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2.
ОглавлениеDie großen Ferien rückten naher und näher und mit ihnen der Tag der offiziellen Verlobung, sie war für den ersten Samstag nach Schulschluß festgesetzt worden.
Susanne Schäfers Freude war mit banger Erwartung gemischt. Oskar Wünnings Eltern hatten darauf bestanden, zu diesem Anlaß die ganze Familie zusammenzutrommeln: Sie würde also nicht nur vor den Wünnings, die sie kannte, sondern noch vor mehr als dreißig entfernteren Familienmitgliedern bestehen müssen. Dadurch wurde es ihr doppelt deutlich, daß sie selber eine Waise und ganz allein auf sich gestellt war. Mit den wenigen, sehr entfernten Verwandten, die sie besaß, hatte sie seit Jahren keinen Kontakt mehr.
»Mach dir nichts draus, Liebling«, sagte Oskar Wünning, als sie einmal versuchte, ihm ihre Unsicherheit klarzumachen, »keine Verwandtschaft ist immer noch viel besser als eine miese. Außerdem … du hast ja mich, und wenn wir erst offiziell verlobt sind, wirst du ganz zu uns gehören.«
Diese Zugehörigkeit zu einer der angesehensten Familien der kleinen Stadt bekam die junge Lehrerin schon jetzt zu spüren, denn natürlich war es kein Geheimnis geblieben, daß sie den zweiten Sohn des Ratsapothekers heiraten würde.
In den Geschäften wurde sie mit einer ganz neuen und ungewohnten Zuvorkommenheit bedient. Menschen, die sie vorher gar nicht beachtet hatten, grüßten sie jetzt auf der Straße. Die Kolleginnen verbargen einen gewissen Neid hinter honigsüßer Freundlichkeit, die Kollegen plusterten sich auf, als wenn sie sich selber beweisen müßten, daß sie es noch jederzeit mit einem gewissen einheimischen Rechtsanwalt aufnehmen könnten.
Unverändert in ihrem Benehmen blieben nur Frau Schmitt und Rektor Kagerer.
Die Wirtin hatte sich zwar zu einer Art von Gratulation aufgerafft, aber sie konnte, obwohl doch alles gegen sie sprach, das Unken nicht lassen. Ihr abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber den Männern war eben nicht so leicht zu erschüttern.
Rektor Kagerer, Susanne Schäfers direkter Vorgesetzter, ein ruhiger, bedachtsamer Mann, war bekannt für seinen unbeugsamen Gerechtigkeitssinn, den er auch bei dieser Gelegenheit wieder bewies. Er behandelte Susanne nicht eine Spur anders als seine anderen Junglehrerinnen, mochte sie auch so gut wie verlobt mit einem geachteten Sohn der Stadt sein. Für ihn blieb sie in erster Linie Lehrerin, und für ihn zählte nur, was sie in ihrem Beruf leistete.
Die Kinder hatten noch eine Zeitlang über die Veränderung im Leben ihres »Fräuleins« geschwätzt, in Ecken zusammen gestanden und miteinander gekichert, aber als sich Susanne Schäfers Benehmen und Auftreten so gar nicht änderte, begann die Sensation allmählich zu verblassen und ihren Reiz zu verlieren. Wenn sie vorne am Katheder stand und in ihrer freundlichen, aber sehr bestimmten Art Unterricht erteilte, dann war es fast unmöglich, sie sich als verliebte Braut vorzustellen.
Mitte Juni wurde es sehr heiß. Es wurde schwierig, die Kinder für den Lehrstoff zu interessieren. In der Klasse war es drückend, draußen lockte der Sonnenschein, und die Zeugnisse waren schon geschrieben.
In der letzten Woche vor den Ferien legte Susanne Schäfer zwei Turnstunden zusammen, so daß sie ihre Kinder am Dienstagmittag die letzten beiden Stunden ins Freibad führen konnte.
Es war in der Pestalozzi-Schule durchaus üblich, daß die Lehrkräfte im Sommer ihre Klassen zum Schwimmen führten, und auch Susanne Schäfer fand es ganz selbstverständlich, die diesbezügliche Anordnung Rektor Kagerers zu befolgen. Sie gönnte ihren Kindern das Vergnügen von Herzen. Dennoch war sie immer froh, wenn sie alle wieder heil und sicher zur Schule zurückgebracht hatte.
An diesem Dienstag wimmelte es im Freibad von kleineren Kindern, die mit ihren Müttern oder auch in Gruppen gekommen waren. Der Lärm und das Geplansche war unbeschreiblich. Es war sehr schwül, und obwohl sich am blauen Himmel keine Wolke zeigte, war das heraufziehende Gewitter deutlich zu spüren.
Susanne Schäfer war ein wenig nervös, aber sie zeigte es nicht. Sie wußte, daß es ihrer ganzen Autorität bedurfte, um die Kinder im Zaum zu halten.
Mit Mühe hielt sie ihre Schar davon ab, sich, kaum daß sie umgezogen waren, kopfüber ins Wasser zu stürzen. Sie achtete streng darauf, daß jeder einzelne erst die Handgelenke und die Herzgegend kalt abschreckte, bevor er ins Wasser ging – sie machte es sogar selber vor. In ihrem einfachen leuchtend blauen Badeanzug und der weißen Kappe wirkte sie selber wie ein ganz junges Mädchen.
Nur drei Schüler konnten wirklich schwimmen. Ein vierter, der schwarzlockige kleine Franz, hielt sich mit einer Art Hundepaddelei ganz wacker über Wasser. Aber ein Freischwimmerzeugnis hatte niemand. Deshalb hielt Susanne Schäfer ihre Schar unerbittlich im Nichtschwimmerbecken zusammen, was allerdings gar nicht so einfach war. Immer und immer wieder, bis sie es schon selber nicht mehr hören konnte, mußte sie rufen: »Hierher! Franz, Jochen, Petra … hiergeblieben! Nein, keiner darf ins große Becken! Wenn ihr nicht folgt, müßt ihr heraus … ich mahne euch nicht noch einmal!«
Während der größte Teil der Kinder vergnügt herumplanschte, im niedrigen Wasser harmlose Schwimm- und Tauchversuche unternahm, turnten diejenigen, die sich mehr zutrauten und sich über die anderen erhaben fühlten, in der Nähe der Absperrung herum und schmollten.
»Das ist ja öde!« hörte die Lehrerin sie meckern. »So was Langweiliges! – Wir sind doch keine Babys mehr!«
Sie drehte sich um. »Wenn es euch nicht paßt, dann geht in die Kabinen und zieht euch um! Fort vom Seil … los, ab mit euch, zu den anderen!«
Es war wirklich nicht einfach, hier die Aufsicht zu führen, denn es genügte ja nicht, daß Susanne Schäfer aufpaßte. Die Kinder erwarteten auch, daß sie sich mit ihnen beschäftigte, Spiele und Übungen anregte und selber vormachte. Susanne Schäfer atmete auf, als es endlich so weit war, daß sie die Kinder aus dem Wasser treiben durfte.
Prompt kamen die üblichen Betteleien. »Schon!?« – »Ach, Fräulein, wir sind doch gerade erst gekommen!« – »Noch ein bißchen … bitte, bitte!« – Und ein Witzbold rief: »Die Uhr geht vor!«
Sie planschten, spritzten, entwischten, und Susanne Schäfer mußte jeden einzelnen einfangen und an Land bringen. Es entwickelte sich ein Spiel mit richtigen Regeln daraus – wer einmal gefangen war, durfte nicht mehr ins Wasser zurück, die Kinder wachten selber darüber.
Endlich konnte auch die junge Lehrerin, Rosel an der Hand, die sie zuletzt erwischt hatte, die kleine Treppe hinaufklettern. Sie hob ihr Handtuch auf, begann sich abzutrocknen.
»Los, Kinder, schnell abzählen, und dann in die Kabinen!« rief sie.
Die Zahlen flogen von Mund zu Mund: »Eins … zwei … drei … fünf … neun …«
Susanne Schäfer zählte mit. Klaus fehlte, er war schon mit seinen Eltern in die Ferien gefahren, ein anderer Junge hatte nicht mit schwimmen gehen dürfen, weil er überempfindliche Ohren hatte, ein Mädchen war wegen Krankheit entschuldigt – also mußten es insgesamt neununddreißig Schülerinnen und Schüler sein.
Aber die Kinder kamen nur bis zur Zahl siebenunddreißig.
Noch regte Susanne Schäfer sich nicht auf. Vielleicht waren zwei der Kinder schon zu den Kabinen gelaufen oder hielten sich aus Spaß versteckt.
Aber da rief Petra: »Fräulein, Fräulein … der Franz und der Jochen, die schwimmen im großen Becken!«
Die Augen der jungen Lehrerin folgten dem ausgestreckten Zeigefinger, und tatsächlich – sie entdeckte die Köpfe der beiden Jungen mitten im tiefen Wasser. Sie lief zum Rand, wollte sie zurückrufen. Doch sie kam nicht mehr dazu, denn da geschah es: Jochen sackte ab, und Franz, der sich mit seiner Hundepaddelei mit Müh und Not selber oben hielt, konnte ihm natürlich nicht helfen. Er schrie, bekam Wasser in den Mund, schluckte, prustete.
Mit einer einzigen Bewegung warf Susanne Schäfer das Frottiertuch ab, tauchte mit einem Hechtsprung ins Wasser, war mit wenigen kräftigen Stößen bei den beiden Jungen, packte sie, einen mit der linken, den anderen mit der rechten Hand und brachte sie, nur mit den Beinen schwimmend, ans Ufer zurück.
Es war nichts Ernsthaftes geschehen. Jochen war grün im Gesicht, mußte spucken und schließlich brechen. Danach fühlte er sich besser. Franz kam sich mächtig tüchtig vor und prahlte mit seiner Heldentat, bis die Lehrerin mit einer Strafarbeit, die sie den beiden Jungen auftrug, auch seinen Übermut dämpfte. Titel der Niederschrift: »Warum ich nicht ins offene Wasser hinausschwimmen darf, wenn ich nicht richtig schwimmen kann.«
Nein, es war nichts Ernsthaftes passiert, aber es war spät geworden, und bis endlich alle angezogen waren, wurde es noch später. Als die Uhr eins schlug, erschrak Susanne Schäfer. Die Kinder hätten jetzt eigentlich schon auf dem Weg nach Hause sein sollen, und doch mußten sie erst noch in die Schule zurück, um ihre Sachen zu holen.
Sie entschloß sich, nicht den Umweg durch den Park zu machen, sondern den kürzeren Weg zu nehmen, auf dem einige Straßen überquert werden mußten. Die Kinder waren hungrig geworden und hatten es jetzt eilig. Sie stellten sich brav in Zweierreihen auf und marschierten los. Alles klappte vorzüglich.
Die letzte Straße, die sie überqueren mußten, war sehr breit und in der Mitte durch eine langgestreckte, schmale Insel aufgeteilt.
Vor dem Fußgängerüberweg versammelte Susanne Schäfer ihre Kinder um sich. »Alles herhören!« rief sie. »Sobald ich euch ein Zeichen gebe … geht ihr hinüber bis zur Insel, und dort wartet ihr auf mich! Habt ihr mich verstanden?«
»Ja!« erscholl es im Chor.
Susanne Schäfer betrat den Fußgängerüberweg, nahm mit ausgebreiteten Armen in der Mitte zwischen Insel und Bürgersteig Aufstellung, winkte den Kindern zu, die jetzt paarweise hinübereilten. Der von rechts kommende Verkehr stoppte.
Sie wartete, bis auch das letzte Kind die Insel erreicht hatte, um dann erst zu folgen – da sah sie, wie eine Gruppe von Mädchen, unter ihnen auch Rosel und Petra, Hand in Hand dem jenseitigen Bürgersteig zustrebten. Sie wollte rufen, unterließ es dann aber doch, um nicht noch größere Verwirrung zu stiften. Sie war verärgert über die Unfolgsamkeit der Schülerinnen, aber durchaus nicht besorgt: schließlich befanden sie sich ganz ordnungsgemäß auf dem Zebrastreifen und waren nicht zu übersehen, Rosels roter Schopf leuchtete wie ein Fanal in der Sonne.
Mit wenigen Schritten hatte die Lehrerin die Insel erreicht, auf der der größte Teil der Klasse wartete, die Autos hinter ihr begannen zu rollen. Rosel, Petra und ihre Kameradinnen waren fast beim jenseitigen Bürgersteig angekommen. Da brauste ein Lastwagen mit überhöhter Geschwindigkeit heran und raste mitten in die Mädchengruppe hinein.
Ein Schrei gellte auf, ein wahnsinniger entsetzter Schrei – Susanne Schäfer wurde es nicht bewußt, daß sie es war, die so schrie.
Die Bremsen quietschten, der Lastwagen fuhr halb über den Bürgersteig, kam viele Meter hinter dem Fußübergang zu stehen.
Auf der Fahrbahn lagen, blutig und verrenkt, die Körper von fünf kleinen Mädchen, die eben noch gesunde, lebendige und lebensfrohe junge Menschenkinder gewesen waren.
Autos, Motorräder, Fahrräder stoppten. Menschen stürzten auf die schwerverletzten Mädchen zu.
Noch in der Besinnungslosigkeit des ersten Entsetzens tat Susanne Schäfer das Vernünftige: sie führte den Rest ihrer Klasse durch die herandrängenden Menschen auf den jenseitigen Bürgersteig.
Aber ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen, als sie befahl: »Lauft zur Schule, holt eure Sachen und dann nach Hause! Beeilt euch und seid vorsichtig. Eure Eltern erwarten euch schon!«
Sie wandte sich ab, taumelte zur Fahrbahn zurück.
Die Neugierigen wichen zur Seite, machten ihr eine Gasse. Sie merkte es nicht. Sie taumelte weiter, fiel neben einem der verstümmelten Kinder in die Knie.
Es war Rosel Wünning. Ihr rechter Arm lag seltsam verrenkt neben ihr, um ihren Hinterkopf mit dem leuchtend roten Haar hatte sich eine Blutlache gebildet, ihr zartes Gesichtchen war schneeweiß. Die hellen kleinen Sommersprossen wirkten jetzt wie dunkle Tupfen.
Susanne Schäfer versuchte instinktiv, ohne zu wissen, was sie tat, den Puls des Kindes zu spüren. Aber die empfand nichts als die unendlich gähnende Leere in ihrem eigenen Herzen, einen saugenden Abgrund, der sie zu verschlingen drohte.
Nicht einmal das grelle Signal des Martinhorns gelangte in ihr Bewußtsein.
Sie spürte kaum die hilfreichen Hände, die sie hochrissen. Ihre Beine waren seltsam taub, gefühllos, wie gelähmt.
Männer in weißen Kitteln, Tragen zwischen sich, liefen hin und her, schafften die schwerverletzten Kinder fort. Dunkle Flecken von Blut blieben auf dem Pflaster.
Ein Mann in Polizeiuniform stand vor Susanne Schäfer, ein geöffnetes Notizbuch in der Hand. Er hatte ein braunes, ausdrucksloses Gesicht. Sie verstand, was er sie fragte.
»Sie sind also die Lehrerin? Nun erzählen Sie mal … wie konnte das denn passieren? Wo haben Sie gestanden … und die Kinder?«
Sie verstand jedes Wort, und sie glaubte sogar, ihm zu antworten. Sie öffnete die Lippen, quälte sich, alles zu erklären, und begriff nicht, daß sie nichts als ein tonloses Würgen herausbrachte.
»Ihren Namen … sagen Sie mir Ihren Namen«, drängte der Polizeibeamte, »den werden Sie doch wissen!«
Im gleichen Augenblick erschien ein Mann im weißen Kittel neben dem Polizisten, ein Mann mit klugen durchdringenden Augen in einem kantigen Gesicht, das beinahe häßlich hätte wirken können, wenn es nicht soviel Güte ausgestrahlt hätte.
»Das hat keinen Zweck, Herr Wachtmeister«, sagte er, »merken Sie denn nicht, daß die junge Dame beim besten Willen nicht aussagen kann?«
»Aber … sie ist doch völlig unverletzt!«
»Körperlich vielleicht, aber seelisch hat sie was abgekriegt. Nervenschock.«
Susanne Schäfer sah die Spritze in der Hand des Arztes, sah sie übermächtig auf sich zukommen – der weiße Kittel, das kantige Gesicht des Polizisten, die Häuser, der eben noch blaue Himmel, alles färbte sich in einem blutigen Rot, das sich rasch verdunkelte, bis tiefe, nachtschwarze Dunkelheit sie gnädig auffing.