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Kapitel 3 Freunde
ОглавлениеMach‘ es wie die Sonnenuhr, zähl‘ die heiteren Stunden nur.
Bestimmt acht Mal hatte dieser Spruch in Johannas Poesiealbum gestanden, geschrieben von Grundschulfreunden, die sie heute wahrscheinlich nicht mal mehr auf der Straße erkennen würde. Jetzt fiel er ihr wieder ein, als sie erschöpft die U-Bahn-Haltestelle verließ und die Sonne bereits hinter den Wohnblocks aus Backstein verschwand. Es musste ein herrlicher Augusttag gewesen sein und immer noch waren die Straßen von Hamburg-Hamm erfüllt von einer schweren, süßen Sommerluft. Es war angenehm warm und Johanna streifte schnell die Strickjacke ab, die sie den ganzen Tag zum Schutz vor der garstigen Klimaanlage im Büro getragen hatte. Wie gerne hätte sie heute früher Feierabend gemacht und wäre mit Linea in den Park gefahren, aber ihre Projekte nahmen natürlich keine Rücksicht auf das Wetter. Sie seufzte. Aber immerhin war es jetzt immer noch schön und der ganze Abend lag schließlich noch vor ihr. Sie bog um eine Ecke, sodass die tiefstehende Sonne sie blendete. Vielleicht zählte das ja sogar doppelt…
Johanna mochte den Stadtteil, in den sie während des Studiums gezogen war. Dabei war Hamm keinesfalls besonders schick oder irgendwie anders bemerkenswert. Manche bezeichneten die Gegend sogar als zwielichtig. Es gab weder nennenswerte Shopping-Möglichkeiten noch eine große Auswahl an Restaurants und Bars, aber sie hatte nach ihrem Einzug schnell ein kleines Café entdeckt, in dem sie und ihre Mitbewohnerin Linea inzwischen Stammgäste waren. Außerdem war die U-Bahn-Anbindung gut und idyllische Kanäle nicht weit. Den Ausschlag hatte damals aber trotzdem ihr Budget gegeben, denn dieses war bei Studenten naturgemäß schmal und die Hamburger Mietpreise wurden garantiert vom Teufel persönlich gemacht.
„Hallo? Linea, bist du da?“, rief Johanna in den engen Flur, während sie die Wohnungstür mit einem sanften Tritt hinter sich schloss. Dass Linea ihren Vornamen auch nicht leiden konnte, tröstete sie etwas über ihren eigenen hinweg. Linea - das klang aber auch wirklich nach einer Marke für billige Damenbinden.
„Hier!“ Johanna folgte der Stimme ihrer besten Freundin in die Küche. Diese war barfuß, trug kurze Shorts und hatte ihre Sonnenbrille lässig in ihren fransigen Kurzhaarschnitt drapiert. Die Farben ihres bunten Tops fanden sich in den Obstresten wieder, die in der gesamten Küche verteilt waren. „Ich hab‘ Obstsalat gemacht“, strahlte Linea sie an und hielt ihr zwei Schälchen entgegen.
„Toll!“, entgegnete Johanna und freute sich trotz des Chaos, das sie nachher beseitigen würde. Sie konnte Linea so gut wie nie böse ein. „Bist du schon lange zu Hause?“
„Ja, schon eine Weile. Ich hatte nur vier Stunden.“ Linea ließ schwungvoll je eine Kugel Vanilleeis in die Schälchen gleiten, während Johanna sich fragte, warum sie nicht auch Lehramt studiert hatte. Dann wäre sie jetzt schließlich auch im Referendariat, hätte heute nur vier Stunden gehabt und hätte sich vor allem nicht von Hajo als „neunmalkluge Berufsanfängerin“ den Mund verbieten lassen müssen. Sie folgte Linea auf den kleinen Balkon und streckte sich zwischen Tomatenpflanzen und Wäscheleine auf einer der beiden Liegestühle aus.
„Ich bin sowas von fertig“, stöhnte sie.
„Dann machen wir es uns heute Abend so richtig gemütlich“, bestimmte Linea. „Wir bestellen Pizza, trinken Rotwein dazu und tun so, als wäre unser Balkon in Neapel.“
„Oh ja!“ Das war genau das, was Johanna nach diesem Tag brauchte. Im gleichen Augenblick vibrierte aber ihr Handy und sie griff mit spitzen Fingern danach, als würde es sich um eine ekelerregende Raupe handeln. „Von Moritz“, erklärte Johanna Linea. „Er fragt, ob ich heute noch zu ihm komme…“
„Sag‘ ihm ab!“, meinte die Freundin sofort. „Oder er soll ausnahmsweise mal hierher kommen.“ Leider stieß keiner der Vorschläge bei Moritz auf Gegenliebe, stattdessen empfing Johannas Handy eine weitere Nachricht: „Bitte, Hanni-Bunny! Miss you!!! Du kannst mich doch nicht alleine lassen. Ich hab‘ extra für dich gekocht“ Es folgte eine Reihe blinkender Herzchen.
„Na gut“, murmelte Johanna gequält, hin und her gerissen zwischen ihrer Freude, dass er für sie gekocht hatte, und ihrem Ärger, dass er vorher noch nicht mal gefragt hatte, ob sie überhaupt Zeit hatte. „Morgen Pizza in Neapel?“, fragte sie an Linea gerichtet.
„Morgen regnet es bestimmt“, grummelte diese. „Warum muss dieser Kerl sich eigentlich immer durchsetzen?“
„Er will sich nicht durchsetzen, er liebt mich einfach“, verteidigte Johanna ihren Freund, während sie sich unwillig erhob, um sich etwas anderes anzuziehen.
„Muss Liebe schön sein“, rief Linea ihr hinterher und Johanna konnte förmlich sehen, wie sie die Augen verdrehte.
* * *
„Hanni-Bunny!“ Moritz lehnte lässig im Türrahmen und strahlte ihr entgegen. Das sanfte Gegenlicht betonte seine durchtrainierte Silhouette und seine blonde Surfer-Frisur fiel ihm wie zufällig in die Stirn, was aber tatsächlich das Ergebnis von viel Stylinggel und langen Minuten vor dem Spiegel war. Johanna fiel wieder einmal auf, wie ungemein attraktiv er war, und war beinahe ein bisschen stolz darauf, dass er gerade ihr Freund war. „Schön, dass du da bist!“, sagte er, während er sie in seine Arme zog.
„Sorry, dass ich erst jetzt komme!“ Johanna hatte nicht vorgehabt, sich zu entschuldigen, und wusste eigentlich auch gar nicht wofür, aber als sie sich an seinen inzwischen so vertrauten Körper schmiegte, fühlte sich das plötzlich richtig an. Sobald sie ihn sah, meldete eine eindringliche Stimme in ihrem Inneren (aber definitiv nicht in ihrem Kopf), wie sehr sie ihn liebte.
„Es gibt Spaghetti Carbonara“, verkündete Moritz und zog sie in die Wohnung. „Ich hab‘ sogar schon angefangen.“ Er deutete Richtung Küche, die genau wie die übrigen Zimmer erstaunlich geräumig dafür war, dass Moritz noch studierte. Die Wohnung verschlang einen Löwenanteil der großzügigen Gaben seiner Eltern, mit dem Rest unterstützte er ebenso großzügig die lokalen Bars und Fitnessclubs, was höchstwahrscheinlich einer der Gründe dafür war, dass er noch kein bedeutender Anwalt war.
Auf der Arbeitsplatte lag eine Packung Spaghetti neben zwei Eiern. Eine Reibe war ebenfalls bereitgelegt und wartete geduldig auf den Zauberspruch, mit dessen Hilfe sie den Parmesanblock selbsttätig zu perfekten Spänen verarbeiten würde. Johanna - was blieb ihr auch anderes übrig? - seufzte.
„Nicht schmollen, Schnuffi!“ Moritz sah mit seinen braunen Welpenaugen so putzig aus, dass Johanna fast gegen ihren Willen lachen musste.
„Gut, dann kochen wir eben zusammen“, grummelte sie. „Du kannst ja schon mal den Tisch decken.“
Als Johanna wenig später mit einer großen Schüssel Spaghetti Carbonara (die sich freundlicherweise nicht in Rührei mit Nudeln verwandelt hatten) ins Wohnzimmer kam, hatte Moritz den Tisch vor die geöffnete Balkontür geschoben und eine Kerze daraufgestellt. Ein lauer Windhauch bewegte sanft die Flamme, die Pasta duftete und Johanna freute sich, dass sie jetzt doch noch zu ihrem italienischen Abend kam.
„Hast du vielleicht auch ein Glas Wein für mich?“, fragte sie Moritz, der ihr gerade eine Flasche Bier hinhielt. „Das würde gerade super zum Essen passen."
„Ne, lass‘ mal, Hanni. Es lohnt nicht, für dich jetzt extra eine Flasche aufzumachen“, meinte er und Johanna nickte.
„Hast du eigentlich noch was zum Umziehen dabei?“, fragte Moritz beim Essen beiläufig.
„Nein, zum Übernachten hab‘ ich doch alles hier.“
„Aber willst du wirklich so zur Party gehen? Die anderen werden…“
„Welche Party?“, platzte es aus Johanna heraus.
„Na, bei Jan. Hab‘ ich das nicht erzählt? Nur eine kleine Houseparty. Nur ein paar Leute.“ Nein, das hatte er zufällig nicht erwähnt…
„Mo, bitte, heute nicht. Ich möchte ehrlich nur noch aufs Sofa!“
„Schnuffi, das geht nicht. Das sind doch unsere Freunde und sie rechnen mit uns. Wir müssen da hin!“ Moritz schaute sie verständnislos an und Johanna bekam sofort ein schlechtes Gewissen.
„Ok… Aber lass‘ uns bitte nicht so lange bleiben, sonst übersteh‘ ich den Rest der Woche nicht“, lenkte sie ein.
„Deal!“ Moritz strahlte. „Nur eine Stunde, versprochen!“
* * *
In Jans Wohnung, die noch großzügiger war als die von Moritz, war es schwül und stickig. Im Halbdunkel sah Johanna Leute in Grüppchen zusammenstehen, durch die Luft waberte laute Musik. Sie mochte den Song. Kaum waren sie angekommen, verschwand Moritz mit einigen Kumpels und ward nicht mehr gesehen. Unschlüssig stand Johanna eine Weile herum und hatte das Gefühl, abschätzig beäugt zu werden. Aber wahrscheinlich war das nur Einbildung, denn ihr Outfit unterschied sich kaum von dem der anderen und auch ihr Make-Up hatte sie notdürftig aufgefrischt. Dann holte sie sich eine Cola light und gesellte sich zu einer Gruppe Mädchen, die sie flüchtig kannte. Die Unterhaltung schien sich um einige Typen zu drehen, die Johanna absolut nicht kannte.
Nachdem sie einige Minuten schweigend zugehört und dabei möglichst teilnahmsvoll genickt hatte, entschied sie, dass es wohl nicht sehr unhöflich wäre, wieder zu gehen. Also murmelte sie eine Entschuldigung, die wahrscheinlich in der Musik unterging, und machte sich auf die Suche nach Moritz. Sie fand ihn glücklicherweise auf der Dachterrasse, auf der es angenehm frisch war und man einen fantastischen Blick über die Nachbarschaft hatte. Er stand mit einigen Kommilitonen zusammen, die Moritz‘ Freundin freundlich grüßten. Es ging um vertrackte Fälle, die sie im Jurastudium behandelt hatten. An Moritz gelehnt hörte sie interessiert zu und wurde dabei angenehm schläfrig.
„Mo, wollen wir bald los?“, fragte sie leise, als sie irgendwann kaum mehr die Augen offen halten konnte. Er hatte gerade seine Bierflasche geleert, sodass es ihr ein passender Moment zu sein schien.
„Was? Wir sind doch gerade erst gekommen!“
„Nein, eigentlich nicht. Und außerdem hatten wir doch abgemacht, dass wir nur ein Stündchen bleiben.“
Moritz wandte sich peinlich berührt an seine Kumpel: „Hanni-Bunny ist nach der Arbeit immer schrecklich müde.“ Er tätschelte ihr die Schulter. „Sie arbeitet ja im Büro.“
„Ich bin Projektmanagerin in einer Unternehmensberatung“, warf Johanna ein.
„Tja, so ein Nine-to-Five-Job ist bestimmt was ganz anderes, als Tag und Nacht zu büffeln“, grinste Kilian und die Jungs brüllten vor Lachen. Johanna wurde so wütend, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.
„Lass‘ uns bitte gehen“, bat sie noch einmal, sah dann aber, dass auch ihr Freund sich köstlich amüsierte. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ möglichst würdevoll die Wohnung.
Auf der Straße holte Moritz sie ein: „Warte! Schnuffi, du kannst doch nicht einfach so abhauen!“
„Doch, ich gehe nämlich nach Hause! Wie wir es besprochen hatten, erinnerst du dich?“
„Jetzt sei doch nicht so! Sei doch einmal spontan!“
„Wieso? Damit ihr weiter über mich lachen könnt?“, fuhr Johanna ihn an.
„Was? Nein! Das hast du falsch verstanden. Kilian macht doch nur Spaß, du kennst ihn doch!“, verteidigte Moritz sich. Eigentlich kannte sie ihn überhaupt nicht, sagte eine eindringliche Stimme in Johannas Kopf, die sie aber vorsichtshalber ignorierte. Überhaupt kannte sie eigentlich niemanden dieser Leute richtig, die angeblich ihre Freunde waren. Aber sie war erschöpft und sie wollte Moritz gerne glauben. Und als er sie dann wieder mit dem Welpenblick ansah und bat: „Komm‘, sei nicht sauer!“, nickte sie.
In Moritz Wohnung fiel Johanna nach einem kurzen Abstecher ins Badezimmer sofort ins Bett. Inzwischen war es nach Mitternacht und ihr Wecker würde in gut fünf Stunden klingeln. Sie hatte sich schon in ihre Decke gerollt, als Moritz‘ Hand unternehmungslustig an ihrem Oberschenkel hinaufwanderte. Sie küsste ihn, schob ihn aber sanft weg. „Heute nicht…“
„Aber wir sind doch schon wegen dir früher von der Party weg“, meinte er ungehalten und sofort meldete sich Johannas schlechtes Gewissen wieder. Na gut…
Sie hatte bestimmt nur drei Stunden geschlafen, als sie noch vor dem Weckerklingeln aufwachte. Im Zimmer war es noch dunkel, aber durch die Vorhänge fiel fahles Morgenlicht vermischt mit dem niemals erlöschenden Flackern der Großstadt. Johanna warf einen vorsichtigen Blick auf Moritz, der tief und fest schlief. Leise glitt sie aus dem Bett und schlüpfte aus dem Zimmer. Barfuß trat sie auf den Balkon, der auf eine dicht zugeparkte Nebenstraße hinabsah. Keine Menschenseele war hier unterwegs, aber das unermüdliche Rauschen der nahen Schnellstraße verstummte auch zu dieser frühen Stunde nicht. Die Steinfliesen waren kalt und Johanna fröstelte. Gleichzeitig fühlte sie sich seltsam schäbig. Sie schob den Gedanken beiseite und versuchte sich stattdessen an den Traum zu erinnern, den sie eben noch gehabt hatte.
Es war ein schöner Traum gewesen. Unter einem endlosen Himmel eine sattgrüne Wiese. Sie war darüber gelaufen, außer Atem und mit glühenden Wangen, die Arme weit ausgebreitet. An mehr konnte Johanna sich nicht erinnern, aber da war ein Gefühl gewesen, dass sie noch ganz deutlich spürte: Frei hatte sie sich gefühlt, stark und frei.
In diesem seltsam melancholischen Moment, allein und im Nachthemd auf einem tristen Balkon, irgendwo an der Grenze zwischen Tag und Nacht, zwängte sich die Frage in ihren Kopf, ob sie eigentlich unglücklich war.
Dann wankten zwei Gestalten auf der anderen Straßenseite vorüber, grölten und prosteten ihr mit ihren Bierdosen zu und Johanna huschte schnell wieder in die Wohnung und sprang unter die Dusche. Was für ein alberner Gedanke! Natürlich war sie nicht unglücklich! Sie hatte doch alles, was sie wollte - einen Freund, der sie liebte, eine Familie, die sie unterstützte, und den Job, den sie gewollte hatte.
Ihr Leben verlief exakt so, wie sie es geplant hatte.