»Eines gleich mal vorweg, Martina, eine gute Figur hat mit Schönheit nichts zu tun«, entgegnete Dr. Daniel. »Allerdings verstehe ich sehr gut, daß du schlanker sein möchtest.« Er ging vor Martina in die Hocke, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Du weißt selbst, wie oft ich dich schon bei einer Diät unterstützen wollte.«

Martina nickte traurig. »Ich habe nie durchgehalten.« Ihre Stimme war dabei kaum mehr als ein Flüstern. »Ich esse nun mal so gern, und wenn ich Kummer habe…« Sie zuckte die Schultern. »Dann esse ich meistens noch viel mehr.« Einen Augenblick schwieg sie. »Oma kocht ja auch so gut.«

Dr. Daniel überlegte eine Weile, dann meinte er: »Was hältst du davon, in den Ferien für ein paar Wochen in die Waldsee-Klinik zu gehen? Da ich Klinik-

direktor bin, würde es keine Schwierigkeiten machen, dich zum Abnehmen dort unterzubringen. Das hätte den Vorteil, daß du nicht in Versuchung kommen würdest, etwas Falsches zu essen.«

Martina nickte ein wenig halbherzig. »Ja, das… das wäre vielleicht wirklich nicht schlecht.« Dann seufzte sie. »Aber bis zu den Sommerferien ist es noch so lange und…« Sie errötete ein wenig. »Es gibt da einen jungen Mann… er ist im Karate-Verein.« Die Röte auf ihrem Gesicht vertiefte sich noch. »Seinetwegen bin ich auch dahingegangen… schon vor einem Jahr, aber… er sieht mich überhaupt nicht an.«

»Liebe läßt sich nicht erzwingen, Martina«, erwiderte Dr. Daniel. »Dieser junge Mann kann deine Gefühle vielleicht nicht erwidern, aber das muß nicht daran liegen, daß du ein bißchen übergewichtig bist.«

»Bestimmt liegt es daran«, flüsterte Martina. »Jan sieht blendend aus. Er würde sich mit mir niemals in der Öffentlichkeit sehen lassen.«

»Ich will dich nicht beeinflussen, aber wenn du meine Meinung dazu hören willst…« Er zögerte ein wenig, doch als er Martinas erwartungsvolles Gesicht sah, fuhr er fort: »Wenn dich dieser junge Mann nur mit einer guten Figur mag, dann ist das nicht die wahre Liebe. Weißt du, Martina, Liebe fragt nicht nach Äußerlichkeiten. Man schenkt sein Herz einem Menschen, nicht einer Fassade, oder hast du dich in diesen Jan nur verliebt, weil er gut aussieht?«

Martina zögerte. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. »Ja… ich weiß nicht… er gefällt mir… er sieht gut aus, er bewegt sich auf eine ganz bestimmte Art, und wenn er lacht…« Ein zärtliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und ließ es von innen heraus leuchten.

»Siehst du, Martina, das ist es, was ich meine. Du liebst nicht nur sein schönes Gesicht, sondern alles an ihm: Sein Lachen, seine Art sich zu bewegen. Wenn du ihn anschaust, siehst du nicht den gutaussehenden Mann, sondern einfach nur den Menschen, den du liebst – mit all seinen Fehlern. Genauso müßte auch er empfinden. Wenn er sich in ein paar Wochen nur in deine gute Figur verlieben würde, dann könnte diese Liebe nie Bestand haben, weil sie nicht dem gelten würde, was du bist.«

Martina wurde nachdenklich, und unwillkürlich mußte sie an den jungen Manfred Steiner denken, der seit kurzem auch im Karate-Verein war und ihr eindeutige Blicke zuwarf. Bei jeder Gelegenheit suchte er ihre Nähe…

Vermutlich war es das, was Dr. Daniel unter wahrer Liebe verstand. Doch was half ihr eine Liebe, die sie nicht erwidern konnte? Manfred war nett, aber Jan… in seiner Nähe schlug ihr Herz einen wahren Trommelwirbel… ein Blick von ihm ließ sie dahinschmelzen. Leider schenkte er ihr höchstens mal versehentlich einen solchen Blick.

»Ich werde darüber nachdenken«, versprach sie, dann stand sie auf. »Auch über die Diät in der Klinik.«

*

»Also, diese fette Kuh ist eine Schande für den ganzen Verein«, knurrte Jan Heintze, während er zusah, wie sich einer der beiden Trainer geduldig mit Martina Greiff beschäftigte, ihr die Bewegungsfolge immer wieder zeigte und sie schließlich lobte, obwohl sie es immer noch nicht richtig machte.

»Mit ihrem Gewicht sollte sie lieber Kugelstoßen«, fuhr Jan fort, dann grinste er. »Was glaubt ihr, was die für eine tolle Kugel abgeben würde.«

Seine Freunde lachten, während Martina verlegene Röte ins Gesicht schoß. Jan hatte zu laut gesprochen, als daß sie seine Worte hätte überhören können.

»Mach dir nichts draus«, riet Manfred Steiner ihr. »Der will doch nur vor seinen Freunden angeben.«

Unwirsch winkte Martina ab. »Was weißt du denn schon!«

Dr. Jeffrey Parker, der als Anästhesist an der Steinhausener Waldsee-Klinik arbeitete, heute im Verein aber für einen erkrankten Trainer eingesprungen war, hatte alles beobachtet. Jetzt wandte er sich Jan zu, der mit seinen Freunden noch immer über den bösartigen Scherz lachte, den er über Martinas Figur gemacht hatte.

»Jan!« rief er. »Wenn du in Karate nur halb so gut bist wie mit deinem Mundwerk, dann komm mal her zu mir!«

Mit betont lässigem Schritt ging Jan auf den Aushilfstrainer zu und zog dabei provozierend seinen grünen Gürtel enger. Dr. Parker schmunzelte, als er es sah.

»Glauben Sie tatsächlich, daß Sie nach Ihrem Autounfall schon wieder so fit sind, um sich mit mir anzulegen?« fragte Jan mit einem mitleidigen Lächeln. »Ich meine… immerhin hatten Sie ein paar gebrochene Rippen, Schädelbruch und etliche andere Kleinigkeiten.« Er sah seine Freunde an, bevor er noch eins draufsetzte. »Vielleicht sollten Sie lieber mit Martina anfangen. Ich glaube, die kleine Dicke wäre im Moment der geeignetere Gegner für Sie.«

Dr. Parker lächelte, doch bei ihm wirkte es nicht überheblich.

»Mach dir um mich mal keine Sorgen«, entgegnete er gelassen und fügte mit einer aufmunternden Handbewegung hinzu: »Na komm, zeig mir mal, was du kannst.«

Jan stellte sich in die Ausgangsposition und startete mit einem markerschütternden Schrei seine erste Attacke gegen Dr. Parker. Für einen Moment sah es so aus, als würde dieser gar nicht reagieren, doch dann lag Jan auch schon am Boden, ohne genau zu wissen, wie er dorthin gekommen war.

»Also, mein Junge, das war aber nichts«, urteilte Dr. Parker. »Mit so etwas kannst du vielleicht einen Laien beeindrucken, aber sonst…« Wieder machte er diese aufmunternde Handbewegung. »Komm, überleg’ dir etwas anderes.«

Wut und Scham zeichneten sich auf Jans Gesicht ab, und genau diesen Empfindungen entsprach sein zweiter Angriff, der von Dr. Parker wieder mit Leichtigkeit abgewehrt wurde. Jetzt wandte er sich an die anderen Karateschüler, die den kurzen Kampf neugierig verfolgt hatten.

»Welchen Fehler hat Jan begangen?« wollte Dr. Parker wissen.

»Er hat sich von Gefühlen leiten lassen«, antwortete Manfred. »Wut und Enttäuschung über eine mißlungene Attacke sind kein guter Ansatzpunkt für einen zweiten Angriff. Besser ist es, das Vergangene zu vergessen und sich auf das Kommende zu konzentrieren.«

Dr. Parker lächelte. »Sehr gut, Manfred. Zeig uns mal…« Er unterbrach sich mitten im Satz, weil er merkte, wie Jan hinter seinem Rücken einen dritten, sehr hinterhältigen Angriff begann. War Dr. Parkers Gegenwehr in den beiden anderen Fällen nur angedeutet gewesen, so setzte er jetzt mehr Kraft ein, was Jan schmerzhaft zu spüren bekam.

»Au!« entfuhr es ihm, als er unsanft auf dem Boden landete.

Der Blick, mit dem Dr. Parker ihn bedachte, war sehr ernst. »Unfaire Attacken werden bestraft. Los, steh auf und entschuldige dich bei mir.«

Wütend fuhr Jan hoch. »Sie haben mir weh getan, und dafür soll ich mich auch noch entschuldigen? Vergessen Sie’s!« Er unterstrich seine Worte mit einer heftigen Handbewegung.

»Du sollst dich dafür entschuldigen, daß du mich von hinten angegriffen hast«, stellte Dr. Parker richtig. »Anscheinend hast du den Sinn von Karate noch nicht begriffen. Aber das kann man ändern.« Er holte ein schmales Heft hervor, schlug die erste Seite auf und gab sie Jan. »Das will ich beim nächsten Training von dir hören – auswendig. Und jetzt warte ich auf deine Entschuldigung.«

Jan kochte vor Wut, doch er sah ein, daß Dr. Parker am längeren Hebel saß. Im übrigen wußte er, daß er sich zu einer solchen Kurzschlußhandlung niemals hätte hinreißen lassen dürfen. Karate war kein Angriffssport, sondern eine Art der Selbstverteidigung.

»Es tut mir leid«, murmelte er.

»Mäßig«, urteilte Dr. Parker, »aber ich nehme deine Entschuldigung an. Und jetzt verschwinde. Für dich ist das Training heute beendet.«

Jan biß die Zähne zusammen. Sein Blick wanderte zu dem anderen Trainer, doch Dr. Parkers Entscheidung wurde von ihm stillschweigend akzeptiert. Jan machte auf dem Absatz kehrt und ging auf die Garderobe zu. Dabei spürte an bei jedem Schritt seine müsam unterdrückte Wut.

»Das war ziemlich hart, Jeff«, meinte der Trainer.

Dr. Parker nickte. »Was er getan hat, auch, und wenn ihm das einmal durchgeht, wird er es immer wieder machen.« Dabei bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie sich Martina Greiff von der Gruppe absonderte und nun ebenfalls zur Garderobe ging.

Auch Manfred hatte es gesehen. Er fühlte einen schmerzhaften Stich im Herz. Was mußte Jan denn noch alles tun, bis Martina endlich begreifen würde, welch miesen Charakter er hatte.

»Liebe macht blind«, erklärte Dr. Parker, der nachvollziehen konnte, was in Manfred vorging. »Vor allem, wenn die verliebten jungen Damen gerade mal sechzehn sind und der Angebetete die zwanzig bereits überschritten hat.«

Manfred seufzte tief auf. »Er macht sich doch nur lustig über sie. Vor zehn Minuten hat er sie vor dem halben Verein lächerlich gemacht, und jetzt läuft sie ihm nach.«

Freundschaftlich legte Dr. Parker einen Arm um seine Schultern. »Sie wird schon noch merken, wer ihre Liebe wirklich verdient.«

Eine verlegene Röte überzog Manfreds Gesicht. »Merkt man es denn so deutlich, daß ich sie… daß ich sie sehr gern habe?«

Dr. Parker lächelte. »Ich schon, weil ich dich inzwischen sehr gut kenne. Und nun komm. Schließlich sind wir nicht hier, um über Herzensdinge zu plaudern, sondern um Karate zu trainieren.«

*

Währenddessen hatte Martina die Garderobe betreten und sah sich nach Jan um. Er saß auf einer der schmalen Bänke und schleuderte wütend die Schuhe von den Füßen.

»Dieser Mistkerl!« schimpfte er. »Das wird er mir büßen!«

»Ärgere dich nicht«, meinte Martina und versuchte ihre Stimme fest klingen zu lassen, was ihr mißlang. In Jans Anwesenheit war sie nicht mehr sie selbst. Da begann ihr Herz zu flattern, und ihre Knie zitterten so sehr, daß sie glaubte, nicht mehr stehen zu können. In diesem Moment hatte sie völlig vergessen, wie er sie gerade noch blamiert hatte.

»Was willst du hier?« schnauzte Jan sie an.

Er meint es nicht so, versuchte Martina sich einzureden. Er ist nur wütend auf Parker.

»Was der Trainer mit dir gemacht hat, hat mir leid getan«, flüsterte Martina und setzte sich ihm gegenüber. Unwillkürlich lockerte sie ihren gelben Gürtel.

Jan quittierte es mit einem spöttischen Lächeln. »Du gehst von Tag zu Tag mehr auseinander, scheint mir.«

Martina wurde rot, Tränen schossen ihr in die Augen, aber Jan nahm gar nicht Notiz davon.

»Verschwinde und laß mich allein«, verlangte er unwirsch.

»Ich dachte…«, begann Martina, doch Jan ließ sie nicht aussprechen.

»Überlaß das Denken lieber den Pferden, die haben größere Köpfe«, fiel er ihr grob ins Wort. »Und jetzt hau ab. Ich brauche dein Mitleid nicht.«

Traurig drehte sich Martina um.

An der Tür blickte sie noch einmal zurück, doch Jan war nicht mehr da. Sie hörte die Dusche rauschen. Mit einem tiefen Seufzer trat sie wieder in den Trainingsraum. Dabei war sie sich ihres Übergewichts so bewußt wie noch nie. Ursprünglich hatte sie gehofft, der Sport würde ihr beim Abnehmen helfen, doch genau das Gegenteil war der Fall. Jedesmal, wenn sie nach dem Karatetraining nach Hause kam, überfiel sie ein wahrer Heißhunger, und am nächsten Tag brachte sie dann zwei Kilo mehr auf die Waage. Zwei Kilo, die sie sich in den darauffolgenen Tagen mühsam wieder herunterhungerte, nur um sie nach dem nächsten Training erneut zuzunehmen. Es war frustrierend.

Noch deprimierender aber waren die Freundinnen, die Jan in schöner Regelmäßigkeit anschleppte – Mädchen, so schlank wie Gazellen, mit dezent geschminkten Gesichtern…

Wieder seufzte Martina. Was nützte es ihr, daß man sich trotz ihrer Jugend mit ihr über fast jedes Thema unterhalten konnte? Intelligenz war bei Männern offenbar nicht gefragt. Mannequinfigur und knackiger Po waren ihnen tausendmal wichtiger, und Martina verfügte weder über das eine noch über das andere.

Ihr Blick blieb an dem Bild hängen, das der große Spiegel im Trainingsraum zeigte. In dem weißen Karateanzug wirkte sie noch unförmiger, als sie es ohnehin war.

Ich bin häßlich, dachte Martina angewidert.

Sie wandte sich von dem Spiegel ab. Sie erkannte nicht, was für ein hübsches Gesicht sie hatte – ein Gesicht, das viel Herzenswärme ausstrahlte. Und Augen, die so dunkelblau waren wie das Meer an seiner tiefsten Stelle – Augen, in denen man ertrinken konnte.

»Martina, für die letzte Übung sollten wir uns zu zweit…«

Das junge Mädchen fuhr erschrocken herum. Sie hatte Manfred nicht kommen hören.

»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich wollte dich nicht erschrecken.« Er schwieg einen Moment. »Möchtest du mit mir…«

»Nein«, fiel sie ihm ins Wort, dann drehte sie sich um und ging auf Dr. Parker zu.

»Was Sie mit Jan gemacht haben, war gemein«, erklärte sie. Der junge Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, Mädchen, das war es nicht. Jan hat sich unfair verhalten und wurde dafür bestraft.«

»Er wurde bestraft, weil Sie ihn nicht leiden können!« hielt Martina ihm vor. »Bei Ihrem Schützling hätten Sie es nicht getan.«

»Eines mal vorweg«, entgegnete Dr. Parker ernst. »Manfred ist nicht mein Schützling.«

»Aber Sie bezahlen ihm die Mitgliedschaft im Verein, weil er es sich sonst überhaupt nicht leisten könnte!« fuhr Martina auf.

Unwillig zog Dr. Parker die Augenbrauen zusammen. »Armut ist nichts, wofür man sich schämen müßte. Im übrigen bist du inzwischen lange genug im Verein, um zu wissen, daß ich streng, aber gerecht bin. Hier im Trainingsraum gibt es für mich weder Sympathie noch Antipathie, sondern nur Karate. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird bestraft – gleichgültig, wer er ist und wie er heißt. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«

Martina schluckte schwer. Sie wußte genau, daß der junge Arzt recht hatte, und sie spürte auch, daß sie mit ihrer Bemerkung zu weit gegangen war. Ihre Liebe zu Jan ließ jedoch nicht zu, daß sie sich bei Dr. Parker entschuldigte. Abrupt drehte sie sich um und verließ den Trainingsraum.

Dr. Parker sah ihr nach, dann seufzte er. »Teenager. Manchmal scheint in ihren Köpfen doch einiges durcheinanderzugehen.«

*

Trübsinnig starrte Martina Greiff aus dem Fenster. Der Regen prasselte gegen die Scheibe und machte den Tag so trist und grau, wie es in ihrem Innern aussah. Neben sich auf dem Fensterbrett hatte sie eine Schachtel Pralinen stehen und erstickte ihren Kummer damit.

»Wenn du so weitermachst, wirst du nie abnehmen.«

Die spöttische Stimme ihrer Freundin Heike Riedl ließ Martina herumfahren. Brennende Röte überzog ihr Gesicht. Rasch räumte sie die Pralinen beiseite.

»Mir war langweilig«, brachte sie mühsam hervor. Sie schämte sich, weil Heike sie beim Naschen erwischt hatte.

»In einem solchen Fall solltest du besser ein Buch lesen, anstatt dich mit Süßigkeiten vollzustopfen«, riet Heike ihr, dann zuckte sie die Schultern. »Nun ja, irgendwie hat wohl jeder sein Päckchen zu tragen. Bei dir sind es die Pfunde, bei mir das Geld.« Sie bedachte Martina mit einem neidischen Blick. »Du hast in der Beziehung ja keine Sorgen. Die Oma liest dir jeden Wunsch von den Augen ab, nicht wahr?«

Wieder errötete Martina. »Warum sagst du so etwas, Heike? Ich dachte, du wärst meine Freundin.«

Heike winkte ab. »Vergiß es. Ich bin heute einfach nicht gut drauf.« Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich auf Martinas breites französisches Bett fallen. »Vorhin habe ich meine letzten Mäuse für eine CD ausgegeben.«

»Soll ich dir was leihen?« bot sich Martina sofort an.

Heike tat so, als würde sie zögern, dabei war sie genau aus diesem Grund zu Martina gekommen. Ihre Auslegung von Freunschaft bezog sich ausschließlich auf den materiellen Bereich.

»Na ja, wenn du einen Hunderter flüssig hast«, meinte sie.

»Natürlich«, stimmte Martina sofort zu, holte ihre Geldbörse und entnahm ihr einen Hundertmarkschein, den sie der Freundin gab.

Heike schob das Geld in die Tasche ihrer hautengen Jeans, dann betrachtete sie Martina mitleidig. »Vielleicht sollte ich dir als Gegenleistung einen guten Rat geben. Wenn du bei Jan jemals was erreichen willst, mußt du deine Fettpolster abbauen.«

Martina seufzte tief auf. »Wenn das so einfach wäre. Du weißt doch, wie viele Diäten ich schon angefangen habe, aber durchgehalten habe ich nie eine. Dafür esse ich einfach zu gern, und gerade bei Süßigkeiten kann ich nicht nein sagen.« Dann wurde ihr Gesicht entschlossener. »In den Sommerferien werde ich in die Waldsee-Klinik gehen und eine Diät machen. Vielleicht halte ich dort ja durch.«

»Meine Güte, bist du naiv«, erklärte Heike kopfschüttelnd. »Glaubst du allen Ernstes, daß das etwas bringt? Tina, im Erdgeschoß der Klinik gibt es einen kleinen Kiosk, an dem du deine Gier nach Süßigkeiten jederzeit stillen kannst.«

»Das werde ich nicht tun!« behauptete Martina, obwohl sie da-von durchaus nicht überzeugt war.

»Doch, das wirst du«, entgegnete Heike. »Wenn du bloß Knäckebrot und Salat bekommst, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis du dich mit Pralinen vollstopfst.«

»Dr. Daniel sagte…«

Heike winkte ab. »Was weiß der schon!« Dann machte sie ein bedeutungsvolles Gesicht. »Halte dich lieber an mich, Tina. Ich weiß, was dir helfen könnte.« Sie lächelte anzüglich. »Bei meiner Diät mußt du auf gar nichts verzichten.« Sie lehnte sich zur Seite und angelte nach ihrer Jacke, die sie vorhin achtlos auf das Bett geworfen hatte. Aus einer der beiden Taschen holte sie zwei schmale Päckchen hervor. »Versuch’s mal damit.«

»Das sind ja Tabletten«, stellte Martina erstaunt fest. »Und auch noch rezeptpflichtige.« Sie sah ihre Freundin an. »Woher hast du die?«

»Von Jan«, antwortete Heike, dann zuckte sie die Schulter. »Er ist schließlich der Sohn eines Apothekers.«

Entsetzt starrte Martina sie an. »Du meinst… er klaut sie in der Apotheke seines Vaters?«

»Ach, sei doch nicht so engstirnig, Tina«, entgegnete Heike unwirsch. »Bei den riesigen Medikamentenlieferungen, die bei denen Tag für Tag eingehen, verschwindet eben an und zu mal eine Schachtel.« Sie lächelte raffiniert. »Jan tut das ja auch nicht für jeden.«

Der Stachel der Eifersucht bohrte sich bei diesen Worten in Martinas Herz.

»Was bekommt er denn als Gegenleistung von dir?« fragte sie, und ihrer Stimme war deutlich anzuhören, was sie dachte.

»Das geht dich nun wirklich nichts an«, meinte Heike, ehe sie wieder auf diese raffinierte Weise lächelte. »Noch bist du nicht Jans Freundin, und vielleicht wirst du es auch nie werden.« Sie wies mit dem Kinn auf Martinas pummelige Figur. »Jedenfalls nicht, solange du wie eine Tonne aussiehst.«

Tränen schossen Martina in die Augen. Rasch senkte sie den Kopf und gab vor, die Tablettenschachteln zu betrachten.

»Das eine ist ein Abführmittel«, stellte sie fest.

»Richtig«, stimmte Heike zu. »Das räumt deinen Darm mal so richtig durch. Die anderen Tabletten nimmst du vor jeder Mahlzeit. Das sind Appetitzügler. Danach wirst du höchstens noch die halbe Portion verdrücken. In ein paar Wochen hast du die ersten Pfunde sicher schon verloren.« Sie stand auf und trat dicht vor Martina hin. »Du kannst den Erfolg aber auch schneller haben. Geh ein paar Wochen regelmäßig nach dem Essen auf die Toilette.«

Verständnislos sah Martina sie an. »Auf die Toilette?«

Heike verdrehte genervt die Augen. »Mein Güte, bist du schwer von Verstand. Tina, du hast zehn Finger zu deiner Verfügung. Such dir einen davon aus.«

Einen Augenblick starrte Martina auf ihre Hände, dann dämmerte es ihr plötzlich. »Du meinst… ich soll…« Angewidert verzog sie das Gesicht. »Das ist ja ekelhaft.«

»Aber wirkungsvoll«, fügte Heike hinzu. »Auf diese Weise hast du den Genuß ohne Reue. Kein noch so kalorienreiches Gericht wird sich auf der Waage niederschlagen.« Sie wies auf die Pralinenschachtel, die Martina in die offene Schreibtischschublade gelegt hatte. »Davon kannst du drei Packungen auf einmal verdrücken, wenn dir danach ist. Und wenn du dich satt gegessen hast, spuckst du sie wieder aus – fertig.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Martina unsicher, dann hob sie die Tablettenpackungen hoch. »Ich versuche es erst mal damit.«

Heike zuckte die Schultern. »Wie du meinst.« Sie stand auf und drehte sich provozierend vor Martina. »Das ist die Figur, auf die Jan abfährt, vergiß das nicht.«

*

Mit gemischten Gefühlen betrat Manfred Steiner das kleine Krankenhaus, wo er in den letzten Jahren schon so oft gewesen war.

»Herr Steiner!« Mit einem sehr freundlichen Lächeln kam ihm Dr. Kunstmann entgegen und reichte ihm die Hand. »Schön, daß Sie sich wieder zur Verfügung stellen. Ich bin immer froh, wenn ich mit Patienten zusammenarbeiten kann, die den Ablauf bereits kennen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Schwester Marion wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen, und in einer halben Stunde bekommen Sie die erste Spritze.«

Manfred nickte nur. Er brachte keinen Ton hervor, weil ihm Dr. Parkers Warnung nicht aus dem Kopf ging. »… ich habe dir so oft gesagt, daß du das lassen sollst. Weißt du überhaupt, in welche Gefahr du dich begibst?«

Und nun war er wieder hier, und in einer halben Stunden würde er eine Spritze bekommen, die ein nicht zugelassenes Medikament enthielt… ein Medikament, dessen Nebenwirkungen an ihm und einigen anderen Patienten, die sich freiwillig zur Verfügung stellten, getestet wurden.

»Herr Doktor, das Geld, das ich dafür bekomme… ich… ich brauche es ganz dringend«, brachte Manfred mühsam hervor.

Dr. Kunstmann schüttelte den Kopf. »Sie keinen das Spielchen, Herr Steiner. Bezahlung erfolgt nach Abschluß der Testreihe. So, und jetzt gehen Sie mit Schwester Marion. Ich komme in einer halben Stunde zu Ihnen.«

»Ja, Herr Doktor«, flüsterte Manfred, dann folgte er der Schwester nach oben. Wie immer wurde ihm ein Einzelzimmer zugeteilt, und es dauerte nicht lange, bis Dr. Kunstmann eintrat.

»So, Herr Steiner«, meinte er. »Jetzt drehen Sie sich mal auf die Seite.« Er desinfizierte die Einstichstelle. »Es wird ein bißchen weh tun.«

Es tat nicht nur ein bißchen weh, sondern ganz gewaltig. Manfred biß die Zähne zusammen, trotzdem konnte er ein schmerzvolles Aufstöhnen nicht unterdrücken, doch der Arzt nahm es überhaupt nicht zur Kenntnis.

»Eine Stunde lang alle zehn Minuten Puls, Blutdruck und Temperatur kontrollieren«, ordnete er an, nickte Manfred noch einmal kurz zu und verließ den Raum, während Schwester Marion die ersten Messungen vornahm und dann ebenfalls ging.

Manfred war allein. Er starrte das Telefon an. Der Wunsch, den Hörer abzunehmen und bei Dr. Parker anzurufen, wurde beinahe übermächtig. Doch was sollte er ihm sagen? Etwa, daß er wieder in der Klinik war und sich nicht zugelassene Medikamente spritzen ließ? Jeff würde ihn quasi durch den Fleischwolf drehen, wenn er das erfahren würde. Außerdem war die Erinnerung an Martinas Worte noch viel zu stark: »Sie bezahlen ihm die Mitgliedschaft, weil er es sich sonst überhaupt nicht leisten könnte.«

Nie… nie wieder sollte Martina Grund haben, so etwas zu sagen. Er ließ sich nicht aushalten – von niemandem. Und wenn er Medikamente nehmen mußte, um sich das nötige Geld zu verdienen, dann würde er es eben tun. Martina sollte nicht denken, daß er ein armer, mittelloser Schwächling war, der einen Sponsor brauchte, um sich sein einziges Hobby finanzieren zu lassen. Martina sollte ihn lieben…

*

Als Dr. Parker die Tür zu seiner gemütlichen kleinen Dachwohnung aufschloß, schlug ihm der herzhafte Duft von Gulasch entgegen. Ein Gefühl der Wärme breitete sich in ihm aus. Er hatte sich schon so lange danach gesehnt, einmal nach Hause zu kommen und dort erwartet zu werden. In letzter Zeit war ihm die Einsamkeit in seiner kleinen Wohnung besonders bewußt geworden, und eine Weile hatte er schon geglaubt, das würde sich nie mehr ändern. Doch dann hatte er einen schweren Autounfall gehabt, den er nur mit viel Glück überlebt hatte. Dieser Unfall hatte ihm allerdings auch die Liebe von Karina, der Tochter Dr. Daniels, beschert, denn gerade dadurch war sie sich ihrer tiefen Gefühle für ihn bewußt geworden.

»Karina?« rief Dr. Parker jetzt fragend.

Sie trat aus der Küche und wischte sich die Hände an der blauen Schürze ab, die sie sich umgebunden hatte, dann löste sie mit einer Hand das Band, mit dem sie ihr langes, goldblondes Haar im Nacken zusammengebunden hatte, bevor sie auf Jeff zuging und ihre Arme um seinen Nacken legte.

»Guten Abend, Liebling«, begrüßte sie ihn zärtlich.

Er küßte sie.

»Schön, daß du da bist«, flüsterte er an ihrem Ohr, dann vergrub er das Gesicht in ihrem dichten, weichen Haar und lachte leise. »Ich glaube, wir müssen bald heiraten. An den Gedanken, daß du jeden Abend hier auf mich wartest, wenn ich heimkomme, könnte ich mich nur allzu schnell gewöhnen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Karina lächelnd. »Für mich hätte diese Vorstellung auch etwas Verlockendes.« Sie rückte ein bißchen von ihm ab und betrachtete ihn aufmerksam. Er lächelte zwar noch immer, doch in seinen Augen konnte sie deutlich lesen, wie es tatsächlich um ihn stand.

»Du siehst erschöpft aus«, stellte Karina fest, dann drohte sie ihm mit dem Zeigefinger. »Mein lieber Jeff, du mutest dir einfach zuviel zu. So lange liegt dein Unfall nun auch noch nicht zurück.«

Dr. Parker seufzte. »Du bist in dieser Weoche schon die zweite, die das sagt.«

»So? Wer ist denn außer mir noch so besorgt um dich? Muß ich da etwa eifersüchtig sein?«

Jeff lachte auf. »Um Himmels willen, nein! Besorgt war der Knabe ganz bestimmt nicht um mich. Jan hat sich aufgrund meines Unfalls Chancen ausgerechnet. Er hätte mich beim letzten Karate-Training nur zu gern auf die Matte geschickt.«

Karina lächelte. »Was ihm aber nicht geglückt ist.«

»Ich könnte mich einglasen lassen, wenn ich als Träger des 4. Dan von einem grünen Gürtel besiegt werden würde.« Er winkte ab. »Reden wir nicht mehr davon. Auch wenn ich nur Aushilfstrainer bin, dürfte ich mich nicht von Gefühlen leiten lassen, aber dieser Jan ist ein ziemlich unsympathischer Zeitgenosse…« Er seufze. »Es sollte nicht so sein, aber es hat mir fast Spaß gemacht, ihn mal gehörig auflaufen zu lassen.«

»Du kannst ja richtig böse sein«, urteilte Karina lächelnd, dann nahm sie ihn bei der Hand. »Komm, das Essen ist fertig. Du wirst einen Bärenhunger haben.«

»Es geht«, meinte Jeff und sah auf die Uhr. »Ich muß noch rasch telefonieren, aber in fünf Minuten sitze ich bestimmt am Tisch.«

»Ich werde das kontrollieren«, prophezeite Karina, während sie in die Küche zurückkehrte.

Dr. Parker folgte ihr schon nach kurzer Zeit, und Karina sah ihm sofort an, wie besorgt er war.

»Was ist denn los, Schatz?« fragte sie und stellte nebenbei den Topf mit dampfendem Gulasch auf den Tisch.

»Wenn ich das nur wüßte«, murmelte Dr. Parker, dann seufzte er. »Seit dem letzten Karate-Training versuche ich Manfred zu erreichen, aber er ist nie zu Hause.

»Ist das so ungewöhnlich?«

Jeff nickte. »Für Manfred gibt es nur Arbeit und Karate, sonst nichts.« Er seufzte. »Er ist ein armer Kerl.«

Karina runzelte die Stirn. »Sprichst du von Manfred Steiner?«

»Ja, kennst du ihn?«

»Nein, eigentlich nicht. Seine ältere Schwester Anita und ich sind die ersten vier Jahre gemeinsam zur Grundschule gegangen. Später hat Anita dann in München gearbeitet, und da haben wir uns gelegentlich getroffen. Im übrigen kennt man in ganz Steinhausen die Familienverhältnisse der Steiners. Frau Steiner ist damals bei der Geburt ihres sechsten Kindes gestorben. Zwei Jahre darauf hat ihr Mann wieder geheiratet und noch drei Kinder in die Welt gesetzt, dabei hatten sie kaum genug Geld, um sich selbst zu ernähren.«

»Davon hat mir Manfred noch nie etwas erzählt«, meinte Parker erschüttert. »Ich weiß nur, daß er unmittelbar nach der Schule arbeiten mußte. Er durfte nicht mal eine Lehre machen. Was mich weit mehr beunruhigt, ist die Tatsache, daß er sich auf nicht ganz ungefährliche Weise Geld dazuverdient. Ich befürchte, daß er mal wieder in dieser kleinen Klinik ist und Versuchskaninchen spielt.«

Verständnislos runzelte Karina die Stirn. »Was soll das heißen, Jeff?«

»Das weiß du nicht?« Er zuckte die Schultern. »Hier in der Nähe gibt es ein Krankenhaus, wo die Wirkung… besser gesagt, die unangenehmen Nebenwirkungen neuer, noch nicht zugelassener Medikamente erforscht werden. Wer sich dafür freiwillig zur Verfügung stellt, kann sich ein paar Mark nebenbei verdienen, indem er über einen gewissen Zeitraum hinweg diese Medikamente schluckt oder sich spritzen läßt.«

»Meine Güte«, stieß Karina hervor. »Das kann ja lebensgefährlich werden.«

Dr. Parker nickte. »Ich habe ihm schon so oft gesagt, daß er es bleiben lassen soll, aber er macht es immer wieder.« Er seufzte noch einmal. »Dazu kommt seine unglückliche Liebe zu der kleinen Greiff.«

»Martina ist ja auch ein armes Ding«, urteilte Karina teilnahmsvoll. »Sie ist unehelich geboren, und ihre Mutter hat sich gleich nach der Geburt ins Ausland abgesetzt. Martina wuchs bei ihrer Oma auf, und die hat sie als Entschädigung für verlorene Mutterliebe mit Süßigkeiten vollgestopft.«

Dr. Parker ergriff Karinas Hand und drückte sie sanft.

»Dafür, daß du dich in den vergangenen Jahren überwiegend in München und Freiburg aufgehalten hast, weißt du über das, was in Steinhausen so passiert, glänzend Bescheid«, stellte er lächelnd fest.

Auch Karina lächelte. »Es gibt eben nichts, was den Daniels entgeht.« Dann wurde sie ernst. »Als Martina geboren wurde und auch in den Jahren danach war ich ja noch zu Hause und habe von den Dingen, die in der Praxis meines Vaters vorgingen, mehr mitbekommen, als es vielleicht den Anschein hatte.«

Jeff stupste sie zärtlich an der Nase. »Neugierde, dein Name ist Weib.«

»Du bist gemein«, konterte Karina, hatte dabei aber Mühe, ernst zu bleiben. Dann deutete sie auf das Gulasch. »Ich fürchte, das war das erste und letzte Mal, daß ich für dich gekocht habe.«

»Angesichts solcher Drohungen muß ich wohl versuchen, mich wieder einzuschmeicheln«, meinte Jeff, zog Karina zu sich her und küßte sie liebevoll.

Sie grinste schelmisch. »War das schon alles?«

»War das denn nicht genug?« fragte Dr. Parker zurück.

Zärtlich schmiegte sie sich an ihn. »Noch lange nicht.«

*

Ein befriedigtes Lächeln glitt über Martinas Gesicht, als sie sich auf die Waage stellte und erkannte, daß sie schon wieder zwei Kilo abgenommen hatte. Beschwingt trat sie vor den Spiegelschrank im Badezimmer und drehte sich, um sich von allen Seiten betrachten zu können. Der Bauch war schon fast weg, und auch der Po wurde von Tag zu Tag straffer und knackiger.

»Martina! Frühstück!« rief ihre Großmutter aus der Küche.

»Ich komme!« antwortete Martina und warf einen Blick auf die Uhr. Sie war spät dran. Eigentlich konnte sie es sich gar nicht mehr erlauben, nach dem Frühstück noch zur Toilette zu gehen, um das Essen wieder auszuspucken.

Rasch kleidete sie sich an und schob die Schachtel mit den Abführtabletten in ihre Hosentasche. Fünf Stück waren noch drin. Die würden reichen, um das Frühstück rasch wieder nach draußen zu befördern.

Martina setzte sich an den Tisch und zwang sich, möglichst wenig zu essen, obwohl sie schrecklich hungrig war. Unmittelbar nach dem letzten Bissen griff sie nach dem Glas Orangensaft und warf ihrer Großmutter einen prüfenden Blick zu, doch Rosalinde Greiff war schon damit beschäftigt, Martinas Jacke bereitzulegen. Rasch holte das junge Mädchen die fünf Tabletten hervor und spülte sie mit Orangensaft hinunter.

Die Tabletten wirkten diesmal erstaunlich schnell. Kaum in der Schule angekommen, mußte Martina schon zur Toilette. Das Pausenbrot warf sie in den Abfall, obwohl es sie große Überwindung kostete. Vor Hunger konnte sie sich kaum noch auf den Unterricht konzentrieren, und als sie nach der Schule heimkam und ihr der Duft von Hackbraten, Kartoffelbrei und Salat entgegenschlug, schaffte sie es gerade noch, ihre Schuhe abzustreifen und die Jacke an den Garderobenhaken zu hängen. Mit wahrend Heißhunger verschlang sie drei Riesenportionen.

»Kindchen, du bist ja halb verhungert«, stellte Rosalinde Greiff besorgt fest. »Ich glaube, ich muß dir mehr Pausenbrot mitgeben.«

»Nein, Oma, das ist wirklich nicht nötig«, wehrte Martina ab. »Ich will ja noch immer abnehmen.« Sie seufzte. »Aber einmal am Tag muß ich richtig essen, sonst verhungere ich.«

»Das meine ich auch.« Rosalinde betrachtete das kleine Stückchen Hackbraten, das noch übriggeblieben war. »Ich bin sowieso nicht sicher, ob es gut ist, wenn du bei einer Mahlzeit solche Unmengen verschlingst. Besser wäre es doch, du würdest mehrmals täglich kleine Portionen zu dir nehmen.«

Martina errötete ein wenig. Sie mußte jetzt aufpassen, wenn sie sich nicht verdächtig machen wollte.

»Ach, weißt du, Oma, das ist bei dieser Diät nicht so wichtig«, behauptete sie. »Ich muß nur aufpassen, daß ich nicht mehr Kalorien zu mir nehme als nötig.« Sie wies mit einer flüchtigen Kopfbewegung auf ihren Teller. »Für heute habe ich mein Soll erfüllt. Abendessen wird leider nicht mehr drin sein.« Sie lächelte. »Na ja, vielleicht noch einen Joghurt.« Dann stand sie auf. »Ich muß jetzt Hausaufgaben machen.«

Rasch lief sie die Treppe hinauf, doch sie betrat nicht ihr Zimmer, sondern das Bad. Sekundenlang stand sie unschlüssig da. Es kostete sie noch immer Überwindung, mit dem Finger Erbrechen auszulösen, aber wenn sie nicht wieder zunehmen wollte, mußte sie es unbedingt tun. Außerdem war es nicht mehr so schwer wie am Anfang. Der Heißhunger, der sie immer wieder verführte, Unmengen von Essen in sich hineinzustopfen, löste nachher ohnehin leichten Magendruck und Übelkeit bei ihr aus.

Heute fiel es ihr allerdings schwer. Sie hatte solchen Hunger gehabt, und der Gedanke, daß ihr Magen dann wieder völlig leer sein würde…

Sie atmete tief durch, dann griff sie nach ihrem Zahnputzglas, füllte warmes Wasser ein und trank es in einem Zug aus. Das würde die Prozedur erleichtern.

»Martina?«

Sie erschrak, als sie die Stimme ihrer Großmutter hörte.

»Ich bin auf der Toilette, Oma!« rief sie, dann brachte sie es schnell hinter sich, spülte ihren Mund mit einem erfrischenden Mundwasser aus und verließ schließlich das Bad.

»War dir schlecht, Kindchen?« fragte Rosalinde besorgt.

»Nein, wie kommst du darauf?« entgegnete Martina und brachte es sogar fertig, erstaunt auszusehen.

»Na ja, ich dachte nur… ich habe etwas gehört…«

Martina umarmte ihre Großmutter. »Unsinn, Oma, weshalb sollte mir denn schlecht sein? Ich fühle mich blendend. So, aber jetzt muß ich wirklich was für die Schule tun. Schließlich will ich bei den Prüfungen zur Mittleren Reife nicht durchfallen.«

Doch als sie wenig später an ihrem Schreibtisch saß, lagen die Schulbücher nur zur Tarnung herum. Ihre Gedanken waren bei Jan. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie so schlank war, wie er sich seine Freundinnen wünschte. Und dann…

Ein seliges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

*

Dr. Daniel glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als seine nächste Patientin das Sprechzimmer betrat. Das sollte Martina sein? Vor vier Wochen war sie ihm auf der Straße begegnet – pummelig wie eh und je, und jetzt stand vor ihm ein schlankes, junges Mädchen in knallengen Jeans.

»Da staunen Sie, was?« meinte Martina und strahlte dabei über das ganze Gesicht.

»Das kann man wohl sagen«, gab Dr. Daniel offen zu, dann stand er auf, kam ihr entgegen und reichte ihr mit dem ihm eigenen herzlichen Lächeln die Hand. »Hübsch siehst du aus.«

Sie lachte glücklich. »Danke für das Kompliment, Herr Doktor. Ich bin ja so froh, daß es mir endlich gelungen ist, abzunehmen – und das ohne Klinikaufenthalt.«

»Was war denn das für eine Zauberdiät?« wollte Dr. Daniel wissen, während er mit einer einladenden Handbewegung auf die beiden Sessel wies, die seinem Schreibtisch gegenüberstanden.

»Es ging ja offensichtlich ziemlich schnell«, fügte er hinzu.

»Ja, es war eine dieser neuartigen Diäten aus Amerika«, log Martina. »Nach dem Motto ›Zehn Pfund in fünf Tagen‹. Aber es hat gewirkt.«

»Das sieht man«, stimmte Dr. Daniel zu. »bei derartigen Blitzdiäten mußt du aber aufpassen, daß du dein Gewicht auch halten kannst. Meistens ist man danach so ausgehungert, daß man die verlorenen Pfunde schnell wieder reingefuttert hat.«

Martina schüttelte den Kopf. »Ich konnte während dieser Diät alles essen. In Maßen natürlich«, fügte sie rasch hinzu. »Außerdem bin ich fest entschlossen, nie wieder zuzunehmen.« Sie strich mit einer Hand an der Hüfte entlang. »Da gibt es sogar noch das eine oder andere Fettpölsterchen, das ich gern wegbekommen möchte.«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »An deinem Körper sind bestimmt keine überflüssigen Fettpölsterchen mehr, Martina.« Er hob warnend den Zeigefinger. »Auch mit dem Abnehmen soll man es nicht übertreiben. Wenn du so bleibst, wie du jetzt bist, ist es gerade richtig.«

Martina nickte zwar, doch insgeheim war sie fest entschlossen, noch weiter abzunehmen. Die Methode war zwar alles andere als angenehm, doch der Erfolg spornte sie Tag für Tag aufs neue an.

»Was führt dich denn heute zu mir?« fragte Dr. Daniel schließlich und lächelte. »Oder wolltest du dich nur bewundern lassen?«

»Das auch«, gab Martina zu, bevor sie mit ihrem eigentli-

chen Anliegen herausrückte. »Ich wollte mir die Pille verschreiben lassen.« Sie zeigte einen koketten Augenaufschlag. »Jetzt habe ich nämlich plötzlich Chancen.«

»Das glaube ich gern«, meinte Dr. Daniel. »Es spricht auch nichts dagegen, dir die Pille zu verschreiben. Du mußt mir zuvor nur ein paar Fragen beantworten, und dann muß ich dich natürlich noch untersuchen, aber ich denke nicht, daß sich da irgendwelche Argumente ergeben werden, die gegen die Pille sprechen würden.«

Martina beantwortete die Fragen, die Dr. Daniel ihr stellte, und erst als er sich nach der letzten Monatsblutung erkundigte, zögerte sie einen Moment. Ihre Regel war in diesem Monat zum ersten Mal seit vier Jahren ausgeblieben. Sekundenlang war sie drauf und dran, die Wahrheit zu gestehen und das Ausbleiben der Regel auf ihre Diät zu schieben, aber dann nannte sie statt dessen irgendein Datum.

Dr. Daniel warf ihr einen kurzen Blick zu. Er spürte, daß Martina ihn belogen hatte, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.

»Bist du sicher?« hakte er nach.

Eine kaum sichtbare Röte huschte über Martinas Gesicht, dann nickte sie. »Ja, Herr Doktor, ich bin ganz sicher.«

»Also schön«, meinte Dr. Daniel und trug das Datum auf der Patientenkarte ein, doch in Klammern machte er sich einen Vermerk über seine Zweifel an der Richtigkeit dieser Angabe.

Die nachfolgende Untersuchung ergab keine Auffälligkeiten, und so stellte Dr. Daniel schließlich das Rezept aus.

»Du beginnst mit der Einnahme am ersten Tag deiner nächsten Regel«, erklärte er. »Wenn die Packung aufgebraucht ist, folgt eine Pause von sieben Tagen. Während dieser Zeit bekommst du eine Blutung, die einer abgeschwächten Regelblutung gleicht. Nach sieben Tagen beginnst du wieder mit der Pilleneinnahme, auch wenn die Blutung zu diesem Zeitpunkt noch anhält.«

Martina nickte, sah das Rezept in ihrer Hand an und blickte schließlich wieder auf. »Wenn ich nun mal krank werde… ich meine… wenn ich mich mal übergeben muß… wirkt die Pille dann auch?«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »In einem solchen Fall mußt du auf eine zusätzliche Verhütungsmethode zurückgreifen – Scheidenzäpfchen oder etwas in dieser Art. Allerdings kannst du das alles in dem Begleitheft nachlesen, das der Pillenpackung beiliegt. »Ich habe dir übrigens nur ein Rezept für drei Monate gegeben. Danach kommst du bitte zu mir zu einer erneuten Untersuchung. Wenn du die Pille aus irgendeinem Grund nicht vertragen solltest, dann kommst du natürlich früher, ja?«

Wieder nickte Martina. Das Rezept hatte für sie jeden Wert verloren. Irgendwie hatte sie angenommen, die Pille würde nach der Einnahme schnell ins Blut übergehen. Wie sollte sie verhüten und gleichzeitig ihr Gewicht halten, wenn sie nach dem Essen nicht mehr zur Toilette gehen durfte?

»Gibt es da eigentlich auch andere Methoden?« wollte sie jetzt wissen. »Vielleicht einen Wirkstoff, den man spritzen kann?«

Dr. Daniel war erstaunt über diese Frage, ließ es sich aber nicht anmerken.

»Ja, Martina, das gibt es«, antwortete er. »Es ist die sogenannte Drei-Monats-Spritze, aber die wende ich nicht gerne an, weil sie zu starken menstruellen Störungen führt. Dazu kommt, daß du noch im Wachstum bist. In diesem Fall könnte ich eine solche Art der Empfängnisverhütung nicht verantworten.« Er schwieg einen Moment und sah Martina dabei prüfend an. »Warum fragst du danach? Leidest du unter Magen-Darm-Störungen, so daß die Pille für dich zu unzuverlässig wäre?«

Martina errötete, was Dr. Daniel natürlich bemerkte, und es verstärkte seinen Verdacht noch, daß mit dem jungen Mädchen irgend etwas nicht stimmte, aber noch konnte er diesen Verdacht nicht greifen.

»Nein«, stammelte sie. »Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur… ich meine… es kann ja mal sein, und dann… dann wäre eine Spritze eben doch zuverlässiger.«

Prüfend sah Dr. Daniel sie an. »Sei ehrlich, Martina, was ist mit dir los? Bist du krank? Mußt u dich öfter übergeben? So etwas kann nämlich auch Zeichen einer ernsten Krankheit sein.«

Martina schüttelte den Kopf, dann stand sie auf. »Es ist nichts, Herr Doktor, wirklich.« Sie verabschiedete sich auffallend hastig, dann verließ sie das Untersuchungszimmer und eilte aus der Praxis, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Wie hatte sie nur so dumm sein können, Dr. Daniel derartige Fragen zu stellen? Schließlich hatte es mit der Verhütung im Moment noch keine Eile. Jan zeigte nicht das Interesse an ihr, das sie sich gewünscht hatte.

Ich muß mehr abnehmen, dachte sie. Meine Figur ist noch immer nicht perfekt. Erst wenn sie das ist, wird sich Jan in mich verlieben.

*

Nach Martinas Flucht aus der Praxis blieb Dr. Daniel noch eine Weile nachdenklich sitzen. Dabei verstärkte sich sein Gefühl von vorhin noch. Irgend etwas war mit Martina nicht in Ordnung.

Er griff nach der Karteikarte und ging seine Eintragungen gewissenhaft durch, doch es gab nichts, was auf eine Krankheit hindeutete – vorausgesetzt, Martina hatte ihm wirklich die Wahrheit gesagt.

»Darf ich Ihnen die nächste Patientin schicken?« fragte seine junge Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau.

»Einen Augenblick noch«, bat Dr. Daniel. Er ging ins Nebenzimmer, holte den Abstrich hervor, den er von Martina genommen hatte, und betrachtete ihn noch einmal unter dem Mikroskop. Doch hier ergaben sich keine Auffälligkeiten. Damit hatte er allerdings auch nicht gerechnet.

Wenn Martina wirklich eine Krankheit in sich trug, dann mußte diese nicht unbedingt im gynäkologischen Bereich liegen. Eine Blutuntersuchung könnte vielleicht Aufschluß darüber geben, doch wie sollte er an eine Blutprobe von Martina kommen?«

Spontan stand Dr. Daniel auf und verließ den Raum.

»Ich gehe nur rasch zu meiner Frau hinüber«, erklärte er, wäh-rend er schon auf die Zwischen-tür zuging, die seinen Teil der Praxis von dem seiner Frau trennte, die hier halbtags als Allgemeinmedizinerin arbeitete.

»Darf ich dich einen Moment stören, Manon?« fragte er, als er sich zwischen zwei Patienten ins Sprechzimmer mogelte.

Mit einem zärtlichen Lächeln kam sie auf ihn zu und küßte ihn. »Natürlich, Robert. Bei mir ist es heute ausnahmsweise sehr ruhig.«

»Bei mir leider nicht«, entgegnete Dr. Daniel, dann fuhr er sich mit einer Hand durch das dichte blonde Haar – ein deutliches Zeichen, daß er sich Sorgen machte. »Bei mir war gerade ein junges Mädchen – Martina Greiff.«

Manon nickte. »Kenne ich. Sie war erst vor kurzem bei mir.« Jetzt lächelte sie. Wahnsinn, wie die Kleine abgenommen hat.«

Dr. Daniel nickte. »Das genau ist es. Ich habe den Verdacht, als sei mit ihr etwas nicht in Ordnung, allerdings ist es nichts, was ich greifen könnte. Es ist einfach nur so ein Gefühl.« Er schwieg einen Moment. »Hast du im Rahmen der Untersuchung eine Blutabnahme vorgenommen?«

»Ja«, erwiderte Manon. »Das Mädchen ist kerngesund. Das einzige, was mir Sorgen macht, ist ihr Wunsch, weiter abzunehmen. So etwas kann sich leicht zur Sucht entwickeln, und dann wäre es nicht mehr ungefährlich.«

Dr. Daniel nickte. »Mir gegenüber hat sie auch gesagt, daß da noch das eine oder andere Fettpölsterchen wäre, das sie weghaben möchte.« Er zögerte einen Moment, dann beschloß er: »Ich werde sie ein bißchen im Auge behalten.«

Sanft streichelte Manon über seine Wange. »Du machst dir um alles und jeden Sorgen, Robert, aber bitte, vergiß dabei nicht, daß du auch nur ein Mensch bist.«

Dr. Daniel lächelte. »War das nun ein Kompliment, oder eine Strafpredigt?«

»Weder das eine noch das andere«, entgegnete Manon. »Ich denke nur, daß du dir manchmal ein bißchen zuviel zumutest, und ich habe Angst, daß du an deinem Beruf noch einmal zugrunde gehst.«

Dr. Daniel küßte sie zärtlich. »Keine Sorge, Liebling, so schnell bin ich nicht unterzukriegen. Im übrigen sorge ich mich im Moment nicht um alles und jeden, sondern nur um ein sechzehnjähriges Mädchen, das mir heute irgendwie seltsam vorgekommen ist. Dafür muß es eine Erklärung geben, und die werde ich finden.«

*

Dr. Parker wollte sich gerade auf den Weg zum Karate-Verein machen, als es an seiner Wohnungstür klingelte. Er öffnete und sah sich Manfred Steiner gegenüber.

»Na, das nenne ich eine Überraschung«, meinte Dr. Parker. »Wo warst du denn während der vergangenen Wochen?«

Manfred gab ihm keine Antwort, sondern drückte ihm ein paar Geldscheine in die Hand. Erstaunt sah Dr. Parker sie an, dann richtete er seinen Blick wieder auf Manfred.

»Was soll das?« wollte er wissen.

»Ich lasse mich von dir nicht aushalten!« erklärte Manfred, und der junge Arzt hörte die mühsam unterdrückte Wut aus seiner Stimme heraus.

Dr. Parker schüttelte den Kopf, dann steckte er die Geldscheine in Manfreds Jackentasche.

»So, und jetzt komm herein, dann sprechen wir über den Unsinn, den du da gerade erzählt hast.«

»Es ist kein Unsinn!« begehrte Manfred auf. »Du zahlst mir die Mitgliedschaft im Verein, und das will ich nicht mehr!«

In diesem Moment dämmerte es Dr. Parker. Offensichtlich hatte Manfred gehört, wie Martina vor Wochen eine diesbezügliche Bemerkung gemacht hatte.

»Hör zu, mein Junge, du kannst dir die Mitgliedschaft nicht leisten, aber…«

»Dann kündige ich sie eben!« fiel Manfred ihm unwirsch ins Wort.

»Nein, das wirst du nicht!« entgegnete Dr. Parker. »Es geht dabei gar nicht um Karate. Das könnte ich dir auch privat beibringen. Es geht darum, daß du auch mal unter junge Leute kommst. Meine Güte, Manfred, du bist einundzwanzig! In diesem Alter gehen andere zum Tanzen und…«

»Dazu habe ich weder Zeit noch Geld«, erwiderte Manfred, und aus seiner Stimme klang dabei offene Bitterkeit.

»Das weiß ich«, erklärte Dr. Parker ruhig und legte eine Hand auf Manfreds Schulter, was der junge Mann mit sichtlichem Widerwillen geschehen ließ. »Was ist los, Junge? Ich denke, wir sind Freunde? Und Freunde helfen einander.«

Manfred ließ den Kopf hängen. Seine Wut war plötzlich wie weggeblasen.

»Soweit ich es überblicken kann, hilfst immer nur du mir«, entgegnete er, und wieder war die Bitterkeit unschwer aus seiner Stimme herauszuhören.

»So etwas kann sich schnell ändern«, behauptete Dr. Parker. »Außerdem hat es dich bis jetzt auch nicht gestört… jedenfalls nicht so sehr, daß du einen derartigen Aufstand gemacht hättest wie gerade eben.« Er schwieg kurz. »Dir kann es doch egal sein, was andere denken – auch wenn es eine junge Dame namens Martina ist.«

Unwirsch schüttelte Manfred den Kopf. »Mit Martina hat das alles nichts zu tun!«

»Das glaube ich nicht. Du liebst sie doch.«

Der junge Mann winkte ab. »Sie ist mir völlig egal!«

»Seit wann?«

Manfred antwortete nicht. Mit einem Ruck drehte er sich um, verließ Dr. Parkers Wohnung und warf die Tür hinter sich zu. Der junge Arzt seufzte.

»Verflixte Liebe«, murmelte er, dann verließ er seine Wohnung ebenfalls, doch als er auf die Straße trat, war von Manfred weit und breit nichts mehr zu sehen. Dr. Parker seufzte noch einmal. »Wenn ich ihm doch nur helfen könnte.« Er wußte allerdings genau, daß er in diesem Punkt machtlos war. Liebe ließ sich nun mal nicht erzwingen.

*

»Du hast dich ja ganz schön rausgemacht«, stellte Jan Heintze fest, als Martina in ihrem Karateanzug den Trainingsraum betrat. Sie errötete vor Freude über dieses Kompliment.

Jetzt legte er einen Arm um ihre Taille. Ein überhebliches Lä-cheln lag dabei auf seinem Gesicht.

»Da ist seit gestern wieder solo bin, könnten wir zwei doch mal einen Versuch wagen, was?«

Martinas Herz klopfte rasend schnell.

»Natürlich, Jan«, stammelte sie, und ihr Gesicht strahlte dabei vor Glück. Sie hatte es wirklich geschafft!

Jan preßte sie an sich, bog mit einer Hand ihren Kopf ein wenig zurück und küßte sie. Es war genau das, wonach sich Martina immer gesehnt hatte. Trotzdem wollte sich das Gefühl süßer Liebe irgendwie nicht einstellen. Sie empfand Jans Kuß als zu hart… zu wenig zärtlich… Er war routiniert und lieblos.

»Na, da mußt du wohl noch ein bißchen üben«, meinte er, als er sie losließ. »Deine Küsse sind ja nicht gerade berühmt.« Er lächelte mitleidig. »Ich schätze, es war dein erster.«

Martina fühlte eine eisige Kälte in sich.

Wieder zog Jan sie an sich und küßte sie, doch die Leere und Kälte in Martina wollte noch immer nicht weichen. Ihr Herz war wie verschlossen, und sie fühlte instinktiv, daß Jan nicht den Schlüssel besaß, um es zu öffnen. Trotzdem hielt sie an ihrer Liebe zu ihm fest. Sie wollte ihn lieben, um den einzigen Traum nicht zu verlieren, den sie jemals gehabt hatte.

»Na, ihr zwei Turteltauben, könnt ihr euch für ein Weilchen trennen?« fragte einer der beiden Trainer lächelnd. »Ich denke doch, ihr seid hier, um Karate zu üben.«

Mit dem ihm eigenen überheblichen Lächeln sah Jan ihn an. »Wo ist denn der Angeber Parker?«

Der Blick des Trainers verschloß sich. »Jeff ist alles andere als ein Angeber. Er ist ein erstklassiger Karateka, und du solltest dich bemühen, von ihm zu lernen.«

Jan zuckte die Schultern. »Ich denke nicht, daß ich es nötig habe, von dem was zu lernen.« Er lächelte Martina an. »Bin ich nicht schon perfekt, Schätzchen?«

»Im Küssen vielleicht«, meinte der Trainer, bevor Martina zu einer Antwort ansetzen konnte, dann lächelte er wieder. »Heute läuft der Abend übrigens ein bißchen anders ab als sonst. Ich hatte gestern Geburtstag, und meine Frau hat sich die Mühe gemacht, für uns alle Kuchen zu backen. Wir werden mit dem Training eine halbe Stunde früher aufhören und uns dann mit den süßen Köstlichkeiten verwöhnen.«

»Klingt verlockend«, urteilte Martina. Die Heißhungerattakken waren in den vergangenen Wochen noch stärker geworden, und immer öfter sehnte sich das junge Mädchen nach etwas Süßem. Es kam nicht selten vor, daß sie sich mit ein paar Schachteln Pralinen in ihrem Zimmer einsperrte, alles wahllos in sich hineinstopfte und nachher wie üblich zur Toilette ging. Doch die Befriedigung darüber war längst gewichen. Jedesmal, wenn sie von einer solchen Heißhunger-attacke überfallen wurde, hätte sie weinen können, und wenn sie allein war, tat sie es auch.

Das Karate-Training lief an diesem Abend an Martina völlig vorbei. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an die Kuchen, die der Trainer versprochen hatte. Dann war es endlich soweit, und als Martina vor dem liebevoll aufgebauten Kuchen- und Tortenbuffet stand, hatte sie Mühe, nicht gleich alles wahllos in sich hineinzustopfen. Sie versuchte, den verführerischen Duft zu ignorieren, und nahm sich ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte, außerdem einen Bienenstich und ein Stück Apfelkuchen mit viel Sahne.

Manfred, der sie beobachtete, fragte sich, wie sie bei den Mengen, die sie offensichtlich noch immer verdrücken konnte, so viel abgenommen hatte. Martinas Disziplin, mit der sie das geschafft hatte, imponierte ihm zwar, dennoch hatte sie ihm im Grunde weit besser gefallen, als sie noch etwas pummeliger gewesen war.

»Meine Güte, willst du das alles essen?« fragte Jan entsetzt, als sich Martina mit ihrem vollen Teller neben ihn setzte.

Sie errötete, dann nickte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Nach der langen Diät kann ich wohl ruhig mal ein bißchen sündigen. Es darf nur nicht zur Gewohnheit werden.«

»Das hoffe ich. Ich will schließlich keine Tonne zur Freundin.«

Die lieblosen Worte gaben Martina einen Stich, doch dann erstickte sie ihren Kummer über Jans mangelnde Liebe und ihre eigene Unzufriedenheit in Unmengen von Kuchen.

»Menschenskind, Tina, dir muß doch schlecht davon werden«, befürchtete Jan, als sich Martina einen zweiten Teller voll Kuchen und Torten vom Buffet geholt hatte.

Sie fühlte sich jetzt ein wenig besser und brachte es sogar fertig, glücklich zu strahlen. »Ach was, so schnell wird mir schon nicht schlecht.« Dann begann sie erneut mit Heißhunger zu essen.

Fassungslos sahen die anderen ihr zu. Die meisten hatten schon nach dem ersten oder zweiten Stück kapituliert, doch Martina verspeiste scheinbar mühelos die reinsten Kuchenberge – Sahnetorten, Obstkuchen, gefüllte Schnittchen… alles durcheinander und in solchen Mengen, daß den anderen allein vom Zusehen übel wurde.

Der einzige, der Martinas übermäßigen Appetit nicht mit Abscheu, sondern echter Besorgnis verfolgte, war Dr. Parker. Er war es auch, der Martina schließlich zu den Toiletten folgte. Sie hatte behauptet, sich nur mal schnell die Nase pudern zu müssen, doch Dr. Parker konnte die nach draußen dringenden Geräusche unschwer zuordnen. Er lehnte sich gegen die Wand und wartete, bis Martina die Damentoilette wieder verließ.

»Es wundert mich nicht, daß dir nach diesen Unmengen von Kuchen und Torten übel geworden ist«, erklärte er.

Erschrocken zuckte Martina zusammen, dann schüttelte sie den Kopf. »Mir war nicht übel.« Im selben Moment erkannte sie den Fehler, den sie gerade gemacht hatte. »Na ja, ein bißchen schon. Ich hatte wohl doch zuviel gegessen.« Sie lächelte bedauernd und zuckte die Schultern. »Ich mußte ziemlich lange auf Süßes verzichten. Da kannte ich heute wohl kein Maß mehr.«

Dr. Parker glaubte ihr kein Wort.

»Wie oft machst du das?« wollte er wissen.

Unwillkürlich begann Martina zu frösteln. »Was?«

»Essen und danach auf die Toilette gehen?«

Martina erschrak zutiefst.

»Ich mache das überhaupt nicht«, entgegnete sie und hoffte, daß ihre Stimme sicher genug klingen würde. »Mir war nach der vielen Sahne nur übel. Das ist doch eine ganz normale Reaktion des Körpers. Sie als Arzt sollten das ja eigentlich besser wissen.«

»Eben«, meinte Dr. Parker. »Ich weiß es auch besser.«

Martina begriff, was er meinte. Mit einem Ruck drehte sie sich um und wollte zu den anderen zurückkehren, doch Dr. Parker hielt sie fest.

»Laß es bleiben, Martina«, riet er ihr. »Du machst dich auf diese Weise nur kaputt.«

Wütend riß sich das junge Mädchen los. »Lassen Sie mich in Ruhe!« Dann lief sie zu den anderen. An der Tür geriet sie ein wenig ins Taumeln. Sie hielt sich am Rahmen fest, bis der leichte Schwindelanfall vorüber war, dann trat sie ein und setzte sich wieder auf ihren Platz. Sie fühlte schon wieder das aufsteigende Hungergefühl. Am liebsten hätte sie sich jetzt ein Stück Torte geholt, doch sie unterließ es vorsichtshalber wegen Dr. Parker. Als Jan sich verabschiedete und Martina besitzergreifend bei der Hand nahm, war sie fast froh darüber, obwohl sie unter seiner kühlen, lieblosen Art litt. Im Moment war ihr nur eines wichtig: Sie mußte weg von hier und durfte sich so schnell nicht wieder blicken lassen. Zunächst mußte sie diese Heißhungerat-tacken in den Griff bekommen. Sie durfte nicht noch einmal die Kontrolle über sich verlieren.

*

Es gelang Dr. Parker an diesem Abend nicht, das Erlebnis mit Martina zu vergessen. So blieb er auf dem Nachhauseweg vor der Villa von Dr. Daniel stehen. Er warf einen Blick auf die Uhr und zögerte. Es war bereits kurz nach elf. Jeff war nicht sicher, ob er um diese Zeit noch bei Dr. Daniel klingeln könnte. Andererseits ging ihm die junge Martina nicht aus dem Kopf, und schließlich war seine Sorge um das Mädchen größer als seine Bedenken.

Dr. Daniel bemerkte sofort den sorgenvollen Ausdruck auf dem Gesicht seines Kollegen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie so spät noch störe, Robert«, entschuldigte sich Dr. Parker. »Ich muß dringend mit Ihnen sprechen.«

»Ich habe noch nicht geschlafen«, entgegnete Dr. Daniel lächelnd, während er den jungen Arzt eintreten ließ.

Auf seine stumme Aufforderung nahm Dr. Parker Platz, dann kam er gleich zur Sache. »Es geht um ein junges Mädchen, und ich bin ziemlich sicher, daß sie zu Ihrem Patientenkreis gehört. Martina Greiff.«

»Sie haben recht, Jeff«, nickte Dr. Daniel. »Allerdings verbietet mir die Schweigepflicht, mit Ihnen über Martina zu sprechen.«

»Das weiß ich. Sie sollen mir auch gar nichts sagen. Vielmehr will ich Ihnen etwas erzählen, und das darf ich in diesem Fall, weil ich nicht als Arzt hier bin, sondern gewissermaßen als Karate-Trainer. Ich beobachtete Martina schon seit ein paar Wochen. Sie hat in rasender Geschwindigkeit abgenommen. Zuerst dachte ich, sie hätte sich für eine dieser Blitzdiäten entschieden, und da ich weiß, daß ein so rascher Gewichtsverlust gerade bei sehr jungen Mädchen zu Kreislaufproblemen führen kann, behielt ich sie ein wenig im Auge. Heute habe ich nun eine sehr erschreckende Entdeckung gemacht.« Er erzählte, was während der Geburtstagsfeier geschehen war. »Zuerst hat sie geleugnet, daß sie sich übergeben hätte, dann erklärte sie, ihr Magen hätte gegen die viele Sahne rebelliert.«

»Was nicht einmal auszu-schließen ist«, meinte Dr. Daniel.

»Richtig«, räumte Dr. Parker ein. »Deshalb spreche ich ja auch mit Ihnen. Es ist durchaus möglich, daß sie nach der Diät einfach ausgehungert nach Süßigkeiten war, aber Sie wissen genausogut wie ich, zu welchen Heißhungerattacken es führt, wenn Martina diesen Gang zur Toilette regelmäßig praktizieren sollte.«

Dr. Daniel erwiderte nicht gleich etwas auf Dr. Parkers Worte. Vielmehr dachte er noch einmal über das Gespräch nach, das er selbst vor knapp zwei Wochen mit Martina geführt hatte. Angesichts Dr. Parkers heutiger Feststellung erschien Martinas Bitte um die Drei-Monats-Spritze nämlich in einem völlig anderen Licht.

»Sie haben recht, Jeff«, erklärte Dr. Daniel endlich. »Wir sollten Martina im Auge behalten.« Er überlegte einen Moment. »Vielleicht ist es sogar noch besser, wenn ich mal mit ihrer Oma spreche. Möglicherweise ist ihr an ihrer Enkelin eine Veränderung aufgefallen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann werde ich Martina unter einem Vorwand zu mir bitten«, beschloß Dr. Daniel kurzerhand.

Dr. Parker nickte, dann stand er seufzend auf. »Hoffentlich irre ich mich.« Er schüttelte den Kopf. »Aber die Art, wie sie Kuchen und Torten wahllos und in entsetzlichen Mengen in sich hineingefuttert hat…«

»Ich bin froh, daß Sie mit mir darüber gesprochen haben.« Dr. Daniel erhob sich ebenfalls. »Ich denke, es wird unter uns bleiben, wenn ich Ihnen anvertraute, daß ich bei Martinas letztem Besuch hier in der Praxis bereits ein ungutes Gefühl hatte. Sie machte ein paar Äußerungen, die mich irritierten, allerdings gab es für mich keinen Grund, gleich an so etwas zu denken.« Auch er seufzte. »Mal sehen, was ich von Martinas Oma erfahren werde.«

*

Rosalinde Greiff war erst Mitte Fünfzig, doch der Kummer um den frühen Tod ihres Mannes und die Sorge um ihre Tochter, die nicht nur ein uneheliches Kind bei ihr zurückgelassen hatte, sondern darüber hinaus auch noch seit Jahren im Ausland lebte und höchstens mal zu Weihnachten etwas von sich hören ließ, hatten sie gebeugt, so daß sie aussah wie eine sehr alte Frau. Als Dr. Daniel das von tiefem Gram zerfurchte Gesicht sah, wäre er in seinem Entschluß beinahe wankend geworden. Konnte er dieser Frau ein erneutes Leid zumuten? Doch es gab kein Zurück – er mußte mit Rosalinde über Martina sprechen. Wenn Dr. Parker mit seinem Verdacht recht hatte, dann mußte Martina schnellstens geholfen werden, bevor sie womöglich in Lebensgefahr geriet.

»Es tut mir leid, daß ich Sie um die Mittagszeit zu Hause überfalle«, meinte Dr. Daniel, »aber ich muß dringend mit Ihnen sprechen… und das möglichst, bevor Ihre Enkelin aus der Schule kommt.«

Rosalinde erschrak sichtlich. »Ist mit Martina etwas nicht in Ordnung?«

»Genau das möchte ich herausfinden, Frau Greiff«, entgegnete Dr. Daniel. »Ist Ihnen an Ihrer Enkelin in letzter Zeit eine Veränderung aufgefallen?«

»Sie hat ganz schrecklich abgenommen«, antwortete Rosalinde sofort, dann zuckte sie die Schultern. »Aber ich glaube, das wollte sie ja auch. Sie scheint von den anderen Mädchen ihres Alters oft gehänselt worden zu sein.«

Dr. Daniel nickte. »Wissen Sie, mit welcher Art von Diät Ihre Enkelin abgenommen hat?«

Rosalinde schüttelte den Kopf. »Eine Weile hat sie ja kaum noch gegessen, aber jetzt… manchmal ißt sie so entsetzlich viel, daß ich denke, ihr müßte übel davon werden.« Sie überlegte einen Moment. »Sie ist auch nicht mehr so ausgeglichen wie früher. Oft wird sie von einer Minute zur anderen richtig zornig und aggressiv.«

Rosalindes Worte bestätigten Dr. Daniels Verdacht.

»Frau Greiff, ich fürchte, Ihre Enkelin hat ein ganz schwerwiegendes Problem«, begann er so vorsichtig wie möglich. Er wollte dieser vom Schicksal ohnehin schon so gebeutelten Frau nicht noch mehr Kummer bereiten als unbedingt nötig, andererseits war es gerade in diesem Fall wichtig, daß sie Bescheid wußte. »Ihre Enkelin ist krank… man könnte beinahe sagen, süchtig. Zuerst wollte sie vermutlich einfach nur ein paar Pfund abnehmen, um so zu sein wie die anderen Mädchen ihres Alters. Doch jetzt scheint ihr die Situation völlig entglitten zu sein. Der Gedanke ans Abnehmen ist bei ihr offensichtlich zu einer Zwangsvorstellung geworden.«

Rosalinde schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein, Herr Doktor. Das Kind ißt doch.«

Dr. Daniel nickte. »Ja, Frau Greiff, sie ißt, aber danach geht sie auf die Toilette und erbricht alles – absichtlich.«

Rosalinde erbleichte.

»Nein!« rief sie verzweifelt. »Das glaube ich nicht! So etwas würde Martina niemals tun! Sie ißt doch so gern!«

»Frau Greiff, Ihre Enkelin muß dringend in ärztliche Behandlung«, erklärte Dr. Daniel und bemühte sich dabei um einen besonders beruhigenden Ton, doch Rosalinde war zu aufgeregt, um es überhaupt wahrzunehmen. Rasch stand Dr. Daniel auf, ging um den Wohnzimmertisch herum und griff nach Rosalindes Hand. »Sie macht es erst seit ein paar Wochen. In einer speziellen Klinik hat sie gute Chancen, wieder gesund zu werden.«

Noch immer lag tiefste Verzweiflung in Rosalindes Augen. Sie wollte nicht glauben, was Dr. Daniel da sagte, dabei wußte sie doch, daß es die Wahrheit war. Noch nie hatte sich Martina so oft in der Toilette eingeschlossen, wie in den vergangenen Wochen… meistens nach dem Essen.

In einer speziellen Klinik…

Rosalinde legte eine Hand vor die Augen und schluchzte auf. »Gibt es denn wirklich keine andere Möglichkeit?«

»Nein, Frau Greiff, leider nicht. Martina muß behandelt werden und zwar so schnell wie möglich. Je mehr Zeit vergeht, um so schwieriger wird es, und um so geringer sind auch die Erfolgsaussichten.«

Rosalinde nickte, dann sah sie Dr. Daniel ratlos an. »Wie soll ich mich Martina gegenüber denn jetzt nur verhalten? Ich kann doch nicht einfach so tun, als wüßte ich von nichts.«

»Nein, Frau Greiff, das sollen Sie auch gar nicht«, entgegnete Dr. Daniel. »Wenn Sie nichts dagegen haben, dann würde ich gerne hierbleiben, bis Ihre Enkelin aus der Schule kommt. Wir könnten dann gemeinsam mit ihr sprechen und sie von der Notwendigkeit einer Therapie überzeugen. Das wäre nämlich in jedem Fall besser, als wenn man sie dazu zwingen würde, was aufgrund ihres Alters ja immerhin möglich wäre.«

Verzweifelt vergrub Rosalinde das Gesicht in den Händen. »Das ist alles so schrecklich! O mein Gott…«

Impulsiv legte Dr. Daniel einen Arm um die bebenden Schultern der Frau, dabei spürte er, daß es für Rosalinde im Moment keinen Trost geben konnte.

»Ich bitte Sie nur um eines, Frau Greiff«, fuhr er behutsam fort. »Wenn Martina nach Hause kommt, dann lassen Sie sie erst hier hereingehen. Wir müssen das Gespräch möglichst gefühlsam beginnen. Wenn Ihrer Enkelin nämlich erst bewußt wird, daß sie einer gezielten Behandlung zugeführt werden soll, dann ist mit einer Kurzschlußhandlung zu rechnen. In einem solchen Fall habe ich sie daher lieber in greifbarer Nähe.«

Rosalinde nickte unter Tränen. »Ich werde tun, was Sie für richtig halten, Herr Doktor.«

*

Mit langsamen, schleppenden Schritten ging Martina nach Hause. Der Unterricht war heute sehr beschwerlich gewesen. Sie hatte sich kaum konzentrieren können, und nur der Gedanke, daß es ihr letztes Schuljahr war, gab ihr ein wenig Mut.

Als Martina das Gartentor öffnete, sah sie Dr. Daniels Auto neben dem niedrigen Jägerzaun stehen, doch sie maß dem nicht weitere Bedeutung bei. Sie schloß die Haustür auf und betrat den Flur.

»Oma?« rief sie, obwohl es ihr im Grunde gleichgültig war, ob die Großmutter zu Hause sein würde oder nicht. Seit sie nicht mehr aß, war ihr so ziemlich alles gleichgültig geworden – mittlerweile sogar Jan. Er liebte sie ohnehin nicht, auch wenn sie sich ständig etwas anderes einzureden versuchte. Ebensowenig wollte sie sich eingestehen, daß ihr Herz in Jans Gegenwart längst nicht mehr so heftig klopfte. Manchmal hatte sie sogar den Eindruck, sie wäre zu gar keiner Liebe mehr fähig. Ihr Herz schlug zwar noch, aber es war kein Gefühl darin. Es wirkte wie ein verschlossenes Tor, für das niemand einen Schlüssel besaß. Ihr ganzes Fühlen und Sehnen lag nur noch in ihrem Magen… einem ewig hungrigen Magen, dessen Forderungen sie nicht erfüllen durfte, weil sie noch immer zu dick war. Sie mußte unbedingt abnehmen.

Allein dieser Gedanke weckte schon wieder ihren Heißhunger… und das schlechte Gewissen. Sie war schwach. Sie schaffte es nicht, ihrem Körper die Nahrung zu entziehen. Er verlangte immer mehr, und wenn sie sich ihrer Schwäche hingab, wurde alles noch viel schlimmer. Dann mußte sie auf die Toilette…

Jetzt stürzte ihre Großmutter auf den Flur. Martina bemerkte ihr entsetzlich blasses Gesicht, doch sie hatte das Interesse an ihren Mitmenschen längst verloren. In ihrem Kopf drehte sich alles ums Essen und Abnehmen.

»Sag dem Doktor, daß es nicht wahr ist!« stieß Rosalinde Greiff hervor. »Komm, Martina, du mußt sagen, daß du gesund bist.«

Das junge Mädchen erschrak zutiefst. Und dann stand Dr. Daniel plötzlich im Türrahmen.

Er weiß alles, durchzuckte es Martina. In diesem Augenblick gab es in ihrem Kopf nur noch einen Gedanken: Flucht!

Sie fuhr herum, riß die Tür auf und rannte hinaus.

»Martina! Bleib hier!« hörte sie Dr. Daniels Stimme, doch sie konnte nicht aufhören zu laufen. Vor ihren Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen, ihre Beine wurden bleischwer, sie lief wie auf Watte. Dann fühlte sie den Schmerz, als sie gegen etwas Hartes stieß, doch sie lief einfach weiter. Ihre Beine brannten, und um sie herum war alles dunkel, aber sie lief immer weiter, bis sich ihre Beine nicht mehr bewegten und sie in ein tiefes,

dunkles Loch stürzte.

*

»Oh, mein Gott«, stöhnte Rosalinde Greiff, als sie sah, wie ihre Enkelin zu Boden stürzte, sich auf dem harten Asphalt wälzte und mit Armen und Beinen um sich schlug. Dann erlahmten ihre Bewegungen, und sie lag plötzlich ganz still da.

In diesem Moment erreichte Dr. Daniel das junge Mädchen und nahm es kurzerhand auf die Arme, um es zum Haus zurückzutragen. Es war leider alles völlig anders gelaufen als geplant. Rosalinde Greiff hatte ihm fest versprochen, zu warten, bis Martina das Wohnzimmer betreten würde, doch dann war sie plötzlich doch aufgesprungen und nach draußen gelaufen. Für Dr. Daniel hatte es keine Chance gegeben, sie zurückzuhalten, ebensowenig wie er Martina noch rechtzeitig hatte erreichen können. Trotzdem machte er sich den Vorwurf, daß er mit dieser Entwicklung der Dinge eigentlich hätte rechnen müssen.

Inzwischen hatte er das Haus wieder erreicht und Martina auf dem Boden vorsichtig in eine stabile Seitenlage gebracht. Mit Hilfe einiger Kissen lagerte er jetzt ihre aufgeschürften, blutenden Beine hoch.

»Rufen Sie in der Waldsee-Klinik an«, bat er Rosalinde Greiff, doch sie schien zu keiner Bewegung fähig zu sein. Völlig verstört starrte sie ihre bewußtlose Enkelin an.

Dr. Daniel mußte selbst zum Telefon eilen. Es wurde ein kurzes Gespräch, und kaum zwei Minuten später stand der angeforderte Krankenwagen auch schon vor der Tür. Die Sanitäter schoben die Trage mit Martina gerade hinein, als das junge Mädchen aufwachte. Im nächsten Moment begann sie zu strampeln und zu schreien.

»Ruhig, Martina, ganz ruhig«, versuchte Dr. Daniel das aufgeregte Mädchen zu besänftigen. »Du hattest einen Kreislaufzusammenbruch, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.«

»Nein! Nein!« schrie Martina und versuchte, von der Trage herunterzukommen, doch das ging nicht, weil sie angeschnallt war. »Ich will hier raus! Ich will sofort raus!«

»Beruhige dich, Martina«, bat Dr. Daniel noch einmal, doch nicht einmal seine tiefe, warme Stimme zeigte Erfolg. Mit beiden Händen umfaßte er das Gesicht des Mädchens und hielt es auf diese Weise ruhig. »Du hast dich verletzt. Deine Wunden müssen versorgt werden, und dann müssen wir versuchen, deinen Kreislauf zu stabilisieren. Das ist alles. Also bitte, Kind, beruhige dich.«

Doch Martina befand sich in einem Stadium, in dem sie Argumenten bereits nicht mehr zugänglich war.

»Sie wollen mich mit Essen vollstopfen!« schrie sie hysterisch. »Sie wollen, daß ich wieder dick werde!«

Dr. Daniel sah ein, daß hier mit Reden nichts zu machen war. Gewissenhaft zog er eine Spritze auf und injizierte sie rasch und geschickt. Das Beruhigungsmittel wirkte schnell und ließ Martinas Widerstand erlahmen.

In diesem Moment hielt der Krankenwagen mit einem Ruck an, die Türen wurden aufgerissen, dann holten die Sanitäter die fahrbare Trage heraus und brachten Martina in die Notaufnahme. Hier wartete bereits der Chefarzt Dr. Wolfgang Metzler.

»Robert, was ist denn da passiert?« fragte er. »Verkehrsunfall?«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Sie hatte einen Kreislaufzusammenbruch.« Er sah Dr. Metzler ernst an. »Ich fürchte, daß sie magersüchtig ist, möglicherweise handelt es sich auch um Bulimie.«

»Das werden wir gleich feststellen«, meinte Dr. Metzler, dann beugte er sich über Martina. Sie sah ihn an, schien aber nicht wahrzunehmen, was um sie herum vorging.

»Ich mußte sie ruhigstellen.«

Dr. Metzler nickte, dann griff er nach dem Metallspatel.

»Mach mal deinen Mund auf, Mädchen«, bat er, doch Martina reagierte gar nicht. Vorsichtig schob Dr. Metzler den Spatel zwischen die leicht geöffneten Lippen und drückte die Zunge ein wenig nach unten. Martina mußte würgen und öffnete dabei den Mund so weit, daß Dr. Metzler einen guten Einblick bekam.

»Meine Güte«, murmelte er, dann richtete er sich auf und sah Dr. Daniel an. »Der Rachen ist stark entzündet, und die Backenzähne sind bereits angegriffen. Sie muß sich in den vergangenen Wochen sehr oft übergeben haben.«

»Mit Sicherheit«, stimmte Dr. Daniel zu, überlegte kurz und meinte dann: »Es wird wohl am besten sein, wenn du erst mal versuchst, den Kreislauf zu stabilisieren. Ich hole in der Zwischenzeit von Frau Greiff die Einwilligung zur künstlichen Ernährung.«

Dr. Metzler nickte. »Die ist auch dringend nötig.« Er betrachtete das abgemagerte Mädchen. »Was geht in einem solchen Kind nur vor?«

»Sie ist wegen ihrer Körperfülle immer gehänselt worden, kein Junge hat sich für sie interessiert, und Diäten hat sie nicht durchgehalten.« Sanft streichelte Dr. Daniel über Martinas Haare, die merklich dünner geworden waren und allen Glanz verloren hatten. »Ich hielt sie eigentlich für sehr gefestigt, dabei muß sie in Wirklichkeit schrecklich unsicher, vielleicht sogar labil sein… und sehr, sehr unglücklich.«

*

Rosalinde Greiff war im Krankenwagen mitgekommen. Entsetzt und verstört hatte sie zugeschaut, wie sich Dr. Daniel und ein anderer Arzt um ihre Enkelin bemüht hatten. Noch immer konnte sie nicht begreifen, was da vor wenigen Minuten eigentlich passiert war. Martinas Flucht, ihr Taumeln, und dann der Sturz auf die Straße…

»Kommen Sie, Frau Greiff.«

Die sanfte, weibliche Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Eine junge Krankenschwester lächelte sie freundlich an und begleitete sie fürsorglich in einen kleinen, fast gemütlich wirkenden Warteraum.

»Ich bin Schwester Alexan-dra«, stellte sie sich vor. »Ich werde bei Ihnen bleiben, bis Dr. Daniel Zeit hat, sich um Sie zu kümmern.«

Rosalinde konnte nur nicken. In ihrem Kopf herrschte noch immer ein heilloses Durcheinander.

»Martina…«, stammelte sie schließlich leise.

Impulsiv streichelte Schwester Alexandra über ihre Hand.

»Dr. Daniel und Dr. Metzler können ihr bestimmt helfen«, meinte sie. »Ihre Enkelin ist hier in den besten Händen.«

Wieder nickte Rosalinde.

In diesem Moment trat Dr. Daniel in den Warteraum, und Schwester Alexandra zog sich diskret zurück.

»Herr Doktor, was war das?« fragte Rosalinde leise. »Warum war Martina so… so…« Sie konnte nicht weitersprechen, weil sie wieder dieses entsetzliche Bild vor sich sah, als sich ihre Enkelin hilflos am Boden gewälzt hatte.

Dr. Daniel setzte sich neben sie und griff nach ihrer Hand, um ihr ein wenig Trost und Halt zu geben.

»Martina ist sehr krank«, erklärte er. »Haben Sie schon einmal etwas von Magersucht gehört?«

Rosalinde schüttelte den Kopf, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Doch… ich glaube schon.« Ihre von Kummer und Sorge umschatteten Augen richteten sich auf Dr. Daniel. »Können Sie meine Martina wieder gesund machen?«

»Ich selbst wahrscheinlich nicht, aber durch eine gezielte Therapie kann Martina sicher geholfen werden«, antwortete Dr. Daniel und verschwieg geflissentlich, wie hoch die Rückfallquote gerade bei Magersucht und Bulimie war. »Allerdings steht die Therapie für mich im Moment erst an zweiter Stelle. Durch den permanenten Nahrungsentzug hat Ihre Enkelin schwere Mangel-erscheinungen, die wieder ausgeglichen werden müssen. Auch ihr labiler Kreislauf muß wieder stabilisiert werden. Freiwillig wird Martina zum jetzigen Zeitpunkt keine Nahrung zu sich nehmen, und um sie künstlich zu ernähren, brauchen wir Ihre Einwilligung. Martina ist erst sechzehn, somit können wir die Entscheidung treffen.«

Rosalinde nickte zwar, doch sie sah Dr. Daniel dabei sehr ängstlich an. »Diese Ernährung… wird ihr das weh tun?«

»Nein, Frau Greiff, natürlich nicht«, antwortete Dr. Daniel beruhigend. »Martina wird vorerst nur Infusionen bekommen. Wir hoffen, daß wir sie in den kommenden Tagen dazu bringen können, wenigstens kleine Portionen zu essen. Wenn sie sich allerdings auch weiterhin sträubt, etwas zu sich zu nehmen, wird die Ernährung über eine Magensonde nicht zu umgehen sein. Aus Rücksicht auf ihren Magen-Darm-Trakt müssen wir beizeiten wieder auf eine möglichst natürlich Nahrungszufuhr umsteigen. Die Ernährung über die Sonde ist zwar nicht ganz angenehm, aber schmerzhaft ist sie auch nicht.«

Rosalinde zögerte, dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. »Tun Sie, was Sie tun müssen, Herr Doktor. Ich vertraue Ihnen und weiß, daß Sie für meine Enkelin nur das Beste wollen.« Mit erstaunlicher Kraft griff sie plötzlich nach seinen Händen. »Machen Sie meine Kleine bitte wieder gesund.«

*

Martina war auf die Intensivstation gebracht worden. Das Beruhigungsmittel, das Dr. Daniel ihr im Krankenwagen gespritzt hatte, wirkte noch, und so ließ sie es ohne weiteren Widerstand geschehen, daß Dr. Metzler ihr eine Infusion legte. Teilnahmslos blickte sie auf die kleine Flasche mit der milchig-weißen Flüssigkeit, dann fielen ihr die Augen zu.

Besorgt betrachtete Dr. Metzler das junge Mädchen.

»Ich vermute, wenn das Beruhigungsmittel nicht mehr wirkt, wird sie fürchterlich Radau schlagen«, meinte er.

Dr. Daniel, der auf der anderen Seite des Bettes stand, nickte. »Es wird nicht ganz einfach werden, sie davon zu überzeugen, daß sie von der Nährlösung nicht zunehmen kann.« Er seufzte. »Sobald ihr körperlicher Zustand wieder stabil ist, müssen wir sie in eine spezielle Klinik überweisen. Nur dort kann man ihr wirklich helfen.«

»Das dachte ich zuerst auch, aber je länger ich darüber nachdenke…« Dr. Metzler schwieg kurz. »Sie ist noch so jung. Vielleicht wäre es für sie zumindest in der ersten Zeit wichtiger, eine vertraute Bezugsperson zu haben.«

Trotz des Ernstes der Lage mußte Dr. Daniel ein wenig schmunzeln. »Das sagst ausgerechnet du? Normalerweise bist du doch immer derjenige, der in solchen Fällen eine psychiatrische Behandlung befürwortet.«

»Ich sage ja nicht, daß sie keine Therapie brauchen würde – ganz im Gegenteil. Ich meine nur…« Er zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr: »Eine Therapie bringt nur dann etwas, wenn sie mitarbeitet. Weißt du, Robert, du verfügst genau über den richtigen Ton. Ich glaube, dir könnte es gelingen, die Kleine von der Notwendigkeit einer Therapie zu überzeugen, und dann würde sie auch etwas bringen.«

»Genau das hatte ich auch vor«, erklärte Dr. Daniel schlicht.

Fassungslos sah Dr. Metzler ihn an. »Wie bitte?« Er schüttelte den Kopf. »Da läßt du mich diesen ganzen Vortrag halten, dabei war es für dich sowieso schon eine beschlossene Sache.«

»Das stimmt, aber es freut mich, daß du inzwischen etwas ganz Wichtiges hinzugelernt hast, Wolfgang. Es genügt nicht, einen Patienten zu behandeln. Man muß sich auch in ihn hineinversetzen, um zu erkennen, was gut und richtig für ihn ist. Diesen Punkt hast du über deinem herausragenden medizinischen Wissen manchmal übersehen.«

Dr. Metzler seufzte. »Das war mal wieder eine Kritik Marke Daniel. Herausragendes medizinisches Wissen.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Du weißt genau, wie du mir schmeicheln und mich gleichzeitig heftig kritisieren kannst.«

»Es war weder das eine noch das andere«, erwiderte Dr. Daniel. »Es war einfach nur die Wahrheit.« Freundschaftlich legte er einen Arm um Dr. Metzlers Schultern. »Im übrigen freue ich mich, daß wir uns über Martinas Behandlung einig sind.« Er warf dem schlafenden Mädchen einen Blick zu. »Das Beruhigungsmittel wird sicher noch bis heute abend wirken. Nach der Nachmittagsstunde komme ich wieder her.«

Dr. Metzler nickte. »Schwester Alexandra wird die Kleine nicht aus den Augen lassen, und ich werde auch regelmäßig nach ihr sehen.«

»Wer hat heute Nachtdienst?« wollte Dr. Daniel wissen, während er mit dem Chefarzt die Intensivstation verließ.

»Ich selbst«, antwortete Dr. Metzler.

Dr. Daniel überlegte einen Moment. Im Grunde wäre Martina bei dem Chefarzt in den besten Händen, trotzdem wußte Dr. Daniel schon jetzt, daß er zu Hause doch keine Ruhe finden würde.

»Es wäre zwar nicht nötig, aber ich werde dennoch die Nacht hier verbringen«, beschloß er kurzerhand, dann lächelte er Dr. Metzler an. »Ich weiß, wie intensiv du dich um Martina kümmern würdest, aber ich bin nur dann beruhigt, wenn ich selbst ab und zu nach ihr sehen kann.«

*

Als die Wirkung des Beruhigungsmittels nachließ, registrierte Martina erst wieder so richtig, daß sie im Krankenhaus war. Mit einem Ruck richtete sie sich auf, ignorierte den leichten Schwindel, der sie erfaßte, und blickte sich wie gehetzt um.

»Ganz ruhig, Martina.«

Dr. Daniels sanfte Stimme ließ sie herumfahren. In ihren Augen flackerte es nervös.

»Was tun Sie da mit mir?« wollte sie wissen, und ihre Stimme klang seltsam schrill.

Dr. Daniel setzte sich auf die Bettkante und drückte sie behutsam in die Kissen zurück.

»Du hattest einen Kreislaufzusammenbruch, Martina«, erklärte er sehr ruhig. »Dein Blutdruck lag irgendwo bei neunzig zu fünfzig. Inzwischen ist er einigermaßen stabil, aber noch immer viel zu niedrig, als daß wir dich aufstehen lassen könnten.«

Argwöhnisch sah Martina ihn an, dann glitt ihr Blick zu der Infusionsflasche hinauf. »Ist das das Medikament für den Blutdruck?«

Dr. Daniel zögerte. Martina hatte ihm mit ihrer Frage praktisch eine Antwort in den Mund gelegt, allerdings konnte es eine zweischneidige Sache sein, sie jetzt zu belügen, ganz abgesehen davon, daß Dr. Daniel ohnehin nicht viel davon hielt, Patienten die Unwahrheit zu sagen.

»Nein, Martina, das ist kein Medikament, sondern eine Nährlösung«, antwortete er daher.

Fassungslos starrte sie ihn an.

»Eine… Nährlösung?« wiederholte sie gedehnt, dann fuhr sie hoch und schrie: »Hören Sie sofort auf damit! Ich will nicht wieder dick werden! Ich will nicht…«

Mit festem Griff nahm Dr. Daniel sie bei den Schultern.

»Beruhige dich, Martina«, verlangte er eindringlich. »Du wirst aufgrund dieser Nährlösung nicht zunehmen. Hast du gehört?«

Halsstarrig schüttelte sie den Kopf. »Ihr könnt es nicht ertragen, daß ich jetzt schlank bin. Ihr wollt mich wieder dick machen. Ich soll zunehmen und dann aussehen wie eine Tonne. Aber da mache ich nicht mehr mit! Ich will nicht wieder dick werden! Ich will Jan nicht verlieren!«

»Martina, hör mir zu«, bat Dr. Daniel, doch das junge Mädchen schüttelte noch immer den Kopf und versuchte mit beiden Händen, Dr. Daniel wegzudrücken. Als es ihr nicht gelang, begann sie hysterisch zu schluchzen.

Behutsam legte Dr. Daniel beide Hände um Martinas Gesicht. »Hör zu, mein Kind. Du wirst nicht zunehmen, aber dein Körper braucht ein gewisses Maß an Nährstoffen. Da drin«, er wies auf die Infusionsflasche, »sind keine Kalorien. Das ist keine Sahne und auch keine flüssige Schokolade. Es ist eine Lösung, die alles an Nährstoffen enthält, was dein Körper zum Leben unbedingt braucht. Und diese Nährlösung geht tropfenweise in deinen Blutkreislauf. Verstehst du, Martina: Nichts von dem, was in dieser Flasche ist, gelangt in deinen Magen. Du kannst nicht zunehmen.«

Martina wurde merklich ruhiger. Es schien, als wären Dr. Daniels eindringliche Worte zu ihr vorgedrungen.

»Sind Sie sicher?« fragte sie schließlich.

Dr. Daniel nickte. »Ja, Martina, da bin ich vollkommen sicher.« Er überlegte, ob er das Thema Essen weiterverfolgen sollte. Eigentlich wäre es wichtig, Martina baldmöglichst zu einer normalen Nahrungsaufnahme hinzuführen, doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Im Moment war nur wichtig, daß das junge Mädchen die Infusion akzeptierte. Das würde in den nächsten Tagen genügen, um zumindest ihren Kreislauf wieder zu stabilisieren. Danach konnte man weitersehen.

Einigermaßen entspannt hatte sich Martina zurücksinken lassen, doch ihr ängstlicher Blick glitt in regelmäßige Abständen zu der Infusionsflasche hinüber. Was Dr. Daniel gesagt hatte, war zwar einleuchtend, trotzdem wurde sie die Angst vor einer Gewichtszunahme noch immer nicht los.

Während Dr. Daniel mit ihr sprach, glitten ihre Gedanken ab. Vorsichtig tastete sie mit einer Hand unter der Bettdecke ihren Bauch und ihre Hüften ab und erschrak, als sie etwas Weiches fühlte. Das waren Fettpolster! Sie begann schon wieder zuzunehmen!

»Was ist los, Martina?« wollte Dr. Daniel wissen, der ihr Erschrecken sofort bemerkt hatte.

»Nichts«, behauptete sie. »Ich… ich bin nur müde. Lassen Sie mich bitte allein.«

Dr. Daniel stand auf. »Wie du möchtest.« Prüfend sah er Martina an, doch sie hielt die Augen fest geschlossen. Der Arzt seufzte leise, dann verließ er die Inten-

sivstation. In fünf Minuten würde er wieder nach Martina sehen.

Mit geschlossenen Augen hatte sie gewartet, bis sie Dr. Daniels Schritte gehört hatte, dann blinzelte sie vorsichtig und stellte fest, daß sie allein war. Noch einmal befühlte sie Bauch und Hüften. Kein Zweifel, sie hatte zugenommen… mindestens ein Kilo!

Ihr Blick ging zur Infusionsflasche und wanderte dann am Schlauch entlang nach unten. Die Kanüle steckte in einer Unterarmvene und war mit zwei breiten Pflastern fixiert. Mit einer Hand umfaßte das junge Mädchen die Kanüle und riß sie mit einem Ruck heraus. Es tat weh, und Martina fühlte, wie das Blut über ihren Arm lief, doch das alles erschien ihr nicht so schlimm wie der Gedanke, wieder dick zu werden. Nahezu teilnahmslos sah sie zu, wie das Blut auf die Bettdecke tropfte. Innerhalb kurzer Zeit breitete sich der rote Fleck immer weiter aus.

»Martina! Um Himmels willen!« stieß Dr. Daniel hervor. Er hatte höchstens zwei Minuten verstreichen lassen, ehe er zu seiner Patientin zurückgekehrt war, doch diese Zeit hatte bereits gereicht, um sie zu einer Riesendummheit zu veranlassen.

Dr. Daniel klingelte nach der Nachtschwester, die auf den ersten Blick sah, was passiert war. Es dauerte nur Sekunden, bis sie mit dem nötigen Verbandsmaterial zurückkehrte. Gewissenhaft versorgte Dr. Daniel die Wunde, die sich Martina beim Herausreißen der Kanüle zugefügt hatte, dann setzte er sich wieder auf die Bettkante und blickte sie sehr ernst an.

»Ich wollte heute noch nicht mit dir sprechen«, erklärte er. »Aber anscheinend läßt es sich doch nicht vermeiden. Martina, du bist magersüchtig. An deinem Körper ist kein Gramm Fett, aber du bildest dir noch immer ein, du seiest dick. Das ist krankhaft und muß behandelt werden.«

»Ich habe zugenommen!« begehrte Martina auf, dann riß sie die Bettdecke zur Seite und wies auf ihren abgemagerten Körper. »Sehen Sie sich diesen entsetzlichen Bauch nur an! Der muß weg!«

»Er ist längst weg«, betonte Dr. Daniel. »Als du bei mir in der Praxis warst, hattest du eine hübsche Figur, aber jetzt… sieh dich an, Martina. Du bestehst nur noch aus Haut und Knochen.« Er schwieg einen Moment, dann deckte er Martina wieder zu. »Wenn du diesen Unsinn noch ein paar Monate weitertreibst, wirst du sterben, aber das werde ich nicht zulassen.«

Martina legte die jetzt knochigen Hände vor ihr Gesicht und begann haltlos zu schluchzen. »Ich will nicht wieder dick werden. Ich will nie wieder essen… Essen macht dick… ich will nicht wieder dick sein.«

»Hör zu, Martina«, fuhr Dr. Daniel mit ruhiger Stimme fort. »Ich habe mit deiner Oma alles besprochen. Magersucht ist eine sehr ernste und schwere Krankheit, die man nur mit einer gezielten Therapie behandeln kann. Zu diesem Zweck mußt du in eine spezielle Klinik. »Ich habe mich heute bereits mit einer entsprechenden Einrichtung in Verbindung gesetzt, und bis dort ein Platz frei wird, bleibst du hier.«

Heftig schüttelte Martina den Kopf. »Ich bleibe nirgendwo! Weder hier noch in dieser anderen Klinik. Und gegen meinen Willen können Sie mich gar nicht festhalten.«

»Doch, Martina, das kann ich schon. Du bist erst sechzehn, also muß ich auf deine Wünsche keine Rücksicht nehmen. Ich habe die Einwilligung deiner Oma, das genügt.« Er machte eine kurze Pause, dann berührte er Martinas Wange. »Viel lieber wäre es mir natürlich, wenn wir beide zusammenarbeiten könnten. Du hattest doch früher immer Vertrauen zu mir. Warum kannst du es denn jetzt nicht mehr haben?«

»Sie wollen, daß ich wieder dick werde«, beharrte Martina.

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, mein Kind, das will ich nicht. Ich möchte, daß du gesund wirst. Martina, du mußt essen, sonst wirst du sterben. Ohne Nahrung kann kein Mensch überleben.«

Heftig schüttelte Martina den Kopf. »Ich werde nicht essen, Sie können mich nicht dazu zwingen.« Herausfordernd sah sie den Arzt an. »Natürlich können Sie mir das Essen in den Mund stopfen, aber ich werde es wieder ausspucken, und wenn Sie mich zwingen, es hinunterzuschlucken, dann werde ich es fünf Minuten später erbrechen. Ich will nicht mehr dick werden, und ich sorge dafür, daß…« Sie stockte, als Dr. Daniel aufstand.

»Also gut, Martina, jetzt kenne ich deine Einstellung und kann gezielt darauf reagieren«, erklärte er. »Wir werden noch sehr viele eingehende Gespräche führen müssen, und irgendwann wirst du einsehen, daß man essen kann, ohne dick zu werden. Bis dahin muß ich aber dafür sorgen, daß dein Körper mit allem versorgt wird, was er braucht, und ich muß es allem Anschein nach gegen deinen Willen tun. Ich mache das nicht gern, aber es gibt leider keinen anderen Weg.« Er wandte sich um. »Schwester Irmgard, bereiten Sie bitte alles zum Einführen einer Magensonde vor.«

In diesem Moment sprang Martina aus dem Bett und wollte aus der Intensivstation entwischen, doch Dr. Daniel holte sie bereits nach wenigen Schritten ein. Ungeachtet der Tatsache, daß Martina strampelte und wie wild um sich schlug, verfrachtete er sie wieder ins Bett und hielt sie dort fest, bis Schwester Irmgard sie angeschnallt hatte.

Wütend schrie Martina auf.

»Tut mir leid, mein Kind, aber anders bist du offenbar nicht zu bändigen«, meinte Dr. Daniel, dann seufzte er tief auf und setzte sich wieder zu Martina. Tröstend griff er nach ihrer Hand. »Ich weiß, wie schlimm das alles für dich ist, aber im Moment habe ich keine andere Wahl. Dein körperlicher Zustand ist so schlecht geworden, daß ich die künstliche Ernährung nicht länger hinauszögern darf. Offenbar bleibt es sich gleich, ob du Infusionen bekommst oder über eine Sonde ernährt wirst: »Du hast so oder so Angst, davon zuzunehmen. In diesem Fall ziehe ich den natürlicheren Weg vor. Sobald Schwester Irmgard mit den vorbereitenden Maßnahmen fertig ist, lege ich dir eine Magensonde. Das ist ein Schlauch, der über deine Nase in den Magen eingeführt wird. Über diesen Schlauch wirst du ernährt.« Er sah die Hoffnung in Martinas Augen aufblitzten und schüttelte den Kopf. »Gib dich keinen Hoffnungen hin, mein Kind. Ich werde dafür sorgen, daß du kein Erbrechen auslösen kannst.«

Da sie keine andere Möglichkeit hatte, gab sie ihrem Unmut durch Schreien Ausdruck, das sich noch steigerte, als sie fühlte, wie die Nachtschwester ihr wieder einen Katheter legte und ihr anschließend als zweite vorbereitende Maßnahme einen Einlauf verabreichte. Währenddessen hatte Dr. Daniel eine Spritze vorbereitet, die er Martina jetzt injizierte. Ihre Schreie wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Ein Gefühl der Gleichgültigkeit breitete sich in ihr aus. Sie sah, wie Dr. Daniel an ihr Bett trat und ihr einen dünnen Gummischlauch in die Nase schob. Unwillig drehte sie den Kopf zur Seite, doch es nütze nichts. Der Schlauch fand seinen Weg in die Speiseröhre. Martina mußte würgen. Von irgendwoher hörte sie eine ruhige, tiefe Stimme, die ihr befahl, ruhig zu atmen und zu schlucken. Sie gehorchte… atmete und schluckte, bis sie ein-schlief.

»Das war ja ein hartes Stück Arbeit«, urteilte Schwester Irmgard, als Dr. Daniel zuletzt noch den richtigen Sitz der Sonde kontrolliert hatte. Martina schlief jetzt und sah so friedlich aus, daß man nicht hätte ahnen können, wie heftig sie sich noch vor wenigen Minuten gewehrt hatte.

»Ich fürchte, es wird sogar noch viel härter«, vermutete Dr. Daniel, während er das anliegende Sondenstück so fixierte, daß es Martina möglichst wenig stören würde. »Wir werden sie angeschnallt lassen müssen, sonst erbricht sie alles, was wir ihr über die Sonde mühsam einflößen.«

Besorgt betrachtete die Nachtschwester das junge Mädchen. »So kann es aber nicht ewig weitergehen.«

»Ganz sicher nicht«, stimmte Dr. Daniel zu. »Im Moment habe ich leider keine andere Wahl. Martina muß ernährt werden, und ich kann nur versuchen, mit ihr oft und lange darüber zu sprechen. Irgendwann wird sie einsehen, daß ihre Angst vor dem Zunehmen unbegründet ist.« Auch sein Blick fiel auf das schlafende Mädchen. »In zwei Monaten wird in der Spezialklinik in München ein Platz frei. Ich kann nur hoffen, daß es mir bis dahin gelingen wird, sie von der Notwendigkeit einer Therapie zu überzeugen.«

*

Seit fast drei Wochen lag Martina nun schon auf der Intensivstation. Während dieser Zeit hatte sie ihre Großmutter so lange bekniet, bis diese zu Dr. Daniel gegangen war und um eine Besuchserlaubnis für Jan Heintze gebeten hatte.

Daniel zögerte einen Moment, gewährte sie dann aber doch. Vielleicht würde der Beistand ihres Freundes Martina helfen, zu einem normalen Leben zurückzufinden. Aus diesem Grund suchte Dr. Daniel den jungen Mann sogar persönlich auf, doch als er dessen deutlichen Widerwillen bemerkte, begrub er seine Hoffnung wieder. Jan Heintze war gewiß nicht der Richtige, um Martina aus ihrer verfahrenen Situation herauszuhelfen.

»Also schön, ich werde sie mal besuchen«, sagte Jan fast gönnerhaft und raffte sich am nächsten Tag auch tatsächlich auf, fuhr zur Klinik hinaus und machte sich auf den Weg zur Intensivstation. Die diensthabende Schwester wußte Bescheid und ließ Jan anstandslos zu Martina hineingehen.

Zögernd trat er an das Bett und betrachtete angewidert das kranke Mädchen. Jetzt schlug sie die Augen auf.

»Jan«, stammelte sie. »Endlich.« Mühsam richtete sie sich ein wenig auf, doch die Gurte, mit denen sie angeschnallt war, behinderten sie. »Du mußt mir etwas besorgen. In der Apotheke deines Vaters gibt es bestimmt Brechmittel. Ich muß das viele Essen loswerden, das sie mir hier einflößen.«

»Du bist ja verrückt«, urteilte Jan.

»Bitte«, flehte sie. »Ich will doch nicht wieder dick werden.«

Desinteressiert zuckte Jan die Schultern. »Na schön. Von mir aus.« Er wollte hier so schnell wie möglich wieder raus. Martina hatte ihm ohnehin nie etwas bedeutet, also war es ihm auch völlig gleichgültig, ob sie sich mit ihrer zwanghaften Vorstellung, wieder zuzunehmen, nun umbrachte oder nicht.

Noch am selben Nachmittag kehrte Jan in die Klinik zurück und legte eine Schachtel auf Martinas Bettdecke.

»Ein Meßbecher voll von dem Saft, und du bist alle Sorgen ums Zunehmen los«, erklärte er schamlos.

»Du muß ihn mir geben«, entgegnete Martina und riß dabei an den Gurten, mit denen ihre Arme festgeschnallt waren. »Ich kann doch nicht. Du mußt jeden Tag kommen und mir den Saft geben.«

»Wie stellst du dir das vor?« wollte Jan wissen. »Ich muß nebenbei auch noch ein bißchen arbeiten, außerdem…« Er schwieg, dann winkte er ab. »Also schön. Mach deinen Mund auf.«

Rasch öffnete er die Schachtel, holte das braune Fläschen hervor und füllte den beigefügten Meßbecher mit der zähen Flüssigkeit, dann kippte er sie Martina in den geöffneten Mund. Die Wirkung trat rasch ein, und kaum zehn Minuten später stand Schwester Alexandra ratlos vor der jungen Patientin, die alles, was man ihr mühsam durch die Magensonde verabreicht hatte, erbrochen hatte.

»So etwas kann schon mal vorkommen«, meinte Dr. Daniel, doch als es auch am nächsten und am übernächsten Tag passierte, wurde er stutzig. Er ordnete eine andere Sondenkost an, doch das Ergebnis war das gleiche. Martinas Körper wurde immer mehr ausgezehrt und ihr Kreislauf drohte erneut zusammenzubrechen. Überhaupt waren die Werte, die der Oberarzt Dr. Scheibler täglich aus dem abgenommenen Blut ermittelte, ziemlich schlecht, und dann kam Dr. Daniel der naheliegendste Verdacht für die jetzt ständige Übelkeit. Eine gründliche Untersuchung bestätigte seine Vermutung.

»Nun wird’s wirklich kritisch«, murmelte er sich zu.

»Sie führen Selbstgespräche?«

Wie aus dem Boden geschossen stand Dr. Parker neben ihm.

Dr. Daniel seufzte. »Martina ist schwanger.«

Dr. Parker lehnte sich an die Schreibtischkante.

»Diese Schwangerschaft kommt wirklich zum ungünstigsten Zeitpunkt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es dem Baby sehr gut geht, wenn die Mutter sich weigert zu essen.«

»Nicht nur das«, meinte Dr. Daniel. »Sie erbricht plötzlich wieder alles. Nun ja, nicht wirklich alles. Eigentlich nur einmal am Tag.« Er runzelte die Stirn. »Das fällt mir ja erst jetzt auf. Es passiert jedesmal kurz nach dem Weggehen ihres Freundes.

Alarmiert horchte Dr. Parker auf. »Jan Heintze? Er kommt hierher?«

Dr. Daniel nickte. »Ich habe das befürwortet, weil ich dachte, der Beistand ihres Freundes würde sich vielleicht positiv auswirken.«

Da schüttelte Dr. Parker entschieden den Kopf. »Dieser Kerl hat auf niemanden eine positive Wirkung, ganz im Gegenteil. Er ist so ziemlich der unsympathischste Mensch, der mir jemals begegnet ist. »Er überlegte einen Moment. »Er ist heute abend sicher auch im Verein, da werde ich ihm mal ein bißchen auf den Zahn fühlen. Ich könnte mir vorstellen, daß er über Martinas plötzliche Übelkeit ganz genau im Bilde ist.«

*

Manfred Steiner war todmüde. Die Schichtarbeit verlangte ihm immer mehr ab, vor allem, weil er zwischen den Schichten kaum noch schlafen konnte. Seine Gedanken kreisten ständig um Martina. Er sehnte sich so sehr nach ihr, daß es weh tat, und der Gedanke, daß sie vielleicht gerade mit Jan zusammen war, sich von ihm küssen ließ oder womöglich noch viel mehr…

Unwillig schüttelte Manfred den Kopf, um diese deprimierenden Vorstellungen abzustreifen. Er sah auf die Uhr. In fünf Minuten war seine Schicht zu Ende, dann konnte er nach Hause gehen und sich ins Bett legen. Vielleicht sollte er heute ausnahmsweise eine Schlaftablette nehmen. Er brauchte ein bißchen Erholung, und ohne Medikamente war an Schlaf sicher doch wieder nicht zu denken.

Der schrille Signalton zeigte das Ende der Schicht an. Mit seinen Kollegen strebte Manfred dem Ausgang zu. Er ließ sich von der Menge treiben, weil er das Gefühl hatte, als könnte er seine Beine nicht mehr bewegen. Dann stand er vor dem Werkstor. Es waren nur knappe zweihundert Meter bis zur Bushaltestelle, trotzdem war es Manfred, als müßte er zu Fuß um den halben Erdball gehen.

»Na, du Superkämpfer!«

Die zynische Stimme ließ Manfred herumfahren. Er blickte in Jans Gesicht und sah dessen hochmütiges Lächeln, das er zutiefst verabscheute.

»Was willst du von mir?« fragte er müde. Er hatte keine Lust, sich jetzt mit Jan auseinanderzusetzen.

»Aha.« Wieder dieser zynische Ton und das herablassende Lächeln. »Ohne den Angeber Parker bist du wohl nicht so viel wert.« Jan schnippte mit den Fingern.

Manfred winkte ab. »Laß mich in Ruhe.«

Er drehte sich um und blinzelte, weil seine Augen vor Müdigkeit brannten. Die Bushaltestelle schien so weit entfernt, als läge sie auf dem Mond. Mühsam machte Manfred zwei Schritte. Er sah nicht, wie sich auf Jans Gesicht plötzlich ein bösartiges Lächeln ausbreitete.

»Warte mal!« rief er.

Manfred blieb zwar stehen, machte sich aber nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen.

»Du siehst ziemlich müde aus«, stellte Jan fest, dann griff er in die Jackentasche und holte eine Tablettenschachtel hervor. »Ich habe da etwas, was dich schnell wieder auf die Beine bringen wird. Schließlich willst du heute abend doch fit sein.«

Manfred schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht mehr zum Verein.« Er wollte schon sagen, daß Dr. Parker ihn wieder privat unterrichten würde, ließ es dann aber bleiben. Die Freundschaft, die ihn und Jeff verband, ging Jan nichts an. Jeff Parker war im Augenblick Manfreds einziger Halt. Abgesehen von der Freundschaft zu Jeff schien sein ganzes Leben grau und trostlos zu sein.

»Trotzdem kann es nicht schaden, wenn du dich ein bißchen aufbaust«, erklärte Jan und riß Manfred damit aus seinen Gedanken. Er hielt ihm die Schachtel hin. »Da, nimm ein paar.«

Manfred schüttelte den Kopf. »Ich brauche ein Bett, sonst nichts.«

»Ach was!« warf Jan ein. »Du wirst sehen, wie fit du dich fühlst, wenn du…«

Wieder schüttelte Manfred den Kopf, dann versuchte er seinen Weg fortzusetzen, doch seine Beine wollten ihm irgendwie nicht mehr gehorchen. Die letzte Doppelschicht war einfach zuviel für ihn gewesen, aber sein Vater, seine Stiefmutter und die vielen Geschwister brauchten das Geld, das er und seine Schwester Anita verdienten, dringend. Im Prinzip bräuchten sie sogar noch viel mehr, vor allem seit sein Vater arbeitslos geworden war.

»Nimm schon«, drängte Jan wieder und drückte Manfred die Schachtel in die Hand.

Der junge Mann betrachtete die Packung. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen, und seine Hände zitterten ein wenig, als er eine Tablette herausnahm und in den Mund steckte.

»Eine wird dir nicht viel helfen«, meinte Jan. »Du bist ja schon fast klinisch tot.« Er lachte über seinen Scherz, dann fügte er hinzu: »Nimm noch ein paar, dann ist die Wirkung größer.«

Als Manfred keine Anstalten machte, seiner Aufforderung nachzukommen, nahm ihm Jan die Schachtel aus der Hand, drückte etliche Tabletten heraus und schob sie Manfred in den Mund. Mühsam würgte dieser die vielen Tabletten hinunter.

Jan grinste verschlagen. »Du wirst sehen, in einer halben Stunde fühlst du dich wieder top-

fit.«

Manfred nickte nur. Im Moment war ihm alles egal. Er war nur müde. Mit Mühe brachte er den kurzen Weg bis zur Bushaltestelle hinter sich, wartete mit den anderen, bis der Linienbus hielt, stieg ein und ließ sich dann auf den nächstbesten Sitz fallen. In einer Viertelstunde würde er in Steinhausen sein, dann noch fünf Minuten zu Fuß bis nach Hause, wo sein Bett auf ihn warten würde.

Doch bereits auf dem Nachhauseweg bemerkte Manfred, wie seine Müdigkeit verflog. Der Gedanke an sein Bett rückte wieder in weite Ferne. Er fühlte einen fast unheimlichen Tatendrang.

»Was ist denn mir dir los?« wollte sein Vater wissen, als er am Tisch saß und sich dabei kaum ruhighalten konnte. »Nach zwei Doppelschichten solltest du doch eigentlich todmüde sein.«

»Überhaupt nicht«, entgegnete Manfred aufgekratzt, dann erhob er sich abrupt. »Ich gehe noch für eine Stunde zu Jeff. Vielleicht hat er Zeit für ein kleines Training, bevor er zum Verein fährt.«

Kopfschüttelnd blickte sein Vater ihm nach. Er selbst hatte lange Zeit in Schichten gearbeitet und wußte, wie sehr das an den Kräften zehrte. Aber vielleicht wurden junge Leute mit einer solchen Tätigkeit einfach besser fertig.

*

Dr. Parker war erstaunt, als er vom Dienst nach Hause kam und Manfred Steiner wartend vorfand.

»Mit dir habe ich heute gar nicht gerechnet«, meinte er, während er die Haustür aufschloß. »Wenn ich recht informiert bin, hattest du heute doch schon wieder eine Doppelschicht.«

Manfred nickte. »Aber ich fühlte mich topfit. Wenn du Zeit hast, würde ich gern ein bißchen trainieren.«

Aufmerksam musterte Dr. Parker ihn. Manfred wirkte wie aufgedreht. Das war nach den letzten Tagen der Niedergeschlagenheit richtig auffallend, und es weckte in dem Arzt ein ungutes Gefühl.

»Natürlich habe ich Zeit«, meinte er. »Jetzt ist es halb sieben, ich muß erst um acht beim Verein sein.«

»Mußt du denn wieder als Trainer aushelfen?« wollte Manfred wissen, während er unruhig im Zimmer auf und ab ging.

»Nein«, antwortete Dr. Parker, dann hielt er den jungen Mann am Arm fest. »Was ist mit dir los?«

»Nichts«, behauptete Manfred. »Ich möchte nur endlich anfangen.«

»Hast du Probleme zu Hause?« hakte Dr. Parker nach.

Manfred löste sich aus seinem Griff, dann schüttelte er den Kopf. »Es ist wirklich nichts.« Er seufzte. »Komm schon, Jeff, ich möchte endlich was tun. Ich habe heute so lange am Fließband gestanden. Ich sehne mich nach Bewegung.«

»Also schön«, meinte Dr. Parker, obwohl er spürte, daß mit seinem jungen Freund etwas nicht in Ordnung war. »Fang schon mal an, dich aufzuwärmen. Ich möchte nur eben einen Happen essen, dann bin ich für dich da.«

Doch bereits die ersten Übungen gingen voll daneben. Manfred war extrem unkonzentriert, machte Flüchtigkeitsfehler und versagte schon bei den einfachsten Bewegungsfolgen. Dabei war er von einer so auffallenden Hyperaktivität, die ihn zwang, ständig in Bewegung zu sein.

»Jetzt reicht’s!« erklärte Dr. Parker schließlich. »Ich will wissen, was mit dir los ist!«

»Gar nichts«, versicherte Manfred wenig glaubhaft.

»Das nehme ich dir nicht ab«, entgegnete Dr. Parker entschieden. »Du bist unkonzentriert, nervös und kannst dich keine Minute ruhighalten.«

So unauffällig wie möglich versteckte Manfred seine bebenden Hände hinter dem Rücken. Obwohl er wußte, daß es völlig unsinnig war, denn schließlich hatte Dr. Parker es längst bemerkt. Seine innere Unruhe verstärkte sich noch. Er schaffte es nicht, seinen Blick längere Zeit auf einem bestimmten Punkt verweilen zu lassen.

»Was ist jetzt?« hakte Dr. Parker nach. »Bekomme ich nicht mal mehr eine Antwort von dir?«

Manfred zuckte die Schultern, dann hob er sekundenlang den Kopf, doch es gelang ihm nicht, Dr. Parker anzusehen. Er fühlte sich wie ein Hase, der von der Meute zu Tode gehetzt wird. Dr. Parker bemerkte, wie Manfred seinem forschenden Blick immer wieder auswich.

»Hierher mit deinen Augen!« befahl er streng. »Na, los, schau mich an!«

Manfred versuchte es ein zweites Mal, doch wieder glitt sein Blick ab. In diesem Moment legte Dr. Parker ihm eine Hand unter das Kinn und zwang ihn damit, ihn anzusehen.

»Und jetzt raus mit der Sprache, mein Freund«, verlangte er. »Was ist los? Nimmst du wieder irgendwelche nicht zugelassenen Medikamente?«

»Nein, Jeff, wirklich nicht«, beteuerte Manfred.

»Lüg mich nicht an!«

»Ich lüge nicht… ehrlich.« Er zögerte einen Moment und gestand dann: »Ich… ich hab’s getan, aber das ist schon etliche Wochen her. Ich mußte es tun. Es wurde gut bezahlt, und… ich wollte dir doch das Geld zurückgeben, das du für meine kurze Mitgliedschaft im Verein bezahlt hast… außerdem war meine kleine Schwester krank. Wir brauchten das zusätzliche Geld.«

»Manfred, ich habe dir schon hundertmal gesagt, wie gefährlich das ist«, entgegnete Dr. Parker ärgerlich. »Warum hörst du nicht auf mich? Im übrigen lasse ich mir von dir die Mitgliedsbeiträge ohnehin nicht zurückzahlen. Das habe ich dir vor zwei Wochen schon gesagt. Ich habe dir den Karate-Verein aus Freunschaft bezahlt, und ich bin noch immer der Meinung, daß du wieder hingehen solltest. Der Kontakt zu jungen Leuten hat dir nämlich sehr gutgetan. Aber bitte, das ist ganz allein deine Entscheidung.« Er schwieg kurz. »Und was das andere betrifft: Warum kommst du nicht zu mir, wenn du Geld brauchst? Ich weiß doch, wie schlecht es dir und deiner Familie in finanzieller Hinsicht geht.«

»Ich will das nicht«, wehrte Manfred ab. »Was ich nicht selbst verdiene…«

»Schluß damit«, fiel Dr. Parker ihm ins Wort. »Darüber können wir ein anderes mal diskutieren. Ich will jetzt auf der Stelle wissen, was du eingenommen hast, denn eines ist klar – du stehst unter der Einwirkung von Medikamenten. Das sehe ich deutlich an deinen Augen.«

Manfred versuchte, dem forschenden Blick auszuweichen, doch Jeffs Hand hielt ihn eisern fest. Er mußte dem Arzt ins Gesicht sehen, ob er wollte oder nicht.

»Ja«, gab er endlich zu. »Ich habe Tabletten geschluckt. Ich war so müde, und Jan sagte, damit würde ich mich besser fühlen.«

Für einen Augenblick packte Dr. Parker unbändige Wut. Wieder dieser Jan! Den hätte er sich heute nur zu gern vorgeknöpft, aber so wie es aussah, würde er dazu keine Gelegenheit haben. Manfred war im Augenblick sehr viel wichtiger.

»Was waren das für Tabletten?« hakte der junge Arzt nach.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Manfred. »Das mußt du mir glauben, Jeff. Jan hat mir die Tabletten gegeben, und ich habe sie eingenommen.«

»Wann?«

Manfred zuckte die Schultern. »Vor einer Stunde vielleicht. Ich weiß es nicht mehr.« Es gelang ihm, sich aus Dr. Parkers Griff zu befreien. Mit einer nervösen Handbewegung fuhr er sich durch die Haare und über das Gesicht. Er bemerkte nicht, wie der Arzt ihn beobachtete. Seine Anspannung war einfach zu groß. Er war ständig in Bewegung, konnte sich keinen Augenblick ruhighalten.

»Wie viele Tabletten hast du genommen?« fragte Dr. Parker.

»Fünf… nein, ich weiß nicht…« Manfreds Konzentrationsfähigkeit nahm jetzt immer mehr ab. »Vielleicht zehn… oder mehr… ich weiß es nicht.«

Entschlossen packte Dr. Parker ihn beim Arm und zwang ihn, sich hinzusetzen. Eine rasche, aber trotzdem sehr gründliche Untersuchung ergab nicht nur gesteigerte Reflexe, sondern auch leichte Herzrhythmusstörungen. Dieses Ergebnis bestätigte, was Dr. Parker schon vermutet hatte.

»Wir fahren sofort in die Klinik«, erkärte er. »Du hast eine Amphetaminvergiftung.«

»Aber… ich kann nicht«, wehrte Manfred ab. »Ich muß…«

»Du mußt in die Klinik, sonst gar nichts«, fiel Dr. Parker ihm ins Wort, dann brachte er ihn nach unten und öffnete die hintere Autotür. Während Manfred einstieg, legte Jeff sicherheitshalber die Kindersicherung ein, damit die Tür von innen nicht zu öffnen war. Die vielen Tabletten, die der junge Mann geschluckt hatte, begannen jetzt erst richtig zu wirken, und in diesem Zustand war er auf jeden Fall unberechenbar.

Wie wichtig Dr. Parkers Vorsichtsmaßnahme war, zeigte sich bereits auf dem kurzen Weg von seiner Wohnung zur Klinik. Manfred wollte tatsächlich während der Fahrt die Autotür öffnen.

»Laß mich raus, Jeff«, verlangte er. »Ich habe mit Sicherheit keine Vergiftung. Ich fühle mich blendend.« Wieder versuchte er die Tür zu öffnen und wurde wütend, als es ihm nicht gelang. »Laß mich endlich aussteigen! Was du hast, sind doch nur Hirngespinste!«

Dr. Parker sparte sich jeglichen Kommentar dazu. Er wußte, daß Manfred jetzt nichts richtig begreifen würde.

Er bog in den Parkplatz vor der Klinik, stieg aus und öffnete dann die hintere Autotür. Manfred versuchte zu flüchten, doch damit hatte Dr. Parker schon gerechnet. Seine rechte Hand umfaßte Manfreds Arm wie ein Schraubstock, aus dem es kein Entrinnen gab. Trotzdem wehrte sich der junge Mann sehr verbissen.

»Gib auf, Manfred«, riet Dr. Parker ihm. »Du hast gegen mich keine Chance, und das weißt du auch.«

Sie hatten jetzt die Eingangshalle erreicht. Der junge Arzt wandte sich an die Sekretärin Martha Bergmeier, die sogar zu dieser späten Stunde noch in ihrem Glashäuschen mit der Aufschrift Information saß und mit Argusaugen darüber wachte, wer die Klinik betrat und verließ.

»Wer hat heute Nachtschicht?« wollte er wissen.

»Dr. Köhler«, antwortete Martha wie aus der Pistole geschossen, denn schließlich war in der Klinik höchstens der Chefarzt noch besser über die Dienstpläne informiert als die gute Martha.

Dr. Parker schüttelte den Kopf. »Der Assistenzarzt nützt mir jetzt nichts. Ich brauche den Chef oder den Oberarzt.«

Martha griff unverzüglich nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer des Oberarztes, der heute Bereitschaftsdienst hatte. Dr. Gerrit Scheibler ging auch gleich selbst an den Apparat und versprach sofort zu kommen.

Währenddessen hatte Dr. Parker seinen Patienten in das Behandlungszimmer der Chirurgie gebracht und ins Bett verfrachtet. Manfred wehrte sich noch immer, weil er nicht einsehen wollte, weshalb er in der Klinik sein müsse.

»Bleib jetzt endlich liegen«, befahl Dr. Parker, als er Manfred zum dritten Mal von der verschlossenen Tür wegholen und ins Bett zurückbringen mußte. »Wenn du mit diesem Unfug nicht aufhörst, muß ich dich festbinden. Willst du das?«

»Jeff, mir geht’s gut!« begehrte Manfred auf. »Du mußt dich irren mit dieser Vergiftung. Ich bin voller Tatendrang.«

»Ja, weil du bis obenhin vollgepumpt bist mit Aufputschmitteln«, fiel Dr. Parker ihm energisch ins Wort. »Aber diesen Jan knöpfe ich mir vor. So, jetzt bleib liegen und laß mich meine Arbeit tun.« Er griff nach einer Magensonde. Mach deinen Mund auf. Du mußt den Schlauch schlukken.«

Aus weit aufgerissenen Augen starrte Manfred ihn an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein!«

Dr. Parker beugte sich über ihn und hielt ihn am Kinn fest, damit er seinem Blick nicht ausweichen konnte.

»Nun hör mir mal gut zu, mein Junge«, erklärte er energisch. »Ich habe weder Zeit noch Lust, mich länger mit dir auseinanderzusetzen. Du hast eine Menge Tabletten im Magen, die dich umbringen werden, wenn ich nicht bald etwas dagegen unternehmen kann. In ein paar Minuten wird der Chefarzt oder der Oberarzt hier sein, um dir eine entsprechende Menge Aktivkohle zu verabreichen. Wenn einer der beiden hier durch diese Tür kommt, dann ist der Schlauch in deinem Magen, und wenn du nicht freiwillig mitmachst, werde ich dich dazu zwingen, haben wir uns verstanden?«

»Das kannst du nicht«, behauptete Manfred, doch seiner Stimme war anzuhören, daß er davon durchaus nicht überzeugt war.

»Doch, mein Junge, ich kann, aber wenn es sich irgendwie vermeiden läßt, werde ich es nicht tun«, versprach Dr. Parker.

»Wenn ich meinem Mund nicht aufmache…«, begann Manfred, doch der junge Arzt ließ ihn gar nicht aussprechen.

»Dann bekommst du den Schlauch eben in die Nase, aber ich bin sicher, daß dir das nicht gefallen wird«, erklärte er. Sanft legte er eine Hand auf Manfreds Arm. »Komm schon, Junge, mach deinen Mund auf, dann ist es doch nur halb so schlimm.«

Manfred betrachtete den dünnen, weichen Gummischlauch, preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Im selben Moment wurde die Türklinke heruntergedrückt. Mit wenigen Schritten war Dr. Parker an der Tür, drehte den Schlüssel her-

um und ließ den Oberarzt eintreten.

»Aha, ein schwieriger Patient«, urteilte Dr. Scheibler, wäh-rend er zusammen mit Dr. Parker an Manfreds Bett trat. »Worum geht’s?«

»Amphetaminvergiftung. Ich weiß nicht, wieviel er geschluckt hat, aber ich schätze, mindestens zehn bis fünfzehn Tabletten.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Das dürfte jetzt etwa eineinhalb Stunden her sein.«

Dr. Scheibler nickte. »Hat er es absichtlich getan?«

»Nein. Er wollte damit nur seine Müdigkeit bekämpfen.« Dr. Parker sah den Oberarzt an. »Ich habe keine Ahnung, welche Tabletten es waren… wie hoch die Amphetamine dosiert waren.«

»Das kriegen wir schon in den Griff«, meinte Dr. Scheibler. »Führen Sie ihm die Magensonde ein, ich bereite inzwischen die Aktivkohle vor. Die wirkt bei Amphetaminvergiftung glücklicherweise auch noch Stunden nach der Einnahme.«

Der Oberarzt verließ den Raum wieder, während sich Dr. Parker erneut seinem jungen Patienten zuwandte.

»Also, komm, Manfred, mach deinen Mund auf«, bat er noch einmal eindringlich. »Es ist nicht angenehm, aber immer noch besser, als wenn ich dir die Sonde gegen deinen Willen einführen muß.«

Doch Manfred machte weiterhin keine Anstalten, Dr. Parkers Aufforderung nachzukommen.

Der junge Arzt seufzte. »Na schön, du willst es nicht anders.« Er beugte sich über Manfred, und noch ehe dieser reagieren konnte, hatte Dr. Parker ihm den zuvor bereits gleitfähig gemachten Gummischlauch in das rechte Nasenloch geschoben. Manfred wollte den Kopf herumwerfen, doch der Arzt hielt ihn mit einer Hand eisern fest, während er den Schlauch zügig, aber mit der gebotenen Vorsicht tiefer schob. Als das Schlauchende den Rachenraum passierte, mußte Manfred heftig würgen. Mit beiden Händen wollte er Dr. Parker weg-drücken, aber er hätte ebensogut versuchen können, einen Felsblock beiseite zu schieben.

»Ruhig atmen und schlucken«, befahl der Arzt »Dann wird es leichter, Manfred. Atmen und schlucken. Gleich hast du das Schlimmste überstanden.«

Manfred steckte noch immer voller Unruhe und war entsprechend zapplig. Als Dr. Parker die richtige Lage der Sonde kontrollierte, versuchte der junge Mann mit einer raschen Bewegung, den Schlauch aus seiner Nase zu ziehen, doch Jeff konnte gerade noch rechtzeitig reagieren. Er hielt ihm die Handgelenke fest und bedachte ihn mit einem strafenden Blick.

»Noch ein einziger Versuch dieser Art, Manfred, und ich werde von den beiden Gurten, die hier am Bett befestigt sind, Gebrauch machen und dir die Arme festschnallen«, drohte Dr. Parker. »Und glaub ja nicht, daß ich das nur so dahinsage. Ich werde es tun, hast du mich verstanden?«

»Sind Sie soweit, Jeff?« fragte jetzt Dr. Scheibler, der in diesem Moment zurückkam. Er hielt ein Gefäß in der Hand, das einer überdimensionalen Spritze glich und mit einer tiefschwarzen Flüssigkeit gefüllt war.

»Ja, Gerrit, Sie können anfangen«, antwortete Dr. Parker, dann umfaßte er mit einer Hand Manfreds Handgelenke. »Damit du nicht in Versuchung kommst«, erklärte er.

Doch Manfred dachte gar nicht mehr daran, sich den Schlauch aus der Nase zu ziehen. Entsetzt sah er zu, wie Dr. Scheibler die schwarze Flüssigkeit in den Schlauch laufen ließ, und allein die Vorstellung, daß ihm mit diesem gräßlichen Zeug nun gegen seinen Willen der Magen gefült wurde, löste einen erneuten Würgereiz aus.

»Tief und gleichmäßig atmen, Manfred.« Dr. Parkers Stimme klang ruhig. »Du bekommst von Dr. Scheibler nur in Wasser gelöste Kohletabletten.«

»Die in dieser Menge und Konzentration durchaus zu Übelkeit und Brechreiz führen können«, fügte der Oberarzt hinzu, bedachte Manfred mit einem kurzen, prüfenden Blick und wandte sich dann an Dr. Parker. »Richten Sie schon mal eine Schale her, Jeff. Ich fürchte, unser junger Freund gehört zu den Patienten, die sich aufgrund der Kohle übergeben müssen.«

Doch Dr. Parker zögerte. »Wenn ich ihn loslasse, zieht er sich garantiert den Schlauch aus der Nase.«

»Die Gurte sind nicht zur Zierde am Bett befestigt«, entgegnete Dr. Scheibler. »Schnallen Sie ihn fest. Das tut ihm nicht weh, erspart uns viel Schmutz und Arbeit und ihm eine weitere unangenehme Prozedur.«

Dr. Parker fühlte heftiges Mitleid mit Manfred, als er die breiten Gurte um seine Handgelenke legte und gerade so fest anzog, daß sich der junge Mann nicht aus eigener Kraft aus seiner Lage befreien konnte.

»Ich bin gleich wieder bei dir«, versprach er, doch er war nicht sicher, ob Manfred seine Worte überhaupt aufgenommen hatte. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, einen Ausweg aus dieser für ihn so schrecklichen Situation zu finden. Besorgt beobachtete Dr. Scheibler die noch immer zunehmende Hyperaktivität des Patienten.

»Spritzen Sie ihm siebzig Milligramm Chlorpromazin intramuskulär«, ordnete er an.

Dr. Parker zog die Augenbrauen hoch. »So viel?«

Der Oberarzt nickte. »Sehen Sie ihn doch an.«

Manfred war hektisch und nervös, sein ganzer Körper war angespannt wie eine Stahlfeder. Er machte den Eindruck, als würde er gleich mitsamt dem Bett, an das er jetzt geschnallt war, aus der Klinik flüchten.

Gewissenhaft zog Dr. Parker die Spritze auf, dann trat er an das Bett und injizierte das Medikament. Manfreds Widerstand erlahmte. Teilnahmslos lag er im Bett und ließ alles mit sich geschehen.

»Er kommt auf Intensiv«, erklärte Dr. Scheibler und stellte die jetzt geleerte Kohleflasche beiseite. »Die Sonde bleibt drin. Die ganze Nacht über bekommt er im stündlichen Rhythmus Ak-tivkohle verabreicht. Und er bleibt angeschnallt«, fügte er hinzu, als Dr. Parker die Gurte von Manfreds Handgelenken lösen wollte.

»Ist das wirklich noch nötig, Gerrit?« wandte der junge Anästhesist ein. »Solange das Medikament wirkt, besteht doch keine Gefahr, daß er…«

»Er bleibt angeschnallt, Jeff«, wiederholte Dr. Scheibler nachdrücklich. »Ich erwarte, daß Sie sich nach meinen Anordnungen richten.«

Dr. Parker senkte den Kopf. »Ja, Gerrit, natürlich.«

Freundschaftlich legte der Oberarzt einen Arm um Jeffs Schultern. »Ich verstehe sehr gut, daß Ihnen der Junge leid tut, aber es geschieht ja nur zu seinem Besten. Sie wissen selbst, wie leicht er sich verletzen kann, wenn er sich die Sonde herauszieht, und damit ist leider noch immer zu rechnen.«

Dr. Parker seufzte. »Sie haben recht, Gerrit, aber… der Junge hatte noch nie sehr viel Glück im Leben…«

»Er hat das Glück, Sie zum Freund zu haben«, fiel Dr. Scheibler ihm ins Wort. »Das ist mehr wert als fast alles andere.«

*

Der Morgen graute bereits, als sich Dr. Parker zum wiederholten Male auf den Weg zur Intensivstation machte. Auf dem schmalen Flur wäre er beinahe mit Dr. Daniel zusammengestoßen.

»Robert, was tun Sie denn um diese Zeit schon hier?« fragte der junge Anästhesist erstaunt.

»Das könnte ich Sie auch fragen«, entgegnete Dr. Daniel. »Ihr regulärer Dienst fängt erst in zwei Stunden an, wenn ich recht informiert bin.«

Dr. Parker seufzte. »Ich habe hier ein Sorgenkind. Manfred Steiner. Er kam gestern abend mit einer Amphetaminvergiftung zu mir.«

»Er ist ein ganz armer Kerl«, stimmte Dr. Daniel zu. »Er muß für eine Familie sorgen, die er sich nicht aussuchen konnte.«

Dr. Parker zögerte einen Moment, dann sprach er aus, was er dachte. »Ich muß zwar erst noch mit Manfred darüber sprechen, aber… wenn er hier arbeiten möchte… als Pfleger beispielsweise… im regulären Dienst, ohne Nachtschichten… glauben Sie, daß Wolfgang damit einverstanden wäre?«

»Manfred ist im Grunde ein anständiger und fleißiger Junge«, meinte Dr. Daniel. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß Wolfgang etwas dagegen hätte, ihn hier einzustellen.«

Dr. Parker lächelte. »Danke, Robert.« Dann warf er einen Blick durch die Glasscheiben

des nächsten Raumes. »Geht es Martina noch immer nicht besser?«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf, dann fuhr er sich mit beiden Händen durch das dichte, blonde Haar – es war eine Bewegung, die seine ganze Niedergeschlagenheit ausdrückte.

»Es ist furchtbar schwierig, überhaupt zu ihr durchzudringen«, erklärte er. »Sie ist wie besessen von der Furcht, wieder zuzunehmen. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde sie Augen, Ohren und sogar ihr Herz vor allen anderen Menschen verschlie-ßen.«

Dr. Parker wandte sich ihm zu. »Sie müssen ihr helfen, Robert. Wenn Sie es nicht können, dann kann es niemand.«

Ein kaum sichtbares Lächeln huschte über Dr. Daniels Gesicht. »Danke für das Kompliment, Jeff, aber zumindest im Moment fühlte ich mich schrecklich hilflos. Zum ersten Mal habe ich den Eindruck, als könnte ich überhaupt nichts tun.« Er schwieg kurz. »Dazu kommt, daß Martinas jetziges Erbrechen nichts mit der Schwangerschaft zu tun hat. Die gestrige Untersuchung hat ergeben, daß sie Ipecacuanha-Sirup zu sich genommen haben muß, wobei ich mir nicht vorstellen kann, wie sie überhaupt an das Zeug herangekommen ist, geschweige denn, wie sie es einnehmen konnte.«

Dr. Parker runzelte die Stirn. »War Jan gestern bei ihr?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Jan ist der Sohn des Apothekers Heintze aus der Kreisstadt«, antwortete Dr. Parker. »Er ist auch für Manfreds Amphetaminvergiftung verantwortlich, und es würde mich nicht wundern, wenn er Martina den Sirup besorgt hätte. Ich hätte mir den Burschen heute ohnehin vorgeknöpft, aber in diesem Fall wäre es vielleicht von Vorteil, wenn Sie mitkommen würden.«

Dr. Daniel nickte ohne zu zögern. »Worauf Sie sich verlassen können.«

»Ich möchte noch schnell nach Manfred sehen, dann können wir gleich gehen«, erklärte Dr. Parker und eilte in den Nebenraum. Bei seinem Eintreten richtete sich Manfred auf, soweit es die Gurte an seinen Handgelenken zuließen.

»Na, mein Junge, wie geht’s?« wollte der Arzt wissen, obwohl er schon sah, daß Manfred die Überdosis und auch die nachfolgende Behandlung gut überstanden hatte.

»Wieder besser«, antwortete er, dann sah er den Arzt argwöhnisch an. »Mußt du mir etwa noch mal diese gräßliche Kohle einflößen?«

Dr. Parker schüttelte den Kopf und setzte sich auf die Bettkante. »Nein, mein Junge, ich bin nur hier, um dich von der Sonde zu befreien. Und auch davon«, fügte er hinzu, während er die Gurte von Manfreds Handgelenken löste. »Es tut mir leid, daß ich dir das antun mußte.«

Doch Manfred schüttelte den Kopf. »Nicht du solltest dich entschuldige, sondern ich.« Beschämt blickte er nach unten. »Ich habe mich gestern ganz schrecklich dumm benommen, und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich dafür schäme.«

Impulsiv fuhr Dr. Parker ihm durch das dichte Haar. »Nicht nötig, mein Junge. Dein Verhalten lag an den Tabletten, die du geschluckt hattest.« Dann wurde sein Gesicht plötzlich sehr ernst. »So will ich dich nie wieder erleben, hast du mich verstanden?«

Manfred schluckte. Er wußte genau, was jetzt kommen wür-

de.

»Hör zu, mein Freund«, fuhr Dr. Parker auch schon in deutlich strengerem Ton fort. »Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, daß du irgendwelche Medikamente nimmst, dann gnade dir Gott.«

»Aber… wenn ich krank bin…«

»Du weißt genau, was ich meine!« fiel Dr. Parker ihm ins Wort. »Ich spreche nicht von einer Kopfschmerztablette.« Er machte eine kurze Pause. »Was Jan betrifft, so wird er das letzte Mal Medikamente aus der Apotheke seines Vaters gestohlen haben. Dr. Daniel und ich werden dafür sorgen, daß dieses Früchtchen so etwas in Zukunft unterläßt.« Wieder schwieg er kurz: »Nun du, mein Junge… sollte ich dir jemals draufkommen, daß du wieder in dieses bewußte Krankenhaus gehst, dann fahre ich höchstpersönlich hin, um dich zu holen. Notfalls ziehe ich dich an den Haaren heraus, haben wir uns verstanden?«

»Jeff, ich… ich muß doch…«

»Ich habe gefragt, ob wir uns verstanden haben!«

Manfred schluckte wieder, dann nickte er. »Ja, Jeff, aber… wenn ich nun…«

»Kein Aber«, fiel Dr. Parker ihm scharf ins Wort. »Du wirst das nie wieder tun, hast du gehört, nie wieder!«

Manfred sah in die blauen Augen seines Freundes, die im Moment so unerbittlich waren, doch er wußte auch, daß die Strenge, die Jeff jetzt an den Tag legte, nur seiner Freundschaft und Fürsorge entsprang.

»Ich verspreche es«, flüsterte Manfred.

»Ich hoffe, daß du dich an dieses Versprechen halten wirst«, meinte Dr. Parker, dann stellte er das Kopfende des Bettes so, daß Manfred flach auf dem Rücken liegen mußte. »Keine Angst, ich hole jetzt nur die Sonde aus deinem Magen.«

Zügig, aber mit der gebotenen Vorsicht zog Dr. Parker den dünnen Gummischlauch heraus.

»Darf ich jetzt wieder nach Hause?« wollte Manfred wissen.

Der junge Arzt schüttelte den Kopf. »Heute mußt du noch hierbleiben. Ein bißchen Ruhe wird dir bestimmt nicht schaden, und mit Ruhe meine ich schlafen, ist das klar?«

Manfred nickte. »Ich bin todmüde… schon seit Stunden, aber die viele Kohle, die du mir die Nacht über eingeflößt hast… mir war die ganze Zeit furchtbar schlecht.«

Dr. Parker lächelte ihn an. »Das ist jetzt vorbei, und ich könnte mir vorstellen, daß dich der Chefarzt nicht nur heute, sondern auch noch die nächsten ein, zwei Tage zur Beobachtung hierbehalten wird.«

Manfred erschrak. »Meine Güte, ich muß doch in die Firma!«

Doch Dr. Parker schüttelte den Kopf. »Du bist entschuldigt, das entsprechende Attest geht heute raus.« Erneut setzte er sich auf die Bettkante. »Im übrigen werde ich nicht länger zusehen, wie du dich in der Firma abschuften mußt, für diesen Hungerlohn, den du dort bekommst.«

Seufzend winkte Manfred ab. »Ich habe nichts gelernt, Jeff, ich muß Geld verdienen – so viel wie möglich. Das kann ich nur in Schichtarbeit, weil die vergleichsweise noch am besten bezahlt wird.«

Dr. Parker stand auf. »Du wirst jetzt schlafen, Manfred. Bis du wieder aufwachst, habe ich vielleicht schon etwas arrangiert.«

*

Dr. Daniel und Dr. Parker erreichten die Apotheke der Heintzes gerade zur Öffnungszeit. Freundlich begrüßte Anton Heintze die beiden Ärzte, wäh-rend sein Sohn Jan zumindest über das Auftauchen Dr. Parkers nicht sehr glücklich zu sein schien.

»Ist Ihnen in letzter Zeit eine größere Menge Ipecacuanha-Sirup abhanden gekommen?« fragte Dr. Daniel ohne Umschweife und bemerkte dabei, wie Jan errötete und sich so unauffällig wie möglich in den rückwärtigen Teil der Apotheke zurückzog.

»Um die Medikamentenlieferungen kümmert sich ausschließlich mein Sohn«, entgegnete Anton Heintze, dann drehte er sich um. »Jan! Komm doch mal bitte.«

Mit sichtlichem Widerwillen befolgte Jan die Aufforderung seines Vaters, beantwortete die Frage nach dem Sirup aber nur mit einem Kopfschütteln.

»Du lügst«, hielt Dr. Parker ihm entgegen.

Jan wollte aufbrausen, unterließ es aber, als er von den eisigen Blick des jungen Arztes heimgesucht wurde. Er schluckte, dann senkte er den Kopf.

»Ich habe dazu nichts weiter zu sagen«, meinte er nur.

Anton Heintze runzelte unwillig die Stirn. »Was soll das heißen, Jan?«

»Das heißt, daß er selbst den Sirup entwendet und einer Patientin der Waldsee-Klinik eingegeben hat«, antwortete Dr. Parker an seiner Stelle. »Vermutlich mit ihrer Einwilligung, vielleicht sogar auf ihr Drängen hin.«

»Jeff, ohne triftige Beweise können Sie solche Behauptungen nicht einfach aufstellen«, wandte Dr. Daniel ein.

»Doch, Robert, das kann ich«, entgegnete Dr. Parker mit Nachdruck. »Weil ich genau weiß, daß er es war. Er hat auch Manfred Steiner mit einer Überdosis Amphetaminen vollgepumpt, und aufgrund seiner Ausbildung kann ich annehmen, daß er sich über die Wirkung so vieler Tabletten sehr genau bewußt war.«

Jans Erröten bewies, daß Dr. Parker die Wahrheit getroffen hatte.

»Geh nach hinten, mein Sohn«, befahl Anton Heintze streng. »Wir beide haben noch ein ernstes Wort miteinander zu reden.« Dann wandte er sich den Ärzten wieder zu. »Werden Sie… ich meine… wird Jan auch noch… andere Schwierigkeiten bekommen?«

Die beiden Ärzte tauschten einen Blick. Dr. Daniel konnte die drängende Forderung in Dr. Parkers Augen unschwer erkennen.

»Sie sollten Ihrem Sohn unmißverständlich klarmachen, daß er so etwas in Zukunft zu unterlassen hat«, erklärte Dr. Daniel ernst. »Mag sein, daß er zu jung ist, um sich über die weitreichenden Konsequenzen seines Handelns klar zu sein. Nur aus diesem Grund will ich diesmal noch Stillschweigen bewahren. Allerdings bin ich sicher, daß Dr. Parker Ihren Sohn weiter genau im Auge behalten wird. Sollte noch ein einziges Mal der Verdacht aufkommen, daß er wieder Medikamente verteilt, dann wird ihm eine Anzeige gewiß sein.«

Anton Heintze nickte. »Es wird nicht mehr vorkommen, das versichere ich Ihnen.« Er reichte Dr. Daniel die Hand. »Vielen Dank.« Dann wandte er sich Dr. Parker zu. »Auch Ihnen vielen Dank.«

»Ich hätte ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen«, knurrte Jeff, als er und Dr. Daniel die Apotheke verlassen hatten.

Dr. Daniel lächelte. »Das weiß ich, aber vielleicht ist es besser, einem jungen Menschen eine zweite Chance zu geben, anstatt ihn zu bestrafen und damit möglicherweise noch mehr Unheil heraufzubeschwören.«

Dr. Parker dachte eine Weile über diese Worte nach, dann seufzte er. »Wolfgang hat schon recht. Sie haben von uns allen eben doch den größten Weitblick.«

*

Manfred erwachte von den gellenden Schreien eines Mäd-chens. Dr. Parker hatte ihm zwar verboten, aufzustehen, weil er von der vergangenen anstrengenden Nacht noch sehr geschwächt war, doch das Schreien des Mädchens zog ihn dennoch aus dem Raum mit den großen Glasfenstern. Manfred mußte sich mit einer Hand an der Wand abstützen, weil seine Beine immer noch ein wenig unsicher waren. Doch dann erreichte er den Nebenraum und konnte einen ersten Blick durch das Fenster werfen. Was er sah, schockierte ihn zutiefst. Da lag ein Mädchen angeschnallt im Bett, hatte einen dünnen Gummischlauch in der Nase und schrie sich die Seele aus dem Leib, während eine Schwester das andere Ende des Schlauches in der Hand hielt und eine Flüssigkeit einfüllte. Schreiend warf das Mädchen den Kopf hin und her, und in diesem Moment erkannte Manfred ihr Gesicht.

»Martina!«

Ungeachtet seiner eigenen Schwäche betrat er den Raum und eilte zu dem Bett.

»Herr Steiner…«, begann die Schwester, doch Manfred beachtete sie gar nicht. Er legte seine Hände um Martinas Gesicht und zwang sie damit stillzuhalten. Ihr Schreien verstummte. Aus großen Augen sah sie ihn an.

»Martina!« flüsterte er zärtlich. »Martina, hörst du mich?«

Tränen quollen aus ihren Augen.

»Sag ihr, sie soll aufhören.« Ihre Stimme war ganz heiser vom vielen Schreien. »Oder steck’ mir den Finger in den Hals, damit ich spucken kann.«

Doch Manfred schüttelte entschieden den Kopf.

»Nicht, Martina«, bat er leise, dann beugte er sich hinunter und küßte sie auf die Wange. Mit einem Finger zeichnete er die Konturen ihres Gesichts nach, das jetzt blaß und eingefallen war, das er aber noch immer genauso liebte wie am ersten Tag, an dem er sie gesehen hatte.

»Du bist wunderschön«, erklärte er. »Du warst schon immer wunderschön, und ich… ich liebe dich.«

Aber Martina nahm seine Worte nicht auf. In ihrem Kopf gab es nur ein einziges Thema, das sie bewegte.

»Sie soll aufhören«, wiederholte sie. »Ich ertrage es nicht, daß sie mir noch mehr Nahrung in den Magen schüttet.«

Noch einmal streichelte Manfred ihr Gesicht, dann fühlte er, wie er am Arm genommen und zurückgezogen wurde.

»Gehorchen ist leider deine schwache Seite«, stellte Dr. Parker fest, doch er sagte es nicht böse, nicht einmal besonders streng. »Komm, Manfred, du wirst noch genügend Gelegenheit haben, um bei ihr zu sein.«

»Was ist mit ihr, Jeff?« fragte der junge Mann, und seine Stimme bebte dabei.

»Sie ist sehr krank«, entgegnete Dr. Parker, wußte aber, daß sich Manfred mit dieser Antwort nicht zufriedengeben würde. »Sie ist besessen von dem Gedanken, daß sie wieder dick werden könnte.«

Martina begann erneut zu schreien. Unwillkürlich blieb Manfred stehen und blickte zu-rück, dabei zeichnete sich auf seinem Gesicht eine Qual ab, als müsse er unerträgliche Schmerzen aushalten.

»Jeff, hilf ihr doch«, bat er verzweifelt.

»Das einzige, was ihr hilft, sind Beruhigungsmittel, aber die dürfen wir nicht immer einsetzen, weil sie ihr irgendwann mehr schaden als nützen würden.« Dr. Parkers Griff um Manfreds Arm wurde fester, seine Stimme wurde energischer. »Komm jetzt. Du brauchst auch noch Ruhe. Heute nachmittag darfst du Martina besuchen. Ich verspreche es dir.«

Manfred nickte, dann ließ er sich widerstandslos auf die normale Station bringen, wo bereits ein Einzelzimmer für ihn hergerichtet war. Doch als Dr. Parker wieder gehen wollte, hielt Manfred ihn einen Moment zurück.

»Jeff, sie muß wieder gesund werden.«

»Wir werden tun, was in unserer Macht steht«, versicherte Dr. Parker. Allerdings war die Aussicht, Martina hier in der Waldsee-Klinik helfen zu können, nur sehr gering.

*

Manfred konnte es kaum erwarten, bis Dr. Parker ihm endlich erlaubte, Martina zu besuchen. Minuten später saß er an ihrem Bett und griff nach ihrer mageren, knochigen Hand. Unwillkürlich mußte er daran denken, wie hübsch und fröhlich sie noch vor wenigen Monaten gewirkt hatte. Zärtlich streichelte er ihre Hand und lächelte sie an. Dabei stand in seinen Augen die ganze Liebe, die er für sie fühlte… seine Augen sangen das reinste Liebeslied, doch es erreichte Martina nicht.

»Du mußt dir von Dr. Daniel helfen lassen«, bat Manfred leise. »Er will nur…«

»Sei still!« brauste Martina auf. »Du weißt doch gar nicht, wovon du sprichst! Woher auch? Wie solltest du schon empfinden können, wie ich mich fühle?«

Manfreds Augen streichelten sie, doch sein Gesicht war sehr ernst.

»Ich weiß genau, wie du dich fühlst.« Er machte eine kurze Pause. »Gestern war ich in derselben Lage wie du – wenn auch aus anderen Gründen. Auch ich bekam gegen meinen Willen einen Schlauch in die Nase, wurde am Bett festgeschnallt, weil ich versucht hatte, diesen Schlauch herauszuziehen, und dann bekam ich jede Stunde eine Flasche voll flüssiger Kohle in den Magen, wovon mir schrecklich übel wurde. Also, Martina, erzählt mir nichts darüber, wie du dich fühlst.«

Zum ersten Mal seit langem zeigte Martina so etwas wie Interesse für einen anderen Menschen. Tränen traten in ihre Augen.

»Warum tun sie uns das an, Manfred?«

»Weil sie uns helfen wollen«, antwortete er schlicht. »Ich wäre vielleicht gestorben, wenn Jeff das nicht getan hätte. Und du… Martina, du würdest auch sterben, wenn Dr. Daniel dich nicht künstlich ernähren lassen würde.« Sanft berührte er wieder ihr Gesicht. »Aber wenn du stirbst… wie soll ich dann weiterleben? Martina, ohne dich… du bist doch meine Liebe… mein Leben.«

»Ich bin dick«, wandte Martina ein.

Da schüttelte Manfred den Kopf. »Nein, Liebes, du bist nicht dick, aber selbst wenn du es wärest… ich liebe dich, seit ich dich das erste Mal gesehen habe.«

Martina lauschte diesen Worten nach.

»Das erste Mal«, wiederholte sie leise, dann huschte ein kurzes Lächeln über ihre Lippen. »Ich erinnere mich noch daran. Es war damals beim Verein. Du hast neben mir gestanden, als Parker uns die neuen Bewegungsfolgen beigebracht hat.«

Manfred nickte. »Aber du hattest nur Augen für Jan.«

Martina wandte den Kopf zur Seite. »Er hat mich auch im Stich gelassen. Ein paar Tage lang ist er gekommen und hat mir den Sirup gegeben, damit ich mich übergeben konnte, aber jetzt… jetzt muß ich wieder hilflos daliegen und zusehen, wie ich dicker und dicker werde.«

»Du bist nicht dick«, wiederholte Manfred eindringlich. »Ganz im Gegenteil, du bist sogar entsetzlich dünn, Martina. Du hast so viel abgenommen, daß es mir im Herzen weh tut. Weißt du, wie hübsch dein Gesicht einmal gewesen ist? Du hattest eine Haut… so glatt und weich wie ein reifer Pfirsich, und deine Augen waren so klar, daß man das Gefühl hatte, darin zu ertrinken.« Er berührte ihr dünnes, strähniges Haar. »Deine Haare waren weich und glänzend. Du warst wunderschön, Martina.«

Tränen traten in ihre Augen. »Heißt das… daß ich jetzt häßlich bin?«

Manfred schüttelte den Kopf. »Für mich nicht. Für mich wirst du immer schön und begehrenswert sein, weil ich dich liebe. Wenn ich dich ansehe, dann sehe ich nicht dein Gesicht oder deine Augen… ich sehe den Menschen, der mir auf dieser Welt am meisten bedeutet… ich sehe das Mädchen, ohne das ich nicht mehr leben will. Aber wenn du schon so viel auf Äußerlichkeiten gibst, will ich offen zugeben, daß du mir besser gefallen hast, als du noch ein bißchen pummeliger warst.«

»Das will ich nie wieder sein!«

Manfred nickte. »Das ist ja auch vollkommen in Ordnung. Du kannst ruhig schlank sein, Martina, aber vergiß nicht – auch schlanke Menschen müssen essen. Essen macht nur dann dick, wenn du ohne Maß und Ziel einfach in dich hineinfutterst.« Er umschloß ihr Gesicht mit beiden Händen. »Martina, Liebling, du mußt dich von Dr. Daniel behandeln lassen… du mußt diese Therapie machen, von der er gesprochen hat.« Seine Stimme wurde eindringlich, er betonte jetzt jedes einzelne Wort: »Du mußt wieder gesund werden… für dich, für mich… für uns.«

*

Dr. Daniel und Dr. Parker standen in der Intensivstation vor der großen Glasscheibe und verfolgten das Geschehen in dem kleinen Raum. Sie konnten nicht hören, was Manfred sagte, doch sie erkannten die Innigkeit, mit der er sprach. Vor allem aber sahen sie, daß Martina auch zuhörte.

»Er wird es schaffen«, prophezeite Dr. Parker.

Dr. Daniel nickte ein wenig zögernd. »Sieht ganz so aus. Allerdings will ich mich gerade in diesem Fall nicht zu früh irgendwelchen trügerischen Hoffnungen hingeben.«

»Er liebt Martina, und er hat sie auch schon geliebt, als sie noch dick war. Für ihn hat es nie ein anderes Mädchen gegeben.«

»Martina erwartet das Kind eines anderen«, wandte Dr. Daniel ein.

»Das wird ihn nicht stören«, entgegnete Dr. Parker so bestimmt, als könnte er direkt in Manfreds Herz sehen. »Er liebt sie, und er wird auch das Kind lieben. Gleichgültig, wie es mit Martina weitergeht – sie wird künftig einen Begleiter an ihrer Seite habe, der sie nicht verlassen wird.«

Dr. Daniels Blick ging wieder in den kleinen Raum, wo sich Manfred gerade über Martina beugte und sie zärtlich küßte.

»Wenn Sie recht haben, Jeff, dann hält er damit den Schlüssel zu ihrem Herzen in der Hand«, meinte Dr. Daniel. Er wartete, bis sich Manfred und Martina voneinander lösten, dann trat er durch die große Glastür ein. Dr. Parker folgte ihm.

In diesem Moment drehte sich Manfred um und lächelte.

»Martina wird die Therapie machen«, erklärte er, und dabei strahlte so viel Glück aus seinen Augen, als hätte sie ihm gerade einen Heiratsantrag gemacht.

»Ich habe noch immer schreckliche Angst davor, auch nur einen Bissen zu essen«, wandte Martina leise ein. »Und ich bin auch nicht sicher, ob mir die Therapie helfen wird, aber… Manfred meint…« Sie zuckte die Schultern. »Ich will es wenigstens versuchen.«

Dr. Daniel verbarg seine Erleichterung über Martinas Entschluß nicht. Lächelnd drückte er ihre Hand. »Ich bin froh, daß du dich für die Therapie entschieden hast. Vielleicht läßt sich die Verlegung in die andere Klinik ja sogar ein wenig beschleunigen.«

Da schüttelte Martina den Kopf. »Ich möchte hierbleiben. Zu Ihnen habe ich Vertrauen, und…« Ihr Blick wanderte zu Manfred, ein zärtliches Lächeln huschte dabei über ihr Gesicht. »Es ist, als hätte sich in mir eine kleine Tür geöffnet. Mit Jan… da war alles kalt und leer, doch jetzt… zum ersten Mal fühle ich wieder Wärme und Licht.«

Dr. Daniel dachte eine Weile nach, dann nickte er. »Wenn du hierbleiben willst, dann werden wir einen Weg finden, um dich auch in der Waldsee-Klinik entsprechend zu behandeln. Ich kenne einige sehr gute Therapeuten. Einer von ihnen wird sich bereitfinden, dich hier in der Klinik aufzusuchen.« Er zögerte kurz, dann löste er die Gurte von Martinas Handgelenken, setzte sich zu ihr auf die Bettkante und griff nach ihrer Hand. »Da ist noch etwas, mein Kind. Eigentlich müßte ich darüber mit dir allein sprechen, aber…« Er warf Manfred einen kurzen Blick zu. »Ich denke, der Beistand deines Freundes wird dir gerade jetzt sehr guttun.« Er sah Martina an. »du erwartest ein Baby.«

Aus weitaufgerissenen Augen starrte ihn das junge Mädchen an.

»Aber… das ist doch nicht möglich!« stieß sie hervor.

»Ich muß gestehen, daß ich auch nicht damit gerechnet habe«, entgegnete Dr. Daniel. »Bei Magersucht gerät der monatliche Zyklus einer Frau so ziemlich als erstes durcheinander, das bedeutet, daß der Eisprung ausbleibt, aber du mußt mit Jan zusammengewesen sein, noch bevor das passierte, und die Pille war in diesem Fall natürlich wirkungslos, weil du dich ständig übergeben hast.«

Martinas Hände begannen zu zittern. »Wie soll es denn jetzt weitergehen? Die Therapie… die Schule…«

Da drängte sich Manfred dazwischen. »Das kriegen wir schon in den Griff.« Seine Stimme klang so sicher, daß ihm niemand hätte anmerken können, wie geschockt er in Wirklichkeit war. Dabei ging es gar nicht so sehr um das Baby, das Martina von Jan erwartete, sondern vor allem darum, daß Manfred im Moment einfach keine Ahnung hatte, wie er alles unter einen Hut bringen sollte – Martina, das Baby und seine Familie, die er ja auch unterstützen mußte.

Einzig Dr. Parker ahnte, was in dem jungen Mann vorging, obwohl nicht einmal er ihm etwas ansehen konnte.

»Manfred, ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um dir zu sagen, was ich für dich arrangiert habe«, erklärte er. »Du wirst deine Stellung kündigen und im neuen Jahr hier in der Klinik als Krankenpfleger anfangen. Deine Dienstzeit geht von acht Uhr morgens bis abends um fünf, am Freitag bis mittags. Du wirst keinen Schichtdienst haben, weil du in deiner Freizeit die Mittlere Reife nachholen wirst, und wenn du die erreicht hast, kannst du eine Lehre machen. Danach wird es dir nicht schwerfallen, Frau und Kind zu ernähren und dar-über hinaus sogar noch deine Eltern und Geschwister ein biß-chen zu unterstützen. Bis du soweit bist, werde ich dir finanziell helfen, und wenn du es nicht als Geschenk annehmen willst, dann nimm es als Darlehen und zahle es mir zurück, wenn du einmal dazu in der Lage sein wirst.« Dr. Parker sah die Abwehr auf Manfreds Gesicht und hob drohend den Zeigefinger. »Wenn du jetzt nein sagst, dann wirst du mich ganz gehörig kennenlernen!«

Da mußte Manfred lächeln. Für einen Moment lehnte er sich vertrauensvoll an Dr. Parker.

»Danke, Jeff«, sagte er leise. »Keine Sorge, ich sage nicht nein.«

Dann wandte er sich Martina wieder zu.

»Meine Zukunft ist gesichert.« Er lächelte sie an und streichelte sanft ihr schmales, blasses Gesicht. »Wenn du mich liebst und deine Oma einverstanden ist, dann… dann würde ich dich gerne heiraten…«

»Manfred…«, stammelte Martina. »Du… du kennst mich doch noch gar nicht richtig. Und das Baby… es ist von Jan…«

Doch Manfred zuckte nur die Schultern. »Na und? Ich liebe dich, und ich werde auch unser Baby lieben.« Er lächelte. »Außerdem denke ich, daß noch ein paar von mir dazukommen werden, wenn du erst wieder gesund bist.«

Nun konnte Martina endlich wieder lächeln. »Ja, Manfred, ich will gesund werden… so schnell wie möglich. Und… ich liebe dich auch.«

In diesem Moment verließen Dr. Daniel und Dr. Parker den kleinen Raum. Sie wußten, daß sie hier jetzt nichts mehr verloren hatten. Alles weitere würde seinen Gang gehen. Mit Hilfe der Therapie würde Martina ihre Krankheit besiegen – weil sie einen jungen Mann an ihrer Seite hatte, der sie bedingungslos liebte und in jeder Lebenslage felsenfest zu ihr stand…

– E N D E –

Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman

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