Читать книгу Über die großen Fragen des Lebens sprechen - Marie Krüerke - Страница 17
ОглавлениеRituale schenken Geborgenheit
Uns allen ist die Wichtigkeit von Ritualen bewusst, beispielsweise das Vorlesen der Gutenachtgeschichte oder ein Lied im Morgenkreis in der Kindererziehung. Wenn die Zeit ihre Bedeutung verliert und ein Tag übergangslos in den nächsten überzugehen scheint, weil kaum noch etwas Spannendes passiert, sind Rituale umso wichtiger:
Sie markieren den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, das Begrüßen und Verabschieden. Rituale geben Halt und Struktur, sie schaffen einen geschützten Rahmen und damit Sicherheit. Daher sind sie nicht nur für Kinder bedeutungsvoll, mindestens genauso sehr berühren sie hochaltrige Menschen mit kognitiven Veränderungen. Wenn das Lesen des Kalenderblatts kein Verständnis mehr erzeugt und alles irgendwie sinnlos erscheint, geben Rituale einen Raum für Begegnung und Relevanz.
Rituale zum Ankommen und Verabschieden
Haben wir ein Ritual am Morgen? Begrüßen wir einander als Kolleg:innen einerseits und als Gemeinschaft mit den Senior:innen andererseits? Oder stürzen wir an den Arbeitsplatz und legen direkt los? Nehmen wir uns bewusst die Zeit, in einem Pflegeheim die Runde durch den Flur zu machen und in allen Zimmern einmal „Hallo!“ zu sagen? Oder gehen wir davon aus, dass wir im Laufe des Tages „alle irgendwann mal treffen“?
Könnte ein bewusst gestalteter Start in den Tag als Ritual auch mir als Betreuender guttun?
Vielleicht reagieren die Seniorinnen und Senioren anders auf mich, wenn ich sie bereits vorab einmal begrüßt habe, bevor ich sie zu einem Gruppenangebot abhole? Haben sie dann vielleicht den inneren Vorlauf, sich auf mich einzustellen, bevor wir im Miteinander näher miteinander zu tun haben? Besonders im Schichtdienst, wenn alle Mitarbeitenden zu unterschiedlichen Zeiten kommen und gehen, kann ein bewusstes Begrüßen und Verabschieden einen großen Unterschied machen.
Wie könnte ein passendes Ritual bei uns aussehen? Sollte es eher einzeln oder in der Gruppe passieren? Vielleicht morgens durch die Pflege einerseits und dann beim gemeinsamen Frühstück als bewusste Gemeinschaft andererseits? Können dadurch demenziell veränderte Personen vielleicht bewusster und friedlicher in den Tag starten, sodass der „Mehraufwand“ des Rituals sich durch eine entspanntere Tagesverfassung auszahlt?
Meine Gedanken zu diesen Fragen:
Auch der Dienstschluss oder ein bewusster Abschied nach dem Abendessen aus der
Gemeinschaft hinein in die Ruhe des Zimmers können ritualisiert und damit wohltuend gestaltet werden.
Rituale im Tagesverlauf (Mahlzeiten, Hygiene, Schlafenszeit)
In vielen Kindergärten gibt es ein Ritual, um Mahlzeiten zusammen zu beginnen und zu beenden. Klare Anfangs- und Endzeiten geben Struktur und damit Sicherheit, die in der unruhigen Atmosphäre eines Speisesaals für manche Person einen großen Unterschied macht. Es muss kein künstliches Tischgebet sein, keine Mitarbeiterin und kein Mitarbeiter soll sich zu einem Ritual genötigt fühlen, das sie oder er sinnlos oder blöd findet. Aber ein gemeinsamer Spruch oder das Singen einer kurzen Strophe, die mit Essen und Trinken zu tun hat, schenkt einen klaren Rahmen. Das Ausschalten eines Radios und Fernsehers hilft, die Essenssituation ruhig zu gestalten – ganz besonders, wenn viele Betroffene mit Demenz anwesend sind.
Auch im Tagesverlauf können Rituale helfen, unruhige Settings klarer zu strukturieren oder angespannte Aufgaben zu entschärfen.
Nach dem Mittagessen die Seniorinnen und Senioren zu einem ruhigen Plätzchen oder ins Bett zum Mittagsschlaf zu begleiten, kann als „Bummelbahn“ gestaltet werden, die durch die Pflegeabteilung schnauft und einen Passagier nach dem anderen absetzt.
Manche Bezugsbetreuerin legt abends mit bestimmten Damen ganz in Ruhe die Kleidung für den morgigen Tag heraus. Dabei kann locker über den Tag geplaudert oder überlegt werden, dass der Sohn mal wieder einige Paare neuer Strümpfe vorbeibringen sollte. So ist die Person nicht aus dem wuseligen Gruppenraum plötzlich ganz allein im eigenen Zimmer, sondern kann mit der Betreuerin durch den Plausch langsam innerlich zur Ruhe kommen und sich auf die Nacht einstellen.
Die Zahnpasta selbst auf die bereitgehaltene Zahnbürste zu quetschen, kann morgens und abends ein Ritual sein, das völlig bedeutungslos erscheint, aber die Eigenständigkeit aufrechterhält und der Person Orientierung schenkt.
Auch das Singen eines Abendlieds wäre möglich, dabei reicht eine Strophe mit Refrain.
Ich bin mir sicher, dass jedes Team passend zu den eigenen Bewohnerinnen und Bewohnern Ideen für Rituale entwickeln kann, die für Betreuende und Seniorinnen gleichermaßen sinnvoll sind.
Rituale zum Einzug und Auszug
Der Schritt in eine Tagespflegeeinrichtung, betreutes Wohnen oder die Pflegestation ist eine immense Umstellung. Viele Seniorinnen und Senioren erscheinen zu Beginn besonders zerstreut und anfällig, bis sie sich nach einigen Wochen oder Monaten wieder gefangen haben und sich auf das eigentliche Eingewöhnen einlassen können. Eine bewusste und fürsorgliche Begleitung des Akklimatisierens braucht Zeit und einen sinnvollen Ablauf.
Auch für die Gemeinschaft ist es wichtig, die Neuzugänge in Ruhe kennenzulernen. Daher bietet es sich an, bei Zuzügen immer wieder Kennlernspiele anzubieten, die die neuen Anwesenden gut integrieren. Viele Aufwärmspiele, die zu Beginn einer Gruppenstunde angewendet werden, lassen sich mit dem eigenen Namen verbinden. Auch das laute und langsame Nennen der Namen oder das bewusste Ansprechen mit Namen hilft sowohl den Zugezogenen als auch den demenziell veränderten Personen, den Überblick zu behalten.
Dabei unterstützt eine offene Atmosphäre in der Gruppe die freundliche Grundlage, um neue Gesichter wohlwollend aufzunehmen. In vielen Einrichtungen gibt es sehr schnell feste Cliquen, die alle nachfolgend eingezogenen Personen ablehnen und harte Fronten bilden. Je flexibler die Einzelnen sind, in kleinen Grüppchen mit unterschiedlichen Nachbarinnen und Nachbarn zusammen zu sitzen und zu turnen oder zu rätseln, desto entspannter heißen sie neue Gesichter willkommen. Durch wechselnde Sitzordnungen und Spiele, die das Gemeinschaftsgefühl stärken und die Kooperation untereinander fördern, entsteht eine offene Atmosphäre, die einladend wirkt.
Eine zentrale Infotafel, an der aktuelle Informationen hängen, kann mit einem Foto und dem Namen des Neuankömmlings ganz praktisch helfen, dass aus Fremden bald Bekannte werden. Das gilt natürlich ebenso für neue Angestellte!
Aber auch Abschiede wollen zelebriert werden: Ob ein Tagesgast ausscheidet, um in ein Pflegeheim zu ziehen, eine Person aus dem betreuten Wohnen in eine Demenzabteilung wechselt oder jemand verstirbt, jedes Mal endet eine Beziehung.
Ein bewusst erlebter Abschied erleichtert es beiden Seiten, den Wechsel der Situation zu verarbeiten und innerlich anzunehmen.
Je nach Temperament der Person, die die Gruppe verlässt, kann das ein lautes Fest sein oder eine Sammlung von Briefen, die sie später allein liest. Ein Album mit Fotos ist deutlich mehr Arbeit, kann aber als Gemeinschaftsaktion gleichzeitig der Gruppe Raum geben, die scheidende Person gehen zu lassen. Ganz besonders, wenn sie ein prägender Teil der Wohngruppe war.
Ebenso ist ein sinnstiftender Umgang mit dem Tod für alle Anwesenden existenziell: Denn diejenigen, die weiterleben, werden durch den endgültigen Abschied eines Nachbarn an den eigenen Tod erinnert. So ist es in vielen Häusern eine wichtige Tradition, eine (elektrische) Kerze mit einem Bild der verstorbenen Person an einem ganz bestimmten Platz aufzustellen. Dieser Platz sollte gut einsehbar, aber relativ ruhig sein, damit man davor einen Moment verweilen kann.
In manchen Häusern fährt eine kleine Delegation relativ fitter Bewohner:innen mit auf die Trauerfeier oder Beerdigung, soweit sie daran interessiert sind.
Auch an die Tür des Zimmers können wir ein Symbol anbringen, dass die Nachbarn an die bisherige Bewohnerin erinnert: einen Blumenkranz mit einem Spruch, ein paar winkende Hände oder ein anderes Bild, das eine eindeutige Botschaft transportiert, aber kein nacktes, schwarzes Kreuz darstellt.
Eine ganz kurze Andacht kann der Gemeinschaft die Möglichkeit geben, von dem Sterbefall zu erfahren und ihn innerlich zu verarbeiten. Dazu reichen die Erklärung, warum wir uns versammeln, zwei thematisch passende Lieder, wie zum Beispiel „Von guten Mächten treu und still umgeben“, und ein Gebet oder das Lesen eines tröstlichen Psalms aus der Bibel.