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Es war zehn Minuten vor zwölf, als Greta König die Sigmaringer Bank am Leopoldplatz betrat. Es war voller, als sie erwartet hatte. Aber sie reihte sich nicht in eine der kurzen Menschenschlangen vor den Schaltern ein, sondern blieb mitten im Kassenraum stehen. Sie war sicher, dass sie auf diese Weise rascher die Aufmerksamkeit der Angestellten auf sich ziehen würde, nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern weil sie die Frau eines sehr guten Kunden war. Hans-Philipp König gehörte zu den bedeutendsten Industriellen Baden-Württembergs.

Ihre Rechnung ging auf. Schon wenige Sekunden nach ihrem Eintritt hob ein junger Mann im Hintergrund, auf dessen braunen Schopf sie ihren Blick konzentriert hatte, den Kopf. Jürgen Haberls rundes Gesicht erstrahlte, als er sie erblickte, und er sprang auf.

Greta deutete mit ihrer linken Hand, in der anderen hielt sie ihre weiße Handtasche, nach unten, um ihm zu signalisieren, dass sie an ihren Safe wollte. Er eilte fort – um den Schlüssel zu holen, wie sie dachte – und kam wenig später mit dem Schlüsselbund und in Begleitung eines älteren Kollegen zurück. Er öffnete für sich und den anderen die Schranke.

»Guten Morgen, Frau König!« Er begrüßte sie mit einer leichten Verbeugung. »Darf ich Ihnen Herrn Großmann, unseren neuen Filialleiter, vorstellen?«

»Gnädige Frau!« Großmann beugte sich über die kräftige, gepflegte Hand, die sie ihm reichte.

Als er sich aufrichtete, war das beflissene Lächeln plötzlich wie weggewischt. Seine Pupillen weiteten sich in jähem Schreck.

Erst jetzt erkannte sie ihn wieder, aber sie hielt seinem Blick stand, ohne eine Miene zu verziehen. »Müsste ich mich nicht erst eintragen?« fragte sie.

»Das mache ich schon für Sie!« erbot sich Jürgen Haberl. »Sie brauchen nachher nur zu unterschreiben.«

»Danke.« Sie schenkte dem jungen Mann ein Lächeln.

»Ich begleite Frau König zum Tresor«, entschied Großmann und streckte seine Hand nach dem Schlüsselbund aus.

»Ja, natürlich. Wenn Sie es wünschen.« Jürgen war ein wenig verwirrt, gab aber die Schlüssel ab.

»Wenn Sie gestatten, gnädige Frau«, sagte Großmann etwas steif, »gehe ich voraus.«

Greta folgte ihm durch den schmalen, ihr wohl vertrauten Gang und die Kellertreppe hinunter. Während sie auf seinen breiten Rücken starrte, blieb ihr Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen und den Schock zu überwinden. Umständlich machte Großmann sich daran, die schwere Tür des Tresorraums zu öffnen. »Wir kennen uns«, sagte er, ohne sie anzusehen; es klang nicht wie eine Frage, sondern war eine Feststellung.

»Nein«, erklärte sie beherrscht.

Er gab nicht auf. »Berlin?«

»Ich habe zwar einige Jahre in Berlin studiert, aber es ist ausgeschlossen, dass unsere Wege sich je gekreuzt haben.«

Jetzt richtete er sich auf und sah sie an. »Sind Sie ganz sicher?« »Vollkommen.« Unwillkürlich sah sie auf den schmalen Goldreif an seiner rechten Hand, als er den Schlüsselbund abzog.

Er bemerkte ihren Blick. »Ich bin sehr glücklich verheiratet«, sagte er, als müsste er sich verteidigen.

Ihr Lächeln wirkte distanziert. »Wie schön für Sie! Ich übrigens auch.«

Er ließ die Tür für sie aufschwingen, und sie trat vor ihm in den Tresorraum, dessen Wände mit grauen Stahlkassetten ausgepanzert waren.

Sie machte zwei rasche Schritte auf ihren Safe zu. »Ich habe die Nummer dreihundertsiebzehn.« Sie nahm ihren eigenen Schlüsselbund aus der Handtasche.

Gleichzeitig steckten sie beide ihre Schlüssel in das Doppelschloss; die Safetür sprang auf.

»Wenn Sie mir den Kasten herausheben würden«, bat sie, »er ist ziemlich schwer.«

»Gerne.« Er stellte den Behälter auf einen Klapptisch.

»Ich brauche nur meinen Schmuck.« Sie nahm das rechteckige schwarze Lederetui heraus.

»Möchten Sie ein Zimmer?«

Sie zögerte, denn gewöhnlich nahm sie das, was sie wollte, heraus, während ihr Begleiter den Blick abzuwenden pflegte. Diesmal aber sagte sie: »Ja, bitte.« Es würde ihr gut tun, ein paar Minuten allein zu sein.

Er stellte den Behälter in den Safe zurück, und gemeinsam schlossen sie ab.

»Komisch«, sagte sie und brachte, während sie ihm offen in die Augen blickte, ein unbefangenes Lächeln zu Stande, »ich bin bisher in meinem Leben noch nie verwechselt worden. Ernsthaft, meine ich. Höchstens wenn jemand anbandeln wollte, Sie kennen das ja.« »Sie haben ein ziemlich unverwechselbares Gesicht.«

»Das habe ich bisher auch geglaubt. Aber wie wir feststellen mussten, war das ein Irrtum.«

Endlich ließ er sie in einem der kleinen, für die Kunden bestimmten unterirdischen Zimmer allein. Sie legte ihr Schmucketui vor sich auf den Tisch und nahm in einem der beiden, einander gegenüberstehenden Sessel Platz. Ihre Züge, vom Zwang des Lächelns erlöst, entspannten sich.

Hatte er ihr geglaubt? Zumindest konnte er sich seiner Sache nicht mehr sicher sein. Vielleicht hatte sie zu dick aufgetragen. Aber das war nicht wichtig. Es war unbedingt richtig gewesen zuzugeben, dass sie einige Jahre in Berlin gelebt hatte. Wenn er nachgeforscht oder es durch einen Zufall herausbekommen hätte, wäre das ein Beweis gegen sie gewesen.

Auf alle Fälle konnte er nichts unternehmen, ohne sich selber zu schaden, und das musste er wissen. Er war in seiner Stellung zu exponiert, und er würde auch seine Ehe nicht gefährden wollen. Nein, von Großmann drohte ihr nichts.

Und doch – sie war so sicher gewesen, ihre Vergangenheit abgestreift zu haben, hier in der Ruhe dieser fleißigen kleinen Stadt, in der Geborgenheit ihrer Ehe mit einem starken, tüchtigen Mann, im Schutz ihres Heims, das tatsächlich eine Burg war.

Oder machte sie sich nur etwas vor? Ja, das tat sie. Greta gestand sich ein, dass sie sich immer der Gefahr der Entdeckung bewusst geblieben war. Ein winziger Rest von Angst war stets geblieben. Damit musste sie leben, und sie konnte es. Vielleicht war es gerade diese Angst, von einem Tag zum anderen alles wieder zu verlieren, die sie ihr Dasein so genießen ließ.

Sie holte den Spiegel aus ihrer Handtasche und begutachtete aufmerksam ihr schönes Gesicht. Sie hatte ihre hellen Wimpern grau getuscht, um den großen Augen mit den fast grasgrünen Iris noch mehr Ausdruck zu geben, als sie ohnehin schon hatten, den vollen, etwas zu großen Mund nur sanft getönt. Um den Kopf hatte sie ein grünseidenes Tuch geschlungen, da sie ihr Haar heute waschen wollte und keine Lust gehabt hatte, sich zu frisieren. Dadurch wirkten ihre breiten Jochbögen noch markanter.

Ja, vielleicht war dieses Kopftuch ein Fehler gewesen. Entschlossen nahm sie es ab, faltete es sorgfältig zusammen und ließ es in ihre Tasche gleiten. Sie fuhr sich mit dem Kamm durch das sehr helle, blonde Haar und frisierte sich, so gut es ging. Sofort sah sie verändert aus, sehr viel weicher, lieblicher. Wenn Großmann sie so sah, würde er bestimmt glauben, sich geirrt zu haben.

Sie telefonierte in den Kassenraum hinauf, um mitzuteilen, dass sie fertig war. Dann nahm sie zwei mit Brillanten gefasste Smaragdohrringe aus dem Etui und einen dazu passenden Anhänger. Sie ließ den Schmuck in ein Wildledertäschchen gleiten, das sie zu diesem Zweck mitgebracht hatte.

Sie schloss das Etui und stand auf. Aber es war nicht Großmann, der kam, um sie abzuholen, sondern Jürgen Haberl. Ihm konnte sie ein Lächeln schenken, das ihr keine Mühe kostete.

Nachdem Greta König und Jürgen Haberl im Tresorraum fertig waren, und er die schwere Tür wieder verschlossen hatte, gingen sie die Treppe hinauf und durch den schmalen Gang zurück. Sie blieben nebeneinander stehen; sie waren beide so schlank, dass sie sich nicht behinderten.

»Hoffentlich habe ich Sie nicht zu lange aufgehalten«, entschuldigte sich Greta.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Die paar Minuten. Das macht doch nichts.« Bewundernd fügte er hinzu: »Auf Sie würde ich Stunden warten!«

Sie lachte. »Das haben Sie nett gesagt!«

Er begriff, dass er zu weit gegangen war und wechselte rasch das Thema. »Haben wir nicht ein wunderbares Wetter?«

»Ja, wirklich, wunderbar.«

»Bei Ihnen draußen muss es noch schöner sein als in der Stadt.«

»Da haben Sie recht. Wir konnten auch schon den Tennisplatz aufmachen.«

»Beneidenswert!«

Greta blieb stehen und sah ihn aufmerksam an. Er wirkte jung und anständig, so eifrig und bemüht und mochte kaum älter als zwanzig sein. Sie wünschte, er würde sich mit Aline befreunden. »Warum kommen Sie nicht einfach mal zu uns raus?« fragte sie.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Warum nicht? Rufen Sie an, wenn Sie Lust haben. Bringen Sie auch ruhig einen Freund mit.« Nach leichtem Zögern fügte sie hinzu: »Oder eine Freundin.«

»Das werde ich tun«, versprach er.

Es war nicht ganz ersichtlich, auf was sich diese Zusage bezog. Aber Greta wollte nicht nachfragen. Sie hoffte, dass er klug genug war, die richtige Entscheidung zu treffen.

Der Kassenraum hatte sich inzwischen völlig geleert. Sie unterschrieb das Protokoll: den Tag und die Uhrzeit, zu der sie sich den Safe hatte öffnen lassen.

»Moment«, sagte Jürgen, »ich muss noch Herrn Großmann Bescheid sagen, damit er uns hinauslässt.«

Er verschwand mit dem Schlüsselbund in einem der Büros und kam gleich darauf in Begleitung des Filialleiters zurück.

Greta sah ihnen gelassen entgegen. »Habe ich Sie etwa auch aufgehalten, Herr Großmann?« fragte sie.

»Aber nein. Ich hatte sowieso noch etwas zu tun.«

»Ich bin erleichtert, das zu hören. Trotzdem werde ich in Zukunft zu einer passenderen Zeit in die Bank kommen.«

»Das brauchen Sie nicht, gnädige Frau. Wir stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung.« Großmann hatte die Hintertür aufgeschlossen, die zu den Parkplätzen führte und ließ Greta und Jürgen Haberl hinaus. »Da übertreiben Sie wohl doch ein bisschen«, sagte sie mit gespielter Sorglosigkeit.

Jürgen verabschiedete sich und schwang sich auf sein Fahrrad.

Greta spürte den starken Wunsch, so schnell wie möglich fortzukommen. Aber sie gab ihm nicht nach, sondern blieb neben Großmann stehen und wartete, bis er von außen abgeschlossen hatte.

Er drehte sich zu ihr um und sah sie an; ihre Haltung und ihr verändertes Aussehen verunsicherten ihn. »Ich glaube, ich habe mich vorhin sehr dumm benommen«, sagte er.

»Ach was! Ich fand’s ganz lustig.« Sie zuckte die Achseln. »Man erlebt hier ja so wenig.«

»Erzählen Sie es niemandem!« bat er spontan.

»Aber warum denn nicht?«

»Ich muss wie das verkörperte schlechte Gewissen gewirkt haben.« »Machen Sie sich nichts draus. Es spricht für Sie, dass Sie ein Gewissen haben. Aber, na gut …« Sie reichte ihm die Hand. »… ich werde schweigen wie ein Grab.«

Er zögerte, sich zu verabschieden. »Kann ich Sie irgendwohin bringen?«

»Sehr nett von Ihnen, aber nicht nötig. Ich bin mit dem Wagen hier.« Außer Großmanns Auto stand nur noch der Kombi der Burg auf dem Parkplatz, und sie merkte, dass er sich darüber wunderte. »Ich hatte größere Einkäufe zu machen, deshalb bin ich mit dem Kombi in die Stadt gefahren. Diese Einkäufe waren übrigens auch der Grund, warum ich so spät gekommen bin.«

»Ich verstehe.«

Jetzt fand sie es an der Zeit, die kleine Szene zu beenden. »Also bis dann, Herr Großmann«, sagte sie, »auf Wiedersehen.« Sie wandte sich ab, ging aber nicht auf den Kombi zu, sondern entschlossenen Schritts auf die Straße. Sie wollte noch nicht nach Hause fahren, sondern hatte vor, Aline aus der Schule abzuholen. Aber darüber hatte sie Herrn Großmann keine Erklärung abgeben wollen, weil es ihn nichts anging.

Als er an ihr vorbeifuhr, hupte er leicht, und sie hob die Hand zum Gruß. Sie lächelte in sich hinein. Für diesmal war die Gefahr gewiss gebannt.

Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie fest, dass ihr noch eine gute Stunde Zeit bis zum Unterrichtsschluss blieb. Sie hätte einen Spaziergang in der Stadt unter dem mächtigen Hohenzollernschloss machen können. Das Frühsommerwetter verlockte dazu. Aber die Geschäfte waren schon geschlossen, und sie fand einen Schaufensterbummel hier sehr wenig ergiebig. Kleidung und Accessoires pflegte sie in Stuttgart einzukaufen.

Also entschloss sie sich, die »Konditorei Maucher« aufzusuchen. Die Bedienung erkannte sie sofort und begrüßte sic mit Namen. Es duftete nach frisch gebackenem Hefekuchen, aber Greta beschränkte sich darauf, ein Kännchen Kaffee und eine Flasche Wasser zu bestellen.

Während sie wartete, dachte sie darüber nach, wie anders hier in Sigmaringen doch alles war als in den Großstädten, in denen sie früher gelebt hatte. Es schien keine Anonymität zu geben. Sicher würde die Bedienung darüber reden, dass ihr Haar nicht so gepflegt wie üblich war. Dabei war sie, davon abgesehen, wie aus dem Ei gepellt in ihrer makellosen weißen Leinenhose und der langärmeligen grünen Seidenbluse. Sie nahm den grauen Kaschmirpullover ab, den sie sich über die Schultern geworfen hatte und legte ihn auf den Stuhl neben sich.

Ja, es war wirklich alles ganz anders. Inge Kramer – ihr Mann war der Kompagnon Hans-Philipp Königs – hatte ihr erzählt, dass es hier noch Leute gab, die Spiegel hinter den Fenstern hatten, durch die sie alles beobachten konnten, was auf der Straße vorging, ohne selber gesehen zu werden, sogenannte Spione. Sie hatte es nicht recht glauben können und wusste immer noch nicht, was sie davon halten sollte. Wenn ein Mädchen einen Auswärtigen heiraten wollte, hatte Inge behauptet, würden die Freundinnen der Mutter Geld sammeln, damit eine von ihnen in seine Heimat fahren und sich nach seinen finanziellen Verhältnissen und seinem Leumund erkundigen konnte. Seltsame Geschichten. Vielleicht war Sigmaringen wirklich nicht die richtige Stadt für eine Frau mit Vergangenheit.

Sie hatte das von Anfang an gewusst. Aber sie hatte nur die Wahl gehabt, Philipps Heiratsantrag abzulehnen oder ihm hierher zu folgen. Um einen Schlussstrich zu ziehen, war es damals aber schon zu spät gewesen, denn sie liebte ihn.

Das Geheimnis der Greta K.

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