Читать книгу Ein Herz sucht Liebe - Marie Louise Fischer - Страница 4
1.
ОглавлениеAls es unten auf der Straße zweimal hintereinander kurz hupte, rannte Susanne Schäfer zum Fenster. Sie hatte auf dieses Zeichen, das sie mit ihrem Freund, dem jungen Rechtsanwalt Dr. Oskar Wünning, verabredet hatte, schon ungeduldig gewartet.
Sie öffnete das Fenster, winkte. Vor dem Haus stand keine Laterne und sie konnte sein Auto eher ahnen als erkennen. Aber sie wußte, daß er ihren Umriß, scharf abgegrenzt gegen den hell erleuchteten Raum im zweiten Stock, sehr deutlich sah.
Hastig schloß sie das Fenster wieder, riß den Kleiderschrank auf, warf noch einen letzten prüfenden Blick in den langen Spiegel, der an der Innenseite der einen Tür befestigt war – ja, sie konnte mit ihrem Aussehen zufrieden sein. Ihr schimmerndes blondes Haar, das sie sich am Nachmittag gewaschen und aufgedreht hatte, bauschte sich in weichen Wellen um ihr schmales Gesicht, die klaren grauen Augen unter den schwarz getuschten Wimpern strahlten vor Erwartung.
Während der Schulstunden verzichtete Susanne Schäfer ganz bewußt auf jedes Make-up, aber jetzt hatte sie ihren vollen, ein wenig breiten Mund mit einem hellen Stift nachgezogen, damit er kleiner und noch ausdrucksvoller wirkte. Sie trug ein blaues, ganz einfach geschnittenes Kleid in Leinenstruktur – selbstgeschneidert – das ihre schlanke mädchenhafte Figur sehr vorteilhaft zur Geltung brachte.
Sie dachte manchmal, daß die Figur das Beste an ihr wäre. Dennoch kostete es sie keine Überwindung, während des Dienstes auf jede Betonung ihrer Linien zu verzichten – es hätte sich nicht gehört. So trug sie vor der Klasse gewöhnlich Kleider, Blusen und Pullover, die ihr zwei Nummern zu weit waren.
Gerade deshalb aber machte es ihr doppelt Spaß, jetzt, nach Feierabend, in einem Kleid auszugehen, das so knapp wie möglich saß und dessen Rock drei Finger breit über dem Knie endete – ein wirkliches Wagnis für eine junge Lehrerin in einer kleinen Stadt wie Bad Kreuzfeld.
Susanne Schäfer lächelte vergnügt, während sie sich vorstellte, was ihr Freund wohl für Augen machen würde, wenn er sie in dem neuen Kleid sah. Dann schlüpfte sie rasch in ihren guten weißen Mantel, schlug die Schranktür wieder zu, nahm Tasche und Handschuhe, lief in die Diele hinaus. Dr. Oskar-Wünning liebte es nicht zu warten.
Dennoch nahm sie sich die Zeit, rasch den Kopf in die Küche zu stecken und: »Ich geh’ jetzt, Frau Schmitt … auf Wiedersehen und gute Nacht!« zu rufen.
Ihre Wirtin sah sie über die Brille hinweg an. »Schon recht, Fräulein Schäfer. Aber bleiben Sie nicht zu lange, morgen heißt’s wieder früh heraus … und glauben Sie nicht, was die Männer erzählen, die lügen alle das Blaue vom Himmel herunter!«
Susanne lachte. »Ich werd’s mir hinter die Ohren schreiben!«
»Da tuen Sie auch gut dran! Ich will nichts gegen Ihren Freund sagen, er kommt aus einer hochachtbaren Familie … aber grade deshalb! Hochnäsig sind die Wünnings alle, bilden sich ein, eine besondere Sorte Mensch zu sein und dabei …«
Susanne Schäfer unterbrach sie hastig. »Darüber unterhalten wir uns morgen, Frau Schmitt, jetzt muß ich rennen. Warten Sie bloß nicht, bis ich nach Hause komme. Es kann spät werden.«
Als sie die Treppe hinunter lief, mußte sie ein Gefühl von Beklemmung abschütteln. Sie sagte sich, daß es albern war, Frau Schmitt mit ihrem fast krankhaften Mißtrauen allen männlichen Lebewesen gegenüber auch nur eine Sekunde ernst zu nehmen. Und dennoch blieb ein Stachel in ihrer Seele zurück.
Sie liebte Oskar Wünning von ganzem Herzen, aber sie mußte sich zugeben, daß sie keine Ahnung hatte, was er für sie empfand. Was konnte sie denn schon, die junge Volksschullehrerin, ohne familiären Anhang, die Zugereiste, für ihn, den Sohn des Ratsapothekers, bedeuten? Er war so stolz auf seine Familie, in deren Besitz die Apotheke seit über hundert Jahren war, die seit dieser Zeit der Stadt immer wieder tüchtige und angesehene Ärzte, Rechtsanwälte und Apotheker geschenkt hatte.
Und sie, Susanne Schäfer, wer war sie? Tochter eines Vertreters, der sich, nach dem Tod seiner Frau, mehr oder weniger zu Tode getrunken hatte. Und von ihrer Mutter wußte sie so gut wie gar nichts. Sie war gestorben, als sie noch ein Kind war.
Es fiel Susanne schwer, das Lächeln auf ihren Lippen zurückzuzwingen, als sie aus dem Haus trat.
Dr. Wünning war ausgestiegen und wartete neben dem Auto. Jetzt, als sie auf ihn zulief, nahm er sie kurz in die Arme, küßte sie – nett, aber durchaus formell.
Selbst hier, in der schlecht beleuchteten Seitenstraße, bestand Gefahr, daß die junge Lehrerin beobachtet wurde. Im Nachbarhaus wohnte ein Mädchen, das die Pestalozzi-Schule besuchte, und etwas weiter weg ein Junge aus ihrer, der dritten Klasse. Es war durchaus möglich, daß sie jetzt hinter den Gardinen standen und herauszubekommen versuchten, wie sich die Lehrerin verhielt, wenn sie nicht gerade im Dienst war.
Susanne Schäfer sah ein, daß sie ihrem Freund eigentlich dankbar für seine Zurückhaltung hätte sein müssen. Er legte sich ja nur ihretwegen Zwang an. Dennoch fühlte sie sich einmal mehr durch seine allzu beherrschte Art irritiert.
Sie stieg rasch ein, er schloß die Tür hinter ihr, ging um den Wagen herum, setzte sich ans Steuer. Sie sah die Linie seines Profils im Halbdunkel, beobachtete, wie er die weichen Lippen zusammenpreßte, als er kuppelte und Gas gab.
Auch ohne ihn wirklich zu sehen, war ihr jeder Zug in seinem offenen jungenhaften Gesicht vertraut – die braunen Augen, die mal lachend, mal grüblerisch blicken konnten, das leicht gewellte Haar, fast zu hübsch für einen Mann, die gerade Nase mit den winzigen Sommersprossen auf dem Rücken, der kleine dunkle Schnurrbart über der Oberlippe, der ihm Würde verleihen und ihn älter als seine 25 Jahre machen sollte, aber eher das Gegenteil bewirkte.
Gewöhnlich begannen sie beide zu reden, kaum daß sie miteinander allein waren. Aber heute sagte er nichts, und dieses Schweigen machte sie seltsam beklommen. Es hatte so vieles gegeben, was sie ihm hätte erzählen wollen, aber plötzlich war alles wie weggewischt.
»Wohin fahren wir?« erkundigte sie sich, nur um überhaupt etwas zu sagen, und wußte doch im gleichen Augenblick, wie töricht diese Frage war.
Dr. Oskar Wünning wohnte bei seinen Eltern. Susanne hatte ihn schon einigemale zuhause besucht, seine Eltern hatten sie immer herzlich aufgenommen und gastfrei bewirtet. Aber sie waren nicht eine Minute aus dem Zimmer gewichen, solange sie da war. Wenn sie allein sein wollten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als in die etwa 35 Kilometer entfernte Nachbarstadt Heimholzen zu fahren. In Bad Kreuzfeld waren er als der Sohn des Ratsapothekers und sie als junge Lehrerin viel zu bekannte Persönlichkeiten, als daß sie sich in irgend einem Lokal hätten unbeobachtet fühlen können.
Deshalb war sie maßlos überrascht, als er antwortete: »Wir bleiben hier.«
»In Bad Kreuzfeld?« fragte sie verblüfft.
»Ja. Ich denke, wir essen eine Kleinigkeit in den ›Altdeutschen Stuben‹. Vorausgesetzt, daß es dir recht ist, natürlich.«
»Eigentlich«, sagte sie, »hatte ich ja gedacht, wir wollten zum Tanzen gehen. Ich habe extra ein neues Kleid angezogen. Kniefrei.«
Sie erwartete, daß er irgend etwas auf diese Eröffnung hin sagen würde, aber er ging einfach darüber hinweg, möglicherweise hatte er es tatsächlich überhört.
»Ich möchte in aller Ruhe mit dir reden«, sagte er.
»Es ist nur, ich möchte nicht gerne unliebsam auffallen, Os«, erwiderte sie verlegen, »kniefrei in die ›Altdeutschen Stuben‹, das scheint mir doch nicht gerade das Richtige zu sein«.
Er blickte in den Rückspiegel, bog nach links ein. »Wenn du mit mir bist, kann dir keiner was, Liebling«, sagte er, »und wenn du nachts im Bikini herumlaufen würdest … an meiner Seite wird keiner es wagen, dich anzuöden.«
Sie wußte, daß er recht hatte. Er war es, der ihr nach vielen Jahren der Unsicherheit zum ersten Mal wieder das Gefühl gegeben hatte, geborgen zu sein. Und manchmal fragte sie sich, ob das nicht mit ein Grund war, warum sie ihn so liebte. »Ich hatte nur Angst, dich zu blamieren«, sagte sie.
Seine rechte Hand tastete sich zu ihr herüber. »Mit deinen schönen Beinen? Daß ich nicht lache!«
Sie errötete in der Dunkelheit und war froh, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie war nahe daran, seine Hand zurückzustoßen – nicht weil ihr die Berührung unangenehm gewesen wäre, sondern weil sie sie erregte. Aber sie wagte es nicht, aus Angst, er könnte es falsch auffassen und sich gekränkt fühlen. Als er sie dann von sich aus zurückzog, um das Steuer fester zu fassen, fühlte sie sich entgegen ihrer Erwartung plötzlich enttäuscht.
Er stellte den Wagen unter den Bäumen der Kurallee ab. Es war Juni, die Hauptsaison hatte noch nicht begonnen, und so gab es noch einige Parklücken.
Als er den Zündschlüssel abzog, hatte sie den Türgriff schon in der Hand. Aber gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, wie sehr er es haßte, wenn sie sich selbständig benahm, wie es für sie seit langem notwendig geworden war. So holte sie tief Atem, lehnte sich wieder zurück, suchte seinen Blick.
Auch er war im Begriff gewesen, auszusteigen. Jetzt sah er sie an, sehr ernst, ohne ihr Lächeln zu erwidern. »Eigentlich«, sagte er, »könnte ich es dich ja auch jetzt schon fragen …«
»Was?«
»Ob du …« Seine Stimme war rauh, er mußte sich räuspern. »Willst du meine Frau werden, Susanne?«
Für Sekunden verschlug es ihr den Atem. Sie starrte ihn nur an, unfähig, ein Wort hervorzubringen.
»Willst du?« fragte er drängend.
Sie war auf diesen Antrag nicht gefaßt gewesen. Selbst in ihren Träumen hatte sie sich eine solche Situation nicht auszumalen gewagt, aus Angst, daß ihre Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzen könnten. So wußte sie auch nicht, wie sie sich jetzt benehmen und was sie antworten sollte.
»Ja«, sagte sie atemlos, »ja, gerne …« Und sie hatte gleichzeitig das Gefühl, wieder einmal zu unumwunden, zu geradeaus geantwortet zu haben.
Aber falls er das auch empfand, so zeigte er es jedoch nicht. Die innere Spannung, die sein gut geschnittenes Gesicht fast verzerrt hatte, löste sich. »Oh, Susanne«, sagte er, »mein Gott, bin ich froh, daß ich es überstanden habe …«
Er nahm sie in die Arme, küßte sie leidenschaftlich. Selige Schwäche überkam sie, ein süßer prikkelnder Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ein so starkes Gefühl ergriff sie, daß es ihr fast die Besinnung raubte. Als er ihren Mund endlich freigab, lehnte sie sich mit geschlossenen Augen an seine Schulter.
»Oskar«, flüsterte sie, »Os, Liebster … ich bin so glücklich!«
Er zog sie noch fester an sich. »Ich wollte es dir ja schon längst sagen, Liebling …«
»Warum hast du es dann nicht getan?«
»Na, ich dachte, es wäre besser … weißt du, es war gar nicht so leicht, es den alten Herrschaften beizubringen, du weißt ja, wie sie sind. Und … mir schien es nicht anständig, sie vor die vollendete Tatsache zu stellen.«
Susanne Schäfer richtete sich auf, öffnete die Augen. Sie fühlte sich schmerzhaft ernüchtert. »Ohne Erlaubnis deiner Eltern hättest du mich also gar nicht …«
Er ließ sie nicht aussprechen. »Unsinn. Du weißt genau, ich bin doch kein kleiner Junge mehr!«
Er küßte sie wieder, küßte ihre Bedenken, ihren inneren Widerstand fort. »Ich liebe dich, Susanne … ich habe solche Sehnsucht nach dir. Am liebsten würde ich dich entführen … noch heute nacht!«
»Warum tust du es dann nicht?« flüsterte sie.
»Du weißt, daß das unmöglich ist. Du würdest es auch gar nicht wirklich wollen.«
»Bist du so sicher?«
»Du würdest doch deine Klasse nicht im Stich lassen. Und außerdem … wo sollten wir wohnen? Nein, so geht es nicht.« Er löste sich von ihr.
Sie sah, daß seine schlanken braunen Finger zitterten, als er sich eine Zigarette anzündete. Ihr Herz klopfte bis zum Halse.
»Ich will nicht davon reden, daß ich am Beginn einer Karriere stehe …« begann er.
»Ich weiß, daß es so ist«, bestätigte sie sofort.
»Aber darum geht es ja gar nicht. Du, unsere Liebe, unsere Ehe sind mir wichtig, zu wichtig, als daß ich irgend etwas überstürzen möchte. Nenn mich einen Pedanten, aber für mich muß einfach alles seine Richtigkeit haben.«
Susanne Schäfer fühlte sich ein wenig beschämt. Überwältigt von einem Glück, das sie, wie es schien, im Grunde gar nicht verdient hatte. »Doch, ich verstehe dich, Os«, sagte sie, »und ich bin froh, daß du so bist. Ich glaube, dies … dies ist der schönste Tag in meinem Leben!«
Er küßte sie wieder, diesmal aber mit einer Zärtlichkeit, in der kein Funken Leidenschaft mehr glühte, und sie fühlte beglückt, daß ihr Herz endlich eine Heimat gefunden hatte.
*
Am nächsten Morgen fiel es Susanne Schäfer schwer, die Gedanken auf den vor ihr liegenden Arbeitstag zu konzentrieren. Noch als sie den breiten Gang entlang an den geöffneten Türen vorbei auf das Zimmer ihrer, der dritten Klasse zuschritt, hatte sie sich innerlich nicht von den Ereignissen des gestrigen Abends gelöst.
Ihre Wirtin hatte sie erwischt, als sie leicht beschwipst von dem Genuß des ungewohnten Champagners, sich in ihr Zimmer schleichen wollte. Frau Schmitt hatte ihre Untermieterin noch nie so erlebt, sie hatte sich zwar jede Bemerkung verkniffen, aber ihr Blick hatte Bände gesprochen.
Susanne Schäfer lächelte in sich hinein. Wie würde die gute Frau Schmitt erst staunen, wenn sie die Wahrheit wüßte!
Zu gerne hätte sie ihr noch in der Nacht alles erzählt, aber sie war mit Oskar Wünning übereingekommen, die Verlobung vorerst geheim zu halten. Anfang der großen Ferien sollte, so wollte er, eine große offizielle Feier im Kreise seiner weitverzweigten Familie und sämtlichen Honoratioren von Bad Kreuzfeld stattfinden. Sie hatte es nicht sein wollen, die diese Abmachung brach.
Mit einem Ruck schüttelte sie den Kopf, als wenn sie auf diese Weise die wirbelnden Gedanken abstreifen könnte, preßte die Lippen aufeinander, ging mit geradem Rücken und festem Schritt auf das Klassenzimmer zu.
»Achtung!« rief der Schüler Klaus, der an der geöffneten Türe stand.
Und als der Lärm der anderen, Gelächter, Geschrei, Stühlerücken, nicht sogleich verstummte, fügte er mit Nachdruck hinzu: »Das Fräulein kommt!«
Susanne Schäfer hatte unwillkürlich den Schritt verhalten, weil ihr gar nichts daran lag, gleich am frühen Morgen mit einem Donnerwetter über die Klasse herfallen zu müssen. Erst jetzt, als Ruhe eingetreten war, marschierte sie in das Zimmer.
Sie trug einen grauen Rock, ein blaues Twinset, Schuhe mit flachen Absätzen. Ihr Gesicht war gänzlich ungeschminkt, und sie hatte das schimmernde blonde Haar zurückgesteckt. Sie hätte in dieser Aufmachung unauffällig, fast unscheinbar gewirkt, wenn nicht der klare Blick ihrer großen grauen Augen gewesen wäre.
Jetzt war sie vorne angekommen, legte ihre Mappe auf das Katheder, grüßte laut: »Guten Morgen, Kinder!«
Wie auf ein unausgesprochenes Kommando hin erwiderte die ganze Klasse im Sprechchor: »Guten Morgen, Fräulein Lehrerin!«
»Setzt euch!«
Aber zu Susanne Schäfers Verblüffung machte die ganze Klasse keine Anstalten, diesem gewohnten Befehl nachzukommen. Sie blieben stehen, 42 Jungen und Mädchen zwischen acht und neun Jahren, schlanke und dicke, blonde und braune, blasse und rosige, und alle hatten ein verschmitztes Lächeln um die Lippen, einen triumphierenden Glanz in den Augen.
Peter, der Klassenbeste, sprang vor, fuchtelte mit dem Lineal in der Luft herum, als wenn er ein ganzes Orchester dirigieren wollte.
Auf sein Zeichen hin brüllte die Klasse los: »Wir gratulieren zur Verlobung!«
Im gleichen Augenblick zauberte Rosel, die rothaarige Rosel Wünning, Tochter von Dr. Oskar Wünnings Bruder, dem Apotheker, einen Blumenstrauß hinter ihrem Rücken hervor. Es war der seltsamste Strauß, den Susanne Schäfer je gesehen hatte, Garten-, Wiesen- und Waldblumen waren bunt durcheinander gemischt, die Stiele verschieden lang, kurzum, es war ein Strauß, zu dem wohl jedes der Kinder ein paar Blumen gemäß seinen Möglichkeiten beigetragen hatte. Susanne Schäfer hatte sogar den Verdacht, daß einige der wundervollen Rosen aus dem Kurpark stiebitzt waren.
Aber ihre Freude war so groß wie ihre Überraschung. Strahlend nahm sie den Strauß entgegen, beugte sich zu Rosel herab, küßte das kleine Mädchen, das nun bald ihre Nichte werden sollte, auf die Wange.
»Na so etwas!« sagte sie. »Das habt ihr aber schnell herausgekriegt!« Sie wußte, leugnen war diesen neugierigen, unerbittlichen Kinderaugen gegenüber zwecklos, und jede Frage nach der Quelle dieses überraschenden Wissens beantwortete sich von selber: natürlich war es Rosel gewesen, die die große Neuigkeit aus einem Gespräch der Erwachsenen aufgeschnappt und sogleich unter den Kameraden und Kameradinnen ihrer Klasse verbreitet hatte.
Jetzt quittierten sie alle Susanne Schäfers ehrliche Verblüffung mit einem vergnügten Gelächter.
»Da staunen Sie, was?« rief ein kleiner Naseweis aus der letzten Reihe.
»Ja, wirklich«, sagte die junge Lehrerin, »ihr wart mehr als fix. Aber tatsächlich bin ich noch gar nicht wirlich verlobt …«
»Oh doch!« rief Rosel dazwischen. »Mein Vater hat’s erzählt!«
»Dein Onkel Oskar und ich, wir wollen uns verloben«, stellte Susanne Schäfer richtig, »die Verlobungsfeier wird Anfang der großen Ferien sein. Deshalb ist es vielleicht ganz gut, daß ich sie schon heute mit euch feier. Wie wäre es, wenn ich euch jetzt eine schöne Geschichte erzählte?«
Dieser Vorschlag fand begeisterte Zustimmung.
»Also, setzt euch!« sagte Susanne Schäfer.
Sie schloß den Klassenschrank auf, nahm eine ziemlich häßliche Keramikvase, die Stiftung einer Mutter, heraus, drückte sie Rosel zum Wasserholen in die Hand. Die Kleine lief auf den Flur hinaus.
Die anderen hatten inzwischen Platz genommen. Aber wenn Susanne glaubte, die Kinder abgelenkt zu haben, dann hatte sie sich geirrt.
Petra, ein Mädchen mit dunkelbraunem, leicht gelocktem Haar, hob lebhaft den Finger.
»Ja, Petra?« sagte die Lehrerin ermunternd.
»Wann werden Sie denn heiraten, Fräulein?« wollte Petra wissen und errötete über ihre eigene Frage.
»Das hat noch lange Zeit«, erklärte Susanne Schäfer freundlich, »vorläufig bin ich ja noch nicht einmal richtig verlobt.«
»Aber wenn Sie mal erst verheiratet sind«, rief der lange Klaus dazwischen, »dann kommen Sie doch nicht mehr in die Schule!«
Diese Bemerkung hatte einige betrübte. »Och’s« zur Folge.
»Nur keine Angst«, sagte Susanne Schäfer lächelnd, denn die Anhänglichkeit ihrer Kinder tat ihr wohl, »so schnell werdet ihr mich bestimmt nicht los.«
»Erst wenn ein Baby unterwegs ist, nicht?« rief Rosel, die gerade mit der gefüllten Vase in der Hand in das Klassenzimmer zurückgekommen war.
Die Kinder begannen auf dieses Stichwort hin sofort eifrig miteinander zu diskutieren.
»Ruhe, bitte!« mahnte Susanne Schäfer. Sie zog es vor, auf Rosels altkluge Bemerkung nicht einzugehen. »Schönen Dank fürs Wasserholen«, sagte sie, »so, und nun stellen wir die Blumen hinein … und jetzt, marsch ab auf deinen Platz! Seid ganz still und sperrt die Ohren auf, damit ihr über die Geschichte, die ihr jetzt hören sollt, eine nette Nacherzählung machen könnt …« Sie erstickte die enttäuschten Proteste mit einer Handbewegung und begann: »Es war einmal eine Grille, die den ganzen Sommer gesungen hatte …«
Und während sie weiter erzählte, glitt ihr Blick über die blanken, erwartungsvollen Gesichter ihrer Kinder, die sie alle so gut kannte und von denen keines dem anderen glich, und sie fühlte bei allem Glück ein tiefes Bedauern, diese jungen Menschen und den Beruf, den sie sich erwählt hatte, bald aufgeben zu müssen.