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3.

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Als Susanne Schäfer erwachte, lag sie in einem schmalen Krankenzimmer. Sie sah den Bettisch, den Schrank, das Waschbecken, sah das Kreuz über der Tür und begriff nicht, wo sie war, noch wie sie hierher gekommen war.

Unsicher bewegte sie ihre Glieder unter der weiß bezogenen Decke. Ihr Kopf schmerzte, als wenn er von einem eisernen Ring zusammengepreßt würde. Sie hob die Hand, tastete an die Stirn – sie war nicht fieberheiß, wie sie erwartet hatte, sondern kühl, von leichtem Schweiß bedeckt.

Nein, sie war nicht krank. Aber dann – ein Unfall?

So jäh, daß es sie zurückwarf, war die Erinnerung wieder da: der Zebrastreifen, die Kinder, die zum jenseitigen Bürgersteig hinüber liefen, der Lastwagen, das Quietschen der Bremsen, die verrenkten, beschmutzten, blutenden kleinen Gestalten auf der Fahrbahn.

»Nein«, stöhnte Susanne Schäfer, »nein!« Sie schlug die Hände vor die Augen, als wenn sie so das Bild, das sich tief in ihrem Herzen eingeprägt hatte, auslöschen könnte.

Sie hatte Sehnsucht zu weinen, aber ihre Augen blieben trocken, und das Schluchzen, das sie schüttelte, brachte ihrem Leid keine Linderung.

»Nein, oh, nein!« stammelte sie immer wieder, warf sich zur Seite und barg ihr Gesicht in den Kissen.

Auch als sie hörte, daß die Tür aufging, leichte rasche Schritte sich näherten, brachte sie nicht die Kraft auf, sich umzudrehen.

Sie spürte warme, kräftige Hände auf ihren Schultern, hörte eine männliche Stimme, die ihr vertraut war, obwohl sie nicht wußte, woher sie sie kannte.

»Schaun Sie mich doch an, Fräulein Schäfer, bitte! Ich bin sehr froh, daß Sie aufgewacht sind … fühlen Sie sich besser?«

Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, sah das nicht schöne, aber ungemein sympathische Gesicht des jungen Arztes vor sich.

»Ich bin Dr. Herzog, Wendelin Herzog«, sagte er.

»Meine Kinder«, brachte sie mühsam hervor, »was ist mit meinen Kindern!?«

Er wich dieser Frage aus. »Daran sollten Sie gar nicht denken!«

»Aber ich muß, Herr Doktor … ich muß es wissen! Rosel, Petra, Clärchen … was ist mit ihnen?«

Und als der Arzt schwieg, schrie sie auf: »Sind sie tot?!«

Dr. Herzog setzte sich auf den Rand des Bettes. »Gott hat sie zu sich genommen«, sagte er, »er wird wissen, warum er es getan hat. Es war nicht Ihre Schuld, Fräulein Schäfer.«

»Alle?« fragte sie benommen. »Alle?«

»Zwei sind nur verletzt. Wir haben sie zusammenflicken können.«

»Die Eltern …« Susanne Schäfer richtete sich auf. »Man muß die Eltern benachrichtigen …«

Dr. Herzog legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. »Das ist längst geschehen.« Er drückte sie in die Kissen zurück. »Es ist ein Besuch für Sie da. Wenn Sie ihn sprechen möchten …«

»Oskar? Oskar Wünning?«

»Ja.« Dr. Herzog stand auf, gab der Schwester, die sich bisher unbemerkt im Hintergrund gehalten hatte, einen Wink, die Tür zu öffnen.

Ihr Verlobter trat ein.

Unwillkürlich streckte Susanne Schäfer beide Arme nach ihm aus, wie eine Ertrinkende, die auf Rettung hofft. Aber um seinen Mund lag ein fremder Zug, den sie noch nie an ihm gesehen hatte.

Susanne Schäfers Arme sanken, ohne daß es ihr selber bewußt wurde, kraftlos herab. In ihrem schneeweißen blutleeren Gesicht wirkten die grauen Augen übergroß und sehr dunkel.

»Guten Tag, Susanne!« Die Stimme Dr. Oskar Wünnings klang heiser, er räusperte sich. »Na, wie fühlst du dich?«

Sie sah ihn nur an, ihre Lippen bewegten sich, aber sie war außerstande, auf diese unangebrachte Frage zu antworten.

Der junge Arzt mischte sich ein. »Fräulein Schäfer hat einen schweren Schock erlitten«, erklärte er.

Oskar Wünning fuhr herum. »Das haben wir wohl alle!«

»Einen Schock im medizinischen Sinne«, erklärte Dr. Wendelin Herzog sehr beherrscht, »ich kann Ihnen nur wenige Minuten geben. Dr. Wünning, und, bitte, regen Sie die Patientin nicht auf.«

Von einer Sekunde zur anderen war eine feindselige Spannung zwischen den beiden Männern entstanden, für die sie selber keine Erklärung hätten geben können.

»Darf ich Sie bitten, mich mit Fräulein Schäfer allein zu lassen?« fragte der junge Rechtsanwalt eisig.

Dr. Herzog zögerte den Bruchteil einer Sekunde. »Wie Sie wünschen«, sagte er dann, verbeugte sich knapp, wandte sich ab. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Susanne Schäfer atmete tief durch. »Oskar …« sagte sie, erleichtert, daß ihre Stimme ihr wieder gehorchte, wenn sie auch immer noch recht zittrig klang.

Oskar Wünning sah sich um, zog den einfachen Stuhl heran, setzte sich. »So ein alberner Wichtigtuer!«

Susanne sah ihn an, zärtlich verfolgten ihre Augen jede Linie seines hübschen, ein wenig zu hübschen, jungenhaften Gesichtes. »Ich bin so froh, daß du gekommen bist, Oskar.«

»Das war doch selbstverständlich«, sagte er. Seine Finger bewegten sich ruhelos, tasteten die Knöpfe seiner Jacke ab, fuhren über die Taschen.

Jetzt, dachte Susanne, jetzt wird er die Verlobungsringe herausziehen! – Denn, so war es abgemacht, er hatte sie gerade an diesem Morgen besorgen sollen.

Aber Oskar Wünning tat nichts dergleichen. »Eine schreckliche Geschichte«, sagte er, ohne Susanne anzusehen, »mein Bruder und meine Schwägerin sind ganz außer sich …«

Eigentlich hatte sie etwas anderes von ihrem Verlobten erwartet. Trost, Ermutigung, Zuspruch. Aber sie zeigte ihre Enttäuschung nicht. »Ja, es ist entsetzlich«, sagte sie.

Oskar Wünning sah immer noch an ihr vorbei. »Wie konnte das bloß passieren?«

In Susanne Schäfers weißes Gesicht stieg eine jähe rote Welle. »Es war nicht meine Schuld, Oskar, du mußt mir glauben, ich …«

Er schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich weiß, Susanne. Ich wollte dir keinen Vorwurf machen.«

»Es war ein Verhängnis, Oskar.«

»Ja«, sagte er, »man hat den Fahrer gestellt. Fünfzig Meter hinter der Unfallstelle. Der Kerl muß betrunken gewesen sein oder von Sinnen.«

»Wenn ich die Kinder bloß durch den Park zurückgeführt hätte!« rief sie mit erstickter Stimme. »Wir hatten uns im Freibad verspätet, trotzdem … ich werde mir das nie verzeihen.«

Wieder fand er kein gutes Wort für sie. »Daß es ausgerechnet Rosel erwischen mußte …« sagte er nur. Er klemmte die Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger, zerrte daran.

»Sie war immer so lebhaft«, sagte Susanne.

Er ließ die Hand sinken, setzte sich kerzengerade auf, starrte sie an – es war das erste Mal, daß er ihr gerade in die Augen sah, seit er das Krankenzimmer betreten hatte. »Du willst doch wohl nicht etwa meiner Nichte die Schuld an dem Unglücksfall geben?«

»Aber nein, Oskar«, sagte sie erschrocken, »natürlich nicht, nur …« Sie stockte, wagte nicht, weiterzusprechen.

»Na, da bin ich dir aber immerhin noch sehr dankbar«, sagte er mit einem Sarkasmus, der ihr an ihm völlig ungewohnt war, »ich dachte schon …«

»Nein, nein! Die Kinder befanden sich ja auf dem Zebrastreifen, hatten den Bürgersteig schon fast erreicht! Wer konnte ahnen, daß …«

»Du, als Lehrerin«, sagte er, sehr langsam, jede Silbe betonend, »hättest eine solche Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen müssen!«

Susanne Schäfer zuckte zusammen, als wenn sie einen Schlag bekommen hätte, starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, die fast schwarz vor Erregung waren.

»Verzeih«, sagte er sofort, »verzeih, Liebling! Ich bin so durcheinander. Diese Aufregung … und diese Szene zuhause, du kannst dir das nicht vorstellen! Ich weiß selber schon nicht mehr, was ich rede.«

Sie glaubte ihm, weil sie ihm glauben wollte. »Ja, Oskar, ja … ich verstehe dich! Es ist … es ist alles so ungeheuerlich, daß man … man weiß einfach nicht, wie man sich dazu stellen soll.«

»Wir alle brauchen Zeit, um damit fertig zu werden.«

»Wann ist die Beerdigung?«

»Übermorgen«, sagte er.

»Bis dahin werde ich wieder auf sein.«

Er legte die glatte bräunliche Stirn in waagerechte Falten. »Du hast doch nicht etwa vor, zur Beerdigung zu kommen?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Warum denn nicht? Schließlich bin ich die Lehrerin …«

»Ja, schon«, gab er widerwillig zu.

» … und beinahe wäre ich Rosels Tante geworden!«

»Gerade deshalb solltest du nicht …« Er brach ab. »Mein Gott, Susanne, warum machst du es mir denn so schwer! Versuch doch zu begreifen!«

»Was?«

»Man würde in deinem Erscheinen eine Taktlosigkeit sehen.«

Ihre schmalen Hände verkrampften sich in das weiße Laken. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie mühsam.

»Sag lieber, du willst es nicht verstehen.«

»Nein, wirklich …«

»Deine Anwesenheit, Susanne, würde in allen … jedenfalls in den Eltern und den Familienmitgliedern der verunglückten Kinder … die schreckliche Wunde neu aufreißen!«

Sie begriff immer noch nicht, oder, besser gesagt, alles in ihr sträubte sich dagegen, zu begreifen. »Aber«, sagte sie mit zuckenden Lippen, »an meinen Anblick werden sie sich doch wohl oder übel wieder gewöhnen müssen! Niemand kann von mir erwarten, daß ich mich in Luft auflöse oder in den Erdboden verschwinde!«

»Das sollst du ja auch nicht. Nur … du mußt den Leuten Zeit lassen.« Er begleitete diese Erklärung mit fahrigen Handbewegungen. »Die großen Ferien beginnen in wenigen Tagen. Bis dahin kannst du dich weiter krank stellen. Und dann … na, dann verreist du einfach irgendwo hin. Bis zu Beginn des neuen Schuljahres ist ja vielleicht schon wieder Gras über die ganze Sache gewachsen.«

»Du willst mich los sein«, sagte sie tonlos.

Er verzog das Gesicht. »Unsinn! Ich versuche nur, dir zu helfen.«

»Indem du mich fortschickst!?«

»Es ist doch nur zu Deinem Besten, Liebling.«

Noch nie hatte ihr das Kosewort »Liebling« so verlogen geklungen wie in diesem Augenblick. »Mach mir doch nichts vor«, sagte sie hart, »ich bin dir völlig gleichgültig.«

»Susanne!«

»Sonst wäre es nicht möglich, daß du unsere Verlobung einfach unter den Tisch fallenlassen könntest!«

Er stand auf. »Du bringst es also tatsächlich fertig, in dieser Situation noch an eine Verlobungsfeier zu denken?«

»Ich will keine Feier«, sagte sie wild, »ich habe sie nie gewollt, und das weißt du ganz genau! Ich möchte nur wissen, ob das wahr war, was du mir gesagt hast … ob du mich liebst! Aber nein, es kann nicht wahr sein, denn sonst würdest du jetzt ja bedingungslos zu mir halten, gerade jetzt, und nicht versuchen, mich abzuschieben!«

»Solange du dich in diesem Zustand befindest«, erklärte er steif, »hat es wohl keinen Zweck, sich länger mit dir zu unterhalten!« Er versuchte, seinen Zügen Würde und Überlegenheit zu geben, aber er konnte das unruhige Flackern seiner Augen nicht unter Kontrolle bringen.

»Oskar!« rief sie.

»Bis bald, Susanne!« Er näherte sich der Türe.

Bis zur letzten Sekunde hatte sie sich an die Illusion geklammert, daß alles ein Irrtum sein müßte. Sie hatte gehofft, so heiß gehofft, daß er sie in die Arme reißen, ihre Zweifel ersticken, ihr seine Liebe versichern würde.

»Nein!« schrie sie außer sich. »Geh nicht!« Sie warf die Bettdecke ab, lief ihm nach – in einem knöchellangen gestreiften Krankenhausnachthemd, dessen Ärmel ihr über die Handgelenke rutschten.

Oskar Wünning hatte die Klinke schon in der Hand, jetzt aber blieb er unwillkürlich stehen, wandte sich zu ihr um.

Aber sie erreichte ihn nicht. Schon nach zwei Schritten taumelte sie, drehte sich um die eigene Achse und sank lautlos in sich zusammen.

Er wollte zuspringen, aber er reagierte zu langsam. Sie schlug zu Boden, ehe er sie erreichte.

»Susanne«, stammelte er entsetzt, »Liebling, Susanne …«

Er wurde beiseite gestoßen. Dr. Herzog hatte das Zimmer betreten, überschaute mit einem einzigen Blick die Situation, beugte sich über das ohnmächtige Mädchen. »Da haben Sie ja was Schönes angerichtet, Herr Rechtsanwalt«, sagte er grimmig.

»Ich wußte ja nicht … ich wollte nicht …«

Dr. Herzog beugte sich über Susanne, hob sie mit beiden Armen hoch, trug sie zum Bett, ließ sie sanft nieder. Dann wandte er sich zum Nachttisch, klingelte nach einer Schwester. Sein Blick fiel auf Dr. Oskar Wünning.

»Was machen Sie denn noch hier?« fragte er schroff. »Nein, erklären Sie mir nichts. Es ist besser, Sie verschwinden jetzt, bevor sie noch mehr Unheil anrichten.«

Und Dr. Oskar Wünning ging, er ging mit gesenktem Kopf und zusammengebissenen Zähnen. – ›Es ist überstanden‹, wiederholte er sich immer wieder, ›ich habe es geschafft.‹

Aber die Erleichterung, die er erwartet hatte, wollte sich nicht einstellen.

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