Читать книгу Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt - Marie Gaté - Страница 7
DIE STRASSE ZUM BELVEDERE
ОглавлениеCría cuervos y te sacarán los ojos.
„Züchte Raben, und sie werden dir die Augen aushacken.“
„Das ist die Geschichte eines Kindes, das vom Tod besessen ist.
Oder, was dasselbe ist, das vom Leben besessen ist.“
Cría Cuervos (1975) | Regie: Carlos Saura
Zur Welt gekommen bin ich im dritten Stock einer kleinen Wohnung, aus der ich drei Jahre später herauszuspringen drohte. Zur Welt? Vielleicht hatte ich schon damals geahnt, dass dieses Städtchen namens Rethel nicht die Welt sein konnte. Für mich war von Anfang an klar: aus dieser eintönigen Gegend musste ich, wenn ich die Farben der Welt sehen wollte, weg.
Rethel liegt in einem Loch zwischen Bouillon, einer wohlwollenden wallonischen Stadt im Südosten von Belgien, und Reims, einer bewusstlosen bürgerlichen Stadt in Frankreichs nordöstlicher Gegend La Champagne. Es ist ein durchsichtiger Ort zwischen zwei extrem verschiedenen Flüssigkeiten: einer bodenständigen warmherzigen Brühe und einem leichtsinnigen spritzigen Edelwein – eine bizarre Mischung, die ohne Zweifel abfärben kann.
Entscheidend in meinem Leben sollte das Schild sein, das man erkennen kann, wenn man die kleine mit Geranien geschmückte Aisne-Brücke überquert:
Rethel : Route des Invasions 1914–18 / 1939–40
Die Deutschen! Sie waren lange vor mir da, und ich würde sie nie in meinem Leben loswerden.
Nach einem missglückten Versuch, mich vom dritten Stock der kleinen Stadtwohnung zu stürzen, gerettet – trotz eines erheblichen Blutalkoholgehalts – durch die feste Hand des Briefträgers Raymond, verbrachte ich eine lange ruhige Kindheit in einem größeren Reihenhaus des Boulevard Saint Nicolas, einer steilen für Rollschuhe geeigneten Straße, die zum Belvedere, dem höchsten Aussichtspunkt Rethels, führt. Von da aus konnte ich auf das Schloss Mazarin, die Schule Mazarin, die Grand-Rue Mazarin und auf die Tours Mazarin blicken, einfache Hochhäuser mit Sozialwohnungen, deren edle Benennung an ihrer tristen Erscheinung nichts änderte.
Wenn eine solche ‚keine Stadt‘ außer der Weißwurstspezialität le boudin blanc eine Berühmtheit wie Kardinal Mazarin, die graue Eminenz von Ludwig XIV., besitzt, wird so etwas gnadenlos ausgenutzt. Wer könnte heute noch ahnen, dass Rethel im 11. Jahrhundert Hauptort einer Grafschaft war, die 1581 zum Herzogtum erhoben wurde, dessen Titel 1633 Jules Mazarin erhielt. Ab dieser Zeit bis zur Französischen Revolution trug Rethel sogar den glanzvollen Namen Mazarin.
„Rethel breitet sich graziös von der Höhe eines Hügels bis hinunter an die Aisne aus“, schrieb Victor Hugo in seinem Briefroman Der Rhein. Das klingt malerisch. Ich schätze, dass der gute Mann, als er 1839 und 1840 zwei Rheinreisen unternahm und durch Rethel kutschierte, von seiner Reisebegleiterin, der jungen Schauspielerin Juliette Drouet, der lebenslang von seiner Frau geduldeten Geliebten, so entzückt war, dass ihm sogar die Traurigste aller Realitäten als Idylle vorkam. Oder war es der Champagner, den er kurz davor getrunken hatte, als er Reims zum zweiten Mal besuchte?
Wenn die in einem Kessel eingenistete, neurasthenische Stadt je irgendeinen Hauch Charme besessen haben mochte, wurde dieser durch kriegerischen menschlichen Wahn zerstört. Am 30. August 1914 wurde – während in der Umgebung von Reims fleißige Menschen damit beschäftigt waren, in den Weinbergen des Tales der Marne alles zur Einbringung des teuren Rebenblutes vorzubereiten – das Herz von Rethel durch das 16. Königlich Sächsische Infanterie-Regiment gestürmt und fast dem Erdboden gleichgemacht.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde der Trümmerhaufen wiederaufgebaut, um während des zweiten Weltuntergangs erneut in eine Ruine verwandelt zu werden. Danach hat sich die Stadt Rethel um das Skelett der imposanten Église Saint-Nicolas herum nur mühsam erholen können. Die renovierte Kirche, die der Dichter Verlaine als ‚ein unbestreitbares Wunder mit einem entzückenden Portal‘ beschrieben hatte, so als ob er dieses Meisterwerk des Flamboyantstils den Einwohnern nicht gönnen würde, krönt die trauernden Schieferdächer der Gemeinde wie der Dornenkranz den Gekreuzigten.
Rethel bot wirklich nichts, was für ein erwartungsvolles Mädchen mit kohlenstaubfarbenen Augen ein Grund hätte sein können, auf dieser Erde bleiben zu wollen. Der von einer kriegerischen Geschichte geprägte Rahmen fasste ein düsteres Schwarz-Weiß-Bild ein, aus welchem wie winzige Blutstropfen die roten Himbeeren unseres Gartens hervorstachen. Diese Früchte aus der Familie der empfindlichen Rosengewächse, die sich ungeniert wie Unkraut vermehren, werden nicht wegen ihrer süßen Schönheit, sondern in erster Linie als Schädlingsmelder in den Weinbergen der Champagne geschätzt. In dieser kargen Gegend der Champagne-Ardenne gibt man der Nützlichkeit eindeutig den Vorrang.
In Anbetracht solcher Trostlosigkeit schien es das Schicksal dennoch gut mit mir gemeint zu haben. Es schickte mir rettende Hände, die mich liebevoll zurückhielten, als ich überlegte, aus diesem leeren Kontext zu verschwinden. Eine visionäre Mutter, einen am Boden der Realität haftenden Vater, den musterhaften älteren Bruder Titi und das traumfangende Nesthäkchen Gigi. Alle vier zusammen bildeten um mich einen blauen Schutzfilm, durch den die grauen Farbtöne meiner Umgebung einen silbernen Schimmer gewannen. Ein freudiger Lichtblick an diesem schattenhaften Horizont war auch Pinpin, der freundliche Schluckspecht des Ortes, der in seinem militärischen Tarnanzug mit einer Angelrute auf dem Rathausplatz von Rethel den Verkehr regelte. Wenn man ihn fragte, warum er diese Uniform trug, antwortete er:
„Mir hat keiner gesagt, dass der Krieg vorbei ist.“ Wie die Freiheitsstatue stand er mitten im Verkehrskreisel und förderte mit seinem langen Fischfanggerät die Fahrzeuge auf den von ihm gewählten Weg. Er ähnelte in der Eleganz seiner Bewegung einem Dirigenten und war so berühmt, dass die Polizei aufgegeben hatte, ihn davon abzuhalten, sein Orchester zu leiten. Manche Autofahrer nahmen sogar einen Umweg in Kauf, um ihn zu begrüßen. Er starb tatsächlich wie der Komponist Jean-Baptiste Lully an einer Fußverletzung. Ein unmusikalischer Chauffeur übersah die Schlagbewegung der Angelrute und fuhr taktlos über das elegant vorgestreckte Bein des Melomanen. Er verletzte ihn so schwer, dass der Trinkfreudige einige Monate später wie der Hofmusiker von Ludwig XIV. wegen Wundbrand den Taktstock abgab.
Die Straße, die zum Belvedere führt, war von aufgereihten Häusern eingesäumt, deren Versuch, sich voneinander zu unterscheiden, gescheitert war. Jedes Haus sah dem nächsten täuschend ähnlich und beherbergte meistens das gleiche Szenario: Eine Familie mit zahlreichen Kindern. Ganz unten, gleich bei der Schule Mazarin, hatte die Familie Valet mit elf Kindern das Rennen gewonnen. Ganz oben, uns gegenüber, wohnte die Familie Belleger, die sich mit vier Kindern in der Mitte der Reproduktionsskala befand. Meine Mutter behauptete, dass wir dank des Schauspiels, das die Belleger uns immer wieder boten, kein Kino brauchten. Aus unserem Parkettsitz konnten wir im Frühjahr Jean-Louis, den älteren Sohn, beobachten, wenn er die Hecke ihres Vorgartens mit einer Machete zu schneiden pflegte, als Erinnerung, sagte er, an seine Militärzeit in den französischen Kolonien. Am Vorabend einer Familienfeier verabreichte Vater Belleger, der als Koch im Krankenhaus arbeitete, einem noch lebenden Kaninchen aus seiner eigenen Zucht eine Spritze von Marc de Champagne, einem Tresterbrand aus der Champagne, um seinem in Wein geschmorten Hasenragout bei dem Festmahl einen unvergesslichen Eigengeschmack zu geben.
Die Pechsträhne, die über den Köpfen dieser Familie schwebte, schien kein Ende zu haben. Mutter Belleger, eine geborene Martini, hatte ihre Eltern unter dramatischen Umständen verloren. Während des Zweiten Weltkrieges hatte das Ehepaar Martini, das aus Italien stammte, mit den deutschen Besatzern kollaboriert. Signor Martini, der als Bestatter beschäftigt war, wusste sich in dieser Zeit der großen Knappheit zu helfen. Als in den Geschäften keine Waren mehr verfügbar waren und sich in der Stadt lange Warteschlangen bildeten, um mit Lebensmittel- und Essensmarken die notwendigsten Produkte zu besorgen, hatte er, dank seiner Beschäftigung als Totengräber und dem trinkfreudigen Klang seines Nachnamens, Eintrittsrecht in die Ortskommandantur bekommen.
„Die Toten sollen den Lebendigen unter die Arme greifen“, sagte er jedem, der es hören wollte.
Er nahm eifrig am braunen Markt teil, den die Deutschen organisiert hatten, und versorgte die Funktionäre der Geheimen Staatspolizei in der Feldgendarmerie mit Champagner und süßem Traminer Wein aus dem Elsass. Mit List und Erfindergeist brachte er seine Familie durch die mageren Zeiten des Krieges. Darauf war er stolz. Er hatte aber nicht mit der Rache der neidischen Bürger von Rethel gerechnet. Nach dem Krieg wurde er als Verräter denunziert und seiner der horizontalen Kollaboration beschuldigten Ehefrau der Kopf geschoren. Beiden wurde die französische Staatsangehörigkeit entzogen, sodass sie staatslos blieben. Diese Schande trieb Signora Martini in den Wahn. Die gebrochene Frau übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Auf Grund dessen schoss sich Signor Martini mit seinem Jagdgewehr eine Ladung Schrot ins Gehirn. Ihre einzige Tochter, Marie-Madeleine Belleger, die Mutter der vier Nachbarskinder, wurde Zeugin des Gemetzels und später selbst Opfer unzähligen Quälereien. Sie kam eines Tages weinend zu meiner Mutter mit einer Ausgabe unserer Lokalzeitung L’Ardennais in der Hand. Sie hatte ihren eigenen Namen unter der Rubrik Todesanzeigen entdeckt. Für einen Moment hatte sie an ihrer eigenen Existenz gezweifelt. Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges hatte der Hass gegen die Sympathisanten mit den ‚Boches‘, wie die Deutschen immer noch genannt wurden, einen Ehrenplatz im Herzen zahlreicher Mitbürger eingenommen. In der kleinen Stadt, die von wiederholten Ardennenoffensiven und Schlachten zunichte gemacht worden war und am Boden lag, brannte das Ressentiment wie das Fegefeuer. Die Asche der Großmutter war auf ungeklärte Weise verloren gegangen. Nach Jahren unbekannter Aufenthalte tauchte die Urne wieder auf und wurde der Familie Belleger ohne ein Wort der Erklärung vom Postboten ausgehändigt.