Читать книгу Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Страница 10
DER KLANG DES BLEISTIFTES
ОглавлениеSie führte mich mit ihrem Wörterbuch in die
ideelle Welt der Fantasie. Sie brachte die Gedanken
zum Blühen, und ich wärmte ihr Herz auf.
Das Labyrinth der Wörter (2010) | Regie: Jean Becker
„Ma Douce, hol dein Heft aus deinem Schulranzen.“
Ich hatte selbstverständlich meine Schulsachen mitbringen müssen, denn der letzte Monat der langen Sommerferien gehörte ganz der Lehrvorstellung meiner Tante und war dem herbstlichen Schulanfang, La rentrée, gewidmet. Sie überprüfte sorgfältig den Inhalt meines ledernen Schulranzens, öffnete das Mäppchen, kontrollierte den Zustand meiner Schreibutensilien.
„Marie, ein Bleistift darf nie auf den Boden fallen, sonst bricht die Mine! Behandle deine Schulsachen wie Lebewesen, und sie werden dir die schönsten Gefühlswelten eröffnen.“
Der Klang eines Bleistiftes, der hinunterfällt, bricht mir seitdem das Herz. Meine Schulsachen lebten und trugen Nachnamen: Die Feder meines Federhalters hieß Sergent-Major, die Tinte Waterman, mein Kugelschreiber Bic, mein Zeichenblock Canson, mein Radiergummi Pelikan, mein Malkasten Lefranc Bourgeois. Die Kreide hatte sogar einen Vornamen, den meines Papas, Robert!
Tatie Nenne stand hinter mir, diktierte Sätze aus ihrem Schulbuch, Auszüge aus Le lion von Joseph Kessel. Ich bemühte mich, mit der kratzenden Feder säuberlich zu schreiben, indem ich das mit Werbung bedruckte Löschblatt immer parat hielt. Mit zugepressten Lippen konzentrierte ich mich, beim Eintunken des Federhalters die richtige Dosis aus dem Tintenfass zu entnehmen, um die Katastrophe eines Kleckses zu vermeiden. Es reichte, dass meine Zeige- und Mittelfinger gegen die Hartnäckigkeit der Purpurverfärbung zu kämpfen hatten. Ich spürte in meinem Rücken ihren prüfenden Blick. Sie verbesserte umgehend mit ihrem roten Kugelschreiber die immer wiederkehrenden Fehler.
„Du weißt, um ein Partizip von einem Infinitiv, also, um die gleichgesprochenen Endungen -é und -er zu unterscheiden, musst du dein Verb durch faire ersetzen. So wird der Unterschied hörbar!“
„Oui, Tatie Nenne“, antwortete ich, beschämt über meine Vergesslichkeit.
Ich kann heute noch nicht einen Satz schreiben, ohne an die rot korrigierten Fehler zu denken, da sie mir noch jahrelang später meine an sie gesendeten Briefe rot verbessert zurückschickte.
S’en aller war mein Verb, fortgehen war definitiv mein Infinitiv. Man sollte nicht aufhören weggehen zu wollen, um hingehen zu können. Wohin ist unwichtig. Ich dachte zuerst, man müsste weit weg gehen, um möglichst viel zu sehen. Aber Tatie Nenne hatte Frankreich nie verlassen und sie sprach, als ob sie die Welt in ihrer Tasche trüge. Man dürfe nur nicht im Kopf stehen bleiben, sonst gehe man dahin.
Tatie Nenne sagte: „Wenn du jemanden kennenlernen möchtest, frage nicht, woher er kommt, sondern wohin er geht. Denk an die Wundertüte, die deine Großmutter Irène in ihrer Gaststätte verkauft. Der Schatz ist nicht drin, da befindet sich nur vergängliche Bagatelle, der Schatz ist das Lächeln, das das Auspacken auf die Lippen des Kindes malt, und das Funkeln, das die Neugier in seinen Augen entzündet. Das Glück ist ein Frechdachs, der sich gerne versteckt, du musst deine Augen und dein Herz ganz groß aufmachen, um ihn zu entdecken.“
Es waren meine Wörter, mein Diktat, meine rot korrigierten Fehler. Ich liebte die Adjektive, die sich entweder wie fliegende Teppiche zu den Füßen ihrer herrischen Substantive legten oder es wagten, gegen das Sein zu rebellieren: Epitheton oder Attribut fasste die Lehrerin zusammen. Sie waren Zuckerwürfel. Wie bei dem Spiel Reise zum Mond warf ich den Stein dorthin, wo ich ihn brauchte, hüpfte mit einem Bein über die Felder und gelang in den Himmel. Sie versüßten sofort meinen Satz. Wie konnten die Menschen in Papua-Neuguinea ohne sie leben? Tatie erzählte mir, dass ihre Sprache, das Yimas, nur fünf Adjektive besitze: kpa für groß, waca für klein, yua für gut, mama für schlecht und ma für andere. Ganz schön schwierig, mit diesem reduzierten Angebot in einem Aufsatz einen windigen Tag im Herbst zu beschreiben! Tatie meinte auch, man habe verlernt, das Adjektiv zu ehren: „Unsere dekadente Gesellschaft glaubt, dass es wie der Zucker dick macht, und das Abnehmen ist modern. Die Leute wissen einfach nicht mehr, wie man das Adjektiv verwendet. Entweder wird es im Überfluss konsumiert oder strikt abgelehnt.“
Meine Großtante hatte aus ihren rosaroten Aspirin-Schachteln ein Spiel gebastelt, das sie bei ihren gleichgesinnten Nachbarn, Monsieur und Madame Hulot, entdeckt hatte. Mit ihrer gewohnten Akribie und der Schere, die nur für Papier benutzt werden durfte, hatte sie unzählige viereckige Stückchen aus Pappe ausgeschnitten, und die nicht bedruckte Seite mit allen Buchstaben des Alphabets verziert. Sie hatte sich genau erkundigt, wie oft jede einzelne Hieroglyphe vorkam. Ihr selbst entworfenes Diamino war ein Kunstwerk, nur die Benutzung erwies sich als eine delikate Angelegenheit: Wir mussten aus den dünnen Papierbuchstaben Wörter bilden und sie senkrecht und waagrecht auf dem klebrigen Wachstuch in der Form eines Kreuzworträtsels anordnen. Meine ungeschickten Finger verzweifelten. Ich strengte mich an – so wie bei dem reisgepuderten Kuss der Madame Hulot –, die Luft anzuhalten, sonst flogen die leichtsinnigen Aspirin-Teilchen aus dem mühsam erstellten Kreuzgitter durcheinander. Aber die Freude, nach der Konzentration ein System aus Wörtern erschaffen zu haben, war so groß, dass wir die Übung jeden Abend unermüdlich wiederholten. Ich liebte es, mit diesen winzigen Wesen aus Buchstaben zu spielen. Sie waren sauberer als die Ameisen aus dem Erdhaufen unter dem Birnbaum, ließen sich freiwillig führen und stellten keine Gefahr dar. Ich erhob bei dem Spiel den Konsonanten R, der wie ich am 18. geboren war, in den Rang des Buchstabenkönigs: R mon Roi! Wenn einer es verdient hatte, als Kopf zu stehen, dann dieser knurrende Elefantenrüssel. Kein Problem, den Hundsbuchstaben in einem Wort zu platzieren. Alle Verben im Infinitiv brauchten ihn. Tatie Nenne hatte mir erzählt, dass im 18. Jahrhundert die Unglaublichen und die Wunderbaren, die exzentrischen neureichen Pariser Bürger des Direktoriums, das R aus ihrem Wortschatz gestrichen hatten, um während der Französischen Revolution ihre Missgunst der Schreckensherrschaft gegenüber auszudrücken: R wie Revolution! Ich versuchte, sie zu imitieren: „Ma pa’ole d’honneu‘! C’est inc’oyable!“ Mein Eh’enwo’t! Das ist haa’st’äubend!, und stellte fest, dass man erst, wenn etwas verschwindet, merkt, wie wichtig es ist. Würde mir Tatie fehlen, wenn sie nicht mehr da wäre? Welchem fehlenden Buchstaben des Alphabets würde sie entsprechen? Wäre sie ein E, unersetzbar in der französischen Sprache, oder wäre sie nur ein W, worauf man mühelos verzichten kann?
„Eigentlich ist die Literatur eher als die Tonkunst die Kunst der Musen, Ma Douce“, erklärte mir die Lehrerin. Die Muse amüsierte: Die Worte klangen wie Musik, tanzten auf dem knarrenden Parkettboden meines Herzens und schmückten mit leuchtenden Sternen die tristen Wände des Hauses. Meine Präferenz ging an die Blaugrünen, die Braven, die Worte, die keine Wellen schlagen und von den Augen gesprochen werden können. Das Wort Savanne war hellblau wie der Blick von Michel, meinem Spielkameraden in Rethel. Lion mochte ich nicht besonders, es war ockerbraun wie die Erde am Brunnen, die an meinen Gummistiefeln kleben blieb. Aber Manuel stand ganz oben auf meiner Liste. Wenn Tatie sagte „Regarde dans ton manuel“ – sieh in deinem Handbuch nach; sie benutzte nicht das übliche Wort livre, Buch, wie alle anderen –, befand ich mich in meinem Schlauchboot in Saint-Jean-de-Monts an der Atlantikküste und betrachtete die schimmernde zyanfarbene Oberfläche des Ozeans.
„Gigi ist gelb wie die Sonne, nicht wahr, Tatie Nenne?“
„Nein, sie ist rot wie der Abend“, korrigierte sie mich.
„Aber Papa ist blau, oder?“
„Ja, sogar dunkelblau.“
Die Bestätigung beruhigte mich ein wenig. Die Farben meiner Wörter waren anders als die meiner Großtante. War ich normal? Musste ich das Umdenken üben wie die Linkshänder, die in der Schule gezwungen wurden, die rechte Hand als Schreibhand zu verwenden? Ich holte meine Aquarellpalette und bemühte mich, auf meinem Zeichenblock ihren Buchstaben-Regenbogen zu malen, aber wie eine schwingende Schaukel kehrte mein eigener zu mir zurück: Mein I war safrangelb und nicht rot, mein A ultramarinblau, mein U blieb smaragdgrün, mein O braun wie die gebrannte Erde aus Siena und mein E milchig wie das Porzellanweiß Blanc de Chine aus der Tube meines Malkastens. Meine Vokale hatten unauslöschliche Farben, die ich nicht tauschen konnte. Sie waren genauso so fest implantiert wie die Haare auf meinem Kopf. Wenn ich probierte, sie heraus zu reißen, tat es weh.
Vokale
A schwarz, E weiß, I rot, U grün, O blau – Vokale,
eines Tages bring ich es aus Euch zur Welt:
A, schwarzes Leibchen von Fliegen im Feld,
die um greulichen Dunst gepaart wie Schakale,
Schattenbuchten; E Verführung von Rauch und Zelten,
Gletscherstahl kühn, weiße Herren, kitzelnde Doldenrippen;
I Purpurtöne, ausgespienes Blut, Lächeln schöner Lippen,
bevor sie sich zu Raserei und geilem Rausch entstellten;
U, Zyklen, göttliches Vibrieren der Tiefseespalten,
Friede tierbesäter Haine, Friede der Falten,
die im Studium der Alchemie die Stirnen füllen;
O, himmlische Posaune voll quietschender Gestänge,
stille Räume quer durch die Zeiten und Engel:
– O Mega-O, violettes Brennen Ihrer Pupillen!
„Vokale“ (Voyelles) von Arthur Rimbaud, geboren in Charleville am 20. Oktober 1854. Übersetzung aus dem Französischen von Jan Volker Röhnert.