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TATIE NENNE

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Tatie nannten sie die griesgrämige alte Tante, in der stillen Hoffnung, die Verniedlichungsform würde den Drachen besänftigen.

Tatie Danielle (1990) | Regie: Étienne Chatiliez

„Kleine Marie, ich werde dir zuwinken, wenn ich den Pré Manceau entlanggehe.“

„Oui, Tatie Nenne.“

Ich stieg auf die schmale Bodenleiste und hielt mich am hervorstehenden Fensterbrett fest, um durch das Küchenfenster schauen zu können. Ich würde mich nicht umdrehen, damit ich die bedrohlichen Schatten des schlecht beleuchteten Zimmers hinter mir nicht sehen musste. So steif und tot wie die Puppe Rose auf dem Stuhl neben dem verschnupften Kamin würde ich warten, bis die vertraute Silhouette endlich wieder erschiene, an der Stelle, wo die hohen Bäume des Angers vom Milchbauern Manceau aufhören und die hässlichen Truthähne sich versammelten, um zu rufen:

„Trut, trut, trut, plus rouge que toi, plus rouge que toi“, wenn Tatie Nenne im Vorbeigehen ihre Ruhe störte. Der Schrei kam aus den feuerroten Kehlen der geschälten Köpfe mit ihren lappenartigen Karunkeln, die mich an das verbrannte Oberteil des Monsieur Hulot erinnerten. Hatten die armen Tiere auch den Krieg gegen die Deutschen durchgemacht? Es würde eine Ewigkeit dauern, bis meine Großtante wieder durch die Gartentür mit ihrer Milchkanne aus silbernem Blech in der Hand hereinkäme. Ich würde wieder atmen können, die schmerzenden Finger vom Fensterbord loslassen und die deutschen Soldaten, die in allen Ecken des Hauses lauerten, für eine Weile vergessen.

Es war Anfang September 1958, ich war im Mai drei Jahre alt geworden, hatte den Versuch, mich aus dem Fenster zu stürzen hinter mir und war aus Gesundheitsgründen von meiner besorgten Mutter in die frische Landluft zur Tante Adrienne geschickt worden.

„Es wird ihr guttun und dir auch, Andrée, du bist total erschöpft. Kein Wunder, vier Kinder in fünf Jahren, und dieses Drama bei der ersten Geburt! Der Körper verlangt eine Pause. Marie ist etwas überdreht. Zwischen dem dominanten Bruder und der kränklichen kleinen Gigi hast du nicht richtig Zeit für sie“, hatte Tatie Nenne mit dieser Stimme entschieden, mit der sie jahrelang ohne Disziplinprobleme die kleinen und die großen Kinder in einer Dorfschulklasse gemeinsam unterrichtet hatte.

Tante Adrienne hatte sich schon um ihre Nichte Andrée, meine Mutter, gekümmert, als diese vierzehn Tage vor dem Geburtstermin ihres ersten Kindes im November 1951 keine Bewegungen mehr in ihrem Bauch gespürt hatte. Andrée hatte drei Tage lang auf ein Zeichen gewartet. Sie hatte ihrem Mann nichts gesagt, denn Robert meinte immer, dass sie zu Hysterie neige und so schnell wie Milchsuppe hochkoche. Aber an diesem Morgen wusste sie es. Das Kind in ihrem Schoß war tot. Sie hatte den zu engen Wollmantel über ihre Schulter geworfen, die Schuhe, die im Winter draußen auf dem Treppenabsatz lagen, vergessen, war mit ihren Pantoffeln die drei Stockwerke hinuntergerannt, die Grand Rue Mazarin wie ein Geist hochgelaufen, mit gekreuzten Händen ihren gewölbten Leib schützend, und in die kleine Praxis des Dr. Jacobé hinter der Kirche Saint-Nicolas gestürmt, deren imposanter Umriss in der Grisaille des Tages die Form einer schwarzen Krähe annahm. Der alte Mann hinter seinem Schreibtisch hatte die Panik, die aus dieser fragilen Erscheinung strömte, sofort richtig eingeschätzt, sich bei seinem Patienten entschuldigt und die werdende Mutter in das Nebenzimmer geführt.

„Doktor, es bewegt sich nicht mehr!“

„Legen Sie sich hin“, sagte er. Sie öffnete die Knöpfe ihres Kleides, das um ihre Taille spannte, und stieg auf die Liege. Der Arzt holte sein Pinard-Rohr, zog die warme Unterwäsche hoch und beugte sich, um die fetalen Herztöne abzuhören. Langsam ließ er das Stethoskop auf der straffen Haut des Bauches wandern. Er suchte krampfhaft nach Leben. Totenstille. Er spürte den brennenden Blick auf seinem Nacken. Er stand auf, wusch sich die Hände in dem Becken hinter dem dünnen Wandschirm, drehte sich um und sah das bleiche Gesicht, das ihn wortlos anstarrte. Wie ein Automat zog sich die zierliche Patientin wieder an.

„Sie haben nichts gehört, nicht wahr, Doktor?“

Er schüttelte den Kopf: „Nein.“

Als zwei Wochen später die Wehen einsetzten, musste mein Vater ganz dringend in der Gastwirtschaft seiner Mutter mithelfen.

„Du weißt, Andrée, ich kann die alte Frau nicht allein lassen, gerade wenn die Eltern der Kinder aus dem Sanatorium zu Besuch kommen. Alle wollen bei ihr zu Mittag essen“, hatte er meiner Mutter gesagt. Sie war überzeugt, dass er vor der Unerträglichkeit der Lage floh.

„Du wirst sehen“, erklärte sie mir später, „die Männer sind bei einer Geburt nicht so mutig wie im Krieg. Und wenn es darum geht, ein totes Kind in Empfang zu nehmen, kann ich es verstehen. Auch ich wäre gerne nicht dabei gewesen. Damals wurde nach der Feststellung des Todes des Ungeborenen nichts unternommen. Ich behielt die Leiche bis zum vorgesehenen Termin im Bauch und brachte sie ganz normal zur Welt. Es war ein Junge. Ich hatte auf einer Hausgeburt bestanden. Dr. Jacobé kam, als Tante Adrienne ihn rief. Sie war als Einzige an meiner Seite. Deine Großmutter konnte ihr Geschäft nicht verlassen, und dein Großvater Eugène, der gute Mann, hätte es nicht ertragen.“

Mit dem toten Kind verlor meine Mutter ihren Glauben. Wo war Gott, als sie ihn so dringend brauchte? Sie fühlte sich von ihm im Stich gelassen. Sie hatte alles gemacht, was man von ihr verlangt hatte. Vor allem Tante Adrienne hatte darauf geachtet. Meine Mutter hatte die Heilige Messe jeden Sonntag besucht, regelmäßig die Sakramente der Buße und der Eucharistie empfangen, das Fasten am Freitag eingehalten und sogar keinen Sex vor der Ehe gehabt. Mein Vater hatte das zwar ziemlich altmodisch gefunden, aber er hatte nicht insistiert. Ihr ganzes Beten hatte ihr nicht geholfen. Sie wollte sterben, als sie den leblosen Körper gebar, sich neben den kleinen Sarg hinlegen und mit ihm unter die Erde verschwinden. Es wäre so leicht gewesen. Sie fand die Kraft ganz tief in ihrem Inneren durch die Erinnerung daran, was ihr Vater Eugène einmal gesagt hatte: Er sei nur aus der Hölle der Schützengräben von Verdun zurückgekommen, damit sie das Licht der Welt erblicken könne. Für ihn musste sie weiterleben. Ihm war sie es schuldig.

Großtante Adrienne war auch schon zur Stelle gewesen, als meine autoritäre Großmutter Marcelle meine Mutter mit knapp 18 Jahren aus dem Haus warf, weil sie studieren wollte, Theater spielen, Gedichte schreiben und sie deklamieren. Meine Großmutter hatte etwas anderes mit ihr vor. Nur der Sohn sollte studieren dürfen, meine Mutter sollte das Familiengeschäft übernehmen, wie sie selbst es ihr Leben lang getan hatte, Schuhe, Garn, Tabak und Zeitungen verkaufen. Großtante Adrienne, die strenge unverheiratete kinderlose Lehrerin, wegen Migräne in Frührente, sah ihre Lebensaufgabe in der Rettungsaktion, zuerst meiner exkommunizierten Mutter und später meines so früh bedrohten Lebens. Sie werde, verkündete sie, meine Bildung in die Hand nehmen. Vor dieser unantastbaren Ansage blieb meine Mutter stumm. Sie opferte ihren kleinen Lausbuben der kinderlosen Tante. Ab diesem Entschluss erlitt mein Leben eine Wende. Tatie Nenne übernahm die Regie.

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt

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