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DAS LEBEN IST EIN LANGER RUHIGER FLUSS

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Bin ich in einer verkehrten Welt aufgewachsen?

Lebte ich mein Leben oder vielleicht das einer anderen?

Du bildest dir ein, woanders geboren zu sein.

Du bist nur du, in dieser Familie geboren, in dieser Zeit.

Deine Träume werden die Spur deines Lebens nicht verändern.

Du musst sie akzeptieren und sie respektieren.

La vie est un long fleuve tranquille (1988) | Regie: Étienne Chatiliez

Mit der Nase zwischen den grünen Holzlatten des Gartenzauns sah ich zu, wie sich der schwarze Peugeot 403 meines Vaters entfernte, wie diese monströse Kellerassel am Ende der Serpentine verschwand. Das Gefühl, das mich übermannte, konnte ich damals nicht einordnen. Jetzt, im Besitz aller Teile des Puzzles, kann ich behaupten, dass es die Früherkennung der Rolle war, die ich in Tatie Nennes Leben spielen sollte. Es war mein Leben, das mich mit dem dicken Familienwagens verließ, um das ihrige eintreten zu lassen. Wir waren weit gefahren. Dass es nur 30 Kilometer waren, konnte ich mit meinen drei Jahren nicht wissen. Ich hatte einen Koffer ganz für mich alleine, und meine Geschwister waren nicht dabei. Was hatte ich nur angerichtet, um in die Verbannung geschickt zu werden? Tatie Nenne stand hinter mir wie die Lehrerin in ihrer Schulklasse und sagte mit einer Stimme, die keine Antwort erwartet: „Komm, kleine Marie, wir packen deinen Koffer aus.“

Ich folgte ihr in das kalte Haus, das mit seinem spitzen Schieferdach wie ein Akzent auf einer Schultafel aussah. Wir gingen durch die Küche mit dem schwarzen, verschnupften Kamin, betraten das hintere Zimmer, das auf den großen Birnbaum, „Williams Christ, Ma Douce, die sind so köstlich süß!“ blickte. Sogar die Birnen waren bei der Großtante christlich. „Wir sollten deine Sachen aufräumen, solange es noch hell ist.“

Im hinteren Zimmer gab es keinen Strom. Es wären unnötige Kosten für meine sparsame Großtante entstanden, da sie das Zimmer fast nie betrat. Sie öffnete die quietschenden Türen des riesigen Wandschranks und legte meine wenigen Kleiderstücke in die fast leeren Regale.

„Andrée, gib ihr nicht so viel mit, es macht der kleinen Marie Spaß, am Brunnen im Wasser zu plantschen, um die schmutzige Wäsche zu waschen.“

Die Wände waren von einer strohfarbenen Tapete mit verblasstem Lorbeermuster bedeckt. Auf der Rücklehne eines Stuhls starrten mich zwei goldgelb leuchtende Glasaugen eines toten Rotfuchses an, der sich im Winter in den Schwanz biss, um den Hals meiner Großtante zu schmücken. Dieses gelbe Zimmer hatte ein Geheimnis. ‚Le mystère de la chambre jaune‘, schrieb ich später in mein Tagebuch. In dem schwarz-weiß gefliesten Boden, mitten im Zimmer, gab es eine große Vertiefung. Tatie Nenne hatte mir abends, wenn wir im hohen Bett lagen und ich mit meinen Füßen die wogende Oberfläche der hautfarbenen Gummiwärmflasche durchknetete, erzählt: „Weißt du, Ma Douce“, – sie war die Einzige, die mich so nannte – „wir wurden im Krieg evakuiert und mussten das Haus verlassen. Es war groß und lag ideal auf dem Weg der deutschen Soldaten, die von oben aus Belgien kamen. Sie hielten hier an und bewohnten das Haus. In diesem Raum lagerten sie ihre Munition und ihr Kriegsmaterial. Der Boden litt unter dieser schweren Last!“

Nicht so sehr wie ich, dachte ich, denn was dieses Loch an Ängsten bei mir auslöste, war ihr bestimmt nicht bewusst.

„Schliefen die Deutschen in unserem Bett?“, fragte ich entsetzt. Meine Füße zogen sich von der Gummiwärmflasche, die sich wie ein wehrloser Körper anfühlte, zurück.

„Sie schliefen überall und nahmen keine Rücksicht auf die von uns zurückgelassenen Möbel. Als wir zurückkamen, fanden wir nur noch, wenn überhaupt, einzelne kaputte Gegenstände. Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Franzosen, die im Dorf geblieben waren, sich nicht genauso bedient haben! Denn was hätten die Deutschen mit Stühlen und Schränken unterwegs machen können?“

Ich blickte auf den hübschen Waschtisch mit dem hellgrünen Porzellankrug gegenüber dem Bett: „Den wollte keiner haben?“

„Nein, das ist ein Rätsel. Er war wahrscheinlich zu schwer mit seiner Marmorplatte, oder sie wussten alle, die Deutschen und die Franzosen, dass er für dich bestimmt war!“

Sie meinte es sicherlich ernst, denn ihr Gesicht verzog sich nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie je lachen sah.

Die Tage, die ich ab jetzt jeden Spätsommer in La Neuville bei Tatie Nenne verbrachte, waren wie ein langer ruhiger Fluss. Wir standen mit dem Tag auf und gingen mit ihm ins Bett, somit ergab sich nie die Notwendigkeit, das Licht anzumachen. Sie bereitete mir eine große Schale Milchkaffee. Daneben lag auf dem blumigen Wachstuch eine Weißbrotscheibe mit Butter und Honig. Ich habe vergessen, ab wann ich Kaffee trinken durfte. Ich glaube, schon immer. Die Intensität der braunen Farbe wuchs mit meinem Alter. Auf dem klumpigen Stück Butter, das sie direkt aus der Dorfmolkerei holte, war eine Kuh abgebildet, die jeden Tag unter ihrem Messer einen Körperteil verlor. Ich mochte sonst keinen Honig, er kratzte im Gaumen, aber dieser Honig war anders. Da ich sehr selten aus dem Haus durfte, steigerte das Pilgern zum Imker den Geschmack des Blütennektars. Monsieur Rubon, dessen Name schon gut schmeckte, hielt Bienen, die wie durch einen vierblättrigen Kleeblattzauber einen harten weißen Honig produzierten. Er hatte zwei Enkeltöchter in meinem Alter, mit denen ich Ball spielen durfte, während Mademoiselle Adrienne mit ihm und seiner Gattin Tee trank. Ich kann mich nicht mehr erinnern, dass wir miteinander geredet haben. Ich weiß auch nicht mehr, wie sie hießen. Ich musste mich sehr auf die drei Bälle konzentrieren. Sie waren so groß wie die Holzkugeln der Boule Lyonnaise, und die Kunst bestand darin, sie hintereinander gegen die hohen Türen der Scheune zu werfen, sie zu fangen, um sie gleich wieder zu werfen. Ich war überhaupt nicht geschickt, und die Mühe, die mich diese Übung kostete, taucht sogar heute noch in meinen Alpträumen auf: Dann muss ich diese drei Bälle, einen weinroten, einen brombeerblauen und einen grasgrünen aus einem seimigen weißen Honig-See herausfischen, um sie gegen eine graue Holzwand zu werfen. Von der Unmöglichkeit dieser Sisyphos-Aufgabe frustriert, wache ich jedes Mal mit einem ekelhaft klebrigen Gefühl in den Fingern auf.

Da Tatie Nenne keine Wasserhähne hatte, so wie wir zu Hause, gingen wir nach dem Frühstück zum Brunnen, um frisches Wasser für das Mittagessen zu holen.

„Nimm dein Körbchen für die Haselnüsse mit!“

Ich schlüpfte in meine Gummistiefel und rannte vor, um die freie Zeit draußen auf dem petit chemin ausnützen zu können. Auf diesem kleinen Weg, der zum Brunnen führt, versuchte ich vorsichtig, einige herabgefallene Haselnüsse zu entdecken.

Von Anfang an mochte ich die Natur nicht. Sie war anstrengend: Die Wassereimer aus Eisen waren so schwer, dass ich sie nicht hochheben konnte.

Sie war nicht sauber: „Ma Douce, fass bitte nichts an, du wirst dich schmutzig machen.“

Sie war angsteinflößend: „Ma Douce, pass mit dem Brunnen auf. Wenn du dich vorbeugst, wird dich Marie Crochet mit ihrem Haken herunterziehen.“

Sie war gefährlich: „Ma Douce, geh nicht alleine auf den petit chemin, da könnte sich ein Betrunkener von Chez Huguette hin verirrt haben.“

Nach den Ausflügen in die wilde Natur setzte ich mich mit einem Hammer in der Hand vor die Tür und versuchte, frische Haselnüsse auf der groben roten Fußmatte zu knacken. Die Natur war wirklich nicht einfach. Entweder sprangen die erwischten Haselnüsse ins hohe Gras und verschwanden, oder sie waren vollkommen platt.

Während meiner langwierigen Haselnussbeschäftigung kümmerte sich Tatie um den Haushalt. Sie säuberte mit dem Brunnenwasser das Frühstücksgeschirr auf der Steinspüle, lüftete das gemeinsame Bett, entleerte den Pot de chambre, den sie zur Hälfte mit Brennnesseln füllte.

„Es sind Taubnesseln zum Desinfizieren“, erklärte sie, als ich zögerte, mich auf den Nachttopf zu setzen.

Ohne zu hinterfragen nahm ich ihre für mich neue Lebensart an. Es war einfach so. Hier, in La Neuville, gab es Strom nur in der Küche und im Schlafzimmer, keine Wasserhähne, keinen Fernseher, nur ein Radio neben einer vergilbten Fotografie ihrer verstorbenen Mutter, Irma, mit Diane, ihrer verstorbenen Hündin, keine Toilette, nur einen tragbaren grün emaillierten Nachttopf. Es war eine andere Welt, die nur uns beiden gehörte. Die Zeit war vor dieser Gartentür stehen geblieben. Die moderne Zivilisation fuhr jedes Mal mit dem dicken schwarzen Peugeot 403 meines Vaters nach Rethel zurück. Wir bekamen nie Besuch. Sie ließ keinen in unsere Sphäre eindringen. Ich stellte mir vor, dass niemand sich traute, die Türglocke anzufassen, die unter dem aufdringlichen Efeu zu verschwinden drohte, denn Tatie Nenne wachte wie Zerberus über mich.

Um Punkt halb zwölf läutete die Hupe des Bäckerwagens. Tatie Nenne nahm ihr Portemonnaie aus der Eichenschrankschublade, zog ihre Gummistiefeletten an: „Warte auf mich, Ma Douce, ich komme gleich wieder.“

Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun können, aber ich wusste, diese Aufforderung erlaubte keine Widerrede. Ich wäre so gern mitgegangen, um die knusprigen Brote, die goldfarbigen Brioches, die roten Törtchen, die ich von weitem im seitlich offenen grauen Citroën TUB des Bäckers sah, riechen zu können. Sie brachte das halbe Brot, das sie jeden Tag mit dem gleichen Satz begutachtete: „Nicht so schön goldbraun gebacken wie gestern!“

Das Leben brachte immer wieder Enttäuschungen. Es gab wenig, worauf sie sich zu freuen schien. Ich hatte das Gefühl, Fröhlichkeit sei in La Neuville nicht willkommen, und ich müsse sie beim Abtreten mit dem Schmutz meiner Schuhsohlen auf der roten Fußmatte lassen. Das Glück war bei Tatie Nenne eine ernste Angelegenheit.

Sie bereitete das Mittagessen, kochte auf dem Gasherd frisches Gemüse, das wir aus dem Garten geholt und zusammen geschält hatten. Ab und an gab es ein Rindersteak vom Metzger, der jeden Dienstag vorbeifuhr. Die Größe des gekauften Stückes litt immer wieder unter dem von ihr festgelegten Einheitspreis.

„Ich habe für dich Gehacktes verlangt“, erklärte sie mir, „es ist leichter zu kauen.“

Ich betrachtete ihre Zähne und dachte mir, dass eher ihre als meine Zähne sich auf etwas Zartes gefreut hätten. Meine Milchzähne schafften es, den halben Carambar, den Tatie Nenne jeden Tag unter meinem Kopfkissen versteckte, zu beißen, obwohl der Karamellriegel so zäh war, dass ich jedes Mal fürchtete, den Mund nicht mehr öffnen zu können. Ich verstand nicht, warum sie den Kaubonbon in zwei Teile schnitt. Wenn Tatie meine Zähne schonen wollte, hätte sie mir nichts Süßes schenken sollen, und wenn sie mir eine Freude machen wollte, hätte sie mir einen Ganzen geben müssen, denn ich konnte nie den Witz, der auf die Innenseite der Verpackung gedruckt war, verstehen. Als ob sie es mit Absicht tat, bekam ich nie am nächsten Abend die passende zweite Hälfte. Ich sagte nichts, denn ich fühlte, dass die Dinge eine Schattenseite besaßen, die man einfach akzeptieren musste, so wie das Gewitter in der Nacht, welches die Sonne in den Morgen gejagt hatte.

Als Abwechslung zum Rindersteak bot sie mir ein Stück Kaninchen aus einem Einmachglas, das sie aus dem Treppenregal holte. Vermutlich war das arme Tier ein Opfer meiner Großmutter Irène aus Belleville: Sie hatte in ihrem Garten viele Käfige, die wie die Sozialwohnungen der Cité Mazarin in Rethel aussahen, und fütterte die unzähligen Insassen mit den Essensresten der Gäste ihrer Gastwirtschaft. Die Kaninchen waren nicht wählerisch und meine Großmutter auch nicht. Ich habe mich nie getraut zu fragen, ob es jemandem bewusst war, dass meine Großmutter Kannibalen züchtete. In den Essensresten, die sie aus der Küche brachte und in die Kaninchen-Sozialwohnungen verteilte, waren Knochen mit noch etwas Fleisch von den für das Mittagessen der Gäste ermordeten Kaninchen. Es kam auch öfters vor, dass ein süßes Tierchen einen in den Resten von einem kleinen Gast versteckten Kaugummi erwischte und uns Kindern ein unvergessliches Spektakel bot, leider ein grausames Vergnügen, das für das kauende Kaninchen tödlich endete. Es hing am nächsten Tag mit herunter gezogener Haut und umgedrehtem Fell am Haken, vor den Augen seiner hilflosen Mitbewohner und der nicht weniger hilflosen Kinder. Als ich mit meiner Gabel den vorgesetzten Teller untersuchte, ermahnte mich Tatie Nenne streng: „Marie, es wird nicht mit dem Essen gespielt! Die Kinder hungern in Afrika.“

Ich schämte mich sehr, in diesem Moment die hungernden Kinder zu beneiden. Ich konnte ihr aber nicht erklären, dass ich nach einem Kaugummi in einem kannibalischen Kaninchen suchte.

Als zusätzliche Variante bekam ich Hirn, eine weißgraue Masse, die sie in einem Topf mit Wasser kochte.

„Kleine Marie, Hirn ist gut für die grauen Zellen“, kommentierte sie, als sie das erste Mal meine erschrockenen Augen sah. Hercule Poirots Tante muss auch von der Wohltat des Hirns überzeugt gewesen sein. Meine spätere Verbundenheit mit dem belgischen Detektiv hing bestimmt mit dieser gemeinsamen Vergangenheit zusammen.

Tatie Nenne ging nie zum Arzt, schon gar nicht zum Zahnarzt, und behauptete, das sei der Grund für ihre felsenfeste Gesundheit. Sie besaß drei Wundermittel, die sie in dem großen Eichenschrank über der Schublade mit ihrem Portemonnaie aufbewahrte: Eine braune Flasche mit einem Schuletikett, auf welchem ich, sobald ich lesen konnte, mit Mühe das Wort Eau oxygénée und einen Geheimcode, H2O2, entziffern konnte. Mit einem Tropfen dieser farblosen Flüssigkeit auf ihrem Zeigefinger rieb sie sich jeden Tag die Zähne. Mit einem in demselben Allheilmittel getränkten Stück Watte betupfte sie großzügig mein beim Hinfallen aufgekratztes Knie. Das daraus resultierende Phänomen faszinierte mich: Ich konnte beobachten, wie die Wunde nach der Wasserstoffperoxid-Behandlung zu schäumen begann. Neben der magischen Flasche stapelten sich rosarote Aspro-Schachteln. Nach dem Wasserstoffperoxid-Ritual, das ich selbstverständlich nachmachen musste, absorbierte sie eine ganze Aspro-Tablette, die sie mit einem Glas Wasser herunterschluckte. Sie versicherte mir, die Deutschen hätten bereits gewusst, welche Wunder das Aspirin bewirkte, als sie ihr im Krieg empfahlen, diese Medizin, die gegen alles gut war, einzunehmen. Im Falle einer Migräneattacke verdoppelte sie die Dosis. Ich bin überzeugt, dass sie dank ihres Glaubens an das deutsche Aspirin knapp hundert Jahre alt wurde. Sie starb einige Tage vor ihrem hundertsten Geburtstag, nicht an irgendeiner Krankheit, sondern an Trotz: Sie hatte sich strikt geweigert, den angekündigten Ehren-Besuch des Bürgermeisters zu ertragen. Ihr Leben lang habe sie nie einen Blumenstrauß von einem Mann bekommen. Ihr Stolz verbot ihr, solch Almosen anzunehmen.

Ihr drittes Wundermittel war eine große graue Packung mit Sodakristallen. Ich liebte diese Steinchen, die im Gegensatz zu den üblichen Steinen sauber waren und für Sauberkeit sorgten: Sie streute sie in unser Waschwasser, damit wir eine sanfte Haut bekamen. Auch die Wäsche verdiente die gleiche Pflege. Für das Gesicht benutzte sie Regenwasser, das sie aus dem Fallrohr der Dachrinne in einem Eimer neben der Außentreppe auffing. Der Teint werde dadurch richtig leuchtend. Ich verstand, warum sie mich „Ma Douce“, meine Sanfte, nannte. Vor lauter Sodakristallen war ich sicherlich ganz weich geworden.

Der Klang des Bleistiftes, der zu Boden fällt

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