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Fast gleichzeitig mit dem Klingelzeichen, das den Schluss des Unterrichts verkündete, brandete der Lärm junger Stimmen im »Hohenzollern-Gymnasium« auf. Bald darauf stürmten die ersten Jungen und Mädchen aus dem Backsteinbau, gefolgt von einem ganzen Pulk sich schiebender, lachender, Schultaschen und Beutel schwenkender Jugendlicher, die sich in Gruppen und Grüppchen aufteilten.

Es war Susanne, die den Kombi auf der Fahrbahn gegenüber der Schule als Erste entdeckte.

Sie war ein großes, robustes Mädchen, und der Stoß mit dem Ellenbogen, mit dem sie Aline darauf aufmerksam machen wollte, fiel kräftiger aus, als sie gewollt hatte. »Guck mal! Deine Mutter!«

»Aua!« Aline, sehr viel zarter und schmaler, eine Fünfzehnjährige, schwarzhaarig und dunkelhäutig, rieb sich die Rippen. »Sie ist nicht meine Mutter! Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Sie ist die Frau deines Vaters, das kommt aufs selbe raus«, erwiderte Susanne ungerührt.

»Überhaupt nicht! Sie ist nicht mal mit mir verwandt.«

»Was hast du gegen sie? Sie ist doch so nett zu dir.«

»Ach was, sie will sich nur einschmeicheln.«

»Warum sollte sie? Du könntest ihr doch auch ganz egal sein.«

»Ich mag sie nicht«, entgegnete Aline ohne jede Logik.

»Dumm genug. Ich wäre jedenfalls froh, wenn ich so eine Mutter hätte.«

Aline dachte an die ausgemergelte, zähe, streitsüchtige Frau, die Susanne zur Mutter hatte und hätte beinahe gesagt: ›Das kann ich mir vorstellen.‹ Aber sie verkniff sich diese Bemerkung, weil es nicht ihre Art war, jemanden willkürlich zu kränken.

Susanne war ihr schon vorausgeeilt.

Sie beugte sich in das herabgekurbelte Fenster des Kombi und rief: »Guten Tag, Frau König! Können Sie uns mitnehmen?«

»Natürlich, Susanne, deshalb warte ich ja hier.«

»Das ist aber nett von Ihnen!«

Die Fahrt mit dem Bus nach Untersalm, dem Dorf, das der Burg am nächsten lag, dauerte fast eine Stunde. Mit dem Auto brauchte man nur zwanzig Minuten.

»Wo steckt Aline?«

»Kommt gleich. Sie wissen ja, bei der dauert alles immer ein bisschen länger.« Greta hätte fast gesagt, dass sie kritische Bemerkungen über ihre Stieftochter nicht schätzte. Sie unterließ es, weil sie wusste, dass Susanne es nicht böse gemeint hatte und auch der Wahrheit recht nahe gekommen war. Aline war eine Träumerin und schien mit den Gedanken oft nicht bei der Sache.

Endlich kam sie angetrabt, und Greta stellte wieder einmal fest, dass ihre Entwicklung, zumindest körperlich, hinter ihrer Altersklasse zurücklag. Ihre Brustwarzen wurden zwar keck von einem engen rosa T-Shirt betont, aber von weiblichen Rundungen war noch kaum eine Spur vorhanden. Dadurch wirkte ihr ganz normaler Popo unpropor tioniert groß. Doch das, davon war Greta überzeugt, würde sich auswachsen, und eines Tages würde Aline ein sehr schönes Mädchen sein. Vielleicht, so hoffte sie, würde sie dann besser mit ihr auskommen können.

Im Moment mochte sich Aline jedenfalls nicht einmal ein Lächeln abringen; ihre Begrüßungsworte waren aber nicht mehr als ein Gemurmel.

»Steigt ein!« forderte Greta die Mädchen auf. »Eure Schultaschen stellt ihr am besten hinter die Sitze.« Sie lachte auf. »Wozu sage ich euch das? Ihr kennt euch ja aus.«

Die Mädchen kletterten nacheinander auf den Vordersitz. Greta griff über sie hinweg, schloss mit Schwung die Autotür und drückte den Sicherungsknopf, damit sie während der Fahrt nicht aufgehen konnte. Dann startete sie den Kombi und fuhr vorsichtig im Schritttempo an, um keines der immer noch aus der Schule strömenden Kinder zu gefährden.

»Ist es nicht toll, dass deine Mutter auf uns gewartet hat?« rief Susanne munter und gab Aline wieder einen ihrer gewohnheitsmäßigen Stöße mit dem Ellenbogen.

»Lass das!« sagte Aline mürrisch. »Du machst mir ja blaue Flecken.« Susanne lachte. »Die sieht niemand! Oder hast du vor, Striptease zu machen?«

»Sehr witzig!«

»Wenn ich in der Stadt zu tun habe«, erklärte Greta, »hole ich euch doch immer ab.«

»Das finde ich ja gerade das Tolle! Die Geschäfte sind doch längst geschlossen. Sie müssen richtiggehend auf uns gewartet haben.« »Stimmt.«

»Wie lange?«

»Eine knappe Stunde.«

»Was sagst du dazu, Aline?«

Susanne wollte wieder mit dem Ellenbogen zustoßen, aber diesmal war Aline schneller und wehrte ab.

»Bitte, rangelt euch nicht«, bat Greta, »wenigstens nicht solange ihr mit mir im Auto sitzt. Es ist ohnehin eng genug.«

»Entschuldigen Sie, bitte!« sagte Susanne sofort reuevoll. »Aber warum kriegt Aline es nicht in ihren sturen Kopf, dass es echt toll von Ihnen ist, auf uns zu warten?«

»So toll nun auch wieder nicht«, schwächte Greta ab, »ich habe inzwischen Kaffee getrunken.«

»Ich hätte genauso gut mit dem Bus fahren können«, behauptete Aline.

»Falsch!« widersprach Susanne. »Wir hätten zwar mit dem Bus fahren können, aber bestimmt nicht genauso gut. Der hält doch an jeder Ecke.«

Greta bog rechts von der Hohenzollernstraße ab und fuhr weiter in Richtung Sigmaringen-Laiz.«Sprechen wir zur Abwechslug von etwas anderem!« schlug sie vor. »Wie war es in der Schule?«

»Ach, wie immer.« Greta lachte. »Dir hätte ich eine gescheitere Antwort zugetraut, Susanne!«

»Aber über die Schule gibt es wirklich nichts zu erzählen. Immer der gleiche Krampf.«

Greta warf einen raschen Blick über Susanne hinweg. »Bist du der gleichen Meinung, Aline?«

»Ich weiß nicht.«

»Aber das musst du doch wissen!« rief Susanne.

»Die Schule ist mir egal. Ich habe noch nie darüber nachgedacht.« »Ausgerechnet du! Mit deinen tollen Noten!«

»Nun halt mir bloß nicht wieder vor, dass ich eine Streberin wäre!« »Habe ich das?«

»Was kann ich dafür, dass ich das alles ganz einfach finde?«

»Dein Vater und ich«, sagte Greta, »sind jedenfalls sehr stolz, dass du so gut in der Schule bist.«

»Ich lerne nicht euretwegen.«

»Das ist auch ganz richtig so«, erwiderte Greta, Alines Aufsässigkeit freundlich übergehend, »ihr solltet auch nicht für die Noten lernen, sondern um des Lernens willen, für euch selber.«

»Puh, wenn ich das schon höre! Was habe ich davon, wenn ich weiß, was eine Hyperbel ist? Oder was Bert Brecht sich dabei gedacht hat, als er seine olle ›Mutter Courage‹ geschrieben hat?« Susanne unterbrach sich. »Entschuldigen Sie, Frau König, ich wollte nicht frech werden. Aber es regt mich einfach auf, wenn ich das höre, ›Lernen um des Lernens willen.«

»Du bist im Unrecht. Man braucht ein gutes Grundwissen für den späteren Beruf.«

»Aber wer sagt denn, dass ich berufstätig werden will? Die meisten Mädchen heiraten ja doch.«

»Auch dann ist eine Allgemeinbildung sehr nützlich.«

»Was haben Sie selber denn gelernt?«

Diesmal war es Aline, die einen Rippenstoß austeilte.

»Au!« schrie Susanne. »Man wird doch noch fragen dürfen!« Dann fügte sie, etwas kleinlauter, hinzu: »Oder etwa nicht? Ich habe es nicht frech gemeint. Es interessiert mich einfach.«

»Ich habe mein Abitur gemacht«, erklärte Greta gelassen, »und danach Betriebswirtschaft studiert, nebenbei Informatik, und zusätzlich Schreibmaschine und Steno gelernt.«

»Toll!« Susanne war tief beeindruckt, aber nach einer Weile fragte sie: »Und was haben Sie jetzt davon? Ich meine, jetzt sind Sie doch auch verheiratet?«

Greta lachte. »Ohne diese Vorbildung hätte ich meinen Mann gar nicht kennen gelernt, und selbst wenn, hätte er mich wahrscheinlich nicht zur Frau genommen.«

»Sie meinen, er hat Sie bloß geheiratet, weil Sie eine Menge Zeugs gelernt haben?«

»Weil ich durch ›diese Menge Zeugs«, wie du es nennst, das geworden bin, was ich bin.«

»Hm, hm«, sagte Susanne, wenig überzeugt.

»Du weißt, wir haben oft Gäste, auch Ausländer, Geschäftsfreunde meines Mannes. Die muss ich unterhalten, und das kann ich nur dank meiner Kenntnisse. Wenn dabei auch nicht gerade über Hyperbeln und selten über Brecht gesprochen wird, dann aber doch über ziemlich viel mehr als das Wetter und andere Banalitäten.« »Zugegeben. Aber einen Mann wie Herrn König würde ich ja doch nicht kriegen, und außerdem wäre er mir viel zu alt.«

»Oh, du mein Gott!« stöhnte Aline in gelangweiltem, fast angeekeltem Ton.

Greta lachte. »Susanne, du bist wirklich noch ein richtiger Kindskopf. In ein paar Jahren unterhalten wir uns mal über dieses Thema, ja?«

Sie hatten inzwischen Laiz hinter sich gelassen und fuhren durch eine schöne, sehr grüne Landschaft oberhalb der jungen Donau, die immer wieder von jäh aufsteigenden grauen Felsen unterbrochen wurde. Noch bevor sie das Dorf erreichten, tauchte die Burg Salm vor ihnen auf. Aus der Ferne wirkte der mächtige Bau wie ein Spielzeug mit seiner vergoldeten Wetterfahne, die in der Sonne funkelte. Das Dorf Untersalm war früher nicht mehr als ein Weiler aus fünf Gehöften gewesen.

Nach dem letzten Krieg war eine Siedlung aus weißen, spitzgiebeligen, rot bedachten Häusern dazugekommen, die zumeist von Leuten bewohnt wurden, die in Sigmaringen arbeiteten. Zu ihnen gehörten auch Susannes Eltern, ihr Vater war Postbeamter, und sie war das mittlere von fünf Kindern.

Greta bremste den Kombi an der Bushaltestelle und löste den Sicherheitsknopf, Aline stieg als Erste aus.

»Nochmals schönen Dank fürs Mitnehmen«, sagte Susanne munter, angelte nach ihrer Schultasche und sprang auf die Straße.

Einen Augenblick standen sich die beiden Mädchen etwas unschlüssig gegenüber. Aline überlegte, ob sie Susanne Vorschlägen sollte, sie am Nachmittag zu besuchen, unterließ es aber, weil sie eine Abfuhr befürchtete. Susanne war meist sehr beschäftigt. Sie wurde von der Mutter zur Hausarbeit eingespannt und hatte ihre Geschwister, mit denen sie sich unterhalten konnte.

Susanne hätte Aline gerne besucht, aber obwohl sie sich das selbst nicht zugeben mochte, pflegte die Burg mit ihrer Pracht sie einzuschüchtern. So unbekümmert sie auch gewöhnlich war, und so munter sie mit Greta zu diskutieren wagte, in dem ›alten Gemäuer‹, wie sie die Burg immer insgeheim nannte, verschlug es ihr buchstäblich die Sprache. Sie kam sich dort unbeholfen vor.

So kam es, dass beide Mädchen fast gleichzeitig nichts weiter mehr sagten als: »Also dann bis morgen!«

Susanne winkte Greta noch einmal, dann marschierte sie auf das Dorf zu.

Das Geheimnis der Greta K.

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