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4.
ОглавлениеDie Beerdigung der kleinen Unfallopfer fand in Abwesenheit ihrer Lehrerin Susanne Schäfer statt. Das fiel umso mehr auf, als außer ihr sämtliche Lehrkräfte der Pestalozzi-Schule auf dem alten Friedhof erschienen waren. Die Schüler und Schülerinnen der 5. bis 8. Klasse sangen einen Choral, zweistimmig, und Rektor Kagerer ergriff nach dem geistlichen Herrn das Wort. Nicht nur die Verwandten der verunglückten Kinder, nicht nur Vertreter der Stadt und der Schule nahmen an dieser Beerdigung teil, sondern die halbe Stadt war erschienen – Kopf an Kopf drängten sich Frauen und Männer in der prallen Sonne, und es war gut, daß auch das Rote Kreuz anwesend war. Eine alte Dame und eine schwangere Frau fielen in Ohnmacht und mußten betreut werden.
Nur Susanne Schäfer war nicht da, und gerade auf sie richtete sich der Hauptteil der allgemeinen Neugier. Nur die wenigsten der Anwesenden betrachteten ihre Abwesenheit als einen Beweis von Takt, die meisten sahen darin ein Zeichen von Schuldbewußtsein, und zwar gerade diejenigen, die ihr Auftreten am offenen Grab als Unverfrorenheit ausgelegt haben würden.
Susanne Schäfer war nicht anwesend, und doch wurde an diesem Tag mehr an sie gedacht und von ihr gesprochen als in ihrer gesamten Dienstzeit in Bad Kreuzfeld.
Tatsächlich hätte die junge Lehrerin nicht erscheinen können, auch wenn ihr Oskar Wünnings Worte keinen Eindruck gemacht hätten. Sie lag immer noch im Städtischen Krankenhaus und war körperlich und seelisch so geschwächt, daß Dr. Herzog ihr die Teilnahme niemals erlaubt hätte.
Aber die Bad Kreuzfelder waren nicht bereit, ihre Krankheit als Entschuldigung anzuerkennen. »Ja, die macht sich’s leicht«, sagten selbst die Wohlmeinenden unter ihnen, »die legt sich einfach ins Bett und zieht die Decke über die Ohren! Damit läßt sich aber die Katastrophe nicht ungeschehen machen.«
Die Übelwollenden aber bezichtigen sie ganz offen des Leichtsinns und der Verantwortungslosigkeit, der Gleichgültigkeit und der Gewissenlosigkeit. Die wenigen, die versuchen, Vernunft und Gerechtigkeit zu Wort kommen zu lassen, wurden, wie es im Leben meist der Fall ist, überstimmt. Es fehlte ihnen auch an Mut, Susanne Schäfer nachdrücklich zu verteidigen, besonders, da es offensichtlich war, daß die Familie Wünning sie hatte fallenlassen.
»Da stimmt etwas nicht«, hieß es allgemein, »sie und der junge Wünning waren doch so gut wie verlobt. Wenn die Sache sauber wäre, hätte er sich doch bestimmt zu ihr bekannt. Aber er hat sich zurückgezogen, um sich die Finger nicht zu verbrennen. Er ist ja Jurist und weiß, was er tut.«
Susanne Schäfer ahnte zum Glück nicht, was in der kleinen Stadt über sie getuschelt und gestichelt, gehechelt und ganz laut und unverblümt gesagt wurde. Für sie war es schon schwer genug, sich damit abzufinden, daß sie Oskar Wünning verloren hatte – für immer. Denn eine andere Erklärung dafür, daß er sich nicht mehr bei ihr blicken ließ, konnte es nicht geben.
Mit dem Verstand begriff sie die Situation, aber ihr Herz, ihr warmes, sehnsüchtiges Herz, konnte sich nicht fügen.
Jedesmal, wenn sich die Tür ins Krankenzimmer öffnete, tat es ein paar heftige Schläge. »Das ist Oskar!« hoffte sie und – wurde jedesmal wieder enttäuscht.
Dr. Herzog durchschaute sie. »Ich bin’s nur«, pflegte er stets zu rufen, noch ehe er die Tür ganz geöffnet hatte. »der Doktor!«
Und Susanne Schäfer war ihm dankbar dafür; denn so konnte sie sich zu einem Lächeln zwingen, und die Qual, deren sie sich schämte, vor ihm verbergen.
Einmal kam tatsächlich Besuch, ihre Hausfrau, die Witwe Schmitt.
Aber dieser Besuch war für Susanne kein reines Vergnügen.
Frau Schmitt gab sich zwar alle Mühe, sich taktvoll zu benehmen – sie gehörte zu den ganz wenigen Menschen in Bad Kreuzfeld, die fest davon überzeugt waren, daß auf »ihr« Fräulein auch nicht der Schatten einer Schuld fiel – aber sie konnte eine gewisse Genugtuung darüber, daß ihre bösen Ahnungen sich bestätigt hatten, nicht ganz verbergen.
»Machen Sie sich nichts draus, Fräulein«, sagte sie, verlegen am Verschluß ihrer Handtasche nestelnd, »ich hab’s Ihnen ja immer gesagt: die Männer taugen nichts, und diese verwöhnten Jungen aus den sogenannten guten Häusern schon gar nicht! Jetzt ist es ein Schlag für Sie, das kann ich verstehen … aber hören Sie auf meine Worte, eines Tages werden Sie froh sein, daß Sie noch rechtzeitig gemerkt haben, an was für einen Menschen Sie da geraten sind. Vor der Hochzeit ist’s immer noch besser als später.«
Das war kein Trost für Susanne Schäfer, nicht in dem Zustand, in dem sie sich befand. »Was wissen Sie denn schon!« sagte sie heftig.
»Nichts, natürlich nichts«, beeilte sich Frau Schmitt zu versichern, »ich will auch nichts gesagt haben, nur …«
»Sie haben immer etwas gegen Oskar Wünning gehabt! Sie haben ihn nie gemocht, geben Sie es doch zu!«
»Ja, das stimmt schon …«
»Und deshalb ziehen Sie jetzt voreilige Schlüsse! Wie kommen Sie überhaupt darauf, daß Oskar mich enttäuscht hätte?!«
»Na, wegen der Verlobung! Die Wünnings erklären überall, die Verlobungsfeier wäre verschoben. Und was das bedeutet, das kann man sich ja an allen fünf Fingern ausrechnen …«
»Nichts kann man«, sagte Susanne Schäfer, und ihre Stimme klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte, »wir wollen bloß die Trauerzeit abwarten. Nun sagen Sie nicht, daß das nicht vernünftig und richtig wäre.«
Frau Schmitt machte große Augen. »Sie wollen ihn also nach wie vor noch heiraten?«
»Ja, und warum nicht?« gab Susanne Schäfer herausfordernd zurück.
»Na, Sie müssen es ja wissen. Ich will mich da nicht einmischen … stände mir ja auch gar nicht zu. Wer bin ich denn schon? Eine dumme alte Frau. Also …« Frau Schmitt stand auf. »Alles Gute, Fräulein Schäfer und … lassen Sie sich Zeit mit dem Gesundwerden! Glauben Sie nur nicht, daß Sie etwas versäumen. Ferien sind ja auch schon. Erholen Sie sich nur recht gut. Ich werd’ mal inzwischen Hausputz in Ihrem Zimmer machen.«
Susanne streckte ihrer Wirtin die Hand entgegen. »Und Sie sind mir nicht böse?«
Frau Schmitt tätschelte Susannes schmale Hand. »Bin ich nicht, Kindchen, nur keine Sorge. Ich kann mir denken, wie es Ihnen zumute ist. Sie haben allerhand mitgemacht. Aber Kopf hoch! Es werden auch wieder bessere Tage kommen.«
Als Frau Schmitt gegangen war, lag Susanne Schäfer lange reglos auf dem Rücken ausgestreckt, starrte zur Zimmerdecke hinauf und versuchte, mit ihren Gedanken ins reine zu kommen.
Die ganze Stadt wußte also schon, daß aus der geplanten Verlobung nichts werden würde. Die Wünnings verbreiteten es überall. Aufgeschoben bis nach Beendigung der Trauerzeit klang plausibel, und es stimmte vollkommen mit der Erklärung überein, die Oskar Wünning ihr gegeben hatte.
Aber sie konnte sich nicht länger der Wahrheit verschließen: er würde sie niemals heiraten. Sein Fernbleiben sprach deutlicher als Worte. Die Verlobung war geplatzt, sie mußte damit fertigwerden. Ein schöner Traum war ausgeträumt.
Sie kämpfte gegen das Schluchzen, das sie in der Kehle würgte. So viele Jahre war sie einsam durchs Leben gegangen, sie würde es auch in Zukunft können. Und ihr blieben ja immer noch die Kinder, ihr geliebter Beruf, die Aufgabe, die sie sich selber gestellt hatte.
Susanne Schäfer atmete tief durch, als an die Tür geklopft wurde. »Ja, herein!«
Die Tür wurde von außen geöffnet. »Ich bin’s nur«, sagte Dr. Herzog, während er eintrat.
Susannes Augen waren weit offen, hielten dem prüfenden Blick des Arztes stand. Mit fester Stimme sagte sie: »Ich habe niemand anderen erwartet!«
*
Sobald sie wieder einigermaßen auf den Beinen war, drängte Susanne Schäfer darauf, das Städtische Krankenhaus zu verlassen. Es zog sie zwar nicht nach Hause – ein wirkliches Zuhause besaß sie ja gar nicht – und sie war sich auch darüber klar, daß sie durchaus nichts versäumte. Aber das schmale, nüchtern eingerichtete Zimmer war ihr verhaßt geworden. Sie hatte hier viel Ungutes erlebt, es war voll böser Erinnerungen.
Immer wieder mußte sie an die niederschmetternde Szene mit Oskar Wünning denken. Auch das Verhör durch zwei Herren der Kriminalpolizei, dem sie sich hatte unterziehen müssen, ging ihr nicht aus dem Kopf. Die Herren hatten Fragen gestellt, viele Fragen, und manche hatten sich mehr als einmal widerholt. Sie hatten sich sehr eifrig Notizen gemacht, waren höflich und sachlich gewesen – aber sie hatten sich mit keiner Silbe darüber geäußert, was sie selber von dem ganzen Fall dachten. Sie hatten Susanne Schäfer mit dem zermürbenden Gefühl zurückgelassen, einen Fehler gemacht zu haben, den sie selber unfähig war zu erkennen, oder einfach etwas Falsches, etwas Belastendes über ihr eigenes Ich ausgesagt zu haben.
Nein, Susanne Schäfer ertrug es nicht länger zwischen diesen engen, kahlen Wänden, sie fühlte sich eingesperrt wie in einer Gefängniszelle, und ahnte nicht, daß ihr durch den Krankenhausaufenthalt einiges erspart geblieben war.
Dr. Herzog hatte sie streng gegen alle unliebsamen Besucher abgeschirmt. Wäre Oskar Wünning ein zweites Mal gekommen, hätte er wohl nicht einmal mehr ihn zu der Patientin gelassen. Vor allem aber achtete er darauf, daß sie durch keinen Reporter belästigt wurde, und das war sehr nötig. Denn in den ersten Tagen nach dem tragischen Unfall waren Zeitungsleute aus aller Welt nach Bad Kreuzfeld gekommen. Sie hatten die Kinder der dritten Klasse befragt, die zufälligen Augenzeugen, und liebend gern hätten sie auch mit der jungen Lehrerin gesprochen.
Aber nun, da mehr als eine Woche verstrichen war, hatte sich das öffentliche Interesse anderen Sensationen zugewandt. Der ›Kindertod von Bad Kreuzfeld‹ machte keine Schlagzeilen mehr.
Dr. Herzog ahnte, was in Susanne Schäfer vorging. Er verstand auch, daß die ungewohnte Untätigkeit an ihren Nerven zerrte. Hier in der Klinik war sie geradezu gezwungen, immer wieder über alles, was ihr zugestoßen war, nachzugrübeln. Was sie brauchte, war Arbeit und Ablenkung.
So überwand er seine Bedenken und schrieb ihr den Entlassungsschein aus.
Der Abschied war kurz. Als er zur letzten Visite kam, erwartete Susanne Schäfer ihn schon fix und fertig angezogen – Frau Schmitt hatte ihr alles Notwendige schon bei ihrem ersten Besuch gebracht. Jetzt stand sie in einem schlicht geschnittenen schwarzen Kostüm vor dem jungen Arzt, das ihr blondes Haar noch heller als sonst leuchten ließ. Sie war ungeschminkt und immer noch sehr blaß; die klaren, grauen Augen waren das einzig Lebendige in ihrem sehr schmal gewordenen Gesicht.
Sie reichte dem Arzt freimütig die Hand. »Leben Sie wohl, Herr Doktor, und haben Sie Dank für alles!«
Er verzog das sympathische, aber durchaus nicht schöne Gesicht zu einer halb verlegenen, halb komischen Grimasse. »Sie brauchen sich nicht zu bedanken, Fräulein Schäfer. Es ist nun mal mein Beruf, den Menschen zu helfen.«
Darauf wußte Susanne Schäfer nichts zu sagen. Sie verabschiedete sich rasch von den Schwestern in Dr. Herzogs Begleitung, nahm ihren Campingbeutel auf.
Aber Dr. Herzog machte noch keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. »Haben Sie schon Pläne für ihre nächste Zukunft, also sagen wir mal, für die Ferien gemacht!«
»Noch nicht«, entgegnete sie ausweichend, »ich lasse alles an mich herankommen.«
»Kein schlechter Standpunkt.« Dr. Herzog strich sich das glatte, rasierte Kinn. »Aber tun Sie mir die Liebe und gehen Sie jetzt nicht zu Fuß in die Stadt. Nehmen Sie sich ein Taxi. Es ist irrsinnig heiß draußen. Ich möchte nicht, daß Sie sich einen Sonnenstich holen …«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Und gleich wieder zu Ihnen zurückgebracht werde? Nur keine Angst, Herr Doktor, ich kann eine Menge vertragen.«
»Trotzdem halte ich es für richtig, daß Schwester Gerda ein Taxi für Sie bestellt …«
»Ja, gut«, sagte Susanne Schäfer, »aber es genügt, wenn es in etwa zehn Minuten da ist. Ich möchte erst mal zu den beiden Kindern aus meiner Klasse, die mit dem Leben davon gekommen sind …« Als sie den merkwürdigen Ausdruck in Dr. Herzogs Augen bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Die beiden dürfen doch Besuche empfangen oder …?«
»Das schon«, sagte der Arzt mit spürbarem Zögern.
»Also dann …« Susanne wandte sich zum Gehen.
Mit zwei Schritten war Dr. Herzog bei der Tür, öffnete sie ihr. »Wenn es Ihnen recht ist«, sagte er, »möchte ich Sie begleiten!«
»Aber warum denn?« wehrte Susanne ab. »Ich kann doch sehr gut allein …«
»Wenn Sie darauf bestehen!«
»Ja, das tue ich«, erklärte sie mit Nachdruck, »ich habe mich lange genug verpimpeln lassen. Jetzt will ich endlich wieder auf eigenen Beinen stehen.«
Dr. Herzog sagte nichts mehr. Er öffnete Ihr die Türe ganz weit und sie ging hindurch und den langen Flur entlang, sehr aufrecht und mit festen Schritten, und es war ihr, als wenn jetzt und in diesem Augenblick ein neuer Abschnitt ihres Lebens für sie begänne.