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Kapitel 6 Krokusse
ОглавлениеKleine Pfützen. Reste von Streusand. Ein bisschen Schlamm mit einem aufgeweichten Papiertaschentuch.
Den Blick starr auf den Bürgersteig gerichtet eilte Johanna Richtung Büro. Das bewahrte sie davor, mit den hochhackigen Stiefeletten zu stolpern und den Karamell-Macchiato auf dem neuen, korallfarbenen Mantel zu verteilen. Außerdem war die Beschaffenheit des Fußwegs ein guter Indikator für das Wetter in der Großstadt. Letzte Woche war sie noch über hartnäckiges Glatteis geschlittert, jetzt lagen die Temperaturen aber schon seit einigen Tagen über dem Gefrierpunkt. Johanna wich einem Fahrradkurier aus, um einem tragischen Unfall im Straßenverkehr zu entgehen, und landete dabei in der schmutzigen Erde, die man wohl Grünstreifen nennen sollte. Sie fluchte leise, während sie sich bückte, um sich den Matsch von den Schuhen zu wischen.
Da sah sie ihn. Zwischen zwei Gehwegplatten hatte sich ein einzelner Krokus ans Tageslicht geschoben. Es war nur ein Krokus. Ein ganz gewöhnlicher Krokus. Aber Johanna hatte ihn gesehen. Nein, sie hatte ihn nicht nur gesehen, sie hatte ihn wahrgenommen. Hatte die schmalen grünen Blätter, noch nass vom letzten Regen, die Blüte in sattem Violett und das leuchtend gelbe Innere mit den Augen aufgesogen. Wann war ihr das zum letzten Mal passiert?
Natürlich gab es in Hamburg nicht nur diesen einen Krokus. Tatsächlich war die Stadt sogar erstaunlich grün und Johanna hatte bestimmt schon Jahre ihres Lebens in Parks und am Elbstrand verbracht. Im Laufe der letzten Monate musste sie das aber vergessen haben. Die Sonne kroch jetzt langsam über die Häuser und Johanna fühlte sich plötzlich wieder ein kleines bisschen lebendiger. Mit einem Mal war jede Straße voller Krokusse und in jedem Baum zwitscherten Vögel.
„Guten Morgen!“ Beschwingt betrat sie wenig später das Büro und überließ Nana, ohne mit der Wimper zu zucken, ihr ganzes Franzbrötchen. Es störte sie noch nicht einmal, dass ihre Tasche vom Schreibtisch glitt und sich der gesamte Inhalt auf den Boden ergoss. Sorgfältig verstaute sie Lippenstift, Handy, Haarbürste, Taschentücher, Portemonnaie und den übrigen undefinierbaren Kleinkram wieder. Als sie zu ihrem treuen Begleiter, dem Notizbuch, griff, zog sie spontan die Visitenkarte heraus, die Evi ihr beim Springderby gegeben hatte. Johanna hatte die letzten zehn Monate gewusst, dass sie dort war, hatte sie aber nie angesehen. Warum auch?
Lewat-Hof
Inh. Evelyn und Justus Matthey
Kirchweg 7
21483 Augraben
info@lewat-hof.de
Evelyn… Für Johanna wollte das nicht so recht zu der Frau passen, die sie so unverhofft kennen gelernt hatte. Aber was wusste sie schon? Sie hatten sich schließlich nur kurz getroffen. Sie las die Adresse noch einmal. Anhand der Postleitzahl erkannte sie, dass der Lewat-Hof nicht weit entfernt sein konnte, auch wenn ihr der Ort nichts sagte. Da es für eingefleischte Hamburger aber auch nur Hamburg, lange Zeit nichts und dann den Rest der Welt gab, war das nicht weiter verwunderlich. Auf jeden Fall klang Augraben sympathisch. Unwillkürlich musste sie an das Auenland mit seinen grünen Hügeln denken. Oder war es die Wiese aus ihrem Traum? Lächelnd schob sie die Visitenkarte wieder in ihr Notizbuch.
* * *
Ihre Hochstimmung hielt immer noch an, als sie sich nach Feierabend für ein Treffen mit Moritz‘ Familie fertig machte (obwohl das in der Vergangenheit selten ein Grund zu ungetrübter Freude gewesen war). Passend zum inneren sowie äußeren Frühlingsausbruch wählte sie zum ersten Mal in diesem Jahr wieder ihr Lieblingskleid in strahlendem Royalblau und freute sich, dass es viel lockerer saß als noch im letzten Herbst. Natürlich war der Kontrast zu dem korallfarbenen Mantel, den sie Moritz natürlich auch vorführen wollte, ziemlich heftig. Aber da beide Kleidungsstücke schlicht geschnitten waren, wirkte das Ensemble zusammen mit einer schwarzen Strumpfhose und den hohen, schwarzen Stiefeletten richtig edel und modern. Johanna war mit ihrem Erscheinungsbild mehr als zufrieden, als sie wenig später aus dem Haus trat. Moritz lehnte bereits an seinem Auto und spielte mit seinem Smartphone. „Na endlich!“, begrüßte er sie. „Beeil‘ dich, sonst kommen wir noch zu spät.“
„Ich freu‘ mich auch dich zu sehen“, entgegnete Johanna und verdrehte die Augen. Das Risiko, zu spät zu kommen, lag nämlich eher darin begründet, dass Moritz darauf bestanden hatte, mit dem Auto zu fahren. Sie würden garantiert ewig im Verkehr feststecken, denn sie mussten einmal quer durch die Stadt. Johanna hatte deswegen ihren guten Freund den öffentlichen Nahverkehr vorgeschlagen, aber Moritz hatte nichts davon wissen wollen.
„Ist der neu?“ Moritz deutete mit dem Kinn auf ihren Mantel und Johanna freute sich, dass es ihm aufgefallen war.
„Ja!“ Sie machte eine Drehung auf dem Bürgersteig, sodass sich ihr Kleid zu einem Teller auffächerte. „Gefällt’s dir?“
„Erinnert mich mit dem Kleid irgendwie an einen Nymphensittich“, erwiderte Moritz. Johanna wollte seinen gequälten Blick nicht bemerken und lachte, als wäre die Bemerkung ein Scherz gewesen.
„Hast du schon mal einen blauen Nymphensittich gesehen?“, fragte sie ungewohnt frech und fügte hinzu: „Außerdem ist das modern…Color Blocking! Fahren wir?“ Im Auto lehnte sie sich entspannt zurück, während Moritz erwartungsgemäß schon an der zweiten Kreuzung mit hektischem Blick zur Uhr zu fluchen begann. Im Gegensatz zu ihm hatte sie es nicht sonderlich eilig anzukommen.
Als sie - natürlich mit einer deutlichen Verspätung - auf der kiesbestreuten Einfahrt vor Moritz‘ Elternhaus hielten, unterdrückte sie ein Seufzen. Es war nicht so, dass sie die Eltern ihres Freundes nicht mochte. Auch seine ältere Schwester und ihr Mann waren durchaus nett. Johanna fehlte aber bei jedem Besuch die Vertrautheit und Herzlichkeit, die für sie das Zusammensein mit der Familie ausmachten. Bei den Ulrichs hatte es bestimmt noch nie einen verschlafenen Sohn mit ungekämmten Haaren beim Frühstück gegeben…
Moritz öffnete die Haustür mit seinem Schlüssel und sie traten in einen großzügigen Vorflur, den man fast schon als Eingangshalle bezeichnen konnte. Er hielt Johanna an der Schulter zurück und wies zur Garderobe hinüber. „Lass‘ den Mantel doch lieber gleich hier!“ Sie kannte ihren Freund gut genug, um das übersetzen zu können: Ich möchte nicht, dass meine Eltern dich in dieser Aufmachung sehen! Am liebsten wäre Johanna sofort wieder gegangen, über den knirschenden Kies, zur nächsten Bushaltestelle und von dort aus auf direktem Weg nach Hause unter die Bettdecke. Aber das war natürlich keine Option. Also nickte sie und hängte den Stein des Anstoßes wortlos auf einen Bügel. Auf dem Weg ins Esszimmer (das Moritz‘ Mutter nur „Salon“ nannte) war sie sich dann auch gar nicht mehr so sicher, ob ihr Outfit nicht doch ein wenig zu gewagt gewesen war.
„Da seid ihr ja!“ Edith Ulrich begrüßte ihren Sohn und Johanna mit mehreren Wangenküsschen. „Das Essen ist schon fertig, deswegen setzen wir uns lieber gleich. Wir hatten euch früher erwartet!“
„Sorry, Mum, aber Hanni ist im Büro nicht fertig geworden, deswegen sind wir nicht rechtzeitig losgekommen“, erklärte Moritz ohne zu zögern und schien gar nicht zu merken, dass Johanna ihn ungläubig anstarrte.
„Ach je, hast du viel zu tun, Schätzchen?“, erkundigte sich Edith, während sie am großen Esstisch Platz nahmen, der so aufwendig gedeckt war wie in einem Sternerestaurant.
„Ja, ich bin kurz davor, ein wichtiges Projekt abzuschließen“, antwortete Johanna etwas lahm. Sie wollte Moritz nicht auflaufen lassen, also blieb ihr nichts anderes übrig als sein Spiel auf ihre Kosten mitzuspielen.
„Wenn es zum Ende hin hektisch wird, liegt es immer am Projektplan“, warf Dr. Norbert Ulrich ein, der gerade mit einer Weinflasche hereinkam. Moritz‘ Vater war zwar Zahnarzt, was ihn aber nicht davon abhielt, zu allem und jedem eine Meinung zu haben.
„Mit Terminen hast du es ja wirklich nicht so.“ Moritz lachte und seine Familie stimmte ein. Wie kam er darauf? Als Johanna stumm blieb, fügte er immer noch lachend hinzu: „Jetzt komm‘ schon, Hanni-Bunny, steh‘ doch einfach dazu!“ Während Charlotte, seine Schwester, irgendetwas von Schwächen erzählte, die ja jeder hatte, um die Situation halbwegs zu retten, entschuldigte Johanna sich und floh auf die Toilette.
Sie schaffte es mit größter Mühe, die Tränen zurückzuhalten, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Noch nie hatte sie sich so gedemütigt gefühlt! Ach, doch, beim letzten Familientreffen der Ulrichs. Und dem davor. Und in Gegenwart von Hajo. Das konnte doch nicht richtig sein! Sie setzte sich auf den Klodeckel und fing an, in ihrer Handtasche zu kramen. Zuerst wollte sie ihre Mutter anrufen, dann doch lieber Linea. Anstelle ihres Handys fand sie aber ihr Notizbuch. Einer plötzlichen Eingebung folgend holte sie Evis Visitenkarte wieder hervor. Unschlüssig drehte sie sie in den Händen und las immer wieder die wenigen Worte. Dann nahm sie doch das Smartphone zur Hand, öffnete ihr E-Mail-Postfach und tippte - nur so zum Spaß natürlich - eine Mailadresse ein: info@lewat-hof.de. Das war gar nicht schwer gewesen, warum also nicht weitermachen? Sie musste - und wollte - die Nachricht ja nicht abschicken.
Betreff: Springderby / Rote Schleife im Sand
Liebe Evi,
Johanna stutzte und löschte das Geschriebene wieder. Sie hatte die Inhaberin des Lewat-Hofs zwar als Evi kennengelernt, jetzt kam es ihr aber unpassend vertraulich vor, da sie sich ja wie gesagt kaum kannten. Sollte sie deswegen diese Mail nicht auch besser gar nicht schreiben? Für ein paar Sekunden schwebten ihre Finger unschlüssig über dem Display, dann tippte sie weiter:
Guten Tag Evelyn,
wie du dich ggf. erinnerst, haben wir uns im letzten Jahr beim Springderby in Klein-Flottbek zufällig kennen gelernt.
Du hattest mir im Laufe unseres Gesprächs angeboten, dich mal auf deinem Hof zu besuchen, und mir deine Karte gegeben.
Deswegen jetzt meine Frage: Gilt das Angebot noch und wenn ja, wie lange könnte ich bleiben?
Viele Grüße (auch an Carrie),
Janna Herzog
Der Name hatte sich wie von selber getippt und fühlte sich gleichzeitig erneut aufregend fremd an. Die Nachricht war viel direkter und undiplomatischer als Johanna es von sich kannte, was vielleicht daran liegen mochte, dass sie beim Schreiben kaum nachgedacht hatte. Die Worte flossen einfach so aus ihr heraus und das fühlte sich verdammt gut an. Wie es wohl wäre, wenn sie doch auf „Senden“ drücken würde? Wahrscheinlich würde sie sowieso nie eine Antwort erhalten. Und sie musste Evelyn Matthey auch nie wiedersehen… Also warum nicht? Was hatte sie schon zu verlieren? Sie holte einmal tief Luft wie vor einem Sprung vom Drei-Meter-Brett, dann tippte sie mit dem Daumen ganz sacht auf den unschuldigen blauen Button. „Nachricht gesendet“ erschien auf dem Display. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Johanna merkte, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, und atmete mit einem Seufzen aus. Es war ganz leicht gewesen! Und seltsamerweise fühlte sie sich auch selbst mit einem Mal viel leichter. Es war, als hätte sich eine verborgene Tür aufgetan, ein Ausweg. Natürlich würde sie niemals durch diese Tür gehen, aber allein das Gefühl, dass es sie gab, war eine ungeheure Erleichterung. Ob sich der violette Krokus auch so gefühlt hatte, als er zwischen den schweren Gehwegplatten zum ersten Mal den Himmel gesehen hatte? Konnten Krokusse überhaupt sehen? Johanna lachte bei diesem überspannten Gedanken einmal laut auf.
„Ist dir schlecht geworden?“, hörte sie Edith auf der anderen Seite der Tür irritiert fragen.
„Nein, alles gut!“, antwortete Johanna, die immer noch mit der Visitenkarte eines Reiterhofes in der Hand auf dem unglaublich schicken Klodeckel in diesem unglaublich schicken Badezimmer saß, und fing hysterisch an zu lachen.