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2 Das Vermögen des Branntweiners Simon Marmorek Seewalchen, öffentliches Strandbad

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Ein Branntweiner aus Tarnopol besitzt neun Zinshäuser in Wien, hat zwölf Kinder und wohnt selbst in der Wiener Leopoldstadt, Springergasse 12. Da scheint vieles auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen. Simon Marmorek, den seine Todesanzeige in der Neuen Freien Presse als Holz- und Kohlenhändler und Liqueur-Fabrikant ausweist, stirbt am 30. Juni 1900 in Bad Vöslau und hinterlässt ein gigantisches Vermögen. Es handelt sich um eine klassische »jüdische« Erfolgsgeschichte, wie es sie im 19. Jahrhundert in der österreichisch-ungarischen Monarchie häufig gibt. Doch zumindest in einem Punkt ist dies nicht der Fall: Der übliche Lebensweg eines Aufsteigers, der sich in Wien etabliert, zeichnet sich auch am Wechsel des Wohnortes ab: Von der Leopoldstadt geht es meist in den neunten Bezirk und danach in die Innenstadt – kaum jemand, der zu Geld kommt, bleibt im zweiten Bezirk.

Nicht jedoch Simon Marmorek. Er hält dem zweiten Bezirk die Treue und bringt sein Familienhaus in einen Fonds ein, der allen Familienmitgliedern gleichermaßen zugutekommt und zehn Prozent der Erträge für wohltätige Zwecke widmet. »Im Namen Gottes, der mich und meine ganze Familie bisher gesegnet, beschützt, mit Wohltaten überhäuft hat, soll auch mein gesamt Vermögen an meine geliebten Kinder verteilt werden. Möge auch Euch Gottes Segen in allem, was Ihr tun und beginnen werdet, zu Teil werden, glaubt an Euren väterlichen Gott, seid dankbar jedem, der Euch Gutes getan hat, und seid bescheiden. Mit aufgehobenen Händen segne ich Euch, meine lieben Kinder und wünsche, dass Ihr friedlich in aufrichtiger Treue und Liebe miteinander leben sollt, meine bestehenden Unternehmungen weiterfortzuführen.« So schreibt er in seinem Testament ein Jahr vor seinem Tod.

Am 9. Juli 1922 erwirbt Simons Tochter Elsa, die Cousine des Architekten Oskar Marmorek (siehe Kapitel 10 und 28), mit ihrem Erbteil ein Haus mit großem Garten in Seewalchen. Ein halbes Jahr später lässt sie sich von ihrem Mann Leopold Andorff scheiden. Gemeinsam mit ihrem zweiten Mann Peter Westen und ihren Kindern Heinrich, einem Rechtsanwalt, und Hildegard, die 1929 den Fabrikanten Otto Schratter heiratet, macht sie ihr Anwesen zu einem fröhlichen und mondänen Zentrum der Seewalchener Sommerfrischegesellschaft.


Sommer bei Familie Andorff-Westen: Marlen Fischer und Marianne »Nandi« Hergesell, verehelichte Schwaighofer, auf der Terrasse des Seepavillons

1924 lässt sie ein neues Haus, die sogenannte Waldvilla, bauen, den Auftrag erhält jedoch nicht ihr Cousin Oskar Marmorek, sondern Architekt Josef Zotti, der in Seewalchen auch für sich selbst ein Haus errichtet hat. Zotti, ein Schüler Josef Hoffmanns, ist heute völlig in Vergessenheit geraten, seine Bauten in Seewalchen existieren nicht mehr.

Das angrenzende Grundstück samt Badehütte und dazugehörigen Rechten kauft am 14. April 1924 die Internationale Industrie und Handels A. G. mit Sitz in Vaduz. Dahinter verbirgt sich bereits der zukünftige Ehemann Peter Westen, ein Großindustrieller, dessen Reputation nicht ganz makellos ist und dem Geschäfte nachgesagt werden, die in den 1920er-Jahren zwar vielleicht üblich, aber nicht immer ganz sauber sein dürften. Ob dies zutrifft oder nicht, bleibt offen – im Jahr 1931 verkauft die Aktiengesellschaft, vertreten durch ihren Präsidenten Peter Westen, das Grundstück jedenfalls an Elsa Andorff weiter. Hier entsteht ein neues Boots- und Badehaus – mehr eine prächtige Seevilla, die mit einer Küche, »einer Liegeterrasse und Verbindungsstiegen mit Balkons« ausgestattet ist, wie in einem Schätzgutachten vom 5. September 1941 zu lesen ist.


Innen und außen: Die sogenannte Waldvilla Andorff-Westen von Josef Zotti, 1928

Die beiden Grundstücke werden zusammengelegt – eine perfekte Ergänzung, denn die Erlaubnis, eine neue Badehütte zu errichten, ist nicht so leicht zu bekommen. Ein wunderbares Geschäft also, das auch in eine Ehe mündet.


Mehr als eine Badehütte: der Seepavillon, zu Recht auch Seevilla genannt

Peter Westen ist auch an der Aktiengesellschaft der Schroth’schen Kuranstalt in Nieder-Lindewiese beteiligt. Der Ort mit diesem idyllisch klingenden Namen liegt in Böhmen an der tschechischpolnischen Grenze und zählt zu den bekanntesten Kurorten der Habsburgermonarchie, vor allem wegen der von Johann Schroth entwickelten Kaltwasserkur. Die sogenannte »Schroth-Kur« wird bis heute als Entschlackungs- und Entgiftungskur angeboten – ein Erfolgsrezept.

1938 nimmt die Idylle am Attersee ein abruptes Ende. Am 3. September 1938 landet Elsa Andorff-Westen, von Kuba kommend, auf dem Flughafen von Miami/Florida – in ihrem Ankunftsschein finden sich neben dem Ausgangspunkt ihrer Reise weitere Angaben: Ihre Größe beträgt 1,63 Meter, sie ist blond und blauäugig. Als Beruf gibt sie »Direktor eines Sanatoriums« an – das entspricht den Tatsachen, ist sie doch Vizepräsidentin der Schroth’schen Kuranstalt in Böhmen.

»Nach einer Meldung der Kreisleitung der NSDAP Vöcklabruck besitzt eine Jüdin namens Westen-Andorf[,] die angeblich amerikanische Staatsbürgerin ist, in Seewalchen 134 eine Seevilla und eine Waldvilla in Seewalchen 132.« Das schreibt der Gauwirtschaftsberater am 26. Jänner 1939 an die Vermögensverkehrsstelle mit der Bitte, dem angeblichen Veräußerungswunsch von Elsa Andorff-Westen nachzugehen. Da aber alles seine Ordnung haben muss, versuchen die Behörden herauszufinden, welche Staatsbürgerschaft Elsa tatsächlich besitzt, und kontaktieren daher ihren Anwalt Dr. Franz Balling in Wien. Dieser lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und teilt mit, dass auch er dies nicht beantworten könne. Er schlägt jedoch vor: »Im übrigen stelle ich Ihnen anheim, sich auch direkt mit Frau Andorff in Verbindung zu setzen[,] und gebe Ihnen zu diesem Zwecke nachstehend deren Adresse bekannt: Amherst, Great Neck, Long Island, New York.« Die Behörden vertrauen auf diesen direkten Weg aber weniger als auf den ihnen näherliegenden, denn »vielleicht könnte eher der Hausmeister der Genannten, Herr Lothar Werner deren Staatsbürgerschaft erheben.« Wieso der Hausmeister mehr Erfolg haben soll als eine direkte Kontaktaufnahme, bleibt offen. Die Sache gerät ins Stocken, Dr. Balling beauftragt die Hausverwaltung Franz Schröpfer mit der Betreuung der Liegenschaft. Diese gibt 1941 über deren aktuelle Nutzung Auskunft und teilt mit, dass das Seehaus der Dienststelle der Feldpolizei Nummer L 30.763, Luftgaupostamt, zur Verfügung gestellt ist und im Waldhaus »Umsiedler aus Südtirol, und zwar ein Ehepaar mit 2 Kindern«14 wohnen.

»Ich habe viele Kauflustige für das Waldhaus, bis jetzt jedoch unterlassen, in ernste Kaufverhandlungen einzutreten, weil ich noch nicht sicher bin, wer den Kaufvertrag für die Verkäuferin – Elsa Sara Andorff-Westen – fertigen wird, damit dieser auch vom Grundbuchsgerichte anstandslos genehmigt wird«15, schreibt Franz Schröpfer. Tatsächlich lässt die unklare rechtliche Lage zwar viele »Kauflustige« diverse Eingaben bei den Ämtern machen, doch eine Entscheidung fällt niemand. Es geht sogar so weit, dass das Reichsinnenministerium eingreift – und das alles wegen einer vergleichsweise unbedeutenden Liegenschaft in Seewalchen.

Dass der Gesamtzustand der Seevilla immer mehr zu wünschen übrig lässt, verwundert nicht, das Haus hat »durch Witterungseinflüsse und Seewasser sehr gelitten.« Niemand will entscheiden, niemand kann entscheiden, und so wird die Liegenschaft nicht verkauft. 1942 wird immerhin ein Inventar der Waldvilla angelegt – das gesamte Mobiliar ist noch vorhanden, »ich habe nur die Wäsche, Bettzeug, Matratzen, Silberzeug und Teppiche sichergestellt und in 2 Zimmern im Hause Seewalchen Nr. 132 versperrt. Weiters habe ich auch eine wertvolle Bauernstubeneinrichtung sichergestellt«, berichtet der Bürgermeister dem Reichsstatthalter für Oberdonau. Zwei Inventarlisten existieren, eine für die versperrten Gegenstände, die andere für die zugänglichen. Zweitere gibt ein karges Bild einer Sommervillen-Einrichtung mit einigen Schlafzimmern, ausgestattet mit den notwendigen Möbeln und Waschtischen, die wesentlich schöneren Dinge sind tatsächlich versperrt und der einquartierten Familie nicht zugänglich. Dazu zählt alles, was ein Haus wohnlich und komfortabel macht, wie Tischtücher und Servietten oder Handtücher, deren Monogramme Elsas unterschiedliche Lebenssituationen dokumentieren: E. M. für ihren Mädchennamen Elsa Marmorek, E. A. für Elsa Andorff, E. W. für Elsa Westen und E. A. W. für Elsa Andorff-Westen – ein schöner Einblick in die Traditionen eines bürgerlichen Haushaltes. Dazu kommen »rumänisch gestickte« Tischtücher, was wohl bunt bestickt bedeutet, Deckerln und Bettdecken und Draperien. Geschnitzte Sessel, diverse Möbel, eine Laute und ein Schnapskastl, Besteck und Bettzeug lagern alle in den beiden verschlossenen Zimmern.

Auf mehrmalige Nachfrage, ob es denn nun eine Entscheidung zum Verkauf der Liegenschaft gebe, hüllt sich der Reichsinnenminister in Schweigen – so bleibt die Situation über Jahre in Schwebe, und niemand fühlt sich für die Erhaltung der Villa, des Gartens und des villenartigen Bootshauses verantwortlich. Dem Hausmeisterehepaar wird gekündigt, stattdessen wird ein Kriegsblinder in der Wohnung untergebracht, sehr zum Ärger des Hausverwalters Franz Schröpfer, der dem Bürgermeister von Seewalchen erbost schreibt: »Es mutet mich nur sonderbar an, dass Sie auf der einen Seite meine Anschrift kennen, wenn es sich darum handelt, Rechnungen zu bezahlen, hingegen mich vollständig übergehen, wenn Sie, obwohl ich der Verwalter bin, die Vermietung des Grundstückes ohne meine Befragung und ohne meine Zustimmung vornehmen.« Der Hintergrund liegt auf der Hand: Der einquartierte Mieter zahlt keine Miete. Und seine Reputation ist alles andere als gut, daher zieren sich alle Behörden, ihm eine Kaufzusage zu erteilen – doch eine solche bekommt auch niemand anderer. Denn am 20. April 1943 wird Elsas gesamtes Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. »Ich weise darauf hin, dass der Herr Reichsminister der Finanzen angeordnet hat, dass der Verkauf von Grundstücken aus eingezogenem und verfallenem Vermögen ausnahmslos einzustellen ist, sodaß der Verkauf des Hauses Seewalchen Nr. 132 an Powischer derzeit nicht in Frage kommt.«16

Mit diesem Beschluss setzt der Reichsstatthalter von Oberdonau dem jahrelangen Hin und Her ein Ende – doch was bedeutet dies für die Liegenschaft? Verantwortlich ist nun das »Deutsche Reich«, um Haus und Garten kümmert sich niemand, ihr Zustand wird immer schlechter. Josef Powischer, der Kriegsblinde, verklagt den Bürgermeister von Seewalchen, der ihm die Waldvilla angeblich geschenkt und ihm freie Wohnung zugesagt habe. Die Angelegenheit wird immer komplizierter, ergeben Nachforschungen doch, dass Powischer 1935 und 1936 bereits wegen Betrug und Erpressung zu Gefängnisstrafen verurteilt worden war und sich nun mit großer Dreistigkeit eine freie Wohnmöglichkeit erschleichen möchte. Letztendlich kommen andere Interessenten zum Zug: Ab 1. April 1944 vermietet das Großdeutsche Reich dem Bürgermeister von Seewalchen für 8 Reichsmark Monatsmiete zwei Zimmer der Waldvilla – jene beiden, in denen die sichergestellten Möbel aufbewahrt werden. Und am 29. April 1944 erhält die bereits seit 1939 dort befindliche Flugmelder-Reservekompanie einen Pachtvertrag über das Bootshaus.

Nach dem Ende des Krieges werden Erhebungen angestellt, auch über den Verbleib des sichergestellten Mobiliars, das längst verkauft wurde. Wenig ist im Haus übrig geblieben, die schönen geschnitzten Sessel befinden sich im Finanzamt Vöcklabruck, einige wertvolle Gegenstände sind dem Oberfinanzpräsidenten übergeben, das restliche Inventar dem Kreisamt für Volkswohlfahrt verkauft worden.17 Mutter und Sohn Powischer wohnen noch immer in der Villa, im Bootshaus ist angeblich eine ungarische Familie untergebracht – ohne Inventar.

1947 bekommt Elsa Andorff-Westen ihren Besitz zurück, das Inventar ist bis auf wenige Stücke in alle Winde zerstreut, Villa, Bootshaus und Grundstück befinden sich in erbärmlichem Zustand. Elsa, die mittlerweile in Kalifornien lebt, verkauft die gesamte Liegenschaft im Jahr 1954 an die Gemeinde Seewalchen. Am 10. September 1978 stirbt sie in Santa Barbara.

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