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LES GRANDES VACANCES

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Wie in einem heiligen Ritual

wandert die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs in den

Sommermonaten Juli und August Richtung Meer.

Les vacances de Monsieur Hulot (1953) | Regie: Jacques Tati

Während der Zeit, die ich bei Tatie Nenne verbrachte, gehörte der Krieg zu meinem Alltag. Ich habe damals nicht begriffen, dass sie beide Weltkriege erlebt hatte, dachte nur, dass sie im Dauerkrieg mit den Deutschen lebte. Im Nachhinein fällt mir auf, dass ich, die sonst jeden Augenblick der Stille mit Worten füllte, bei ihr nie etwas nachfragte, sondern wie in der Schule immer aufmerksam zuhörte. Das war vielleicht auch ein Grund, weshalb sie mich ‚Ma Douce‘, Meine Sanfte, nannte, was alle anderen merkwürdig fanden, denn es passte einfach nicht zu dem Wirbel, der ich sonst war.

Die Deutschen waren Tatie Nennes Hauptthema. Sie lehrte mich ihre deutschen Gebote, so wie sie mir das Beten beibrachte: „Deine Eltern sind mit der Religion nicht sehr zuverlässig!“

Jeden Abend, bevor ich das hohe Bett besteigen durfte, musste ich im Knien das auswendig gelernte Kindergebet rezitieren: „Jesuskind in meinem Herzen, wer hat dich gebracht? Die Gnade Gottes. Wer hat dich weggenommen? Die Sünde. Geh weg, böse Sünde, komm zurück, Jesuskind! Mein Herz wird nicht mehr sündigen.“

Nach diesem Ritual, das sie überwachte wie die Milch auf dem Feuer, kamen die Deutschen: „Ma Douce, du musst wissen, dass sich viele Deutsche im Krieg hilfsbereiter zeigten als manche Franzosen im Dorf. Sie waren unsere Feinde, benahmen sich aber oft wie richtige Gentlemen und erwiesen sich meistens gebildeter als die hier gebliebenen Männer.“

Es fällt mir auch heute noch schwer, ihre Kriegserzählungen richtig einzuordnen. Ich steckte damals alle Deutschen in dieselbe Kriegstasche. In meinem kleinen Kopf, den Tatie Nenne dank der Wohltaten des gekochten Hirnes mit grauen Zellen gefüllt hatte, gab es diesen einen übermächtigen Begriff: Die Deutschen. Egal, wo ich mich befand, die Deutschen waren da. Wenn ich auch das Kriterium der zeitlichen Differenzierung nicht verstand, so war mir dagegen die örtliche sehr früh präsent. Es gab die Deutschen aus dem Norden, die sie Preußen nannte, und die aus dem Süden.

Meistens sprach Tatie Nenne, wenn sie von den Deutschen erzählte, von La Guerre 14/18, dem Ersten Weltkrieg, der ihre Jugend total verunstaltet hatte. Sie war 25 Jahre alt, als 1914 die deutschen Soldaten in Frankreich einmarschierten: „Wir sahen in Inaumont, dem Dorf an der belgischen Grenze, wo ich meine Schule hatte, viele deutsche Regimente vorbeigehen. Die einen, groß und imposant, marschierten wie ein einstudiertes Ensemble. Die Uniformen saßen perfekt. Sie hinterließen einen Eindruck der Furcht und des Respekts. Das waren die aus dem Norden, die Preußen. Mirabeau sagte zu Recht über sie ‚Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt’. Die anderen kamen uns nicht so groß vor, machten einen lockeren Eindruck. Ihre hellblauen Uniformen ließen zu wünschen übrig. Da fehlten oft Knöpfe, und man konnte sehen, dass sie nicht so viel Wert auf Sauberkeit legten wie die Preußen. Das Komischste geschah zu Weihnachten: Einige trugen einen Tannenbaum auf der Schulter. Das kannten wir damals nicht. Es waren die Bayern. Dieses lockere Auftreten dämpfte den Schauder, der uns vor diesem martialischen Aufmarsch befiel. Ihnen verdanken wir seitdem unsere Weihnachtsbäume.“

Mémère Irène, meine Großmutter mit den kannibalischen Kaninchen, die Mutter meines Vaters, erschwerte meine Verwirrung mit Anekdoten, die sie in ihrem Dorf über die Deutschen aus dem Krieg von 1870 gehört hatte, nämlich dass die Preußen schon im Siebziger Krieg eine Wucht gewesen seien. Die Erscheinung der auf riesigen Pferden montierten Preußen mit ihren spitzen glänzenden Stahlhelmen, ihren aufwendigen, perfekt sitzenden Uniformen, in dem winzigen Dorf der Ardennen, in dem ihre Mutter, meine Urgroßmutter, 1870 lebte, habe ungefähr der Ankunft der spanischen Konquistadoren bei den Azteken entsprochen. Eine kleine ältere Dorfbewohnerin habe sich strikt geweigert, einen monströsen preußischen Offizier, der ihr sein ‚billet de logement‘, eine offizielle Unterkunftserlaubnis, vorzeigte, unterzubringen: „Non, non, das ist unmöglich!“, habe die arme Frau geschrien. „Das geht nicht!“

Als der Soldat von seinem hohen Ross abstieg, um die Angelegenheit zu klären, habe die erschrockene Dame erleichtert gerufen: „Oh, wenn das Ganze demontiert werden kann, dann wird es wohl durch die Tür passen!“

Zur totalen Verwirrung führten bei mir schließlich Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg, den meine Familienmitglieder auch durchgemacht hatten. Wie oft hatte uns meine Mutter geschildert, wenn wir, Titi, Gigi und ich, in den großen Sommerferien auf dem Rücksitz des eierschalenfarbenen Peugeot 404 über die unendliche Fahrt ans Meer klagten, wie sie am 12. Mai 1940 mit einer Matratze auf dem Dach des Familienwagens, eines Renault 6 CV, den Vogelkäfig und zwei mit dem Tabak aus dem Laden ihrer Eltern gefüllten Tontöpfen, von Poix-Terron, ihrem Geburtsort in den Ardennen, Richtung Südfrankreich über die Demarkationslinie in das Zentral-Massiv geflohen waren. Ihr Vater Eugène, trotz des in den Schützengräben von Verdun verlorenen Beins, saß am Steuer. Neben ihm, steif wie eine Stricknadel, meine Großmutter Marcelle. Mit einer Landkarte Frankreichs auf dem Schoß führte sie die Familie in die blau gemalte freie Zone. Die Tante Adrienne, den Kopf erhoben, den Blick versunken in die Ferne, thronte hinten zwischen den Kindern, was auf Anhieb jeden möglichen Streit zwischen meiner Mutter und ihrem Bruder im Keim erstickte.

Der Gedanke an meine Mutter unter den Bomben der Deutschen ließ mich die Übelkeit, die mich jedes Mal während der Reise in der nach Benzin und überhitzten Reifen stinkenden Limousine überfiel, herunterschlucken. Die Bilder des Flüchtlingskonvois aus dem Film Verbotene Spiele tauchten bei jeder dieser Fahrten an die Oberfläche meines eigenen Kopfkinos auf. Ich sah auf der Brücke liegend neben der erschrockenen kleinen Paulette die Körper der von einem deutschen Tiefflieger erschossenen Eltern. Ich versuchte stoisch die Widrigkeiten der Autofahrt zu bekämpfen. Ich ignorierte die Asche der im Mund meines Vaters fest verankerten Gauloises-Kippe, die bei offenem Fenster uns, den auf der hinteren Sitzbank nach Größe aufgereihten Kindern, ins Gesicht flog. Ich ignorierte den säuerlichen Gestank des Klos der Katze, die zu Hause zu lassen meine Schwester sich geweigert hatte und die sie stur unter unseren Füßen an der Leine hielt. Dem Geruch nach schien das arme Tier genauso wie ich unter den Kurven des Zentralmassivs zu leiden. Ich ignorierte den geronnenen Nachgeschmack des Erdbeereises, das mein gutgelaunter Vater uns als Nachtisch nach dem Baguette mit kaltem Hähnchen und Mayonnaise von der Tankstelle spendiert hatte. Ich ignorierte die hüpfenden Zeilen meines rosa und grün gebundenen Buches aus der Reihe Fünf Freunde von Enyd Blyton: Meine Hartnäckigkeit, sie wieder in ein ordentliches Gesamtbild fixieren zu wollen, erhöhte deutlich den Druck im Magen. Ich ignorierte den steigenden Würgereiz als Mutprobe gegenüber dem Mädchen, das in der Kriegszeit so alt wie ich war und sicherlich, ohne zu jammern, die Flucht ins Exil mit ihrem Vogel ertragen hatte.

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt

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