Читать книгу Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman - Marie-Francoise - Страница 30

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»Madame, verzeihen Sie die Störung.« Der Butler verneigte sich, ehe er fortfuhr: »Monsieur Garrivier wünscht Sie zu sprechen.«

Chantal Ferraut sah betont langsam von ihren neuesten Entwürfen hoch.

»Er wünscht?« wiederholte sie nicht ohne Schärfe. »Monsieur Garrivier hat hier nichts zu wünschen! Im übrigen habe ich kein Interesse daran, mit ihm zu sprechen. Sagen Sie ihm…«

»Sag es mir selbst!«

Wie aus dem Boden gewachsen, stand Marcel Garrivier im Raum.

Chantal zog die Augenbrauen hoch. »Was fällt dir ein, ohne Erlaubnis hier hereinzukommen?«

»Bis vor zwei Tagen hatte ich diese Erlaubnis noch«, wandte Marcel ein.

Chantal lehnte sich auf ihrem eleganten Ledersessel zurück und strich mit einer anmutigen Handbewegung ihr dichtes, kupferrotes Haar zurück.

»In zwei Tagen kann sich eine Menge ändern, Marcel.«

Verständnislos schüttelte er den Kopf. »Chantal, ich verstehe es nicht. Wir lieben uns…«

Sie verlagerte ihr Gewicht auf die andere Seite. Dabei rutschte ihr enganliegender Rock ein Stück nach oben und gab den Blick auf ein Paar wohlgeformte Beine frei. Chantal bemerkte das aufflackernde Begehren in Marcels Augen. Im selben Moment wußte sie, daß sie sich die Chance auf ein letztes, bösartiges Spiel nicht entgehen lassen würde.

Ein überhebliches Lächeln erschien auf ihrem feingemeißelten Gesicht, während sie die Lider ein wenig senkte. Sie wußte, wie verführerisch sie jetzt aussah, und erkannte mit Genugtuung, daß Marcel immer nervöser wurde. Offensichtlich war er drauf und dran, Chantal in seine Arme zu reißen und mit heißen Küssen zu überschütten. Jetzt war es an der Zeit, ihm eine Abfuhr zu erteilen, die er nie wieder vergessen würde. Chantal fühlte das altbekannte Kribbeln in sich. Sie genoß das Spiel, das sie hier trieb.

»Marcel.« Ihre Stimme klang sehr sinnlich. Sie wußte, dieser Ton ließ den jungen Mann alles vergessen. Er war jetzt ihr Spielzeug, das sie nach Belieben benutzen oder zerbrechen konnte. Sie wollte es zerbrechen.

Mit einem Schritt war Marcel bei ihr. In seinen Augen standen Liebe und Verlangen. In diesem Moment dachte er nicht mehr daran, daß Chantal ihm den Zutritt zu ihrem Haus verweigert hatte.

»Du warst ein ganz passabler Liebhaber.«

Ihre Worte fielen wie ein Guß kalten Wassers in Marcels Herz. Er stöhnte auf vor Qual.

»Hör zu, Marcel, sollte es dir noch ein einziges Mal einfallen, mich hier zu belästigen, dann zeige ich dich wegen Hausfriedensbruch an«, erklärte sie, und ihre bernsteinfarbenen Augen waren dabei so kalt, daß Marcel unwillkürlich fröstelte.

»Chantal, ich liebe dich!« begehrte er auf.

Ein mitleidiges Lächeln umspielte ihren perfekt geschminkten Mund. »Dein Pech. Du warst amüsant, Marcel, aber jetzt bist du mir langweilig geworden. Und nun verschwinde.«

Er betrachtete das schöne Gesicht, die kupferroten Haare und die Augen, die jetzt den kalten Glanz von Messing hatten. Dabei dachte er daran, wie sehr ihn dieser Kontrast bezaubert hatte… und es noch immer tat. Trotz ihrer lieblosen Worte sehnte er sich danach, sie in seine Arme zu reißen und ihr Gesicht… ihren ganze Körper mit Küssen zu bedecken.

»Du wirst noch an mich denken«, prophezeite er mit rauher Stimme. »Irgendwann wird es dir so ergehen….«

Chantal lachte. »Das glaube ich kaum.« Sie wurde wieder ernst. »Ich investiere kein Gefühl in meine Beziehungen. Wie gesagt, du warst amüsant, sehr amüsant sogar, und das solltest du als Kompliment auffassen.« Mit einem Ruck stand sie auf. »Jacques! Monsieur Garrivier wünscht zu gehen.« Sie sah Marcel an, sprach dabei aber zu ihrem Butler. »Und das ist das letzte, was er in diesem Haus zu wünschen hat.«

*

Marcel Garrivier hatte die Villa im vornehmsten Stadtteil von Paris gerade verlassen, als Chantal ihre schwarze Limousine vorfahren ließ. Der Chauffeur Jules stieg eilig aus, um den hinteren Wagenschlag zu öffnen, damit Chantal einsteigen konnte.

Eine knappe Stunde später startete ihre Privatmaschine und nahm Kurs auf München. Das Innere des Flugzeuges wirkte wie ein luxuriöses Büro, und hier breitete Chantal dann auch gleich die Entwürfe ihrer letzten Kollektion aus. Zufrieden betrachtete sie ihre Arbeit und freute sich schon auf die Modenschau, die eigens für die von ihr entworfene Frühjahrs- und Sommermode veranstaltet wurde. Es war bereits die zweite dieser Art in München, und im folgenden Jahr würden weitere in Mailand, London und Madrid stattfinden. Ein überhebliches Lächeln zeigte sich auf Chantals makellos schönem Gesicht. In den letzten beiden Jahren war es mit ihrer Karriere als Modeschöpferin steil bergauf gegangen, und Chantal war überzeugt, daß sie den Höhepunkt noch längst nicht erreicht hatte.

»Wir landen in zwanzig Minuten auf dem Münchner Flughafen, Madame«, meldete der Pilot über den Lautsprecher. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug.«

Wieder lächelte Chantal. Sie genoß dieses Leben in vollen Zügen – das Leben und die Liebesabenteuer, die es ihr reichlich bescherte. Ihre bernsteinfarbenen Augen verengten sich ein wenig. Sie würde in München viel zu tun haben, trotzdem wäre sie einem kleinen Flirt absolut nicht abgeneigt. Mit Marcel war es in den letzten Tagen immer langweiliger geworden. Es wurde Zeit für ein neues Abenteuer, dessen Beginn und Ende sie allein steuern würde.

*

»Sie ist wirklich ein Phänomen«, flüsterte der Veranstalter der exklusiven Modenschau, Franz Bergheim, seiner Frau zu.

»Ja, ein männermordendes«, ergänzte Charlotte Bergheim.

Ihr Mann schmunzelte. »Mordend? Na, ich weiß nicht. Meines Erachtens will sie ihre Opfer schon lebend haben.«

»Du weißt genau, wie ich das gemeint habe«, entgegnete Charlotte. »Schau sie dir nur an. Dieser Blick, mit dem sie jedes männliche Wesen bedenkt, das in ihre Nähe kommt.« Sie betrachtete Chantal, dann schüttelte sie den Kopf. »Sie erinnert mich irgendwie an eine schwarze Witwe, oder wie immer diese Spinnen heißen, die nach der Paarung ihre Männchen fressen.«

Franz Bergheim mußte lachen. »Lotti, du bist wirklich unmöglich! Chantal Ferraut bringt uns eine Menge Geld.«

Charlotte seufzte. »Ungefähr ein Zehntel von dem, was sie selbst dabei verdient.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Wie reich muß diese Frau eigentlich sein?«

»Na ja, einige Milliönchen wird sie schon schwer sein«, urteilte Franz. Er wollte noch etwas hinzufügen, ließ es aber bleiben, als er sah, wie Chantal auf ihn und Charlotte zukam. Ihr Lächeln war ohne jede Herzlichkeit, und unwillkürlich mußte Franz denken, daß Charlottes Vergleich mit der Schwarzen Witwe vielleicht doch nicht gar so weit hergeholt war. Chantal Ferraut sah nicht so aus, als würde sie Gefühle investieren. Sie war durch und durch eine eiskalte Geschäftsfrau, und vermutlich dachte sie auch in den Armen eines Mannes immer nur an ihren eigenen Vorteil.

»Ich bin mit der ganzen Organisation sehr zufrieden«, erklärte sie. »Alles läuft wie am Schnürchen, und Ihre Models können sich wirklich sehen lassen.«

Franz lächelte voller Herzlichkeit, wie es seine Art war. »Danke für das Kompliment, Madame Ferraut. Gerade aus dem Mund einer so erstklassigen Modeschöpferin, wie Sie es sind, ehrt mich das ganz besonders.«

Chantal nickte ihm gönnerhaft zu, dann wandte sie sich demonstrativ an Charlotte. Franz verstand den Wink und zog sich diskret zurück.

»Frau Bergheim, ich bin auf der Suche nach einem Arzt… einem Spezialisten auf gynäkologischem Gebiet«, erklärte Chantal rundheraus, und dabei mußte Charlotte wieder einmal ihre Sprachgewandtheit bewundern. Es hieß, Chantal würde mindestens sechs Sprachen fließend beherrschen.

»Ich bin es aus Paris gewöhnt, daß sich ausschließlich erstklassige Fachärzte um mich kümmern«, fuhr Chantal fort. »Aus diesem Grund sagt mir der hotel-eigene Arzt selbstverständlich nicht zu.«

Charlotte nickte verständnisvoll. »Dr. Brunner ist Allgemeinmediziner, der eigentlich nur herangezogen wird, wenn Hotelgäste unpäßlich sind. Eine Kapazität, wie sie Ihnen gebührt, ist er sicher nicht.« Sie überlegte. »Hier in der Nähe praktizierte vor ein paar Jahren ein sehr guter Gynäkologe, aber soviel ich weiß, ist er schon vor einiger Zeit in seinen Heimatort zurückgekehrt. Wenn Sie sich einen Moment gedulden, werde ich mich umgehend nach ihm erkundigen.«

»Tun Sie das«, entgegnete Chantal, und es klang wie ein Befehl.

Charlotte entschuldigte sich, dann betrat sie das Büro ihres Mannes und hob den Telefonhörer ab. Es kostete sie nur einen Anruf, um die Adresse des Gynäkologen zu erfragen, dann kehrte sie zu Chantal zurück.

»Dr. Robert Daniel ist ein Arzt, den ich Ihnen wirklich gu-ten Gewissens empfehlen kann«, erklärte sie, dann reichte sie Chantal einen Zettel. »Ich habe Ihnen seine Adresse notiert.«

Chantal zog die Augenbrauen hoch. »Steinhausen. Das klingt, als wäre es das Ende der Welt.«

»Ganz und gar nicht, Madame Ferraut«, erwiderte Charlotte. »Steinhausen ist von hier aus mit dem Auto in einer guten halben Stunde zu erreichen, und es ist ein ganz bezaubernder Gebirgsort, der sogar über eine ausgezeichnete Klinik verfügt, deren Direktor im übrigen auch Dr. Daniel ist.«

»Nun gut«, meinte Chantal wieder in dieser gönnerhaften Art, die dazu führte, daß sich Charlotte wie ein dummes Schulmädchen fühlte. »Ich werde mir diesen Dr. Daniel einmal ansehen, und ich kann nur hoffen, daß er nicht zu weit unter dem für mich angemessenen Niveau liegt.«

*

Gabi Meindl, die in der Praxis von Dr. Robert Daniel als Empfangsdame arbeitete, ahnte Schreckliches, als die vornehm gekleidete Frau mit dem kupferroten Haar und den bernsteinfarbenen Augen das Vorzimmer betrat.

»Mein Name ist Chantal Ferraut«, erklärte sie von oben herab. »Dr. Daniel erwartet mich.«

Gabi Meindl warf einen Blick in ihren Terminkalender, obwohl sie sich an den Anruf des Mannes mit dem starken französischen Akzent sehr gut erinnern konnte.

»Wenn Sie bitte noch einen Moment im Wartezimmer Platz nehmen«, erklärte sie. »Die Sprechstundenhilfe wird Sie holen, sobald Dr. Daniel frei ist.«

Chantal zog die perfekt geschminkten Augenbrauen hoch und musterte Gabi, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern.

»Sobald er frei ist?« wiederholte sie, und Gabi konnte den gefährlichen Unterton in ihrer Stimme unschwer heraushören. »Ich bin es nicht gewohnt zu warten! Mein Sekretär hat gestern diesen Termin vereinbart, also erwarte ich, daß er auch eingehalten wird.« Sie warf einen demonstrativen Blick auf ihre elegante und sündhaft teure Armbanduhr. »Mein Termin wurde für zehn Uhr angesetzt. Jetzt ist es eine Minute vor zehn. Sollte Dr. Daniel nicht innerhalb dieser einen Minute zu sprechen sein, dann werden Sie hier den Weltuntergang erleben.«

Gabi konnte nur mit viel Mü-he einen tiefen Seufzer unterdrücken, dann musterte sie die arrogante Frau und beschloß ganz gegen ihre Gewohnheit einzulenken.

»Einen Augenblick bitte.« Damit stand Gabi auf und betrat nach kurzem Anklopfen Dr. Daniels Sprechzimmer.

Der Arzt war gerade dabei, mit seiner Patientin in den danebenliegenden Untersuchungsraum zu gehen, blieb aber abwartend stehen, als er Gabis ernstes Gesicht sah.

»Was ist los, Fräulein Meindl?« wollte er wissen, dann lächelte er. »Droht vielleicht der Weltuntergang?«

Gabi nickte ernsthaft. »Sie haben es erfaßt, Herr Doktor. Draußen steht so eine Zimtzicke… ich meine, eine äußerst elegante Dame, die für zehn Uhr angemeldet ist. Ihr Sekretär hat diesen Termin gestern telefonisch vereinbart«, fügte sie in einem Ton hinzu, als wäre es bereits eine Todsünde, einen Sekretär zu haben. »Ich glaube, wenn die Dame nicht in einer Minute hier im Sprechzimmer sitzt, wird sie einen Aufstand machen, der sich gewaschen hat.«

Dr. Daniel schmunzelte. »Fräulein Meindl, Sie überraschen mich. Seit wann lassen Sie sich von exzentrischen Damen einschüchtern? Normalerweise beharren Sie doch immer auf Ihrem Standpunkt ›Wer zuerst kommt, mahlt zuerst‹.«

»Ich weiß«, gab Gabi zerknirscht zu. »Aber ich glaube, in diesem Fall sollte man tatsächlich eine Ausnahme machen. Es nützt ja niemandem, wenn die da draußen anfängt, Zeter und Mordio zu schreien. Wahrscheinlich ist es besser, man fertigt sie so schnell wie möglich ab.«

Dr. Daniel nickte. »In Ordnung, Fräulein Meindl. Bringen Sie die Dame herein. Vielleicht hat sie ja sogar einen triftigen Grund, auf der Einhaltung ihres Termins zu bestehen. Da sie offenbar über einen Sekretär verfügt, scheint sie Geschäftsfrau zu sein, da wollen wir ihr keine Unannehmlichkeiten bereiten. Im übrigen sollen Ausnahmen ja die Regel bestätigen, nicht wahr?«

Gabi atmete auf. »Danke, Herr Doktor.« Sie verließ das Sprechzimmer und bat Chantal, ihr zu folgen.

»Dr. Daniel wird gleich hier sein«, versprach sie.

»Hoffentlich«, entgegnete Chantal spitz.

Es dauerte dann wirklich nicht lange, bis Dr. Daniel durch die Zwischentür ins Sprechzimmer trat, und ein erster Blick auf die elegante Dame zeigte ihm nur zu deutlich, daß Gabi Meindl mit ihrer Einschätzung richtig gelegen hatte.

»Guten Tag, mein Name ist Daniel«, grüßte er höflich und mit dem ihm eigenen, warmherzigen Lächeln, das von Chantal allerdings nicht erwidert wurde. Für sie war ein Arzt nichts weiter als ein Dienstbote, der ihre Anweisungen zu befolgen hatte.

»Chantal Ferraut«, stellte auch sie sich vor, doch wenn sie gedacht hatte, dieser Name würde Dr. Daniel etwas sagen, dann sah sie sich getäuscht. »Die Modeschöpferin«, fügte sie daher bedeutungsvoll hinzu.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, meinte Dr. Daniel und zog sich damit geschickt aus der Affäre, denn seinen Worten war nicht zu entnehmen, ob ihm der Name nun ein Begriff war oder nicht. »Was führt Sie zu mir, Madame Ferraut?«

»Ich habe seit einigen Tagen unerträgliche Unterleibsschmerzen, und man sagte mir, Sie wären als Gynäkologe ganz passabel.«

»Das freut mich zu hören«, entgegnete Dr. Daniel mit einer Spur Sarkasmus. »Wie äußern sich diese Schmerzen?«

Chantal zog die Augenbrauen hoch, dann seufzte sie: »Ich denke doch, es ist Ihre Aufgabe, das herauszufinden.«

»Die Ursache herauszufinden, ja«, berichtigte Dr. Daniel. »Die Symptome müssen allerdings Sie mir beschreiben. Also, Madame Ferraut, ist es ein ziehender, drückender oder ein schneidender Schmerz?«

»Meine Güte, was weiß ich denn!« brauste sie auf. »Es tut weh, sonst nichts.« Sie drückte die Fingerspitzen gegen die Schläfen. »Ich wünschte, ich wäre in Paris bei Professor de Brecheville.«

Dr. Daniel stand auf. »Ich denke, ich werde auch herausfinden, was Ihnen fehlt. Bitte, folgen Sie mir nach nebenan, und machen Sie sich hinter dem Wandschirm frei.«

Chantal kam seiner Aufforderung nach, obwohl sie derartige Untersuchungen haßte. Sie achtete sehr darauf, immer Würde und Überheblichkeit zu zeigen, daher fühlte sie sich auf dem gynäkologischen Stuhl äußerst unbehaglich. Dazu kam, daß dieser Dr. Daniel mit seinen gut

fünfzig Jahren noch außergewöhnlich attraktiv war, während sich Professor de Brecheville doch schon auf die siebzig zubewegte.

Die Abstrichuntersuchung, die Dr. Daniel durchführte, ergab keinen zweifelhaften Befund.

»Ich muß noch Gebärmutter und Eierstöcke abtasten«, erklärte Dr. Daniel, während er sich dünne Plastikhandschuhe überstreifte. »Letzteres werden Sie möglicherweise als unangenehm, vielleicht sogar als schmerzhaft empfinden, falls eine Eierstock-entzündung für Ihre Schmerzen verantwortlich sein sollte.«

Ergeben schloß Chantal die Augen. Sie haßte diese Untersuchungen!

»Au!« entfuhr es ihr, dann funkelte sie den Arzt mit ihren bernsteinfarbenen Augen an. »Sie Grobian!«

»Es tut mir leid, wenn ich Ihnen weh getan habe«, entgegnete Dr. Daniel, obwohl er wußte, daß die Untersuchung nicht so schmerzhaft gewesen sein konnte, wie Chantal vorgab. »Offensichtlich ist es eine Eierstockzyste, die Ihnen diese Beschwerden bereitet, und nach dem Schmerz zu urteilen, den Sie bei der Untersuchung empfunden haben, dürfte es eine gestielte Zyste sein.« Er trat zurück. »Sie können sich wieder ankleiden.«

Nur zu gern kam Chantal dieser Aufforderung nach, und kaum trug sie ihr elegantes Modellkleid, da hatte sie auch schon wieder Oberwasser bekommen.

»Was bedeuten Ihre Worte im Klartext?« wollte sie wissen.

»Sie sollten sich möglichst schnell operieren lassen«, riet Dr. Daniel ihr. »Eine gestielte Zyste kann sich durch eine rasche, ruckartige Bewegung um den eigenen Stiel drehen und abreißen. Wenn Sie dann nicht schnellstens operiert werden, kann die Geschwulst absterben und zu lebensgefährlichen Bauchfellentzündungen oder Verwachsungen führen. Das Risiko einer Notoperation sollten Sie keinesfalls eingehen, wenn es sich vermeiden läßt.«

Chantal dachte eine Weile über diese Worte nach und mußte sich dabei eingestehen, daß dieser Dr. Daniel allem Anschein nach nicht nur ein äußerst guter und pflichtbewußter Arzt, sondern darüber hinaus auch sehr vorausschauend war.

»Sie haben recht«, stimmte sie im üblichen herablassenden Tonfall zu. »Eine geplante Operation ist da in jedem Fall vorzuziehen.« Sie schwieg einen Moment. »Wie ich hörte, verfügt dieser Ort über eine Klinik, deren Direktor Sie sind. Würde diese Einrichtung meinem Niveau entsprechen?«

»Ich kann Ihnen versichern, daß Sie in der Waldsee-Klinik bestens versorgt werden«, antwortete Dr. Daniel. »Ich weiß nicht, wie sehr Sie beruflich eingespannt sind, ob Sie vielleicht noch wichtige Termine einzuhalten haben. Ansonsten würde ich Ihnen empfehlen, sich möglichst unverzüglich in der Klinik einzufinden. Ich würde den Eingriff dann gleich für morgen früh ansetzen.«

Chantal nickte. »Das wäre mir sehr recht. Wenn ich von der Klinik aus ein paar Telefongespräche führen kann, läßt sich meine Terminlage sicher regeln.«

»Das wird möglich sein«, stimmte Dr. Daniel zu. Er schrieb eine Überweisung aus, die er Chantal reichte. »Wenden Sie sich damit bitte an die Sekretärin Frau Bergmeier. Man wird Ihnen ein schönes Einzelzimmer zuweisen.«

Chantal stand auf, hielt es aber nicht für nötig, sich zu bedanken. Mit einem überheblichen Abschiedsgruß verließ sie Dr. Daniels Praxis.

*

»Ich will nicht, daß du noch ein einziges Mal zu diesem Dr. Daniel gehst!« rief Norbert Krämer wütend, doch seine Freundin Katharina Bertram hörte nur mit halbem Ohr hin. Schon seit Tagen hatte sie das eigenartige Gefühl, als wäre ihr Bauch leer, obwohl man ihr jetzt, im sechsten Monat, die Schwangerschaft schon sehr deutlich ansehen konnte.

»Dr. Daniel ist ein erstklassiger Arzt«, murmelte sie und streichelte mit beiden Händen in der Hoffnung über ihren Bauch, das bekannte Pochen zu fühlen.

Norbert preßte die Lippen zusammen, seine Augen funkelten.

»Wenn er das wäre, dann hätte er dich von diesem Problem befreit«, entgegnete er zornig. »Du bist noch so jung, Kathy. Was sollen wir jetzt schon mit einem Baby?«

Katharinas Kopf ruckte hoch. »Ich freue mich darauf!« Sie zuckte die Schultern. »Sicher, es war nicht geplant, aber eine Abtreibung wäre für mich niemals in Frage gekommen.« Sie schwieg einen Moment. »Im übrigen habe ich dir freigestellt zu gehen, wenn du mich und das Kind nicht haben willst.«

Norbert stöhnte theatralisch. »Kathy, du bist immer gleich

so dramatisch. Meine Güte, du mußt mich doch auch verstehen. Ich bin Journalist, und erst wenn ich mal die Titelstory schlechthin…«

Desinteressiert winkte Katharina ab. »Auf diese Titelstory wartest du, seit wir uns kennen, und das werden bald fünf Jahre sein. Norbert, wir lieben uns, und du verdienst genügend, um eine Familie zu ernähren. Hör endlich auf, hinter einer Titelstory herzujagen, die du vielleicht nie schreiben wirst.«

Doch Norbert schüttelte nur fassungslos den Kopf. »Na, du hast ja eine hohe Meinung von mir und meinen Fähigkeiten.«

»Du verstehst das völlig falsch«, entgegnete Katharina. »Ich liebe dich, Norbert – ob mit Titelstory oder ohne. Mir ist das alles eben nicht so wichtig. Was für mich zählt…« Sie unterbrach sich und tastete wieder nach ihrem Bauch. »Ich spüre mein Baby nicht mehr.«

Angewidert verzog Norbert das Gesicht. »Ob du es spürst oder nicht, dürfte ziemlich egal sein. Es ist jedenfalls nicht zu übersehen.«

Katharina hatte seine lieblosen Worte gar nicht richtig wahrgenommen. Immer wieder glitten ihre Hände über den gerundeten Bauch, dann stand sie auf.

»Bitte, bring mich zu Dr. Daniel.«

»Nein!« begehrte Wolfgang auf. »Es gibt hier in der Nähe auch andere Frauenärzte. Ich will diesen Kerl nicht sehen!«

»Dr. Daniel hat dir nie etwas getan«, erwiderte Katharina verständnislos. »Ganz im Gegenteil. Er war immer freundlich. Warum haßt du ihn nur so?«

Weil er dein Baby nicht abgetrieben hat, dachte Norbert grimmig, sprach es aber nicht aus. Er kannte Katharinas Einstellung dazu, trotzdem konnte er sich eine Bemerkung nicht ganz verkneifen.

»Er hätte sehen müssen, daß du für die Mutterrolle noch viel zu jung bist«, erklärte er. »Meiner Meinung nach bist du einfach nicht reif genug, um ein Kind großzuziehen. Kathy, du bist erst zweiundzwanzig…«

»Meine Schwester war achtzehn, als Ronny zur Welt gekommen ist«, hielt Katharina dagegen. »Jetzt ist sie vierundzwanzig und bereits Mutter von vier Kindern.«

»Vier Nervensägen«, knurrte Norbert. »Oder willst du vielleicht behaupten, diese Rasselbande wäre gut erzogen? Eine Frau ist frühestens mit dreißig so weit, ein Kind anständig großzuziehen, und das hätte dieser Möchtegerngynäkologe schon auf den ersten Blick sehen müssen.«

Katharina reckte sich hoch. »Gleichgültig, was du darüber denkst, ich möchte zu Dr. Daniel, und wenn du mich nicht fährst, dann gehe ich eben zu Fuß.«

Damit zog sie ihre Winterjacke an und verließ die kleine Wohnung. Nach dem gestrigen Eisregen waren die Straßen noch immer spiegelglatt und der Weg zur Praxis von Dr. Daniel entsprechend beschwerlich.

Als Katharina hinter sich den Motor eines Autos hörte, atmete sie auf. Anscheinend hatte es sich Norbert doch noch anders überlegt. Sie drehte sich um, aber die heftige Bewegung löste einen leichten Schwindelanfall aus. Ka-tharina taumelte, glitt auf dem vereisten Gehsteig aus und stürzte schwer.

Im selben Moment stieg der Autofahrer auf die Bremse, sein Wagen schlingerte sekundenlang ganz gefährlich, doch er schaffte es, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen, dann hielt er neben Ka-tharina an und sprang aus dem Auto.

»Haben Sie sich verletzt?« wollte er wissen.

Besorgt beugte sich der Autofahrer über sie und erkannte, daß sie bewußtlos war. Inzwischen war aus dem gegenüberliegenden Gemischtwarenladen die Besitzerin Amelie Hauser herübergekommen.

»Schnell!« rief der Autofahrer. »Rufen Sie in der Waldsee-Klinik an. Die Frau ist schwanger!« Er tastete ihren Hinterkopf ab und hatte sofort Blut an den Fingern. »Sie ist mit dem Kopf schwer aufgeschlagen.«

Im Laufen hob Amelie Hauser beide Hände zum Zeichen, daß sie verstanden hatte, dann verschwand sie in ihrem Laden. Kaum zwei Minuten später kam bereits der Krankenwagen mit Blaulicht und Martinshorn. Zwei Sanitäter sprangen heraus, untersuchten Katharina notdürftig und hoben sie dann vorsichtig auf die fahrbare Trage.

Der junge Autofahrer sah zu, wie die beiden Sanitäter Katharina in den Krankenwagen schoben. Einer von ihnen stieg hinten ein, während sich der andere ans Steuer setzte. Das Martinshorn jaulte auf, dann setzte sich der Wagen in Bewegung.

Der junge Mann starrte auf den Blutfleck, der auf dem vereisten Gehsteig zurückgeblieben war. Dabei sah er noch immer das zarte, blasse Gesicht der verletzten Frau vor sich.

»Es ist schon gut, daß wir die Klinik in der Nähe haben«, meinte Amelie Hauser, die nach dem Anruf sofort wieder herausgekommen war. Schließlich war sie schon von Berufs wegen ein bißchen neugierig. Einen solchen Unfall, direkt vor ihrem Laden, durfte sie sich da natürlich nicht entgehen lassen.

»Ist Ihnen Katharina ins Auto gelaufen?« wollte sie jetzt wissen.

Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein.« Er schwieg kurz. »Sie muß ausgerutscht sein.«

Amelie Hauser nickte. »Ja, ja, nach dem gestrigen Eisregen nützt nicht einmal das Streuen etwas. Eigentlich sollte man heute gar nicht auf die Straße gehen, noch dazu, wenn man schwanger ist. Was da alles passieren kann…«

Der junge Mann hörte nicht weiter zu. Sein Blick ging in die Richtung, in die der Krankenwagen verschwunden war.

»Sie sind wohl nicht aus Steinhausen«, drang Amelies Stimme plötzlich wieder an sein Ohr.

»Doch«, antwortete er. »Aber ich wohne noch nicht lange hier.«

»Trotzdem wußten Sie von der Waldsee-Klinik«, fiel es Amelie wieder ein. »Waren Sie schon mal dort?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein, aber wenn ich zur Arbeit fahre, sehe ich immer den Wegweiser.« Dann verabschiedete er sich so rasch von Amelie, daß sie nichts mehr fragen konnte, und stieg in sein Auto.

Amelie grummelte etwas Unverständliches. Sie hätte doch noch so viel wissen wollen! Mit einem tiefen Seufzer schüttelte sie den Kopf, dann kehrte sie mißmutig in ihren Laden zurück. Bei den heutigen Straßenverhältnissen würden sich wohl nicht viele Kunden zu ihr verirren. Die Chancen für einen ausgiebigen Plausch waren daher sehr gering, was die gute Amelie sichtlich verdroß.

*

Währenddessen war Katharina Bertram in die Notaufnahme der Waldsee-Klinik gebracht worden, und der Chefarzt Dr. Wolfgang Metzler kümmerte sich persönlich um sie.

»Da haben sie sich aber eine böse Platzwunde zugezogen«, meinte er, als er Katharinas Kopf untersucht hatte. »Ansonsten hatten Sie sogar noch Glück. Bei den herrschenden Straßenverhältnissen hätten Sie sich alle Knochen brechen können.«

»Ich weiß«, flüsterte Katharina. Sie fühlte sich schwach und schwindlig, aber das kam vermutlich von der Kopfverletzung. »Ich wollte zu Dr. Daniel.«

»Kein Problem«, meinte Dr. Metzler. »Ich rufe nachher gleich in seiner Praxis an, damit er her-überkommt, wenn seine Sprechstunde zu Ende ist. In der Zwischenzeit werde ich Ihre Wunde nähen.«

»Muß das sein?« fragte Katharina zaghaft.

Dr. Metzler nickte. »So leid es mir tut, das läßt sich nicht umgehen. Ich verspreche Ihnen, daß ich sehr vorsichtig sein werde. Der Ehrlichkeit halber muß ich aber gestehen, daß es trotzdem ein bißchen weh tun wird.«

»Brauchen Sie mich, Herr Chefarzt?« fragte die Oberschwester Lena Kaufmann in diesem Moment.

»Im Augenblick nicht, Oberschwester«, entgegnete der Chefarzt. »Sie könnten bei Dr. Daniel anrufen und ihm sagen, daß ich eine Patientin hierhabe, die ihn sprechen möchte. Außerdem könnten Sie mir Frau Dr. Reintaler herüberschicken.« Er wandte sich Katharina zu. »Dr. Reintaler ist die Gynäkologin hier in der Klinik. Sie wird nur eine Untersuchung vornehmen, damit wir sicher sein können, daß Ihrem Baby bei dem Sturz nichts passiert ist.«

In Katharinas Gesicht stand

eine ganz deutliche Abwehr. »Kann das nicht auch Dr. Daniel machen?«

»Bis er in die Klinik kommt, werden sicher noch ein, zwei Stunden vergehen«, erwiderte Dr. Metzler. »Im übrigen ist Frau Dr. Reintaler eine sehr rücksichtsvolle Ärztin.«

Katharina nickte nur, dann legte sie sich auf die Seite, damit Dr. Metzler die Wunde an ihrem Hinterkopf nähen konnte, doch bereits der erste Stich ließ sie bewußtlos werden.

»Das ist doch…«, murmelte Dr. Metzler kopfschüttelnd, dann kontrollierte er Puls und Blutdruck. »Irgend etwas stimmt da nicht.«

»Was ist los, Wolfgang?«

Der Chefarzt blickte nur kurz zurück. »Alena, gut, daß Sie da sind. Die junge Frau ist schwanger, dreiundzwanzigste Schwangerschaftswoche. Sie ist auf der vereisten Straße gestürzt, und als ich jetzt ihre Kopfwunde nähen wollte, ist sie mir plötzlich weggekippt. Der Kreislauf ist ziemlich labil, was Mitursache des Sturzes gewesen sein könnte. Möglicherweise liegt der Grund dafür in der Schwangerschaft.«

Alena Reintaler nickte, dann drehte sie Katharina mit Hilfe des Chefarztes auf den Rücken und legte ihre Beine in spezielle Bügel. Vorsichtig streifte sie Katharinas Slip über die Oberschenkel, dann zog sie sich Plastikhandschuhe an und nahm eine erste Untersuchung vor.

»Der Muttermund ist fest geschlossen«, stellte sie fest.

»Keine Anzeichen für eine drohende Fehlgeburt, auch keine Blutungen, die den Kreislauf schwächen könnten.«

In diesem Moment bewegte sich Katharina, dann schlug sie die Augen auf.

»Was ist… passiert?« stammelte sie.

»Sie waren für einen Moment bewußtlos«, antwortete Dr. Metzler sichtlich besorgt. »Hatten So so etwas während Ihrer Schwangerschaft schon öfter?«

Katharina nickte schwach. »Seit zwei Wochen fühle ich mich nicht besonders wohl. Ich hätte eigentlich längst zu Dr. Daniel gehen sollen, aber Norbert… er…« Sie verdrehte die Augen, dann kippte ihr Kopf wieder zur Seite.

»Da stimmt etwas nicht«, wiederholte Dr. Metzler mit Nachdruck. »Ich brauche Robert, aber sofort.«

Alena nickte, eilte aus der Notaufnahme ins Ärztezimmer. Dort nahm sie den Telefonhörer ab und wählte hastig die Nummer. In der Praxis von Dr. Daniel ging wie immer die junge Empfangsdame Gabi Meindl an den Apparat. Alena hielt sich nicht lange mit irgendwelchen Vorreden auf.

»Schicken Sie Dr. Daniel sofort in die Waldsee-Klinik«, bat sie. »Es ist dringend.«

Gabi Meindl seufzte.

»Dringend«, knurrte sie. »Immer ist alles dringend. Nur bei uns, da darf nichts dringend sein.« Sie drückte auf einen Knopf der Gegensprechanlage.

»Ja, was ist?« erklang gleich darauf Dr. Daniels angenehm tiefe Stimme.

»Die Waldsee-Klinik verlangt dringend nach Ihnen«, erklärte Gabi. »Ich weiß leider nicht, worum es geht.«

»Schon gut, Fräulein Meindl, ich fahre sofort hinüber. Ohne Grund werde ich ja nie dorthin gerufen.«

Wenige Sekunden später verließ Dr. Daniel im Laufschritt die Praxis, stieg in sein Auto und war kaum fünf Minuten später in der Klinik angelangt.

»Robert, Gott sei Dank«, stieß Dr. Metzler hervor. »Wir haben eine Patientin von dir, Katharina Bertram. Sie kam aufgrund eines Sturzes hierher, aber in der Zwischenzeit ist sie mir schon zweimal weggekippt, ohne daß ich den Grund dafür finden konnte. Der Kreislauf ist ein wenig labil, vielleicht aufgrund der Schwangerschaft, aber sonst konnte ich nichts feststellen. Alena hat sie untersucht, doch auch da ergaben sich keine Auffälligkeiten, außer, daß das Kind wohl ein bißchen klein ist.«

Dr. Daniel runzelte die Stirn. »Wie bitte?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich. Das Baby hat sich vollkommen normal entwickelt.«

Inzwischen hatten sie die Notaufnahme erreicht und konnten feststellen, daß Katharina schon wieder ohnmächtig geworden war. Rasch streifte sich Dr. Daniel Plastikhandschuhe über und untersuchte die junge Frau.

»Ultraschall«, ordnete er an, während er schon das spezielle Gel auf Katharinas Bauch verteilte, dann ließ er den Schallkopf darübergleiten.

»O mein Gott«, stöhnte Dr. Daniel leise. »Das Baby ist tot.«

»Bist du sicher?« fragte Dr. Metzler und betrachtete das Ultraschallbild.

»Es bewegt sich nicht, und eine Herztätigkeit ist auch nicht nachweisbar«, entgegnete Dr. Daniel, ließ den Schallkopf aber trotzdem noch zweimal über Katharinas Bauch gleiten, um seine Diagnose abzusichern.

Jetzt nickte auch Dr. Metzler. »Du hast recht, Robert, es ist tot.«

Niedergeschlagen ließ Dr. Daniel den Schallkopf sinken, dann schaltete er das Gerät aus. Im selben Moment schlug Katharina die Augen auf.

»Herr Doktor«, stammelte sie leise. »Mein Baby… ich wollte gerade zu Ihnen… es ist so komisch… so… als wäre mein Bauch leer…«

Dr. Daniel trat zu ihr und griff tröstend nach ihrer Hand.

»Sie wissen also schon, daß mit Ihrem Baby etwas nicht in Ordnung ist«, begann er behutsam. »Ich nehme an, Sie haben in den letzten Tagen auch keine Bewegungen mehr gespürt.«

Katharina nickte, dann erschrak sie. »Sie können ihm doch helfen, oder?«

Dr. Daniel kämpfte sekundenlang mit sich. Katharina war in einer ziemlich schlechten Verfassung, und sie hatte sich so sehr auf ihr Kind gefreut… andererseits konnte er ihr die Wahrheit auch nicht verschweigen. Der abgestorbene Fetus mußte geholt werden, und zwar so schnell wie möglich, und es gab keine sanften, behutsamen Worte, um ihr diese schreckliche Wahrheit zu sagen.

»Katharina, Ihr Baby… es ist tot«, erklärte Dr. Daniel, und jedes Wort tat ihm dabei weh.

Aus entsetzten Augen starrte Katharina ihn an, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein… nein, das ist nicht wahr.«

Dr. Daniel schluckte. Es war so unsagbar schwer, dieser jungen Frau zu sagen, was gesagt werden mußte.

»Es tut mir schrecklich leid, Katharina, aber… ich kann nichts mehr für Ihr Baby tun.« Er zögerte, obwohl er wußte, daß er jetzt weitersprechen mußte. Es war dringend nötig, Katharina die Wahrheit zu sagen… von ihr die Einwilligung zu dem unvermeidlichen Eingriff zu bekommen. »Ich muß es herausholen.«

Ein Zittern lief durch ihren Körper, dann schrie sie auf.

»Nein!«

Sanft umschloß Dr. Daniel ihre Hände. »Katharina, das Baby ist tot, und wenn es noch länger in Ihrem Körper bleibt, dann geraten auch Sie in Lebensgefahr.«

Hilflos begann die junge Frau zu schluchzen. »Herr Doktor… bitte…«

»Sie werden nichts spüren, Katharina«, versprach Dr. Daniel, obwohl er wußte, daß das für die junge Frau jetzt nur von nebensächlicher Bedeutung war.

»Sie dürfen mir das Baby nicht wegnehmen«, stammelte Katharina unter Tränen.

»Es ist tot«, wiederholte Dr. Daniel eindringlich. »Und ich will nicht, daß Sie auch noch sterben, Katharina, bitte, lassen Sie mich tun, was nötig ist.«

Aus tränennassen Augen sah sie ihn an, dann nickte sie. Dr. Daniel wandte sich der Oberschwester zu. Lena Kaufmann, die früher als Sprechstundenhilfe für Dr. Daniel gearbeitet hatte, war noch immer in der Lage, sich nur durch Blicke mit ihm zu verständigen. Jetzt trat sie an die Untersuchungsliege, auf der Ka-tharina lag, hielt ihre Hände und streichelte immer wieder tröstend über ihr dichtes dunkles Haar.

Währenddessen zog Dr. Daniel eine Spritze auf und injizierte sie in Katharinas Gesäßmuskel, dann beugte er sich noch einmal über die junge Frau.

»Ich bin gleich wieder zurück, Katharina«, versprach er. »In der Zwischenzeit wird sich Oberschwester Lena um Sie kümmern.«

Er wartete Katharinas zaghaftes Nicken ab, ehe er die Notaufnahme verließ und sich auf die Suche nach Dr. Erika Metzler machte. Sie war die Ehefrau des Chefarztes, die hier in der Klinik neben Dr. Jeffrey Parker als zweite Anästhesistin arbeitete.

»Ich habe in der Notaufnahme eine Missed abortion«, erklärte er. »Ich habe ihr gerade Prosta-glandine gespritzt, aber ich will nicht, daß sie das Einsetzen der Wehen noch mitbekommt. Au-ßerdem ist zu befürchten, daß ich den Uterus zusätzlich noch instrumentell ausräumen muß.«

Erika nickte. »Ich hole die Patientin in den OP hinüber und leite sofort eine leichte Narkose ein.«

Das geschah dann auch keine Minute zu früh. Die Spritze wirkte bei Katharina weit schneller, als Dr. Daniel angenommen hatte. Sie war unter Einwirkung der Narkose gerade eingeschlafen, als die Gebärmutter erste Kontraktionen zeigte. Dr. Daniel, der sich inzwischen keimfrei gemacht hatte, begann vorsichtig, mit Dehnungsstiften die Zervix zu weiten, dann nahm er die Sprengung der Fruchtblase vor.

»Blutdruck fällt, Pulsfrequenz steigt«, meldete sich Erika in diesem Moment. »Schockgefahr.«

»Blutgruppenbestimmung und Kreuzprobe«, ordnete Dr. Daniel an. »Danach Dauertropf mit PPL und Venenkatheter. Sobald genügend blutgruppengleiches gekreuztes Blut bereitsteht, Transfusion einleiten.« Er wandte sich der OP-Schwester zu. »Holen Sie den Oberarzt.«

Es dauerte keine fünf Minuten, bis Dr. Gerrit Scheibler zur Stelle war.

»Ich brauche eine Bestimmung des Fibrinogengehalts, außerdem Thrombozythen- und Thrombinzeitbestimmung«, erklärte Dr. Daniel.

»In Ordnung«, entgegnete Dr. Scheibler, entnahm von Katharina eine Blutprobe und eilte damit ins Labor.

»Blutdruck steigt weiter, Puls fällt«, meldete sich Erika.

Inzwischen war das tote Kind durch die Wehentätigkeit in den Geburtskanal gepreßt worden. Blut strömte nach, und Dr. Daniel vermutete, daß die heftigen Blutungen durch die sich ablösende Plazenta verursacht wurden.

»Fibrinogengehalt liegt bei 90 mg%«, erklärte Dr. Scheibler im Hereinkommen. »Ich würde sagen, das bedeutet eine massive Gerinnungsstörung.«

Dr. Daniel nickte. »Geben Sie der Patientin zehn Milligramm Humanfibrinogen als Infusion. Wenn Sie die Trockenampulle in ein Wasserbad von 37 Grad stellen, verkürzt sich die Lösungszeit. Das Fibrinogen schnell einlaufen lassen. Ich muß inzwischen den Uterus ausräumen.«

Dr. Scheibler nickte nur, dann machte er sich an die Arbeit. Er hatte die Infusion gerade angeschlossen, als Dr. Daniel fortfuhr: »Bluttransfusion anschließen. Wenn das Fibrinogen eingelaufen ist, spritzen Sie in die Armvene zweihunderttausend Einheiten Trasylol. Anschließend Dauertropf-Infusion von Trasylol, hunderttausend Einheiten pro Stunde – vorerst für vier Stunden.«

Während Dr. Scheibler diese Anordnungen befolgte, holte Dr. Daniel das tote Kind mit Hilfe der Zange, dann nahm er eine vorsichtige intrumentelle Ausräumung vor, wobei er besonders darauf achtete, den brüchigen Gebärmutterhals nicht zu verletzen.

Mit Bewunderung sah Dr. Scheibler ihm zu. Er hatte selbst lange im gynäkologischen Bereich gearbeitet und wußte, daß die Ausräumung bei Missed abortion einer der riskantesten Eingriffe der Abortbehandlung war, eben weil es infolge der Gerinnungsstörung zu lebensbedrohlichen Blutungen kommen konnte und auch wegen der gefährlichen Brüchigkeit der Zervixwand.

»Die Blutung kommt zum Stehen«, stellte Dr. Scheibler fest.

Dr. Daniel nickte nur. Der lange und sehr riskante Eingriff hatte ihn stark mitgenommen, dazu kam seine Niedergeschlagenheit, weil es ein totes Baby war, das er hatte holen müssen.

»Ich bringe den Fetus in die Pathologie«, bot Dr. Scheibler an, weil er Dr. Daniel gut genug kannte, um zu wissen, wie nahe ihm ein solcher Zwischenfall ging.

»Danke, Gerrit«, murmelte er. »Vielleicht können Sie auch Wolfgang Bescheid sagen, daß ich hier fertig bin, und er die Platzwunde am Kopf jetzt nähen kann.«

»Wird gemacht«, stimmte Dr. Scheibler zu, dann wickelte er den toten Fetus vorsichtig ein, doch bevor er ihn aus dem Operationssaal trug, trat er noch einmal zu Dr. Daniel und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Robert, gehen Sie jetzt bitte nicht gleich in Ihre Praxis zu-rück. Sie sollten sich unbedingt eine kleine Pause gönnen, vielleicht einen Kaffee trinken und versuchen, ein bißchen abzuschalten.«

Dr. Daniel seufzte. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Gerrit. Ich habe so etwas schon öfter durchgestanden. Es ist immer wieder schwer, aber es gehört eben leider auch zu meinem Beruf.« Noch einmal kontrollierte er die Blutung, doch unter der Einwirkung der angeordneten Medikamente kam sie nun wirklich zum Erliegen.

Dr. Scheibler schüttelte den Kopf. »Ihnen ist wirklich nicht zu helfen, Robert, aber jetzt weiß ich wengistens, woher Stefan seinen Dickkopf hat. Er ist voll und ganz Ihr Sohn.«

Obwohl ihm nicht danach zumute war, mußte Dr. Daniel ein wenig lächeln. »Sie haben gewonnen, Gerrit. Ich werde einen Kaffee trinken, vielleicht leisten Sie mir ja ein bißchen Gesellschaft, wenn Ihr Dienstplan das zuläßt.«

Dr. Scheibler nickte. »Er muß es zulassen. Wir sehen uns in einer Viertelstunde in der Caféteria.«

Dr. Daniel sah ihm nach, als er das tote Baby hinaustrug, dann wandte er sich Erika zu. »Wenn Wolfgang fertig ist, bringen Sie die Patientin auf Intensiv. Ich kümmere mich nachher persönlich um sie.«

*

Dr. Stefan Daniel stand im Ärztezimmer der Chirurgie und sah sich ein wenig wehmütig um. In den vergangenen zwei Jahren war ihm die Waldsee-Klinik beinahe zu einer zweiten Heimat geworden. Hier hatte er seine Assistenzzeit verbracht… hatte seine ersten Erfahrungen als Arzt gemacht… und auch gelernt, was Disziplin bedeutete. Es war oftmals eine schwierige Zeit gewesen, doch jetzt, da sie sich dem Ende zuneigte, wußte Stefan, daß es vieles war, was ihm in Zukunft fehlen würde.

Seit einem Vierteljahr arbeitete Stefan nun schon als vollwertiger Arzt hier in der Klinik mit, denn er wollte seinen Facharzt unbedingt im Krankenhaus seines Patenonkels Dr. Georg Sommer machen, der überdies auch schon seit vielen Jahren der beste Freund seines Vaters war. Die Sommer-Klinik erfüllte erst seit Anfang dieses Jahres die Anforderungen, die an eine Hochschulklinik gestellt wurden, deshalb hatte Stefan nach Ende seiner Assistenzzeit noch warten müssen, ehe er seine Ausbildung zum Facharzt antreten konnte. Doch nun war es soweit. Anfang nächster Woche würde die Sommer-Klinik in München sein neuer Arbeitsplatz sein – für fünf Jahre… wahrscheinlich sogar für mehr, wenn er sein Vorhaben durchführen und nach der Ausbildung zum Gynäkologen die Laufbahn des Mikrochirurgen einschlagen würde. Immerhin hatte er über dieses Thema auch seine Doktorarbeit geschrieben.

»Na, Stefan, freust du dich schon auf deine neuen Aufgaben in der Sommer-Klinik?«

Stefan erschrak, als er so unverhofft vom Chefarzt der Waldklinik angesprochen wurde.

»Mein lieber Wolfgang, mit so etwas kannst du bei sensiblen Menschen einen Herzinfarkt verursachen«, meinte er.

Dr. Metzler grinste. »Du bist nur erschrocken, weil sich deine Gedanken gerade in nicht sehr liebevoller Weise mit deinem Chefarzt, diesem alten Ekel, beschäftigt haben, stimmt?«

Lächelnd schüttelte Stefan den Kopf. »Da unterliegst du einem gewaltigen Irrtum, Wolfgang. Erstens bist du weder alt noch ein Ekel, und zweitens…« Er zuckte die Schultern. »Ich gebe zu, daß ich oft eine Stinkwut auf dich hatte, wenn du wieder so gnadenlos streng mit mir warst, aber jetzt… im Nachhinein betrachtet, bin ich dir sehr dankbar dafür. Im Grunde hast du das aus mir gemacht, was ich jetzt bin.«

»Nun hör aber auf«, wehrte Dr. Metzler ab. »Du hast in den vergangenen beiden Jahren hart an dir gearbeitet. Anfangs war es nicht leicht mit dir, weil du deinen entsetzlichen Dickschädel auf Biegen und Brechen durchsetzen wolltest, und es hat mich gelegentlich wirklich Mühe gekostet, dich zur Räson zu bringen. Aber jetzt entlasse ich einen Arzt, der es verdient, sich so zu nennen, und ich bin sicher, daß auch Dr. Sommer mit dir sehr zufrieden sein wird.«

Über diesem Lob wurde Stefan ganz verlegen. Dr. Metzler bemerkte es und lenkte ein wenig ab.

»Du hast meine Frage von vorhin noch nicht beantwortet. Freust du dich?«

Stefan nickte. »Ja, natürlich freue ich mich, aber… der Abschied von der Waldsee-Klinik fällt mir doch schwerer, als ich gedacht hatte. Hier habe ich meine Freunde, und ich schätze, ihr werdet mir alle schrecklich fehlen.«

Dr. Metzler legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du wirst uns auch fehlen, Stefan – als Freund und als Arzt.« Dann lächelte er. »Aber München ist ja schließlich nicht aus der Welt. Ich denke doch, daß du uns gelegentlich besuchen wirst.«

»Mit Sicherheit«, bekräftigte Stefan. »Ich werde ja weiterhin in der Villa meines Vaters wohnen.« Ein zärtliches Lächeln erhellte sein Gesicht, als er hinzufügte: »Außerdem bleibt mein Herz hier in Steinhausen bei Darinka.« Er seufzte. »Sie werde ich am meisten vermissen. Wenn ich nur daran denke, daß ich künftig nicht mehr jeden Tag mit ihr zusammensein kann…« Noch einmal seufzte er, dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Meine Güte, ich muß ja schnellstens in die Gynäkologie hinüber. Bei einer Patientin meines Vaters sollen die vorbereiteten Untersuchungen durchgeführt werden, damit sie morgen früh operiert werden kann.«

»Also, Dr. Daniel junior, dann nichts wie an die Arbeit«, meinte Dr. Metzler lächelnd.

Das ließ sich Stefan natürlich nicht zweimal sagen. Eiligen Schrittes ging er in die Gynäkologie hinüber und betrat nach kurzem Anklopfen das Zimmer, das sein Vater ihm am Telefon genannt hatte.

»Guten Tag«, begann er mit höflichem Lächeln, doch dann blieb ihm jedes weitere Wort buchstäblich im Halse stecken.

Wie einem Magazin entsprungen saß die junge, bildschöne Frau im Bett. Ihr Gesicht war makellos geschminkt, die bernsteinfarbenen Augen dominierten und boten einen ganz zauberhaften Kontrast zu ihrem kupferroten Haar. Das hauchdünne Negligé enthüllte mehr, als es verbarg, und im selben Moment wurde Stefan bewußt, daß er noch nie eine Frau gesehen hatte, die soviel Weiblichkeit, Eleganz und Schönheit in sich vereinte wie Chantal Ferraut.

»Mein Name ist… Daniel«, brachte Stefan mit einiger Mühe hervor.

Chantal zog die Augenbrauen hoch, wie sie es immer tat, wenn sie erstaunt oder ärgerlich war.

»Daniel?« wiederholte sie. »Sie sind doch wohl nicht der Sohn des Gynäkologen Daniel?«

Stefan nickte. »Doch, der bin ich.«

Mit einer anmutigen Handbewegung strich Chantal ihr dichtes Haar zurück. »Diese Klinik scheint ja der reinste Familienbetrieb zu sein.«

»Ich bin nicht mehr lange hier«, entgegnete Stefan.

Chantal musterte ihn eingehend und stellte dabei fest, daß sich ein Flirt mit diesem gutaussehenden jungen Arzt lohnen könnte. Das markante Gesicht, die wunderschönen blauen Augen und die dunklen Locken… ja, dieser Dr. Daniel würde ihr den Aufenthalt hier ein wenig erträglicher machen.

Chantal setzte ein Lächeln auf, das sie tausendmal geübt hatte und das auch bei Stefan seine Wirkung nicht verfehlte. Es ging ihm mitten ins Herz, und eben dieses Herz vollführte jetzt einen wahren Trommelwirbel. Seine bezaubernde Freundin Da-rinka war von einem Moment zum anderen vergessen.

»Ich muß Ihnen ein bißchen Blut abnehmen, Madame Ferraut«, fuhr Stefan fort, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er das mit seinen plötzlich zitternden Händen überhaupt bewerkstelligen sollte.

»Chantal«, verbesserte sie mit sanfter Stimme, dann streckte sie ihren linken Arm aus. »Bitte, Herr Dr. Daniel, walten Sie Ihres Amtes.«

Stefan beugte sich über den Arm und versuchte Ruhe in seine Gedanken und vor allem in seine Hände zu bekommen, doch es ging nicht. Der sinnliche Duft, der von Chantal ausging, verwirrte ihn immer mehr.

»Nennen Sie mich Stefan«, hörte er sich sagen und fühlte sich dabei, als würde er auf Wolken schweben. Die Klinik, seine Arbeit… alles lag auf einmal in weiter Ferne. Nur Chantal war noch da. Chantal und er…

»Stefan«, wiederholte sie leise, dann schüttelte sie den Kopf. »Das klingt viel zu hart. Es paßt nicht zu dir.« Ganz selbstverständlich ging sie bereits zum vertrauten Du über. »Bei mir zu Hause würde man dich Etienne nennen.« Mit ihren schmalen, feingliedrigen Händen berührte sie sein Gesicht. »Etienne.«

Chantals Duft, ihre sanfte, sinnliche Stimme… das alles machte Stefan völlig benommen, und ehe er noch wußte, was wirklich geschah, lagen seine Lippen schon auf den ihren. Wild und voller Leidenschaft erwiderte er ihren Kuß, ließ sich von seinen Gefühlen treiben und wußte dabei nur eines. Er wollte sich von Chantal nie wieder trennen!

*

Niedergeschlagen und todunglücklich lag Katharina Bertram in ihrem Bett. Gestern nach der schweren Operation hatte sie kaum etwas von dem mitbekommen, was um sie herum vorgegangen war, doch heute war es anders. Sie mußte zwar noch immer Infusionen bekommen und lag auch nach wie vor auf der Intensivstation, aber das Geschehene stand in aller Deutlichkeit vor ihr.

»Ihr Baby ist tot«, hatte Dr. Daniel gesagt.

Tot. Schmerzhaft hämmerte dieses eine Wort in ihrem Kopf. Er hatte ein totes Baby aus ihr herausgeholt. Er hatte es getan, um sie zu retten, doch das konnte Katharina nicht trösten. Ohne das Baby schien ihr Leben plötzlich allen Sinn verloren zu haben.

»Katharina, Sie sind ja wach.«

Langsam wandte sie ihren Kopf Dr. Daniel zu, der die Intensivstation betreten hatte.

»Ich habe Bauchschmerzen, Herr Doktor«, flüsterte sie, aber Dr. Daniel spürte, daß das für sie nur von nebensächlicher Bedeutung war. Der wirkliche Schmerz lag nicht im Bauch, sondern ein ganzes Stück höher – in ihrem Herzen.

Spontan setzte sich Dr. Daniel zu ihr und griff nach ihrer Hand. »Die Bauchschmerzen kommen von dem gestrigen Eingriff und von den Kontraktionen der Gebärmutter, die sich jetzt wieder zurückbilden muß. In ein paar Tagen wird das vorbei sein.« Besorgt sah er sie an. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, Katharina. Worte des Trostes sind hier wohl fehl am Platze. Für den Verlust, den Sie erlitten haben, gibt es keinen Trost, aber die Zeit wird es bessermachen.«

Katharina nickte, dann richtete sie ihren Blick voller Angst auf Dr. Daniel. »Wird es bei mir immer so sein?«

Der Arzt wußte genau, was sie meinte, und schüttelte den Kopf. »Ihre nächste Schwangerschaft kann ganz normal verlaufen.«

»Kann?« wiederholte sie fragend. »Ich muß also damit rechnen, daß… daß es noch einmal passiert?«

»Machen Sie sich darüber bitte keine Gedanken, Katharina. Sie sollten mit einer zweiten Schwangerschaft ohnehin warten, bis Sie dieses schreckliche Erlebnis einigermaßen verarbeitet haben.« Er holte einen Zettel hervor. »Ich habe hier die Adresse einer Selbsthilfegruppe. Das sind junge Frauen, die Fehlgeburten, Totgeburten oder ähnlich Schlimmes hinter sich haben und nun im gemeinsamen Gespräch Hilfe… manchmal auch nur Erleichterung suchen.«

»Danke«, flüsterte Katharina, starrte den Zettel an, dachte dabei aber an etwas völlig anderes. »Was wäre es gewesen?«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß es gut für Sie ist, wenn…«

»Bitte, Herr Doktor«, fiel Ka-tharina ihm ins Wort. »Ich muß es wissen. Ich trauere um mein Kind, da kann ich es nicht als Sache sehen. Ich möchte ihm einen Namen geben… ich möchte…« Sie schluchzte auf. »Bitte, sagen Sie es mir.«

Dr. Daniel zögerte noch einen Moment, dann gestand er leise: »Es wäre ein kleines Mädchen gewesen.«

»Ein Mädchen.« Die Worte kamen nahezu tonlos, während ihr Herz vor Qual aufzuschreien schien. Wieder suchte sie Dr. Daniels Blick. »Werden Sie herausfinden, woran es gestorben ist? Ob… ob ich vielleicht einen Fehler gemacht habe?«

»Das haben Sie ganz sicher nicht«, entgegnete Dr. Daniel entschieden. »Die Ursachen, die zu derartigen… Todesfällen führen, sind sehr vielfältig, aber natürlich versuchen wir immer, sie herauszufinden – schon aus dem Grund, damit möglichst wenige werdende Mütter das durchmachen müssen, was Sie jetzt durchleiden.«

Impulsiv drückte Katharina seine Hand. »Herr Doktor, ohne Sie… Ihren Beistand… ich wüßte nicht, wie ich es durchstehen würde. Gestern… als ich von der Narkose noch völlig erschöpft war… gleichgültig, wann ich die Augen auch öffnete, Sie waren immer bei mir. Und auch heute… das erste, was Oberschwester Lena mir sagte, war, daß Sie jederzeit für mich dasein würden, wenn ich das Bedürfnis hätte, mit Ihnen zu sprechen.«

Dr. Daniel nickte. »Sie sagte Ihnen das auf meine Anweisung hin, und es war vollkommen ernst gemeint. Ich werde auch in Zukunft immer für Sie dasein, wenn Sie mich brauchen. Sie hatten eines der schrecklichsten Erlebnisse, die eine Frau überhaupt haben kann, und das einzige, was ich tun kann, um Ihnen zu helfen, ist, für Sie dazusein und…«

»Das ist auch Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit!« fiel Norbert Krämer ihm in diesem Moment ins Wort. Seine Stimme klang hart und scharf. »Immerhin waren Sie es, der das Baby meiner Freundin getötet hat.«

Dr. Daniel fuhr herum und sah den ungehobelten jungen Mann ärgerlich an. »Erstens ist es Ihnen untersagt, ohne Erlaubnis die Intensivstation zu betreten, und zweitens – wie kommen Sie dazu, derartige infame Behauptungen aufzustellen?«

Norbert zeigte ein überhebliches Lächeln. »Ich habe mich umgehört, Herr Doktor.« Die letzten beiden Worte waren vol-ler Sarkasmus. Er wollte damit offenbar deutlich machen, wie wenig er von Dr. Daniels ärztlichen Fähigkeiten hielt.

Allerdings konnte er den Arzt damit nicht aus der Ruhe bringen.

»Sie unterliegen einem großen Irrtum, Herr Krämer. Ich darf und will mich mit Ihnen über diese Angelegenheit nicht unterhalten…«

»Hast du gehört, Liebes«, wandte sich Norbert demonstrativ an seine Freundin. »Der Tod deines Babys ist für ihn nur eine Angelegenheit.«

»Hör auf, Norbert«, bat Ka-tharina leise. »Das alles ist schlimm genug für mich. Mach du mir jetzt nicht auch noch Kummer.« Sie schwieg kurz. »Das Baby war tot. Dr. Daniel hat mein Leben gerettet…«

»Wie edel von ihm.« Wieder dieser beißende Sarkasmus, dann sah Norbert seine Freundin eindringlich an. »Und wenn sich die Sache nun ganz anders verhalten hätte? Wenn das Baby noch gelebt hätte und Dr. Daniel es durch seinen überstürzten Eingriff erst getötet hätte?«

Doch Katharina ließ sich nicht beirren. »Ich habe es in den Tagen zuvor schon nicht mehr gespürt… es hat sich nicht bewegt. Im übrigen würde Dr. Daniel ein solcher Fehler niemals unterlaufen.«

»Das wird noch herauszufinden sein«, meinte Norbert und sah Dr. Daniel dabei provozierend an.

»Verlassen Sie sofort die Intensivstation«, verlangte der Arzt energisch. »Und am besten auch die Klinik. Ihre bösartigen Unterstellungen entbehren jeder Grundlage, aber das wird ein Journalist wie Sie wohl auch noch herausfinden. Nun gehen Sie bitte.«

Norbert machte auf dem Absatz kehrt, doch er sah noch einmal zu Katharina zurück.

»Keine Sorge, Liebes, ich werde diesen Skandal aufdecken«, versprach er. »Dr. Daniel wird mit Sicherheit das letzte Mal so an einer Frau herumgepfuscht haben.«

*

Zusammengekrümmt lehnte die junge Frau Krankenpflegehelferin Darinka Stöber an der Wand und preßte beide Hände auf ihren Bauch, während Tränen über ihr zartes, madonnenhaftes Gesicht liefen.

»Darinka! Um Himmels willen, was ist denn los?« fragte die Stationsschwester der Gynäkologie, Bianca Behrens, besorgt. Sie und Darinka waren in den vergangenen Monaten zu dicken Freundinnen geworden und teilten sich seit einiger Zeit hier in Steinhausen sogar eine Wohnung.

»Nichts«, brachte Darinka mühsam hervor. »Es ist…« Schluchzend glitt sie an der Wand nach unten, bis sie mit angezogenen Knien auf dem Boden saß. Sie schlang beide Arme um ihre Beine und preßte das Gesicht hinein. »Es tut so weh, Bianca.«

Die junge Krankenschwester hatte Mühe, die gemurmelten Worte zu verstehen. Jetzt legte sie einen Arm um Darinkas bebende Schultern und drückte sie freundschaftlich an sich.

»Soll ich Dr. Metzler rufen?« fragte sie. »Oder Dr. Daniel?«

Heftig schüttelte Darinka den Kopf. »Ich bin nicht krank.«

Im selben Moment begriff Bianca. Es war also kein haltloses Gerücht, daß sich zwischen der rassigen Französin von Nummer 12 und Stefan Daniel etwas angebahnt hatte. Bianca hatte bis gestern Urlaub gehabt, aber nach allem, was ihre Kollegin Alexandra Keller heute früh erzählt hatte, mußte es zwischen dieser Chantal Ferraut und dem jungen Dr. Daniel schwer gefunkt haben. Angeblich war die junge Französin vor zwei Tagen operiert worden, und seitdem sollte Stefan Daniel kaum noch von ihrer Seite gewichen sein. Heute hatte zumindest Bianca ihn noch nicht gesehen, also lag die Vermutung nahe, daß er auch jetzt bei seiner neuen Flamme saß.

»Vielleicht ist es ja ganz harmlos«, versuchte Bianca ihre Freundin zu trösten. »Bei jedem Mann hakt manchmal was aus, wenn er eine schöne Frau sieht. Der junge Dr. Daniel liebt dich doch.«

Mit verweinten Augen blickte Darinka auf. »Es ist nicht harmlos, das spüre ich… es ist ganz bestimmt nicht harmlos.«

»Heißt das… er hat noch kein Wort darüber verloren?«

Darinka schüttelte den Kopf. »Das muß er auch gar nicht. Sein Verhalten sagt mir mehr als jedes Wort.«

»Was ist hier los? Habt ihr denn nichts zu tun?«

Bianca blickte auf und direkt in Stefan Daniels ernstes Gesicht hinein, während Darinka beim Klang seiner Stimme heftig zusammengezuckt war und sich jetzt mühsam aufrappelte. Vergeblich versuchte sie, ihre Tränen wegzuwischen.

Bianca murmelte ein paar Worte, dann ließ sie Stefan und Darinka allein. Vielleicht ergab sich ja auf diese Weise ein klärendes Gespräch zwischen den beiden.

Doch im Augenblick standen sie sich nur stumm gegenüber, und Darinka war sich wieder einmal des großen Altersunterschieds bewußt, der zwischen ihr und Stefan bestand. Acht Jahre waren eine ganze Menge. Stefan hatte zwar einmal gesagt, es würde ihn nicht im geringsten stören, aber nun war diese Französin aufgetaucht… eine reife, erfahrene Frau, und anscheinend war ihm dadurch bewußt geworden, welch ein Kind Darinka mit ihren achtzehn Jahren noch war.

»Ab morgen arbeite ich in München.«

Stefans Worte und seine Stimme klangen seltsam unbeteiligt.

Darinka, die bis jetzt beharrlich auf den Boden geblickt hatte, hob langsam den Kopf. Sie wußte, daß in ihren Augen noch immer Tränen standen, aber warum sollte Stefan nicht wissen, wie es um sie stand… wie sehr sie unter seiner plötzlichen Kälte und Lieblosigkeit litt… und auch unter seinem Betrug.

»Ich nehme an… es ist ein Abschied für immer.«

Ihre Stimme klang heiser und unsicher.

Stefan schwieg, während Da-rinka in seinen Augen verzweifelt nach einem winzigen Zeichen von Liebe suchte.

»Ich kann es dir nicht erklären, Darinka«, sagte er endlich. »Ich verstehe mich ja selbst kaum. Ich weiß nur, daß ich nicht mehr so weiterleben kann wie bisher. Chantal hat etwas in mir geweckt…« Er konnte Darinkas bekümmertem Blick nicht länger standhalten und senkte den Kopf. »Es tut mir leid.«

»Stefan«, stammelte sie leise. Sie versuchte ihn zu erreichen… mit ihrer Stimme… mit ihrer Liebe, doch er schien meilenwert entfernt, obwohl sie doch nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn berühren zu können.

»Es tut mir leid«, flüsterte er noch einmal, dann drehte er sich abrupt um und ging mit langen Schritten den Flur entlang. Als er vor dem Zimmer 12 sekundenlang verharrte und schließlich eintrat, hätte Darinka vor Qual aufschreien mögen.

Wieder preßte sie die Hände auf ihren Bauch, stöhnte unter den Schmerzen, die in ihr tobten, und sank dann schließlich kraftlos auf die Knie. Sie fühlte Übelkeit aufsteigen und würgte, doch ihr Magen war leer, weil sie sich heute schon zweimal hatte übergeben müssen.

»Hey, Mädchen, was ist denn los?«

Durch den Schleier ihrer Tränen sah Darinka, wie Dr. Jeffrey Parker neben ihr niederkniete. Dann nahm er sie kurzerhand auf die Arme und trug sie ins Untersuchungszimmer.

»Es ist nichts, Herr Doktor«, brachte Darinka mühsam hervor und kletterte von der Untersuchungsliege, auf die Dr. Parker sie gelegt hatte. »Es ist… es ist wirklich nichts.« Nahezu fluchtartig verließ sie den Raum. Ratlos sah ihr der junge Anästhesist nach.

»Akuter Liebeskummer«, erläuterte Bianca, die den Vorfall mitbekommen hatte. »Der junge Dr. Daniel hat sie offenbar sitzenlassen.«

Ärgerlich schüttelte Dr. Parker den Kopf. Natürlich hatte auch er schon bemerkt, wie intensiv sich Stefan um Chantal Ferraut kümmerte, doch er hatte dem keine so tiefe Bedeutung beigemessen. Irgendwie hatte er gedacht, Stefans Liebe zu Darinka wäre bereits zu tief, als daß sie wirklich in Gefahr zu zerbrechen geraten könnte.

»Ich schätze, ich muß dem guten Stefan mal ordentlich die Leviten lesen«, beschloß Dr. Parker, und dazu hatte er dann auch noch am selben Vormittag Gelegenheit, weil Stefan eine Operation von Dr. Scheibler übernehmen mußte, für die Dr. Parker als Anästhesist eingeteilt war.

»Es geht mich wirklich nichts an, Stefan, aber was du mit Da-rinka machst, finde ich nicht richtig«, erklärte Dr. Parker rundheraus.

»Du hast recht, Jeff, es geht dich wirklich nichts an«, erwiderte Stefan unwirsch. »Ich mische mich ja auch nicht in deine Angelegenheiten ein.«

»Das würdest du aber schnell tun, wenn ich mich Karina gegenüber so verhalten würde, wie du es mit Darinka machst.«

»Ja, weil Karina meine Schwester ist«, entgegnete Stefan. »Aber ich kann mich nicht erinnern, daß du mit Darinka in irgendeiner Weise verwandt wärst.«

»Das ist auch gar nicht der Punkt…«, begann Dr. Parker, doch Stefan fiel ihm ins Wort.«

»Hör zu, Jeff, laß mich bitte damit in Ruhe! Das alles geht dich nichts an, ich lasse mir von dir kein schlechtes Gewissen einreden.«

Dr. Parker betrachtete ihn aufmerksam. »Das hast du sowieso schon. Du weißt nämlich im Grunde genau, wie schäbig du dich verhältst. Kannst du überhaupt noch in einen Spiegel sehen, ohne daß du…«

Stefan machte einen wütenden Schritt nach vorn. Es sah aus, als wollte er auf Dr. Parker losgehen, doch dessen eisiger Blick nagelte ihn förmlich fest.

»Überleg’ dir das sehr gut, mein Freund«, meinte er. »An mir beißt du dir die Zähne aus, das versichere ich dir.«

Stefan bebte vor Zorn – zum einen, weil er wußte, daß er gegen den Karatekämpfer Dr. Parker nicht die geringste Chance hatte, zum anderen, weil der junge Anästhesist ja vollkommen recht hatte. Stefan verhielt sich schäbig… wahrscheinlich sogar noch viel mehr als das, aber seine Liebe zu Chantal hatte ihm nicht nur das Gehirn völlig vernebelt – sie füllte ihn so sehr aus, daß er es nicht einmal mehr schaffte, sich um andere Menschen noch wirkliche Gedanken zu machen. Chantal Ferraut war im Augenblick der Punkt, um den sich Stefans ganzes Leben drehte, und er konnte sich nicht vorstellen, daß das jemals wieder anders sein könnte.

*

Norbert Krämer bereitete seinen Rachefeldzug gegen Dr. Daniel bis ins kleinste Detail vor. Natürlich hätte ihm gar nichts besseres passieren können, als daß Katharina ihr Baby verloren hatte – unter welchen Umständen auch immer. Darüber hinaus war er vollkommen sicher, daß alles, was Katharina gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Das Baby war tot gewesen, Dr. Daniel hatte ihr durch den Eingriff vermutlich wirklich das Leben gerettet, doch Norbert hatte jetzt die Chance, dem verhaßten Arzt etwas auszuwischen. Schließlich war er derjenige gewesen, der beinahe Norberts Leben zerstört hätte, nur weil er sich geweigert hatte, Katharinas Baby abzutreiben. Dabei vergaß Norbert allerdings, daß Dr. Daniel von seinem Abtreibungswunsch gar nichts gewußt hatte, weil ein solcher Schritt für Katharina überhaupt nicht zur Debatte gestanden hatte – ganz im Gegenteil: Sie hatte sich von Anfang an auf ihr Baby gefreut.

Nun war Norberts unbegründeter Haß auf Dr. Daniel aber nicht seine einzige Triebfeder. Mit dieser ganzen Kampagne, die er hier startete, hoffte er auf die Chance zu seiner Titelstory, auf die er schon seit so vielen Jahren wartete, und zumindest dafür hätte er so ungefähr alles getan.

Zufrieden betrachtete Norbert seine Vorbereitungen, die Dr. Daniels Karriere beenden und seine eigene weit nach oben befördern sollten. Alles war perfekt organisiert. Jetzt mußte der Stein nur noch ins Rollen gebracht werden…

*

Andreas Korda verstand sich selbst nicht mehr. Er schaffte es einfach nicht, das Bild der verletzten jungen Frau aus seinem Kopf zu verdrängen, und der Gedanke, was mit ihr nach dem schweren Sturz auf der vereisten Straße geschehen sein mochte, ließ ihm ebenfalls keine Ruhe.

So fand er sich am nächsten Sonntag vor der Waldsee-Klinik wieder, ohne recht zu wissen, was er hier eigentlich wollte. Au-ßer dem Vornamen der jungen Frau, den Amelie Hauser damals auf der Straße hatte verlauten lassen, wußte er gar nichts von ihr. Und was mußte sie von ihm denken? Sie war bewußtlos gewesen, hatte ihn also gar nicht gesehen. Er war ein völlig Fremder für sie. Und überhaupt – sie war schwanger, vermutlich verheiratet… glücklich verheiratet.

Allein dieser Gedanke schnitt Andreas ins Herz, und sekundenlang war er versucht, einfach wieder nach Hause zu fahren, aber dann betrat er die Klinik doch und sah sich suchend um. Ein großer blonder Mann mit gütigen blauen Augen, dessen weißer Kittel ihn als Arzt auswies, kam auf ihn zu.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte er mit einem freundlichen Lächeln.

»Ja… das heißt, ich weiß es nicht«, antwortete Andreas und wurde dabei sichtlich verlegen. Er kam sich in dieser Situation schrecklich dumm vor. »Ich suche jemanden… eine junge Frau.« Er fuhr sich mit einer Hand durch das dichte, dunkle Haar. »Oh, verdammt…«

Aufmerksam sah der Arzt ihn an, dann deutete er auf die Bank, die an der linken Wandseite stand.

»Kommen Sie, setzen wir uns erst mal«, schlug er vor. »Ich glaube, wir sollten uns etwas eingehender unterhalten.« Er wartete, bis Andreas Platz genommen hatte, dann setzte auch er sich. »Ich bin Robert Daniel, der hiesige Gynäkologe und Direktor diese Klinik.«

»Andreas Korda«, stellte der junge Mann sich nun ebenfalls vor. »Ich wohne seit einem knappen Monat hier in Steinhausen, und… nun ja, vor ein paar Tagen… ich war gerade auf dem Weg zur Arbeit. Ich bin Lehrer in der Kreisstadt und hatte die ersten beiden Stunden frei. Ansonsten bin ich ja immer früher unterwegs…« Er stockte, weil er fühlte, wie er begann, sich in seinen eigenen Worten zu verheddern. »Das wird Sie alles wohl kaum interessieren.«

»Mich interessiert es durchaus, was Sie mir erzählen«, entgegnete Dr. Daniel ruhig. »Ich glaube nämlich, daß Sie damit auf einen ganz bestimmten Punkt zusteuern.«

Andreas nickte. »Ich fuhr gerade an dem kleinen Gemischtwarenladen vorbei, als eine Frau auf dem Gehsteig ausrutschte und schwer stürzte. Sie war schwanger und…« Er zuckte die Schultern. »Es geht mich zwar nichts an, aber… ich kriege die Erinnerung daran nicht mehr aus dem Kopf. Ich… ich möchte eigentlich nur wissen, ob es ihr gutgeht… ich meine… immerhin war sie ja schwanger, und…« Wieder fuhr er sich durch die Haare. Dieses ganze Drumherumgerede stimmte doch gar nicht. Er machte sich keine Sorgen um die junge Frau… doch, er machte sich schon Sorgen, aber aus einem völlig anderen Grund. Es gelang ihm einfach nicht, das zarte Gesicht zu vergessen. Sein Herz spielte schon verrückt, wenn er nur daran dachte, dabei kannte er die Frau überhaupt nicht, und noch vor wenigen Wochen hatte er sich über so etwas wie Liebe auf den ersten Blick lustig gemacht. Er hatte nie daran geglaubt, daß es so etwas geben könnte, und nun war es ihm selbst passiert.

»Ich weiß allerdings nur, daß sie Katharina heißt«, fügte er leise hinzu. »Besser gesagt… ich hätte es gar nicht gewußt, aber Frau Hauser…« Er verstummte. Was mußte diese Dr. Daniel eigentlich von ihm denken?

»Katharina ist noch hier in der Klinik«, erklärte Dr. Daniel. »Seit gestern liegt sie überdies auf der normalen Station, das heißt, daß ich nichts dagegen einzuwenden habe, wenn Sie ihr einen Besuch abstatten möchten. Dann können Sie sie selbst fragen, wie es ihr geht.«

Andreas schluckte. »Sie kennt mich ja gar nicht. Wissen Sie, sie war bewußtlos. Ich kann doch nicht einfach…« Wieder brachte er den Satz nicht zu Ende.

Da stand Dr. Daniel auf. »Kommen Sie, Herr Korda, ich begleite Sie, dann können wir die ganze Sache leicht aufklären, und ich bin sicher, daß sich Ka-tharina über so viel Besorgnis sehr freuen wird.«

Andreas folgte ihm, doch als Dr. Daniel vor einer Zimmertür im ersten Stockwerk stehenblieb, hielt er ihn davon ab anzuklopfen.

»Wird sie es nicht als sehr aufdringlich empfinden?« äußerte er seine Bedenken. »Ich meine… ich bin ein wildfremder Mann für sie, und sie… sie ist doch sicher verheiratet… immerhin ist sie ja schwanger.«

»Das eine folgt nicht zwangsläufig aus dem anderen«, wandte Dr. Daniel ein. »Im übrigen ist es doch nichts Schlechtes, wenn jemand besorgt ist – ganz im Gegenteil. Ich finde es sehr lobenswert, daß Sie sich um eine fremde Frau solche Sorgen machen, und ich bin sicher, Katharina wird es ebenso empfinden. In unserer schnellebigen, hektischen Zeit machen sich die meisten leider nur noch wenige Gedanken um ihre Mitmenschen.«

Dr. Daniel bemerkte sehr wohl, wie Andreas erneut verlegen wurde, und er konnte unschwer nachvollziehen, weshalb der junge Mann so besorgt um Katharina war. Seine Augen hatten nämlich sehr viel mehr gesagt als seine Worte.

Jetzt klopfte Dr. Daniel an und trat gleich darauf ein.

»Katharina, ich bringe Ihnen Besuch mit«, erklärte er mit dem ihm eigenen, warmherzigen Lä-cheln. »Sie kennen den jungen Mann zwar nicht, aber er hat gesehen, wie Sie gestürzt sind, und war die ganze Zeit über sehr in Sorge um Sie.«

Katharina richtete sich auf und lächelte höflich, doch ihre Augen blieben dabei ernst. Jetzt trat Andreas in ihr Blickfeld, und obwohl sie damals auf der Straße nur einen ganz kurzen Blick auf ihn hatte erhaschen können, erkannte sie in ihm den Autofahrer, den sie fälschlicherweise für Nor-bert gehalten hatte.

»Andreas Korda ist mein Name«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand. Sie war warm, und der Druck, mit dem sich seine Finger um Katharinas Hand schlossen, fest… verläßlich.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, erwiderte Katharina, und Andreas spürte, daß das nicht nur so dahergesagt war. Sie zeigte Interesse und Freude – beides war echt. »Man trifft nur noch selten Menschen, die sich um andere so viele Gedanken machen.«

»Ich bin froh, daß Sie den Sturz recht gut überstanden haben«, meinte Andreas. »Auf diesem vereisten Weg hätte das ganz dumm ausgehen können.«

Katharina nickte, dann senkte sie traurig den Kopf. »Der Sturz war nicht so tragisch. Viel schlimmer…« Sie verstummte mitten im Satz. Über das, was ihr Herz bewegte, konnte sie nicht mit einem fremden Mann sprechen – auch wenn er ihr irgendwie vertraut erschien.

Unwillkürlich dachte sie an Norbert, der bei jedem Besuch nur herauszufinden versuchte, was nach der Einlieferung im Krankenhaus passiert war. Sein förmliches Hineinbohren in die schmerzlichsten Augenblicke ihres Lebens hatte ihn ihr zusehends entfremdet. Mittlerweile war sie froh, wenn er nicht kam. Das hätte sie sich vor wenigen Wochen noch nicht einmal träumen lassen. Zwar war sie sich im Laufe der Schwangerschaft ihrer Liebe zu Norbert nicht mehr ganz so sicher gewesen wie zuvor – dafür hatte sein Drängen auf Abtreibung gesorgt –, aber dennoch wäre ein Leben ohne ihn für sie nur schwer vorstellbar gewesen. Jetzt dagegen…

»Was war schlimmer?« hakte Andreas behutsam nach.

Sie sah ihn an.

»Mein Baby…«, begann sie, und dann sprudelte plötzlich alles aus ihr heraus. Sie konnte sich das Vertrauen zu diesem fremden jungen Mann gar nicht erklären, aber sie spürte sein Verständnis… seine Ruhe… seine Kraft. Und seltsamerweise vermochte seine Anwesenheit sie ein wenig zu trösten. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie auf einer Insel der Geborgenheit und Liebe gelandet.

*

»Stefan, reiß dich zusammen«, ermahnte Dr. Georg Sommer seinen Patensohn. »Wenn du hier auch weiterhin arbeiten willst, dann erwarte ich, daß du dich endlich besser konzentrierst. Ansonsten ist das Zeugnis, das dir von Dr. Metzler ausgestellt worden ist, nämlich keinen Pfifferling wert.«

Betroffen senkte Stefan den Kopf. Seit einer Woche arbeitete er nun in der Sommer-Klinik, und während dieser kurzen Zeit waren ihm schon drei gravierende Fehler unterlaufen. Doch er konnte einfach an nichts anderes denken als an Chantal, die in Paris auf ihn wartete und die er über das verlängerte Wochenende, das unmittelbar bevorstand, besuchen würde.

»Es tut mir leid, Onkel Schorsch«, entgegnete er leise. »Ich werde mich bemühen.«

»Das hoffe ich«, meinte Dr. Sommer, dann legte er einen Arm um Stefans Schultern. »Schau mal, Junge, ich verstehe ja, daß es für dich eine Umstellung bedeutet, aber du bist Arzt, und da kann ich erwarten, daß du entsprechend arbeitest.«

»Ich werde mich bemühen, Onkel Schorsch«, wiederholte Stefan, zögerte einen Moment und gestand dann: »Es ist nur… ich habe solche Sehnsucht nach…« Er schwieg.

Dr. Sommer nickte verständnisvoll. »Ich kann gut nachvollziehen, wie sehr dir deine bezaubernde Freundin fehlt. Aber noch ist dein Dienst nicht so anstrengend, daß du dich abends nicht mehr mit Darinka treffen könntest.«

Heiße Verlegenheit stieg Stefan ins Gesicht. »Es… es ist nicht Darinka.«

Erstaunt sah Dr. Sommer ihn an. »Nicht? Aber… ich dachte… zwischen euch sah es doch bereits so ernst aus. Margit und ich hatten mit einer baldigen Verlobung gerechnet.«

Stefan wich seinem Blick aus. »Bitte, Onkel Schorsch, ich möchte nicht darüber sprechen.« Unwillkürlich mußte er an die Worte seines Vaters denken: »Du wirst es noch bereuen, daß du ein anständiges Mädchen wie Darinka gegen eine Frau wie Chantal Ferraut eingetauscht hast.« Sein bester Freund, der Oberarzt Dr. Gerrit Scheibler, hatte es noch drastischer formuliert: »Einen so wertvollen Menschen wie Darinka behandelt man anständiger.« Stefan hatte sich zuvor in Grund und Boden geschämt, doch die Leidenschaft, die Chantal in ihm entfachte, ließ ihn einfach nicht mehr los. Er konnte sich nicht dagegen wehren, selbst wenn er es gewollt hätte, aber er wollte es auch gar nicht. Ihr zärtliches »Etienne« ließ ihn förmlich da-hinschmelzen. Er wußte, daß er diese Frau nie wieder missen wollte.

*

Als Dr. Daniel am Abend aus der Waldsee-Klinik nach Hause kam, fiel ihm sofort das Polizeiauto auf, das auf dem Patientenparkplatz stand. Unwillig runzelte er die Stirn. Was mochte die Polizei von ihm wollen?

Dr. Daniel hatte die Villa noch nicht richtig betreten, da kam seine Frau Manon schon die Treppe heruntergestürzt. Ihr Gesichtsausdruck war ernst und besorgt.

»Robert, oben wartet ein Polizeibeamter auf dich«, erklärte sie sofort. »Was hat denn das zu bedeuten?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Dr. Daniel, dann küßte er Manon flüchtig, bevor er – zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinaufging.

Karl Huber, der schon seit vielen Jahren in der Polizeiinspektion Steinhausen tätig war, erwartete ihn im Wohnzimmer und stand höflich auf, als Dr. Daniel hereintrat.

»Es tut mir leid, daß ich Sie belästigen muß, Herr Doktor«, entschuldigte er sich, und dabei war ihm anzusehen, wie peinlich ihm sein Auftrag war.

Mit einer Handbewegung bedeutete Dr. Daniel ihm wieder Platz zu nehmen, dann setzte auch er sich.

»Es ist hoffentlich nichts Unangenehmes, was Sie zu mir führt«, begann Dr. Daniel das Gespräch.

Karl Huber rieb sich das Kinn. Er wußte anscheinend gar nicht, wie er das, was er zu sagen hatte, vorbringen sollte.

»Leider ist es sogar etwas sehr Unerfreuliches«, antwortete er schließlich. »Wir haben eine Anzeige bekommen, die ich persönlich für Unsinn halte«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Aber Tatsache ist, daß ich der Sache nicht nur nachgehen muß, sondern… ich bin gezwungen, den Fall an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten.«

»Das hört sich ja gefährlich an«, meinte Dr. Daniel, konnte sich aber immer noch nicht denken, worum es eigentlich ging.

Karl Huber nickte, dann atmete er tief ein. »Herr Dr. Daniel, Sie werden beschuldigt, eine illegale Abtreibung vorgenommen zu haben.«

Der Arzt war so vor den Kopf gestoßen. Dieser Vorwurf war so ziemlich das letzte, woran er gedacht hatte.

Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Wer behauptet denn so etwas?«

Die Anzeige stammt von einem gewissen Norbert Krämer«, antwortete Karl Huber. »Ich bin leider gezwungen, Sie zu den Vorwürfen zu vernehmen und ein Protokoll zu erstellen. Des weiteren muß ich die Akten an die Staatsanwaltschaft weiterleiten, die in dieser Sache ermitteln wird.«

Dr. Daniel seufzte. »Sehr viel werde ich dazu nicht sagen können, denn ich unterliege der Schweigepflicht, und davon hat mich die betroffene Patientin noch nicht entbunden.«

»Doch«, antwortete Karl Huber und legte Dr. Daniel eine schriftliche Schweigepflichtsentbindungserklärung vor, die von Katharina Bertram unterzeichnet worden war. Dr. Daniel war wie vor den Kopf gestoßen. Die Tatsache, daß Katharinas Freund Nobert ihn angezeigt hatte, war für ihn noch irgendwie nachvollziehbar gewesen, schließlich hatte ihm der junge Mann nie besondere Sympathie entgegengebracht, aber daß Katharina mit ihm an einem Strang zog, war für Dr. Daniel schon ein schwerer Schlag.

»Wenn das so ist«, murmelte er, dann lehnte er sich auf seinem Sessel zurück. Er hatte Mühe, sich wieder zu fassen. »Bei Fräulein Bertram lag eine Schwangerschaft vor, die zumindest von ihrer Seite erwünscht war und die bis vor zehn Tagen auch ohne Komplikationen verlief. Aufgrund eines Unfalls kam Fräulein Bert-ram in die Waldsee-Klinik, und ich führte eine gynäkologische Untersuchung durch, bei der sich ein zweifelhafter Befund ergab, so daß ich eine Ultraschalluntersuchung vornahm. Dabei zeigte sich, daß die Leibesfrucht bereits abgestorben war. Um das Leben der Patientin zu retten, nahm ich einen sofortigen Eingriff vor, der nicht ungefährlich war, da es wegen des toten Fetus bei Fräulein Bertram bereits zu Blutgerinnungsstörungen gekommen war. Jetzt geht es der Patientin den Umständen entsprechend gut. Was den toten Fetus angeht, so kann Chefarzt Dr. Metzler meine Angaben bestätigen, weil er bei der Untersuchung zugegen war.«

»Ich glaube Ihnen das alles«, bekräftigte Karl Huber. »Ich hielt diese Anzeige von Anfang an für aus der Luft gegriffen, aber es ist meine Pflicht, diesen Vorwürfen nachzugehen.«

Dr. Daniel nickte. »Dafür habe ich Verständnis, Herr Huber.«

Der Polizeibeamte war sichtlich erleichtert. »Ich bin sicher, die ganze Geschichte wird im Sande verlaufen.« Dann stand er auf. »Bis morgen früh werde ich Ihre Aussage aufschreiben. Wenn Sie sich dann bitte im Laufe des Tages bei mir einfinden, um sie nochmals zu lesen und – wenn keine Einwände Ihrerseits bestehen – zu unterschreiben.« Er verabschiedete sich von Dr. Daniel und verließ die Villa.

Nachdenklich blieb der Arzt zurück. Er verstand das alles nicht. Wie konnte ihm Katharina nur so in den Rücken fallen?

Gleich morgen früh werde ich mit ihr sprechen, beschloß Dr. Daniel irritiert.

*

Das geplante Gespräch mit Katharina mußte am nächsten Morgen allerdings warten, denn Dr. Daniel begegnete in der Eingangshalle der jungen Darinka Stöber und erschrak vor ihrem blassen, abgezehrten Aussehen.

»Darinka!« rief er, doch sie registrierte es überhaupt nicht. Langsam und schleppend setzte sie ihren Weg fort und machte dabei den Eindruck, als würde sie im nächsten Moment zusammenbrechen.

Mit wenigen Schritten hatte Dr. Daniel das junge Mädchen eingeholt und hielt es am Arm fest. Erschrocken fuhr Darinka herum.

»Komm, Mädchen«, bat Dr. Daniel mit sanfter Stimme. »Ich glaube, wir müssen dringend miteinander sprechen.«

Doch Darinka schüttelte den Kopf. »Ich habe so viel Arbeit.«

»Die kann warten«, entgegnete Dr. Daniel bestimmt, dann brachte er das junge Mädchen zu seinem Büro. »Setz dich, mein Kind.«

Darinka ließ sich auf den Sessel fallen, und Dr. Daniel bemerkte, wie sie die Hände auf ihren Bauch preßte.

»Hast du Schmerzen?« wollte er wissen.

Darinka schüttelte den Kopf. »Es ist nichts, Herr Doktor, nur…« Hilflos schluchzte sie auf. »Stefan. Er fehlt mir so… o Gott, er fehlt mir so sehr.«

Für einen Augenblick ergriff Dr. Daniel gehörige Wut auf seinen Sohn, aber dann zwang er seine Konzentration wieder auf Darinka.

»Einen geliebten Menschen zu verlieren, tut sehr, sehr weh«, meinte er, »und ich fürchte, es wird noch eine ganze Weile dauern, bis du diesen Verlust verwinden kannst.«

»Ich kann ihn ja verstehen«, flüsterte Darinka unter Tränen.

»So? Ich nicht«, knurrte Dr. Daniel ärgerlich.

Langsam hob Darinka den Kopf. Ihre dunklen, wie Samt anmutenden Augen schwammen in Tränen.

»Ich bin doch noch so jung und unerfahren, aber diese Frau… sie kann Stefan das geben, was er bei mir bestimmt vermißt hat.« Die Tränen rollten über ihre blassen Wangen. »Es ist nur… es tut so weh… so schrecklich weh…«

Unwillkürlich mußte Dr. Daniel daran denken, daß Darinka ja schon damals als Fünfzehnjährige in Stefan verliebt verwesen war. Es war seinerzeit eine harmlose Jungmädchenschwärmerei gewesen, doch dann… wie glücklich war sie gewesen, als sich ihr Traum schließlich erfüllt hatte… und wie sehr hatte Stefan dieses bezaubernde Mädchen geliebt. Sogar mit dem Gedanken an eine Hochzeit hatte er gespielt, dabei war Darinka doch gerade mal achtzehn. Und jetzt… eine einzige Frau – zugegeben, eine berückend schöne Frau – hatte ihn Darinka sofort vergessen lassen.

»Hör zu, Darinka, ich möchte, daß du jetzt nach Hause gehst«, meinte Dr. Daniel. »Leg dich ins Bett und…«

Heftig schüttelte sie den Kopf. »Bitte nicht, Herr Doktor, bitte, schicken Sie mich nicht weg von hier. Die Arbeit ist das einzige, was mir noch geblieben ist. Zu Hause… da werde ich vor lauter Sehnsucht noch verrückt.«

»Wenn du meinst«, gab Dr. Daniel nach. »Aber dann solltest du…« Er stockte, als sich Darinka plötzlich auf dem Sessel zusammenkrümmte. Mit einem Schritt war er bei ihr und ging vor ihr in die Hocke. Darinka würgte, doch ihr Magen schien leer zu sein.

»Darinka, um Himmels willen…«, begann Dr. Daniel, doch da war der Spuk schon vorüber. Das junge Mädchen war noch sehr blaß, doch sie schaffte es wieder, sich aufzusetzen, und nur die eine Hand, die sie auf ihrem Bauch ließ, zeugte davon, daß sie noch immer Schmerzen haben mußte – allerdings nicht mehr so unerträglich wie zuvor.

»Hattest du das schon öfter?« wollte Dr. Daniel wissen.

Darinka schüttelte den Kopf, konnte den Arzt dabei aber nicht ansehen.

»Das glaube ich dir nicht«, stellte Dr. Daniel fest, dann stand er auf. »Meines Erachtens hat das nichts mit deinem Liebeskummer zu tun. Also komm, mein Kind, wir werden dieser Sache jetzt gleich auf den Grund gehen.«

Flehend sah Darinka zu ihm auf.»Bitte, Herr Doktor, es ist nichts. Ich habe vielleicht nur etwas Falsches gegessen.«

»Ist dir denn schlecht?« hakte Dr. Daniel sofort nach.

Sie nickte. »Ein bißchen.«

»Bauchschmerzen? Durchfall?« bohrte Dr. Daniel weiter.

»Durchfall nicht«, antwortete Darinka. »Und diese Bauchschmerzen, sie sind mal schlimmer, mal nicht so schlimm.«

»Wenn sie stärker werden, mußt du dich übergeben«, vermutete Dr. Daniel.

Darinka zögerte, dann nickte sie.

»Dieser Zustand hat nichts mit dem Essen zu tun«, erklärte der Arzt, dann fügte er hinzu: »Du kommst jetzt mit und läßt dich untersuchen.«

Ergeben folgte Darinka ihm in den Nebenraum, machte sich auf Dr. Daniels Anweisung hin frei und legte sich auf die Untersuchungsliege.

»Schwester Alexandra, nehmen Sie Darinka bitte Blut ab, und geben Sie die Probe dem Oberarzt«, ordnete Dr. Daniel an. »Er soll sie nach Möglichkeit sofort auswerten.«

»In Ordnung, Herr Doktor«, stimmte Alexandra Keller zu und beeilte sich, Dr. Daniels Anweisung nachzukommen.

Als sie fertig war und das

Untersuchungszimmer verlassen hatte, trat Dr. Daniel zu der Liege und tastete gewissenhaft Da-rinkas Bauchdecke ab. Dabei bemerkte er, wie das junge Mäd-chen die Lippen zusammenpreßte, um nur ja nicht aufzustöhnen.

»Tut das so weh?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist nichts, Herr Doktor«, behauptete sie wieder. »Wahrscheinlich hat sich nur der Kummer auf den Magen gelegt.«

Daran glaubte Dr. Daniel allerdings längst nicht mehr.

»Du wirst jetzt deine Beine anwinkeln und dann ganz locker ein wenig auseinanderfallen lassen«, erklärte er. »Eine gynäkologische Untersuchung ist hier zwar nicht ganz einfach, aber es wird schon gehen. Notfalls muß ich dich in den anderen Teil der Klinik hinüberbringen.« Doch aus irgendeinem Grund wollte er keine Zeit mehr verlieren.

Der Tastbefund war eindeutig. Am rechten Eierstock schien sich eine Geschwulst gebildet zu haben, die ganz beträchtliche Ausmaße aufwies. Trotzdem war Dr. Daniel überzeugt, daß das noch nicht die einzige Ursache für Darinkas Beschwerden war.

»Robert, die Auswertung der Blutprobe.« Mit diesen Worten trat Dr. Scheibler in den Untersuchungsraum, dann reichte er Dr. Daniel den Zettel mit den von ihm ermittelten Werten.

Dr. Daniel studierte sie genau, dann nickte er. »Das Ergebnis spricht für eine Entzündung.«

»Dieser Meinung bin ich auch«, stimmte Dr. Scheibler zu. Aufmerksam sah er Dr. Daniel an. »Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«

»Am rechten Eierstock scheint sich eine Geschwulst gebildet zu haben, möglicherweise eine Zyste«, antwortete Dr. Daniel, dann trat er wieder zu der Untersuchungsliege. »Helfen Sie mir, Gerrit. Halten Sie ihre Beine so, daß ich eine rektale Untersuchung vornehmen kann. Ich möchte sie deswegen nicht extra in die Gynäkologie hinüberschaffen, ihr aber wegen der Bauchschmerzen auch nicht zumuten, in einer Knie-Ellenbogen-Lage da oben auszuharren.«

Dr. Scheibler nickte, dann griff er zu. Darinka begann leise zu jammern.

»Es ist gleich vorbei, mein Kind«, versprach Dr. Daniel.

Das junge Mädchen schrie auf, als es den Druck fühlte, der zunehmend schmerzhafter wurde.

»Ist ja schon gut«, meinte Dr. Daniel beruhigend. »Jetzt tue ich dir nicht mehr weh.« Während er noch tröstend Darinkas Hand hielt, wandte er sich dem Oberarzt zu. »Ich würde sagen, sie muß noch innerhalb der nächsten Stunde auf den Tisch. Das sieht nach einer akuten Blinddarmentzündung aus, möglicherweise sind zusätzlich die Eileiter und Eierstöcke entzündet. Sie hat den Untersuchungsschmerz sofort verspürt, und das deutete auf eine Adnexitis hin.«

Dr. Scheibler nickte zustimmend. »Ich alarmiere das Team.«

Eilig verließ er das Untersuchungszimmer, und Dr. Daniel wandte sich Darinka zu.

»In deinem Bauch ist eine ganze Menge in Unordnung geraten«, erklärte er und hielt dabei immer noch ihre Hand. »Dr. Metzler, Dr. Scheibler und ich werden dich operieren.«

Darinka erschrak.

»Nein«, stammelte sie. »Nein… bitte nicht…«

Sehr sanft streichelte Dr. Daniel über ihr langes, schwarzes Haar. »Hab’ keine Angst, mein Kind.« Er lächelte sie an, obwohl ihm im Moment gar nicht danach zumute war. Er wußte genau, daß es eine lange und schwierige Operation werden würde. »Du hast doch Vertrauen zu mir, nicht wahr?«

Darinka nickte ohne Zögern.

»Na, siehst du.« Wieder lächelte Dr. Daniel sie an. »Ich bringe dich jetzt in einen anderen Raum. Dort wird sich Dr. Parker um dich kümmern. Du wirst ein wenig schlafen, und wenn du wieder aufwachst, ist schon alles vorbei.«

»Oma und Opa«, flüsterte Darinka. »Sie müssen doch wissen…«

»Keine Sorge, ich rufe deine Oma an«, versprach Dr. Daniel, der die Verhältnisse des jungen Mädchens bestens kannte. Schon als Fünfjährige war Darinka durch einen tragischen Unfall Vollwaise geworden und hatte von da an bei ihren Großeltern gelebt.

Die OP-Schwester Petra Dölling kam mit einer fahrbaren Trage herein, auf die Darinka nun gelegt wurde. Petra schob die Trage hinaus, und Dr. Daniel wußte, daß seine Anwesenheit eigentlich nicht mehr nötig gewesen wäre, doch er wollte sein Versprechen halten und begleitete sie bis zum Operationssaal. Hier wartete bereits der Anästhesist Dr. Jeffrey Parker. Freundlich lächelte er das junge Mädchen an.

»Herr Dr. Parker«, flüsterte Darinka. »Ich… ich habe Angst.«

»Mußt du nicht haben, Mädchen«, entgegnete er beruhigend. »Ich muß dich jetzt ein bißchen in die Hand pieksen.« Er griff nach Darinkas Hand und setzte die Nadel an einer Vene knapp hinter dem Handgelenk an. »Nicht erschrecken, Kleines, jetzt tut’s ein bißchen weh.« Da-rinka zuckte zusammen, als sie den Einstich fühlte. Tränen liefen über ihre Wangen, die allerdings nicht nur von dem kurzen Schmerz kamen, sondern vor allem ihrem Liebeskummer um Stefan und ihrer Angst vor der Operation entsprachen.

Vorsichtig schob Dr. Parker die Infusionskanüle weiter in die Vene vor und zog die Nadel zurück, dann fixierte er die Kanüle mit einem breiten Pflaster. Als er aufblickte, sah er die Tränen, die noch immer über Darinkas Wangen liefen.

»Aber, Mädelchen, wer wird denn gleich so weinen?« fragte er und wischte die Tränen behutsam ab. In der Zwischenzeit hatte Schwester Petra die Spritze vorbereitet und gab sie dem Anästhesisten in die Hand. Mit dem Zeigefinger streichelte Dr. Parker sanft über Darinkas Wange, während er mit der anderen Hand die Spritze auf die gerade gelegte Infusionskanüle drückte, dann preßte er den Inhalt direkt in die Vene.

Fast augenblicklich begannen Darinkas Lider zu flattern.

»Stefan.« Tonlos formten ihre Lippen den geliebten Namen, dann war sie eingeschlafen.

*

Währenddessen hatte Dr. Daniel mit Darinkas Großeltern telefoniert und ihnen in kurzen Worten erklärt, daß die Operation dringend nötig sei, aber aller Voraussicht nach komplikationslos verlaufen würde. Er war sich selbst dessen durchaus nicht so sicher. Normalerweise hielt er sich in solchen Fällen den Angehörigen gegenüber strikt an die Wahrheit, doch die Stöbers waren in einer labilen gesundheitlichen Verfassung, die Dr. Daniels Vorgehen notwendig machte.

Martha und Anton Stöber versprachen dennoch gleich in die Klinik zu kommen und dort das Ende der Operation abzuwarten. Dr. Daniel verabschiedete sich, dann legte er auf, zögerte einen Augenblick und nahm den Hö-rer schließlich noch einmal ab, um in der Sommer-Klinik anzurufen. Er erreichte seinen Sohn gerade noch rechtzeitig vor dessen Dienstende.

»Was ist denn, Papa?« fragte Stefan ungeduldig, weil er in Gedanken schon auf dem Weg nach Paris war.

»Darinka wird in wenigen Minuten operiert, ich dachte, das würde dich interessieren«, antwortete Dr. Daniel.

Sekundenlang aber herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Hör mal, Papa, zwischen Darinka und mir ist es aus«, entgegnete Stefan, doch sein Vater bemerkte die Unsicherheit in der Stimme seines Sohnes. »In fünf Minuten werde ich in mein Auto steigen und zum Flughafen fahren.«

»Es ist sehr ernst, Stefan«, wandte Dr. Daniel ein.

Wieder schwieg der junge Mann einen Moment.

»Tut mir leid, Papa, aber… ich muß nach Paris.« Seine Stimme klang leise… unsicher, dann legte er auf.

Mit einem tiefen Seufzer ließ Dr. Daniel den Hörer sinken. Zum ersten Mal konnte er für seinen Sohn keinerlei Verständnis mehr aufbringen, und das tat ihm weh. Stefan war ihm plötzlich sehr fremd geworden.

Doch dann gestattete sich Dr. Daniel keinen privaten Gedanken mehr. Er mußte zusehen, daß er schleunigst in den Operationssaal kam. Als er in den Waschraum trat, erkannte er, daß er noch nicht zu spät war. Auch Dr. Metzler und Dr. Scheibler schrubbten sich noch die Hände.

»Du hast Stefan angerufen, nicht wahr?« vermutete Dr. Metzler.

Dr. Daniel nickte nur, ließ aber keinen Ton über den Verlauf des Gesprächs verlauten.

Die drei Ärzte ließen sich von der OP-Schwester die keimfreien Handschuhe überstreifen, dann traten sie an den Tisch. Dr. Parker war gerade dabei, die Patientin zu intubieren.

»Tubus ist drin«, meldete er. »Sie können anfangen.«

Dr. Metzler und Dr. Daniel wechselten einen Blick und verstanden sich ohne Worte, dann ließ sich der Chefarzt das Skalpell reichen und setzte den großen Längsschnitt, der nötig war, um den gesamten Bauchraum einsehen zu können. Der erste Blick auf das Operationsfeld ließ den Ärzten dann förmlich den Atem stocken.

»Meine Güte«, stöhnte Dr. Metzler. Nahezu im selben Moment brach der entzündete Blinddarm durch, und auch die fast orangengroße Zyste, die sich am rechten Eileiter gebildet hatte, war offensichtlich kurz davor aufzuplatzen.

Während sich Dr. Metzler und Dr. Scheibler um den Blinddarm kümmerten, begann Dr. Daniel vorsichtig, die Zyste aus dem Eileiter zu schälen.

»Ich brauche Dr. Reintaler«, erklärte er, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.

Die OP-Schwester gab seine Anweisung weiter, und wenig später betrat die Gynäkologin Dr. Alena Reintaler den Operationssaal, um Dr. Daniel bei seiner Arbeit zu unterstützen.

»Der Eileiter ist nicht mehr zu retten«, befürchtete Alena, doch Dr. Daniel schüttelte den Kopf.

»Er muß zu retten sein«, sagte er wie beschwörend. »Das Mädchen ist gerade achtzehn…«

Auch der Assistenzarzt Dr. Rainer Köhler stieß nun zum Operationsteam und übernahm Dr. Scheiblers Platz, während der Oberarzt ohne Aufforderung die Zyste entgegennahm, die Dr. Daniel mit großer Mühe aus dem Eileiter geschält hatte. Rasch verließ Dr. Scheibler den Operationssaal und eilte ins Labor, um die Zyste auf mögliche bösartige Veränderungen zu untersuchen. Sein Herz klopfte dabei zum Zerspringen.

»Bitte nicht«, flüsterte er. »Bitte kein Krebs… sie ist doch erst achtzehn…«

*

Zur selben Zeit saß Stefan Daniel in seinem Auto und war auf dem Weg zum Flughafen, während die Worte seines Vaters noch in seinen Ohren nachhallten. »Es ist sehr ernst…«

Er dachte daran, wie liebevoll sich Darinka um ihn gekümmert hatte, als er sich die Kniescheibe angebrochen hatte, und auch nach seiner Blinddarmoperation. Immer war sie für ihn dagewesen, doch jetzt, wo sie ihn brauchen würde…

Unwillig versuchte er diesen Gedanken abzuschütteln, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Sein schlechtes Gewissen zeigte ihm Bilder, die er vergessen wollte – Bilder von Darinka… lachend… glücklich… verliebt. Doch jetzt lag sie auf dem Operationstisch, und es stand sehr ernst um sie.

Stefan hielt seinen Wagen am Straßenrand an. Am Armaturenbrett war noch Darinkas Bild befestigt. Komm gut heim, stand darunter, und sie lachte ihn an. Doch dann schob sich ein anderes Bild vor Stefans geistiges Auge – das Bild einer wunderschönen Frau mit kupferrotem Haar und bernsteinfarbenen Augen. »Etienne.« Fast glaubte er ihre tiefe, sinnliche Stimme zu hören, ihren erotischen Duft zu spüren. Er sehnte sich so sehr nach ihr, daß es schmerzte.

Entschlossen fuhr er wieder los, doch der Gedanke an Darinka, die jetzt auf dem OP-Tisch lag, ließ ihn nicht los. Er fuhr schneller, aber das schlechte Gewissen verfolgte ihn hartnäckig. Dann erreichte er den Flughafen und sah, daß sein Flug nach Paris erst in zwei Stunden gehen würde. Unruhig wanderte er durch die Flughafenhalle, besah sich desinteressiert die Auslagen der Geschäfte und wußte eine Minute später nicht mehr, was er eigentlich angeschaut hatte. Schließlich hielt er es nicht länger aus. Er betrat eine der Telefonzellen und riß den Hörer von der Gabel. Hastig und mit zitternden Fingern wählte er die Nummer der Waldsee-Klinik.

»Der Herr Direktor ist noch im OP«, gab die Sekretärin Mar-tha Bergmeier Auskunft. »Der Chefarzt, Dr. Parker und Frau Dr. Reintaler ebenfalls. Aber ich kann Sie mit dem Oberarzt verbinden. Er ist gerade im Labor.«

»Ja, bitte, Frau Bergmeier«, verlangte Stefan mit gepreßter Stimme.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich Dr. Scheibler meldete.

»Gerrit, ich bin’s«, gab sich Stefan zu erkennen. »Ich wollte nur wissen, wie es Darinka geht.«

»Du glaubst doch wohl nicht, daß du auf diese Frage von mir eine Antwort bekommst!« entgegnete Dr. Scheibler, und Stefan konnte seine Wut sogar durchs Telefon spüren.

»Gerrit, bitte«, flehte er, aber sein Freund kannte jetzt keine Gnade.

»Nein!« antwortete er knapp, zögerte kurz und fragte dann: »Wo bist du?«

»Im Flughafen. Meine Maschine nach Paris geht in einer Stunde.

»Hör zu, Stefan, nütze diese Stunde und überlege dir, wohin du gehörst«, riet Dr. Scheibler ihm. »Wenn du die richtige Entscheidung getroffen hast, kannst du mich wieder anrufen, dann bekommst du auch deine Antwort, vorher nicht.«

»Gerrit!« rief Stefan, doch sein Freund hatte schon aufgelegt.

Die richtige Entscheidung. Stefan wußte genau, was Gerrit damit meinte.

Spontan wählte er noch einmal die Nummer der Waldsee-Klinik, in der Hoffnung, doch von irgend jemandem die gewünschte Auskunft zu bekommen, aber schließlich landete er wieder beim Chefarzt.

»Denkst du, ich würde es mir anders überlegen, wenn du mich noch länger nervst?« fragte Dr. Scheibler. »Du irrst dich, mein Junge. Ich weiß ganz genau, was mit dir los ist. Du versuchst nur, dein schlechtes Gewissen zu beruhigen, aber das werde ich nicht unterstützen. Entscheide dich, was dir wichtiger ist – Paris oder Darinka.«

»Gerrit!« rief Stefan, doch der Oberarzt hatte schon wieder aufgelegt, und Stefan war klar, daß ein weiterer Anruf zwecklos wäre.

Er überlegte kurz, dann wählte er die Nummer seines Vaters. Natürlich wußte er, daß Dr. Daniel in der Waldsee-Klinik war, aber vielleicht hatte er die Möglichkeit, mit Manon oder Karina zu sprechen.

Seine Schwester war es dann auch, die in der Villa den Hörer abnahm.

»Karina, ich… Papa hat mir gesagt, daß Darinka operiert wird, und Gerrit gibt mir keine Auskunft…« Er stockte, weil er plötzlich bemerkte, welches Durcheinander er da hervorsprudelte.

Seine Schwester hatte dennoch schon verstanden, worum es ging.

»Ich fürchte, ich kann dir da nicht helfen, Stefan«, meinte sie. »Über Darinkas Zustand weiß ich nichts.« Sie schwieg kurz. »Im übrigen bin ich der Meinung, daß du alt genug bist, um zu wissen, was du tun willst.«

»Fang du nicht auch noch an!« brauste Stefan auf. »So etwas ähnliches durfte ich mir gerade von Gerrit anhören.«

»Stefan, ich habe diese Frau nur flüchtig gesehen, als sie Papas Praxis betrat«, fuhr Karina fort. »Sei mir nicht böse, aber… sie sieht nicht so aus, als würde sie einen Mann fürs Leben suchen. Vielmehr fürchte ich, daß sie nur mit dir spielen wird, und dafür setzt du eine ernsthafte Beziehung aufs Spiel, die…«

»Hör auf!« rief Stefan wütend. »Du hast ja keine Ahnung!«

»Kann schon sein«, räumte Karina achselzuckend ein. »Aber wenn du dir deiner Sache so sicher bist, weshalb rufst du dann überhaupt an?«

»Darf ich mir um Darinka vielleicht keine Sorgen machen? Menschenskind, Karina, ich war eine ganze Weile mit ihr zusammen, und…« Er stockte kurz. »Sie ist mir schließlich nicht gleichgültig.«

»Du möchtest beides haben, Stefan, aber das geht nicht«, entgegnete Karina. »Entscheide dich, was dir wichtiger ist.«

»Ihr habt euch doch alle gegen mich verschworen«, knurrte Stefan, dann legte er auf. Er war wütend, ohne genau zu wissen, auf wen. Und er war unsicher geworden.

Entscheide dich, was dir wichtiger ist…

Sein Flug wurde aufgerufen. Stefan ging ein paar Schritte, dann hielt er unschlüssig inne. Entscheide dich…

Der zweite Aufruf erfolgte. Stefan lief los. Minuten später ließ er sich atemlos auf den rechten Fensterplatz der Maschine fallen und starrte in den grauen Tag. Ganz leicht begann es zu schneien. Entscheide dich…

Ja, er hatte sich entschieden, doch tief in seinem Innern wußte er, daß er die falsche Entscheidung getroffen hatte. Er wollte es nur nicht wahrhaben.

*

Währenddessen spitzte sich die Situation im Operationssaal dramatisch zu, obwohl es zuerst noch recht gut ausgesehen hatte, denn Dr. Scheibler war nach der Untersuchung der Zyste mit einer guten Nachricht ins OP zurückgekehrt.

»Der Befund war negativ«, erklärte er, woraufhin das gesamte Team aufatmete. Negativ! Das bedeutete, daß sich in dem entnommenen Gewebe keine Krebszellen befunden hatten.

Dr. Scheibler trat wieder an den OP-Tisch und half mit, den Eingriff zu beenden.

»Jeff, bringen Sie Darinka auf die Intensivstation«, ordnete Dr. Daniel schließlich an. »Ich wasche mir nur die Hände, dann werde ich mich um sie kümmern.«

»In Ordnung«, stimmte der Anästhesist zu, extubierte die junge Patientin und legte dann die vom Chefarzt angeordnete Antibiotika-Infusion. Im nächsten Moment begann Darinka zu röcheln. Erschrocken sah Dr. Parker sie an, dann stoppte er sofort die Antibiotika-Infusion.

»Verdammt«, entfuhr es ihm.

Dr. Daniel, der vom Waschraum aus mitbekommen hatte, daß es Probleme gab, kam im Laufschritt in den Operationssaal zurückgeeilt.

»Antibiotika-Allergie«, gab Dr. Parker Auskunft, während er schon begann, Darinka wieder zu intubieren. Er hatte Probleme damit, weil Zunge und Rachen in rasender Geschwindigkeit anschwollen.

Währenddessen zog Dr. Daniel bereits eine Adrenalinspritze auf und injizierte sie, doch Da-rinka sprach nicht darauf an.

»Blutdruck fällt rapide«, stellte Dr. Parker fest.

In fliegender Hast, aber mit peinlicher Genauigkeit bereitete Dr. Daniel eine Infusion vor, die als Flüssigkeitsersatz dienen sollte.

»Ich brauche zweihundertsiebzig Milligramm Theophyllin«, ordnete er an, schloß die Infusion an und regelte die Tropfgeschwindigkeit so, daß die Flüssigkeit innerhalb von zwanzig Minuten in Darinkas Körper gelangen würde.

»Blutdruck fällt noch immer«, meldete sich Dr. Parker. »Das Herz spielt nicht mehr lange mit.«

Dr. Daniel brauchte keine Sekunde, um sich zu entscheiden.

»Geben Sie ihr Metarminol.«

Dr. Parker aber zögerte. »Der Schuß kann leicht nach hinten losgehen.«

»Wir haben keine andere Wahl. Also los, Jeff, tun Sie, was ich sage!«

Sehr vorsichtig injizierte Dr. Parker das Metaraminol, um einen überschießenden Blutdruckanstieg zu vermeiden. Aufmerksam überwachte Dr. Daniel Blutdruck und Puls, doch beides

schien sich jetzt zu normalisieren.

Dr. Daniel nahm die leere Infusionsflasche ab und injizierte siebzig Milligramm Diphenhydramin.

»Ich glaube…«, begann Dr. Parker, doch es gelang ihm nicht, den Satz zu beenden, denn in diesem Moment zeigte der Herzmonitor plötzlich Unregelmäßigkeiten.

Dr. Daniel spritzte ihr einen Milliliter Atropin, doch für Da-rinkas Herz schienen die Belastungen der vorangegangenen Operation und des nachfolgenden anaphylaktischen Schocks zuviel zu sein.

»Multifokale Extrasystolen!« rief Dr. Parker in einem Ton, der seine innere Anspannung deutlich verriet. Er war durch und durch Profi, der auf Notsituationen dieser Art eingestellt war, doch heute zeigte sogar er Nerven.

Allerdings ging es auch Dr. Daniel kaum anders. Die Angst, Darinka nach der gelungenen Operation aufgrund des anaphylaktischen Schocks zu verlieren, schnürte ihm regelrecht die Kehle zu.

»Robert, sie stirbt uns weg!« Dr. Parkers Stimme überschlug sich beinahe.

»Hundert Milligramm Lidocain intravenös!« ordnete Dr. Daniel an. Er hatte noch nicht ausgesprochen, als es zum Herzstillstand kam.

»Nein!« stöhnte er auf und holte den Defribrillator, während Dr. Parker schon mit der Herzmassage begann.

Dr. Daniel preßte die Defibrillatorpaddel auf Darinkas Brust.

»Auf 260 laden!« rief er, und die OP-Schwester, die die ganze Zeit über den beiden Ärzten assistiert hatte, kam seiner Aufforderung sofort nach.

»Zurücktreten!«

Dr. Parker reagierte geistesgegenwärtig auf Dr. Daniels Befehl und nahm die Hände von der Patientin. Im selben Moment jagte der Stromstoß durch Darinkas zarten Körper, und der Monitor zeigte an, daß das Herz seine Arbeit wieder aufnahm.

Die beiden Ärzte atmeten auf, dann injizierte Dr. Daniel zur Sicherheit das Lidocain, doch der kritischste Punkt schien tatsächlich überstanden zu sein. Der Blutdruck normalisierte sich, und eine Untersuchung durch Dr. Parker ergab, daß die Schwellungen auf der Zunge und im Rachen nachließen.

»Trotzdem wird sie vorerst weiter künstlich beatmet«, beschloß Dr. Daniel, dann legte er dem jungen Anästhesisten eine Hand auf die Schulter. »Das war gute Arbeit, Jeff.«

»Von Ihnen«, entgegnete Dr. Parker. »Heute war ich zum ersten Mal nahe daran, die Nerven zu verlieren.«

»Ich sehe das ein bißchen anders«, entgegnete Dr. Daniel, dann lächelte er Dr. Parker aufmunternd zu. »Kommen Sie, bringen wir Darinka auf Intensiv. Ich bleibe bei ihr, bis sie zu sich kommt.«

»Das wird dauern«, befürchtete der junge Anästhesist.

Dr. Daniel nickte. »Ich weiß, aber ich warte trotzdem.«

Dr. Parker half ihm, das fahrbare Bett auf die Intensivstation zu bringen.

»Was geschieht jetzt wegen der Infektionsgefahr?« fragte er. »Antibiotika sind jedenfalls nicht drin.«

Wieder nickte Dr. Daniel. »Sie bekommt Erythromycin. Auch das werde ich gleich in die Wege leiten. Seien Sie so nett, und informieren Sie Wolfgang darüber. Er hat von der ganzen Aufregung ja nichts mehr mitbekommen, weil er und Gerrit den Wasch-raum schon verlassen hatten.«

»Glücklicherweise waren Sie ein bißchen langsamer«, meinte Dr. Parker. »Allein hätte ich es nicht geschafft.« Er sah zu, wie Dr. Daniel die Infusion anschloß und sich dann neben Darinkas Bett setzte. »Nicht Sie sollten hier sein, sondern Stefan.«

Dr. Daniel seufzte. »Ich weiß, Jeff. Leider habe ich in dieser Beziehung keinen Einfluß mehr auf meinen Sohn. Stefan ist in einem Alter, in dem er tut, was er will – auch wenn ich es für einen schweren Fehler halte.«

Dr. Parker nickte. »Ich habe selbst mit Stefan gesprochen, und auch Gerrit hat’s versucht, aber es war zwecklos. Er ist völlig verblendet von seiner Liebe zu dieser Frau.« Er seufzte ebenfalls. »Ich hatte das zweifelhafte Ver-gnügen, sie kennenzulernen, und ich schätze, es ist nur eine Frage der Zeit, bis Stefan recht unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird.«

»Hoffentlich ist es dann für ihn und Darinka nicht schon zu spät«, murmelte Dr. Daniel.

*

Die Nacht auf der Intensivstation verlief ruhig. Einmal war Darinka kurz zu sich gekommen, unter den Nachwirkungen der Narkose aber gleich wieder eingeschlafen. Gegen Morgen merkte auch Dr. Daniel, daß er immer öfter im Sitzen einnickte. Die anstrengende Operation, der Kampf um Darinkas Leben, die durchwachte Nacht… das alles war selbst für ihn ein bißchen viel gewesen.

»Robert, kann ich dich kurz sprechen?«

Langsam wandte Dr. Daniel den Kopf und sah Dr. Metzler in der Tür stehen. Mit einem tiefen Seufzer erhob er sich.

»Natürlich, Wolfgang.« Er folgte dem Chefarzt nach draußen, hielt unterwegs die Oberschwester auf und bat sie, auf Darinka ein besonders wachsames Auge zu haben.

In Dr. Metzlers Büro angekommen, ließ sich Dr. Daniel völlig entkräftet auf den nächstbesten Stuhl fallen.

»Du bist total erschöpft«, stellte Dr. Metzler besorgt fest.

Dr. Daniel nickte. »Glücklicherweise ist heute Samstag. Ich werde mich also gleich ins Bett legen und wenigstens ein paar Stunden meines versäumten Schlafes nachholen.« Dann sah er den Chefarzt aufmerksam an. »Worüber wolltest du mit mir sprechen?«

Dr. Metzler zögerte. Eigentlich war jetzt der falsche Zeitpunkt, dieses Thema anzuschneiden, andererseits konnte er es auch nicht länger hinauszögern.

»Ich habe eine Vorladung bekommen«, antwortete er schließlich. »Gestern schon, aber da bot sich keine Gelegenheit mehr, um mit dir zu sprechen. Am Montag soll ich vor der Polizei meine Aussage machen.«

Dr. Daniel seufzte tief auf. »Ich wurde angezeigt – Verdacht auf illegale Abtreibung.« Er runzelte die Stirn. »Darüber wollte ich eigentlich mit Katharina Bert-ram sprechen.« Er winkte ab. »Das hat auch noch bis morgen Zeit.«

»Wie ernst ist es?« wollte Dr. Metzler wissen.

Dr. Daniel zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, aber ich denke nicht, daß es allzu schlimm wird. Die Anzeige stammt von Katharinas Freund. Norbert Krämer. Ich weiß nicht, ob dir der Name etwas sagt.«

»Doch nicht dieser Journalist.«

»Genau der. Ich vermute, daß er aus der Geschichte Kapital schlagen will, und er hofft wohl, daß er mir schaden kann, wenn mein Name erst mal durch die Presse geht.« Wieder lenkte er ab. »Er kann mir nichts anhaben, weil ich vollkommen korrekt gehandelt habe und deine Aussage das bestätigen wird.«

»Wenn er einen Artikel schreibt und darin auch nur Gerüchte über eine illegale Abtreibung verarbeitet, kann er damit zumindest vorübergehend deinem guten Ruf schaden.«

»Davor habe ich keine Angst«, entgegete Dr. Daniel. »Selbst wenn er die Sache groß aufzieht… spätestens nach dem Prozeß – falls ein solcher überhaupt stattfinden wird – muß er seinen Artikel korrigieren. Allerdings schätze ich, daß das Ganze schon vorher im Sande verlaufen wird.«

*

Obwohl Chantal Ferraut Stefan zu sich nach Paris eingeladen hatte, wurde er ihr schon am zweiten Tag lästig. Irgendwie hatte sie gedacht, er würde hier in Paris lockerer sein, aber das Gegenteil war der Fall. Er war jetzt noch verbohrter in die Ernsthaftigkeit seiner Gefühle als zuvor in Steinhausen.

»Du gehst mir auf die Nerven!« fuhr sie ihn an, als er beim Spaziergang durch den winterlichen Park, der zu Chantals Villa gehörte, den Arm um ihre Schultern legte und sie zärtlich an sich drücken wollte.

Unwillig machte sie sich von ihm frei und blickte lieblos in sein betroffenes Gesicht.

»Chantal, ich liebe dich«, begehrte Stefan auf.

Theatralisch hob sie die Hände. »Liebe! Meine Güte, hast du es denn immer noch nicht begriffen? Liebe existiert für mich nicht. Du warst ein amüsanter Zeitvertreib – zumindest anfangs. Jetzt entwickelst du dich zu einem lästigen Anhängsel.«

Chantals Worte trafen Stefan mitten ins Herz. In den vergangenen beiden Tagen hatte ihn immer wieder das schlechte Gewissen eingeholt, weil er nach Paris geflogen war, anstatt Darinka in den vielleicht schwersten Stunden ihres Lebens beizustehen, doch er hatte seine Entscheidung mit seiner Liebe zu Chantal gerechtfertigt. Jetzt mußte er schmerzlich erkennen, wie kalt diese Chantal wirklich war.

»Heißt das… es ist aus?« brachte Stefan mühsam hervor.

Chantal zog wieder einmal die Augenbrauen hoch. »Wie kann etwas aus sein, das es nie gegeben hat.« Demonstrativ sah sie auf die Uhr. »Jules wird dich zum Flughafen bringen.«

Völlig fassungslos starrte Stefan sie an. Er hatte das Gefühl, in einem Alptraum zu stecken.

»Du wirfst mich hinaus? Einfach so?«

Gelassen zuckte Chantal die Schultern. »Du langweilst mich, und ich kann es mir nicht leisten, meine kostbare Zeit gelangweilt zu verbringen. Als ich dich in dieser Wald- und Wiesenklinik sah, dachte ich, man könnte sich mit dir amüsieren, aber das war ein Trugschluß.« Sie schwieg kurz. »Nun ja, anfangs war es recht nett, aber im Grunde bin ich doch ein anderes Format gewohnt – Feuer, Leidenschaft, Erotik. Mit dir war es doch eher etwas hausbacken.«

Stefans Hände begannen zu zittern. Er hatte das Gefühl, davonlaufen zu müssen… zu flüchten vor diesen grausamen, lieblosen Worten, doch er war zu keiner Bewegung fähig. Vor seinen Augen zerbrach das Traumbild, das er von Chantal gefertigt hatte, und zurück blieb eine eiskalte Frau, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht war.

»Du Biest«, brachte Stefan mühsam hervor.

Abwehrend hob sie die Hände. »Bitte, werde jetzt nicht ausfallend. Beenden wir die Sache doch einigermaßen zivilisiert.«

Die Sache. Mehr war es für sie nicht gewesen.

»Macht es dir eigentlich Spaß, auf den Gefühlen anderer Menschen herumzutrampeln?«

Chantals bernsteinfarbene Augen verengten sich. Schon seit einigen Minuten fühlte sie das altbekannte, wohlige Kribbeln, das sie immer empfand, wenn sie einem Mann den Laufpaß gab und ihn dabei leiden sah.

»Nun ja, es hat einen gewissen Reiz«, gab sie ungeniert zu, weidete sich noch einmal an dem Entsetzen in Stefans Augen und drehte sich dann um.

»In zehn Minuten wird Jules mit dem Wagen vor dem Portal warten«, fügte sie im Weggehen hinzu. »Bis dahin wirst du deine paar Habseligkeiten wohl zusammengepackt haben.«

Wie verloren blieb Stefan im Park stehen. Er spürte, den eisigen Schneewind, der durch seine Jacke fuhr. Die Kälte schmerzte plötzlich, aber nicht so sehr wie sein Herz. Es war nicht nur die Art der Abfuhr, die Chantal ihm erteilt hatte, sondern vielmehr sein eigenes Verhalten, das ihm jetzt so schrecklich weh tat. Wegen Chantal hatte er Darinka im Stich gelassen. Darinka, das Mädchen, das immer zu ihm gehalten hatte, das ihn liebte… brauchte…

Aufstöhnend schlug Stefan die Hände vors Gesicht.

»O Gott, was habe ich getan…«

*

Stefan konnte es kaum erwarten, bis die Maschine endlich in München landete. In Rekordgeschwindigkeit fuhr er mit seinem Auto nach Steinhausen, doch kaum hatte er das Ortsschild passiert, da wurde ihm bewußt, daß er nicht einfach da weitermachen konnte, wo er vor der Begegnung mit Chantal aufgehört hatte.

Er hielt am Straßenrand an und versuchte Ordnung in seine wirren Gedanken zu bringen. Bis jetzt hatten ihn nur die Sorge um Darinka und der Wunsch, sie zu sehen, getrieben, doch nun kam die Unsicherheit. Er hatte keine Ahnung, wie die Operation verlaufen war… in welcher Verfassung sich Darinka befand… ob sie ihn überhaupt noch sehen wollte.

Langsam fuhr Stefan wieder los, durchquerte Steinhausen und lenkte den Wagen schließlich zum Kreuzbergweg hinauf, an dessen Ende die Villa seines Vaters stand. Warm und heimelig schien das Licht aus dem Wohnzimmerfenster herunter, doch Stefan hatte Hemmungen, einfach hineinzugehen und seinem Vater gegenüberzutreten. Er wollte jetzt keine Vorwürfe mehr hören… die machte er sich schon selbst.

Spontan wendete er und schlug den Weg zu seinem besten Freund ein. Auch hier zögerte er, doch dann stieg er aus und klingelte. Stefanie Scheibler, Gerrits Ehefrau, öffnete die Tür, und sie schien bereits Bescheid zu wissen, denn sie lächelte Stefan nicht an wie sonst. Ihr Gesicht blieb ernst.

»Gerrit ist nicht zu Hause«, erklärte sie. »Er hat Nachtdienst in der Klinik.«

»Und er ist stocksauer auf mich«, befürchtete Stefan.

Stefanie schüttelte den Kopf. »So würde ich es nicht ausdrücken. Er ist enttäuscht von dir – wie wir alle übrigens.«

Bitterkeit zeichnete sich auf Stefans Gesicht ab. »Dann weiß also ganz Steinhausen…«

»Unsinn!« fiel Stefanie ihm ins Wort. »Natürlich hat das Klinikpersonal alles mitbekommen. Du hast deine Liebe zu dieser Frau ja nicht gerade geheimgehalten. Im übrigen bin ich mit Gerrit verheiratet, und wir führen eine gute Ehe. Es ist also ganz normal, daß er mit mir darüber gesprochen hat.«

Stefan schluckte, dann wandte er sich ab. »Ich fahre in die Klinik hinüber.«

Das tat er dann auch, doch als er die Eingangshalle betrat, stockte sein Schritt sekundenlang. Was würde ihn erwarten, wenn er Gerrit jetzt wirklich aufsuchte? Abrupt drehte er sich um und wollte die Klinik wieder verlassen, doch da stand wie aus dem Boden gewachsen Dr. Parker vor ihm.

»Du traust dich tatsächlich noch hier herein?« fragte er, und Stefan hörte den eisigen Unterton in seiner Stimme unschwer heraus.

»Ich will zu Gerrit«, erklärte er, um etwaige Vorwürfe gleich abzublocken.

»Erstens bist du in diesem Fall in der falschen Richtung unterwegs«, entgegnete der junge Anästhesist und wies zur Chirurgie hinüber. »Gerrit ist nämlich im Ärztezimmer.« Er schwieg kurz. »Zweitens wirst du zuerst anhören, was ich dir zu sagen habe.«

Unwillkürlich wich Stefan zurück.

»Bleib hier!« befahl Dr. Parker streng, und der Blick seiner blauen Augen wurde zwingend. Als er weitersprach, war seine Stimme gefährlich leise. »Ich habe keine Ahnung, ob Darinka dich überhaupt sehen will, aber wenn doch, dann verdankst du es einzig deinem Vater, daß sie dazu noch in der Lage ist.«

Stefan erschrak zutiefst. Er wußte, was diese Worte bedeuteten. Darinka hatte in Lebensgefahr geschwebt. Plötzlich bebte er wie im Schüttelfrost, und fast fühlte Dr. Parker etwas wie Mitleid mit ihm, obwohl er das ganz und gar nicht wollte.

»So, mein Freund, jetzt kannst du zu Gerrit gehen.«

»Jeff…«, begann Stefan, doch er wußte gleichzeitig, daß er keine weiteren Auskünfte bekommen würde. Mit einem Ruck fuhr er herum und lief zum Ärztezimmer der Chirurgie. Atemlos erreichte er es.

»Gerrit!« stieß er hervor. »Was ist mit Darinka?«

Betont langsam blickte der Oberarzt von den Akten auf, in denen er gerade gelesen hatte, dann erhob er sich und ging auf Stefan zu.

»Hat dir dein Vater diese Frage noch nicht beantwortet?« wollte er wissen.

Stefan senkte den Kopf.

»Ich war noch nicht zu Hause«, gestand er leise. »Ich wollte schon, aber dann… ich fürchtete Papas Vorwürfe.«

»Ach so, und du denkst, von mir bekommst du keine Vorwürfe zu hören.« Dr. Scheibler schüttelte den Kopf. »Wenn du dich da nur nicht irrst, mein Junge.«

»Gerrit…«

Wieder schüttelte der Oberarzt den Kopf. »Dein bittendes ›Gerrit‹ nützt dir in diesem Fall überhaupt nichts. Ich bin stinksauer auf dich, denn du gewissenloser Kerl hast einen so wertvollen Menschen wie Darinka einfach weggeworfen. Und wofür hast du das getan?« Er beantwortete diese Frage gleich selbst. »Für eine angebliche Liebe, die gerade mal drei Wochen gehalten hat. Und nun glaubst du, du bräuchtest nur zurückzukommen, und alles wäre vergessen und verziehen. Weißt du, was ich Darinka raten werde, wenn es ihr besser geht?« Wieder gab er die Antwort selbst. »Sie soll dich zum Teufel schicken. Und jetzt verschwinde!«

Stefan konnte ein Aufschluchzen nicht unterdrücken.

»Ich will sie sehen«, verlangte er verzweifelt. »Bitte, Gerrit, ich will…«

»Was du willst, interessiert mich nicht. Außerdem ist Darinka jetzt nicht in der Verfassung, um Besuch zu empfangen – vor allem, wenn es sich bei diesem Besuch um dich handelt.«

Das war zuviel für Stefan. Wie von Furien gehetzt, flüchtete er aus dem Arztzimmer.

»War das wirklich nötig?« fragte Dr. Parker, der das Gespräch vom Flur aus verfolgt hatte.

Erstaunt blickte Dr. Scheibler ihn an. »Das fragen ausgerechnet Sie?«

Jeff zuckte die Schultern. »Jetzt hat er mir wirklich leid getan. Sie haben ihm schon arg zugesetzt, Gerrit. Im übrigen könnte es für Darinka vielleicht gut sein, wenn er bei ihr wäre.«

Dr. Scheibler seufzte. »Also schön, holen wir ihn zurück. Allzu weit wird er ja noch nicht sein.«

Sie fanden ihn auf dem Parkplatz. Wie ein Häufchen Elend saß Stefan in seinem Wagen und weinte. Er schämte sich seiner Tränen, schaffte es aber nicht, sie zurückzuhalten, und als die Autotür von außen geöffnet wurde, fuhr er erschrocken hoch.

»Na komm, du Scheusal«, verlangte Dr. Scheibler, doch er sagte es schon nicht mehr böse.

Hoffnungsvoll sah Stefan ihn an. »Gerrit… läßt du mich… läßt du mich jetzt doch zu ihr?«

Dr. Scheibler nickte, schränkte aber sofort ein… »Dafür kannst du dich bei Jeff bedanken. Er war es, der Mitleid mit dir bekommen hat. Ich hätte dich noch gehörig schmoren lassen. Verdient hast du es nämlich nicht, und wenn ich dich jetzt zu Darinka lasse, dann nur ihretwegen.«

Gemeinsam brachten die beiden Ärzte Stefan zur Intensivstation, doch hineingehen ließen sie ihn allein.

»Geben Sie es zu, Gerrit, Ihnen hat er auch leid getan«, meinte Dr. Parker.

»Natürlich«, räumte der Oberarzt ein. »Oder glauben Sie, ich hätte anstatt eines Herzens einen Stein in der Brust?«

Durch die großen Glasscheiben sahen sie zu, wie Stefan zärtlich nach Darinkas Hand griff und sie liebevoll an seine Wange drückte.

»Ich schätze, mit Ihrer Genesung wird es jetzt rapide bergauf gehen«, vermutete Dr. Scheibler, dann wandte er sich um. »Lassen wir die beiden allein – aber nur für ein paar Minuten. Bei aller Liebe und Sehnsucht sollte sich Darinka jetzt noch nicht zu sehr anstrengen.«

*

Darinka konnte noch nicht sprechen, weil sie nach wie vor künstlich beatmet wurde. Dr. Daniel und Dr. Parker wollten gerade in dieser Hinsicht kein Risiko eingehen. Ihre Augen sprachen allerdings Bände. Es war ein Blick so voller Traurigkeit und Schmerz, daß es Stefan ins Herz schnitt.

»Darinka, ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte er. »Ich habe mich unmöglich benommen, aber… es tut mir unendlich leid.« Er zögerte, dann fügte er kaum hörbar hinzu: »Kannst du mir verzeihen?«

Darinka blieb ihm die Antwort schuldig, und Stefan verstand. Sie konnte jetzt nicht einfach mit einem Nicken oder Kopfschütteln reagieren.

»Ich liebe dich, Darinka«, gestand er. »Und ich…« Er stockte. Er sehnte sich so sehr nach einer Berührung von ihr, nach einer Geste, die gezeigt hätte, daß sie ihn auch noch liebte, aber nach allem, was er getan hatte, war es dafür wohl noch zu früh – oder etwa schon zu spät?

»Darinka…«

»So, Stefan, das reicht für den Augenblick.«

Mit diesen Worten trat Dr. Scheibler hinein. Bittend sah Stefan ihn an.

»Nur noch ein paar Minuten, Gerrit.«

Doch der Oberarzt blieb hart. »Du wirst gehorchen, hast du gehört? Darinka braucht Ruhe, und so wie ich es sehe, könnten dir ein paar Stunden Schlaf auch nicht schaden. Also, raus mit dir.«

Stefan zögerte einen Moment, dann beugte er sich über Darinka und küßte sie sanft auf die Wange.

»Morgen komme ich wieder«, versprach er leise, dann folgte er Dr. Scheibler widerwillig nach draußen.

»Du bist ein Tyrann, Gerrit«, knurrte er.

Drohend hob Dr. Scheibler den Zeigefinger. »Paß auf, was du sagst.« Er schwieg kurz, aber als er schließlich weitersprach, klang seine Stimme eher besorgt als ärgerlich. »Fahr jetzt nach Hause, Stefan, und leg’ dich ins Bett.«

»Könnte ich nicht hier schlafen? Ich meine… da wäre ich wenigstens in Darinkas Nähe…«

Dr. Scheibler schüttelte den Kopf. »Du hast nur Angst vor den Vorwürfen, die dich von deinem Vater noch erwarten werden, aber davonlaufen nützt nichts. Auch wenn du ihm heute noch nicht unter die Augen treten mußt – für alle Zeiten wird es sich nicht vermeiden lassen.«

Stefan seufzte. »Du hast recht. Also bringe ich es am besten gleich hinter mich.«

Dr. Scheibler wartete, bis Stefan draußen war, dann trat er ans Telefon und wählte Dr. Daniels Nummer. Der Arzt meldete sich mit verschlafen klingender Stimme.

»Robert, hier ist Gerrit«, gab sich der Oberarzt zu erkennen. »Tut mir leid, daß ich Sie aus den Federn gescheucht habe, aber Stefan ist auf dem Weg nach Hause, und ich glaube, er braucht dringend ein paar Streicheleinheiten. Jeff und ich haben ihn schon gehörig zur Brust genommen. Trösten Sie ihn ein bißchen, das hat er jetzt bitter nötig.«

»Geht in Ordnung, Gerrit«, versprach Dr. Daniel. In diesem Moment hörte er bereits, wie unten die Haustür aufgesperrt wurde. Dann kam Stefan leise die Treppe herauf.

Offensichtlich hatte er gehofft, sein Vater würde schlafen, denn er erschrak sichtlich, als er die Wohnung betrat, und sich Dr. Daniel gegenübersah.

»Papa, ich…«, begann er unsicher, doch da nahm Dr. Daniel ihn einfach in die Arme.

»Ist schon gut, mein Junge«, sagte er leise.

Ein Zentnergewicht schien Stefan vom Herzen zu fallen. Nach den schrecklichen Erlebnissen der vergangenen Stunden tat es ihm unendlich gut, bei seinem Vater Trost und Wärme zu finden, und es schien Stefan, als hätte er ihn nie so dringend gebraucht wie in diesem Augenblick.

»Danke, Papa«, flüsterte er.

*

Obwohl Sonntag war, fuhr Dr. Daniel am nächsten Morgen zur Waldsee-Klinik hinüber und traf dort mit Dr. Parker zusammen.

»Ich war gerade bei Darinka«, erklärte dieser. »Ich glaube, wir können sie endlich von dem Tubus befreien, allerdings wollte ich das nicht ohne Ihre Einwilligung tun.«

Dr. Daniel lächelte. »Soweit ich mich erinnere, sind Sie noch immer der Anästhesist hier.«

Dr. Parker nickte. »Richtig, aber Sie sind der Arzt mit der größten Erfahrung.«

»Das war jetzt aber ganz schön raffiniert«, stellte Dr. Daniel fest. »Damit wälzen Sie die Verantwortung nämlich auf mich ab.«

Dr. Parker grinste. »Sie haben mich mal wieder durchschaut.« Dann wurde er ernst. »Spaß beiseite, Robert. Ich denke, wir sollten das gemeinsam entscheiden.«

»Das habe ich schon ganz richtig verstanden«, stellte Dr. Daniel fest.

Zusammen gingen sie zur Intensivstation, doch Dr. Daniel konnte die Diagnose des Anästhesisten nur bestätigen. Eine künstliche Beatmung war bei Darinka wirklich nicht mehr nötig.

»Keine Angst, Mädchen«, erklärte Dr. Parker beruhigend. »Es ist überhaupt nicht schlimm, den Tubus herauszuholen. Du wirst jetzt tief einatmen und dann so tun, als müßtest du eine ganze Batterie von Kerzen ausblasen.«

Darinka gehorchte, trotzdem mußte sie mächtig würgen und husten, als Dr. Parker den Tubus herauszog. Dr. Daniel stand aber schon bereit und legte ihr eine Sauerstoffmaske vor das Gesicht. Zuerst atmete Darinka ziemlich hektisch, wurde dann aber rasch ruhiger.

»Stefan.«

Nur ihr Mund formte den Namen.

»Er schläft noch«, antwortete Dr. Daniel und lächelte Darinka an. »Aber sobald er wach ist, wird er sich bestimmt nicht davon abhalten lassen, unverzüglich zu dir zu kommen.«

»Bis dahin kannst du sicher auch wieder normal sprechen«, fügte Dr. Parker hinzu, dann hob er den Zeigefinger. »Aber nicht überanstrengen, hast du verstanden?«

Darinka konnte gerade noch nicken, bevor ihr die Augen zufielen.

»Sie wird noch eine ganze Weile brauchen, bis sie sich wieder erholt hat«, vermutete Dr. Daniel, dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Ich muß noch in die Gynäkologie hinüber, aber bevor ich nach Hause gehe, schaue ich noch einmal nach Darinka.«

Als Dr. Daniel wenig später nach kurzem Anklopfen das Zimmer von Katharina Bertram betrat, blieb er sekundenlang erstaunt stehen, denn an ihrem Bett saß Andreas Korda. Die beiden jungen Leute hielten sich bei den Händen und vermittelten dabei den Eindruck, als wären sie seit langem ein Paar, dabei hatten sie sich doch erst vor wenigen Tagen kennengelernt.

»Herr Doktor.« Auf Katharinas Gesicht zeigte sich ein Lächeln, das kaum noch von dem tragischen Verlust überschattet war, den sie erlitten hatte. »Wie schön, daß Sie sogar an einem Sonntag nach mir sehen.« Ihr zärtlicher Blick traf Andreas, bevor sie Dr. Daniel wieder anschaute und dabei auf einmal recht unsicher wirkte. »Es macht doch hoffentlich nichts, daß Andy schon am Vormittag hier ist.«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, Katharina, das ist wirklich kein Problem.« Er wandte sich Andreas zu. »Vielleicht könnten Sie uns für ein paar Minuten allein lassen.«

Andreas erhob sich sofort. »Natürlich, Herr Doktor.«

Dr. Daniel wartete, bis er draußen war, dann sah er Katharina an, und erst in diesem Moment fiel ihr der ungewöhnlich ernste Gesichtsausdruck des Arztes auf.

»Ist etwas passiert?« fragte sie besorgt.

»Noch nicht«, antwortete Dr. Daniel. »Aber es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis ich mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert werde. Herr Krämer hat mich angezeigt.«

Katharinas Erschrecken war nicht gespielt, und spätestens in diesem Moment wußte Dr. Daniel, daß die Schweigepflichtentbindungserklärung von ihr höchstens unwissentlich unterschrieben worden sein konnte.

»Norbert hat Sie angezeigt? Aber… warum denn?«

»Sie wissen wirklich nichts davon?«

Katharina schüttelte den Kopf. »Weshalb sollte Norbert Sie anzeigen? Herr Doktor, das muß ein Irrtum sein.«

Dr. Daniel seufzte, dann setzte er sich auf die Bettkante. »Leider nicht. An dieser Stelle muß ich mich gleich entschuldigen, Ka-tharina. Ich dachte, das alles wäre mit Ihrem Einverständnis, zumindest aber mit Ihrem Wissen geschehen.« Er erzählte, welchen Vorwurf Nobert der Polizei gegenüber geäußert hatte. Katharina war entsetzt, und sie versicherte, daß sie niemals etwas unterschrieben hatte, was bedeutete, daß Norbert zu allem Überfluß auch noch ihre Unterschrift gefälscht haben mußte.

Was der gewiefte Journalist sonst noch alles in die Wege geleitet hatte, erfuhr Dr. Daniel allerdings erst viel später. Ein reißerisch aufgemachter Artikel, der tatsächlich die Titelseite einnahm, äußerte bereits den dringenden Verdacht, Dr. Daniel habe eine illegale Abtreibung vorgenommen. In allen Einzelheiten, aber natürlich unter völliger Verdrehung der Tatsachen, schilderte Norbert, daß Katharina aufgrund einer Kopfverletzung ins Krankenhaus gekommen war. Hier habe Dr. Daniel dann aus unerfindlichen Gründen eine Abtreibung vorgenommen und nachher zu seinem Schutz behauptet, der Fetus wäre bereits vorher tot gewesen.

Der Artikel schlug nicht nur in Steinhausen hohe Wellen. Unter dem Druck der Presse war die Staatsanwaltschaft gezwungen, Anklage zu erheben, obwohl die Aussagen von Dr. Daniel und Dr. Metzler, vor allem aber die Erklärung von Katharina Bertram, sie habe schon Tage zuvor keine Kindsbewegungen mehr gefühlt, das kaum rechtfertigten. Allerdings war Dr. Daniel sogar froh, daß es zum Prozeß kam, denn nur so konnte sein Name in aller Öffentlichkeit wieder reingewaschen werden. Anfangs sah es jedoch so aus, als würde das genaue Gegenteil eintreten.

»Das Gutachten der Gerichtsmedizin bestätigt, daß der Fetus zum Zeitpunkt der eingeleiteten Geburt noch am Leben war«, führte der Staatsanwalt aus. »Damit ist der Tatbestand der illegalen Abtreibung erfüllt und Dr. Daniel im Sinne der Anklage für schuldig zu befinden.«

Dr. Daniel war wie vor den Kopf gestoßen.

»Das ist unmöglich!« erklärte er. »Der Fetus war tot. Wolfgang, du warst dabei, du hast es auch gesehen.«

Dr. Metzler nickte. Ihm war es unbegreiflich, wie die Gerichtsmedizin zu einem solchen Schluß kommen konnte, doch durch das Gutachten verloren nun alle Aussagen an Gewicht. Nicht einmal die Tatsache, daß Norbert Krämer die erste Schweigepflichts-entbindungserklärung von Katharina gefälscht hatte, fiel noch sonderlich ins Gewicht. Ausschlaggebend war allein, was der Gerichtsmediziner aufgrund einer Obduktion des Fetus herausgefunden hatte.

Das Urteil war nur noch eine Formsache. Dr. Daniel wurde die Approbation entzogen, außerdem wurde er zu einer nicht unerheblichen Geldstrafe verurteilt.

*

Der Prozeß um Dr. Daniel warf seine Schatten über ganz Steinhausen, vor allem natürlich über seine Familie. Der Teil der Praxis, wo Dr. Daniel gearbeitet hatte, wurde geschlossen, und er trat von seinem Posten als Klinikdirektor zurück. Dabei war ihm noch immer schleierhaft, wie es zu einer so fatalen Wendung in diesem Prozeß überhaupt hatte kommen können.

Auch Stefan und Darinka waren vom Verlauf der Dinge so betroffen, daß sie ihre eigenen Probleme in den Hintergrund stellten. Von der Operation und dem nachfolgenden anaphylaktischen Schock, der aufgrund der Antibiotika-Infusion eingetreten war, hatte sich Darinka gut erholt, aber was sie jetzt mit Stefan verband, war ein seltsam schwebendes Verhältnis. Die dringend nötige Aussprache hatte noch nicht stattgefunden – die beiden waren nicht wirklich getrennt, aber auch nicht richtig zusammen.

Dann ging Dr. Daniel in Berufung. Seine Familie und das Klinikpersonal standen geschlossen hinter ihm. Der Fall wurde ein zweites Mal aufgerollt und brachte Dr. Daniel erneut in die Schlagzeilen. Es wurde eifrig darüber spekuliert, wie die Angelegenheit diesmal ausgehen würde.

Dr. Daniel beantragte eine zweite gerichtsmedizinische Untersuchung, doch der Antrag wurde abgelehnt. So schnell gab Dr. Daniel aber nicht auf. Er berief sich auf seine Aussage, daß der Fetus zum Zeitpunkt der Ultraschalluntersuchung kein Lebenszeichen mehr aufgewiesen hatte und bekräftigte dies durch Dr. Metzlers eigene Feststellung, der bei der Untersuchung ja ebenfalls da gewesen war. Darüber hinaus gab Dr. Scheibler nach Entbindung der Schweigepflicht eine Stellungnahme ab, die bezeugte, daß bei Katharina Bert-ram während des Eingriffs eine massive Blutgerinnungsstörung eingetreten war, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch den toten Fötus ausgelöst worden war.

Nach eingehener Beratung entschlossen sich die Richter der Berufungskammer, dem Antrag auf ein weiteres gerichtsmedizinisches Gutachten doch stattzugeben, da die Aussagen von nunmehr drei anerkannt guten Medizinern nicht einfach ignoriert werden konnten.

Erneut mußte sich die Gerichtsmedizin mit dem toten Fetus beschäftigen, und nun zeigte sich plötzlich ein völlig anderes Ergebnis. Das Gutachten untermauerte Dr. Daniels und Dr. Metzlers Aussagen. Der beauftragte Gerichtsmediziner ging in seinen Ausführungen sogar so weit, daß der Fetus schon mindestens zehn, ja vermutlich zwölf Tage vor dem streitgegenständlichen Eingriff tot gewesen sein mußte. Abschließend fügte er hinzu, daß das Leben der schwangeren Patientin durch den toten Fetus in höchstem Grad gefährdet gewesen sein müsse. Eine andere Entscheidung, als die von Dr. Daniel getroffene, hätte es in diesem Fall also gar nicht geben können.

Daraufhin wurde das Urteil der ersten Instanz aufgehoben und Dr. Daniel vom Schuldvorwurf der illegalen Abtreibung freigesprochen. Parallel dazu wurde untersucht, weshalb das erste Gutachten so völlig anders ausgefallen war, und als das Ergebnis feststand, wurde gegen Norbert Krämer ein Verfahren eingeleitet. Er hatte Dr. Daniel in seinen Artikeln nämlich nicht nur schwer verleumdet, sondern darüber hinaus noch einen Arzt des gerichtsmedizinischen Instituts bestochen, damit ein falsches Gutachten zu den Akten gelangte. Auch der Gerichtsmediziner wurde belangt, und beide mußten sehr empfindliche Strafen hinnehmen. In der Folge zog das Urteil sowohl für Norbert als auch für den bestochenen Arzt eine fristlose Kündigung nach sich.

Einen Tag nach der Urteilsverkündung kam Katharina Bertram zu Dr. Daniel, der auch seine Tätigkeit als Klinikdirektor wiederaufgenommen hatte, in die Praxis.

»Ich bin so froh, daß nun doch noch alles gut ausgegangen ist«, erklärte sie, als sie ihm in seinem Sprechzimmer gegenübersaß. »Ich habe keine Sekunde daran geglaubt, daß Ihnen ein Fehler unterlaufen sein könnte.«

»Danke, Katharina, das tut mir sehr gut«, erwiderte Dr. Daniel. Inzwischen konnte er schon wieder lächeln, aber man sah ihm noch sehr deutlich an, wie sehr der lange Prozeß an seinen Nerven gezehrt hatte. Er wechselte spontan das Thema. »Sie sehen glücklich aus, Katharina.«

Sie nickte mit einem strahlenden Lächeln. »Das bin ich auch, Herr Doktor. Andy und ich werden heiraten.«

»Andy«, wiederholte Dr. Daniel. »Ich nehme an, das ist Herr Korda.«

»Ja«, gestand Katharina, und das selige Glänzen in ihren Augen ließ ihr ganzes Gesicht von innen heraus leuchten. »Es war bei uns beiden Liebe auf den ersten Blick, und wir sind so sicher, daß wir zusammenbleiben wollen…« Sie zuckte die Schultern. »Wozu mit der Hochzeit also noch länger warten? Andy sagt, entweder man weiß es sofort oder nie.«

»Damit hat er wohl nicht ganz unrecht«, stimmte Dr. Daniel zu und dachte dabei an seine eigene Ehe mit Manon. Als sich ihre Freundschaft in Liebe gewandelt hatte, da hatte er auch sehr schnell gewußt, daß sie die Frau war, mit der er nach seinem jahrelangen Witwerdasein eine zweite Ehe eingehen wollte.

»Wir spielen auch mit dem Gedanken an ein Kind«, gab Ka-tharina zu und riß Dr. Daniel damit in die Wirklichkeit zurück. »Allerdings gestehe ich, daß ich vor einer neuen Schwangerschaft schreckliche Angst habe.«

»Das ist verständlich«, meinte Dr. Daniel. »Sie sollten damit auch noch ein bißchen warten – nicht nur aufgrund Ihrer psychischen Verfassung. Lassen Sie Ihrem Körper Zeit, sich vollends zu erholen. Wenn Sie meinen Rat beherzigen, dann sehe ich einer erneuten Schwangerschaft recht zuversichtlich entgegen.«

»Seien Sie ehrlich, Herr Doktor – könnte so etwas wieder passieren?«

Dr. Daniel nickte. »Es kann bei der nächsten Schwangerschaft wieder passieren, doch die Möglichkeit, daß es tatsächlich geschieht, ist sehr gering.« Er schwieg einen Moment. »Warten Sie, bis Körper und Seele wirklich bereit sind, und versuchen Sie, so unbefangen wie möglich in die Schwangerschaft zu gehen. Ich bin sicher, daß Sie dann nach neun Monaten ein gesundes Kind zur Welt bringen werden.«

Dankbar lächelte Katharina ihn an. »Mit Ihrer Hilfe ganz gewiß.«

*

Wie ein streunender Kater schlich Stefan um das Haus, in dem Darinka mit ihrer Freundin Bianca wohnte. Seit der Prozeß um seinen Vater beendet war, drückte er sich um eine Aussprache mit Darinka herum, wußte aber gleichzeitig, daß er ihr nicht entkommen konnte. Seit seiner Rückkehr aus Paris hatten er und Darinka das für ihn peinliche Thema ausgeschwiegen. Meistens waren sie wie zwei gute Bekannte miteinander umgegangen – bedacht darauf, nur ja keine Gefühle preiszugeben.

Jetzt verließ Bianca das Haus, blieb kurz stehen und blickte Stefan an.

»Ich habe Dienst«, erklärte sie. Stefan verstand.

Er sah Bianca nach, dann stand er unschlüssig vor der angelehnten Haustür. Die Stunde der Wahrheit schien gekommen zu sein. Er atmete tief durch, bevor er in den Hausflur trat und langsam die Treppe hinaufstieg, die zu der gemütlichen kleinen Wohnung von Bianca und Darinka führte.

Auch die Wohnungstür stand einen Spalt offen. Es war klar, daß Darinka mit seinem Kommen gerechnet hatte. Alles wies darauf hin, daß sie heute auf einer Aussprache bestehen würde.

»Darinka?«

Stefan konnte nicht verhindern, daß seine Stimme ein wenig rauh und unsicher klang.

Sie trat aus dem Wohnzimmer. Stumm standen sie sich gegen-über. Darinkas Mund lächelte ein wenig, doch ihre Augen blickten sehr ernst.

Stefan hatte das dringende Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen und zärtlich an sich zu drücken, doch das durfte er nicht – nicht bevor sie ihm wirklich verziehen hatte. Würde sie dazu überhaupt in der Lage sein? Er hatte sich so schrecklich ihr gegenüber benommen.

»Ich habe dir viel Zeit gelassen.«

Darinka war es, die das Gespräch eröffnete.

Stefan nickte. »Papas Prozeß hat uns alle ziemlich mitgenommen.«

Darinkas große dunkle Augen wirkten traurig. »Jetzt ist der Prozeß vorbei.« Erwartungsvoll sah sie Stefan an, doch als eine Erwiderung von ihm ausblieb, fügte sie hinzu: »Hast du mir denn nichts zu sagen?«

Nervös fuhr sich Stefan durch die dichten Locken. Er hatte Angst… Angst davor, daß Darinka ihm nicht verzeihen könnte… daß ihm in wenigen Minuten ein Abschied für immer drohen könnte.

»Ich liebe dich, Darinka«, flüsterte er, obwohl er genau wußte, daß es damit nicht getan war.

Das junge Mädchen schüttelte auch tatsächlich den Kopf. »Das hast du mir auf der Intensivstation schon gesagt, aber es genügt nicht, Stefan. Du kannst nicht erwarten, daß mit einer Liebeserklärung alles vergessen ist, was du mir vorher angetan hattest.«

Stefan wich ihrem Blick aus. Er konnte es nicht ertragen, daß sie ihn auf diese Weise anschaute – voller Zweifel und Traurigkeit.

»Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich glaube, mir hat noch nie etwas so leid getan…« Hilflos zuckte er die Schultern. »Ich kann es nicht erklären, Darinka. Als ich Chantal gesehen habe, setzte etwas in mir aus. Ich war wie geblendet von ihrer Schönheit… ihrem Charisma… ich konnte nicht anders, als sie zu lieben.« Er sah an ihrem Gesicht, wie viele Schmerzen er ihr mit diesen Worten bereitete. Impulsiv wollte er sie in die Arme nehmen, sie trösten und sagen… ja, was sollte er eigentlich sagen… daß es nicht stimmte? Nein, jetzt durfte es keine Lügen geben. Er mußte zur Wahrheit stehen, auch wenn das bedeutete, daß er Da-rinka für immer verlieren würde.

Sie wich seinen ausgestreckten Armen aus.

»Zwischen Chantal und mir ist Schluß«, fuhr Stefan fort und hoffte inständig, sie würde nicht nach dem Grund fragen.

Das tat sie auch nicht, doch ihre nächsten Worte schockierten Stefan noch weitaus mehr.

»Zwischen euch ist Schluß, weil sie dich zum Teufel gejagt hat, habe ich recht?«

Einen Moment hatte Stefan das Gefühl, wie im Fieber zu glühen, doch gleich darauf begann er zu frösteln. Er nickte… langsam… zögernd.

Traurig senkte Darinka den Kopf und drehte sich um.

»Unter diesen Umständen hat es wohl keinen Sinn, wenn wir unsere Beziehung fortsetzen.« Ihre Worte kamen leise, trotzdem zuckte Stefan zusammen, als wäre soeben eine Bombe explodiert.

»Nein!« schrie er auf. »Darinka, ich liebe dich doch!«

Sie wandte den Kopf, ihr schwarzes Haar fiel dabei wie ein Schleier über ihr Gesicht, so daß er nicht sehen konnte, was in ihr vorging.

»Du liebst mich also«, entgegnete sie. »Aber als ich operiert werden mußte, da warst du bei ihr und nicht bei mir. Nach meiner Antibiotika-Allergie, an der ich gestorben wäre, wenn dein Vater und Dr. Parker nicht gewesen wären… in dieser ersten schrecklichen Nacht, da saß dein Vater an meinem Bett, während du bei ihr warst. Und jetzt… jetzt bist du doch nur bei mir, weil sie dich nicht mehr haben will.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Lückenbüßer, Stefan. Ich will geliebt werden – mit allem, was dazugehört. Und ich will dem Mann an meiner Seite vertrauen können.« Sie schwieg kurz, dann fügte sie leise hinzu: »Dir kann ich nicht mehr vertrauen, denn woher soll ich wissen, ob bei dir nicht wieder etwas aussetzt, was du vorhin gesagt hast, wenn dir eine schöne Frau begegnet?« Mit einer Hand strich sie ihr Haar zurück, und Stefan sah, daß sie ihre Worte bitter ernst meinte. »Bitte geh, Stefan, und komm nicht wieder her.«

»Darinka!« rief Stefan verzweifelt, doch da hatte sie schon das Wohnzimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen – in einer Art, die Stefan sehr deutlich zu verstehen gab, daß er ihr nicht zu folgen brauchte.

Völlig gebrochen stand er im Flur. Er hatte das Gefühl, als hätte er soeben sein Leben verloren.

*

Es dauerte zwei Wochen, bis Darinka zu Dr. Daniel in die Praxis kam, weil sie den Schmerz in ihrem Herzen einfach nicht mehr aushielt.

»Herr Dr. Daniel, Sie waren mir immer wie ein zweiter Vater«, begann sie ohne Umschweife. »Was soll ich nur tun? Ich liebe Stefan, und ich habe solche Sehnsucht nach ihm, daß ich jeden Tag das Gefühl habe zu sterben, wenn ich ihn nicht sehen kann.« Sie senkte den Kopf. »Aber ich habe auch Angst. Ich will eine solche Hölle kein zweites Mal durchleben. Stefan bei dieser anderen Frau zu wissen… der Gedanke, daß er vielleicht jetzt noch bei ihr wäre, wenn sie nicht Schluß mit ihm gemacht hätte…« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie durch ihr langes, dichtes Haar. »Ich habe Stefan blind vertraut, doch jetzt… jetzt habe ich dieses Vertrauen verloren.«

Dr. Daniel nickte bedächtig. »Das kann ich gut verstehen, Darinka. Stefan hat nichts getan, womit er sich dein Vertrauen verdienen würde.« Er schwieg eine Weile. »Trotzdem solltest du ihm vielleicht eine zweite Chance geben. Er leidet ganz schrecklich unter deinem Verlust. Ich habe meinen Sohn noch nie so gesehen.« Wieder machte er eine Pause. »Ich kann dir nicht versprechen, daß er so etwas nie wieder tun wird – niemand kann das, nicht einmal er selbst.«

Lange dachte Darinka über diese Worte nach, dann stand sie entschlossen auf. »Ist er oben?«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Er ist noch in München, in der Klinik, aber eigentlich sollte er jeden Augenblick kommen.«

Darinka nickte. »Ich werde auf ihn warten.«

Sie verabschiedete sich von Dr. Daniel, dann trat sie aus der Praxis ins Freie. Obwohl es fast sieben Uhr abends war, schien die tiefstehende März-Sonne noch angenehm warm. Darinka hielt ihr Gesicht in den leichten Wind, der schon nach Frühling duftete. Plötzlich fühlte sie sich leicht und frei.

In diesem Moment hörte sie den Motor eines herannahenden Autos, und obwohl sie es noch nicht sehen konnte, wußte sie, daß es nur Stefans Wagen sein konnte. Da kam er auch schon die Auffahrt herauf. Der Motor war noch nicht richtig aus, als Stefan schon heraussprang und Darinka ein paar Schritte entgegenlief, dann blieb er so abrupt stehen, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen. Mit angehaltenem Atem versuchte er, in ihrem Gesicht zu lesen.

Da lächelte sie und ging die wenigen Schritte, die sie und Stefan noch trennten. Sie hob eine Hand und streichelte sanft durch seine dunklen Locken.

»Verzeihen kann ich dir«, erklärte sie. »Aber mein Vertrauen wirst du dir erst wieder verdienen müssen.«

Erleichtert stieß Stefan den Atem aus, dann zog er Darinka zärtlich in seine Arme.

»Nie mehr«, versprach er. »Ich schwöre es dir… nie mehr werde ich dir weh tun.« Er küßte sie. »Ich liebe dich, Darinka.«

In liebevoller Umarmung standen sie da und wußten nicht, daß Dr. Daniel sie vom Fenster seiner Praxis aus beobachtete. Unwillkürlich dachte er an die drohenden Schatten, die in letzter Zeit über ihnen allen gestanden hatten – der Prozeß… Stefans unselige Liebe zu dieser Chantal…

Doch dann erschien ein zufriedenes Lächeln auf Dr. Daniels Gesicht. Gemeinsam hatten sie die Schatten besiegt – das Leben konnte neu beginnen…

– E N D E –

Dr. Daniel Paket 2 – Arztroman

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