Читать книгу Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Страница 5
SEPIA
ОглавлениеTintenfische besitzen einen Farbbeutel, der eine monochrom bräunliche Flüssigkeit enthält und sich entleert, sobald das Tier Gefahr wittert. Unser Gedächtnis verfügt zur Linderung allzu scharfer Konturen über den gleichen Verteidigungsmechanismus: eine mit Zeit gefüllte Tintenpatrone. Alles vergeht mit der Zeit, man vergisst das Gesicht, die Stimme entwischt, sogar die schönsten Erinnerungen verlieren ihren Glanz. Aber plötzlich, über den Umweg eines Duftes, eines Wortes, eines Augenblickes taucht die Vergangenheit auf. Sie durchbricht die blasse Eisschicht der Gegenwart und projiziert auf die Filmleinwand des Bewusstseins die wiedergefundenen Bilder.
Als ich unter meinen Füßen kleine Erhebungen im Gras spüre, hebe ich den Blick und entdecke im Gestrüpp des Gartens meiner Schwiegereltern einen jungen Haselnussstrauch.
„Die Gemeine Hasel! Jetzt habe ich den Grund für meine allergische Rhinitis!“, ruft Ubaldo, als ich ihm meinen Fund melde. Am Sonntagstisch beim Sonntagsapfelkuchen unterhält er sich fachlich mit seinen Eltern, beide Mediziner wie er, über die Entfernung dieses Übeltäters. Ich hingegen pflücke eine noch unreife Haselnuss, befreie sie aus ihrem grünen Mäntelchen und knacke mit den Zähnen die weiche Holzschale auf, sehr vorsichtig, um das kostbare weiße Innere, das sich in meinem Mund wie eine Perle anfühlt, nicht zu zerstören. Ich spucke die unerwünschten Schalenstücke aus, lasse die glatte Kugel so lange auf meiner Zunge ruhen, bis der Drang, den säuerlichen Geschmack wiederzufinden, mich antreibt, sie zu zerkauen.
In diesem Moment sitze ich wieder als kleines Mädchen auf der kalten Treppe des Hauses in La Neuville, in einem kurzen Vichy-Karo-Kleid, einen Hammer in der Hand, und beobachte hinter den Holzstäben meines Käfigs das menschliche Geschehen auf der offenen Straße.
Ich habe die verrostete Büchse geöffnet, in der alle Filmestapel meiner Kindheit säuberlich aufgehoben waren. Oberflächlich betrachtet, hat sich die Farbe der Bilder verflüchtigt. Sie scheinen in den Sepia-Modus alter Fotos übergegangen zu sein. Aber nach dem Entweichen eines trügerischen Dunstes taucht – wie aus einer Wunderlampe – immer deutlicher und farbiger der Geist der Vergangenheit auf.