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Kapitel 1 Glück
ОглавлениеSo fühlt sich Glück an.
Der Moment, in dem du weißt, dass du gewonnen hast. Dass sich die harte Arbeit gelohnt hat.
Johanna blickte von ihrem Notizbuch auf, das an der Brüstung des Springplatzes lehnte, und schaute der Reiterin nach, die gerade unter dem Jubel der Menge das Gelände verließ. Das Hamburger Springderby zu gewinnen, wahrscheinlich eines der glamourösesten Turniere des Reitsports überhaupt, musste einfach ein überwältigendes Gefühl sein. Für einen Augenblick hatte Johanna sich vorgestellt, sie wäre es gewesen, die dort über den Rasen flog, aber auch wenn sie zu Schulzeiten Reitunterricht genommen und sich gut geschlagen hatte, war sie keine Spitzenreiterin. Trotzdem kannte sie dieses berauschende Gefühl des Erfolgs, dieses Glück. Sie las noch einmal die Zeilen, die sie gerade geschrieben hatte und nickte. Wenn Erfolg so glücklich machte, dass man fast süchtig davon wurde, dann war Glück planbar. Ein tröstlicher Gedanke. Man musste nur hart genug dafür arbeiten. Und das tat Johanna. Jeden Tag, seit der ersten Klasse.
Sie dachte kurz an das kleine Mädchen mit den Zöpfen und der großen lilafarbenen Schultüte, das vor über zwanzig Jahren eingeschult worden war. Dass sie damals einen schlabberigen Pullover mit einem Katzenkopf aus Pailletten darauf und einen Tüllrock angehabt hatte, wusste sie nur noch von Fotos. Und auch sonst hatte sie an dieses Kind, dessen Willen so stark gewesen war, dass es durchgesetzt hatte, am ersten Schultag in so einem Aufzug zu erscheinen, kaum noch Erinnerungen. War das wirklich sie gewesen?
Ein Raunen ging durchs Publikum und Johanna richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Turnierplatz, auf dem der nächste Reiter sein Glück versuchte, aber bereits zwei Hindernisse gerissen hatte. Wahrscheinlich war er nicht gut genug vorbereitet, hatte eben nicht hart genug gearbeitet. Johanna dehnte ihren verspannten Nacken und hielt dabei ihre zierliche Nase in die Sonne. Zum Glück musste sie heute ausnahmsweise nicht arbeiten! Da Sonntag war, mochte das nicht weiter verwundern, aber für Johanna gab es immer genug zu tun. Dabei dachte sie nicht nur an das Putzen, Waschen und Bügeln, für das ihre Mitbewohnerin einfach kein Händchen hatte (nicht dass diese nicht bereit gewesen wäre, ihren Teil beizutragen, aber Johanna legte Wert darauf, dass sie ihre Blusen mehrfach tragen konnte und nicht nach einem Waschgang an ein Kleinkind vererben musste). Nein, auch neben diesem bisschen Haushalt versuchte sie stets, ihre Zeit sinnvoll zu verbringen: Einige Vorbereitungen für die kommende Arbeitswoche (oder Nacharbeiten, wenn sie ihr Pensum nicht geschafft hatte), ausgewählte Lektüre, damit sie immer auf dem Laufenden blieb, und dreimal pro Woche vierzig Minuten Joggen (was sie besonders hasste, da es absolut nichts brachte).
Aber heute, an diesem gestohlenen Tag, arbeitete Johanna dank sorgfältiger Planung nicht und hatte fast kein schlechtes Gewissen dabei. Es war ihr persönlicher Glückstag, der jedes Jahr nur ihr gehörte. Sie fieberte schon seit Monaten diesem einen Sonntag im Mai entgegen, an dem sie in die gleichermaßen entspannte und energiegeladene Atmosphäre des Derbyparks eintauchen konnte. Beim Zusehen konnte sie vom Triumph träumen, ohne den Schmerz einer Niederlage ertragen zu müssen. Wie aufs Stichwort hörte sie ein Krachen und sah, wie die Stangen eines breiten Oxers unter dem Gewicht des Pferdes brachen, das gerade mitten in das Hindernis stürzte. Der Braune schnaubte nervös, der behäbige, rotgesichtige Reiter fluchte. Er würde heute nicht zu den Erfolgreichen gehören. Selber Schuld.
Johanna wandte sich ab. Sie war sich sicher, den besten Ritt dieser Springprüfung bereits gesehen zu haben. Zeit, etwas zu essen. Sie schlug ihr Notizbuch zu und strich über den neonpinken Einband. Moritz konnte es nicht leiden, wenn sie es bei ihm herausholte und die Farbe seine Wohnung verschandelte, wie er sich ausdrückte. Wahrscheinlich zog er sie vor allem deswegen regelmäßig mit ihrer Vorliebe fürs Tagebuchschreiben auf, aber meistens war ihr das egal, was vielleicht der Beweis dafür war, dass sie doch aus dem Tüllrock-Mädchen hervorgegangen war. Und überhaupt schrieb sie gar kein Tagebuch. Es waren mehr einzelne Einfälle, lose Gedanken, die zwischen To-Do-Listen, Einkaufszetteln und Telefonnummern ein hübsches Notizbuch nach dem anderen füllten. An den unteren Rand des Einbands hatte sie ihren Namen gequetscht: Johanna Herzog. Dass sie diesen nicht besonders mochte, war kaum zu übersehen. Sie wusste, dass ihre Eltern sich größte Mühe bei der Auswahl ihres Vornamens (für den Nachnamen konnten sie ja schließlich nichts) gegeben hatten. Es sollte ein Name sein, der für Intelligenz stand und gute Karrierechancen versprach. Johanna wusste zwar nicht, ob sie als Chantal zufriedener geworden wäre, aber jedes Mal, wenn sie ihren Namen las, klang er für sie nach eingebildeter Ziege. Dass sie in der elften Klasse Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ gelesen hatten, das zwar niemand kapiert, ihr aber trotzdem jede Menge blöde Sprüche eingebracht hatte, trug naturgemäß wenig zur Verbesserung der Lage bei. Ihre Freunde nannten sie Hanna, das war erträglich, auch wenn sie fand, dass sie eigentlich keine Hanna war. Moritz sagte Hanni-Bunny. Das ging gar nicht, denn jedes Mal, wenn er sie so rief, erschien ein Playboy-Häschen mit ihrem Körperbau, den Moritz gerne pummelig nannte, vor ihrem inneren Auge und hätte sich am liebsten im nächsten Kaninchenbau verkrochen. Aber da Moritz ihr Freund war und sie liebte, meinte er es ja nicht böse…
Johanna beendete ihre sinnlosen Gedanken, die sie in ihrem siebenundzwanzigjährigen Leben bereits unzählige Male ohne nennenswertes Ergebnis gewälzt hatte, und wandte sich um. Von ihrem leicht erhöhten Standpunkt aus blickte sie über den Derbypark: Eine bunt zusammengewürfelte Menschenmenge schob sich auf sauberen Wegen aus hellen Holzspänen durch das kleine Dorf weißer, spitzer Zelte. Sie sah Familien, die auf Picknickdecken und Campingstühlen große Eisbecher mit Erdbeeren verputzten, und Teenies, die in Reithosen, die noch nie einen Pferderücken gesehen hatten, und karierten Kniestrümpfen scheinbar gelangweilt in ihren Pommes herumstocherten. So sollte es sein. Zufrieden mischte sie sich unter die Leute, schlenderte an den Buden vorbei und sog die verlockenden Düfte der verschiedenen Leckereien ein, die nur in einer Atmosphäre wie dieser schmeckten. Während sie versuchte, sich zwischen einem großen Stück Pizza, asiatischen Nudeln und einem Crêpe mit Nutella zu entscheiden, hörte sie plötzlich aufgeregte Rufe und wurde fast von den Füßen gerissen, als die Menge zurückwich. Eine junge Mutter manövrierte hektisch ihre Kinderkarre an Johanna vorbei weg vom Tumult, sodass diese nun sehen konnte, was vor sich ging: Am Ausgang vom Abreitplatz tänzelte ein Pferd nervös auf der Stelle. Johanna fiel gleich auf, wie schön das Tier war. Das nussbraune Fell glänzte, der muskulöse Körper war grazil, der Kopf elegant geschwungen. Die großen, dunklen Augen aber waren angstvoll auf die Menschenmenge gerichtet. Als sich Helfer näherten, wieherte es schrill, erhob sich auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderhufen kraftvoll in die Luft. Trotz der Kapriolen ihres Pferdes blieb die Reiterin fest im Sattel und sprach mit leiser, melodischer Stimme, bis es sich wieder beruhigt hatte. Aus den Lautsprechern auf dem Turnierplatz klang ein Aufruf, der scheinbar ihr galt, aber die Frau schüttelte den Kopf und stieg ab. „Heute nicht“, hörte Johanna sie sagen, während sie ihr Pferd vorsichtig durch die Schaulustigen davonführte. Die Gelassenheit in ihrem Verhalten löste bei Johanna spontane Bewunderung aus.
Als es nichts mehr zu sehen gab, zerstreute sich die Menschenmenge schnell wieder und Johanna bemerkte scheinbar als Einzige, dass Pferd und Reiterin etwas verloren hatten: Zwischen den Holzspänen des Weges lag eine kleine rote Schleife. Johanna hob sie auf und schaute sich nach ihren Besitzern um, die schon auf der anderen Seite des Abreitplatzes angekommen waren. Flink bahnte sie sich einen Weg durch die Besucher, die jetzt wieder gleichmäßig wie das Wasser in einem kleinen Bach über das Gelände flossen. Obwohl sie nicht die Schlankeste war, gelang ihr das mühelos, denn sonderlich groß war Johanna auch nicht. Unter den großen Bäumen am Rande des Derbyparks standen die Pferdehänger und -transporter der Turnierteilnehmer, einige davon in der Größe eines Linienbusses. Pferde warteten auf kleinen, abgesteckten Flächen auf ihren Einsatz, Reiter und Helfer wuselten geschäftig herum. Die Reiterin von eben band das nussbraune Pferd gerade vor einem silberfarbenen LKW an, als Johanna sie einholte. Das Pferd trippelte immer wieder nervös seitwärts und sie entschied sich instinktiv dazu, sich nur langsam zu näherten. „Hallo“, grüßte sie mit möglichst ruhiger Stimme, gleichermaßen an das Pferd und die Reiterin gewandt.
„Hallo“, erwiderte die Frau fröhlich, obwohl sie doch soeben eines der wichtigsten Turniere des Jahres verpasst hatte. Sie musste Mitte vierzig sein und musterte sie mit aufmerksamen Augen, deren dunkles Grün Johanna sofort in ihren Bann zog. Während diese überlegte, was sie eigentlich hierher geführt hatte, nahm die Frau ihre Reitkappe ab, woraufhin sich ihr schulterlanges Haar wie von selbst wieder in eine perfekt sitzende Frisur verwandelte. Ähnlich dem Fell ihres Pferdes hatte auch die Reiterin glänzend dunkelbraune Haare, die Johanna unter anderen Umständen neidisch gemacht hätten. Überhaupt hatte die Frau eine derart natürliche Eleganz an sich, die sie garantiert zum Hassobjekt sämtlicher Frauen gemacht hätte, wäre da nicht dieses offene Lächeln gepaart mit einer fast einschüchternden Selbstsicherheit gewesen.
„Kann ich dir helfen?“, fragte die Frau freundlich und Johanna fiel peinlich berührt auf, dass sie diese die ganze Zeit schweigend anstarrte.
„Ja, äh, nein, eigentlich nicht. Ich wollte Ihnen nur das hier zurückgeben.“ Sie reichte ihr die rote Schleife. „Sie müssen sie eben am Abreitplatz verloren haben.“
„Oh, danke, die brauchen wir noch“, freute sich die Frau und tätschelte ihr Pferd, das jetzt ruhig neben ihnen stand und angefangen hatte, Johanna zu beschnuppern.
„Wofür?“, fragte diese neugierig und direkter, als sie es von sich gewohnt war. Sogleich kam sie sich blöd vor. So machte man nun wirklich keinen Small Talk! Und wahrscheinlich sollte sie sowieso besser gehen und diese Frau in Ruhe lassen. Diese war ja sozusagen bei der Arbeit und Johanna hatte auch noch einiges geplant, um ihren freien Tag perfekt zu machen.
„Die Schleife soll andere warnen“, erklärte die Reiterin aber gelassen. „Alle Pferde, die gerne mal auskeilen, tragen so eine im Schweif, damit es nicht schon auf dem Abreitplatz Verletzte gibt. Eigentlich ein sehr hübsches Symbol für so eine garstige Sache.“ Während sie sprach, hatte Johanna unbewusst begonnen, das Pferd am Hals zu tätscheln.
„Du bist also garstig? So siehst du gar nicht aus“, murmelte sie und lächelte, als das Pferd sein Maul an ihrer Handfläche rieb. Sie hatte ganz vergessen, wie weich Pferdenüstern waren.
„Doch, doch, sie tut nur so unschuldig“, grinste die Frau und klopfte das Pferd, das also eine Stute war, ebenfalls. „Sie heißt übrigens Excelsior’s Who Cares und der Name ist Programm.“ Who Cares… „Wen kümmert’s“ im Sinne von „Na und?!“… Eigentlich kein schlechtes Lebensmotto, überlegte Johanna. Aber natürlich nicht für sie selbst.
„Das ist aber ein komplizierter Name“, sagte sie stattdessen, weil es ihr unverfänglicher erschien.
„Ja, das stimmt. Aber es musste ein Name mit E her, denn ihr Vater war eben Excelsior. Und da sie wahrscheinlich schon direkt nach der Geburt so, sagen wir mal, selbstbewusst war wie jetzt, drängte sich „Who Cares“ wohl auf. Und im Ergebnis ist es dann diese Monstrosität von einem Namen geworden.“ Sie lachte. „Wir nennen sie aber einfach Carrie.“
„Schön, dich kennen zu lernen, Carrie“, sagte Johanna zu der Stute, die genau zu wissen schien, dass die Rede von ihr war.
„Und ich bin übrigens Evi“, fügte die Frau hinzu und hielt Johanna die Hand hin. Ihr Händedruck war fest und herzlich. Johanna fand es außerdem sympathisch, dass die andere nicht davon ausging, dass man sie kannte, auch wenn sie ja eine erfolgreiche Sportlerin zu sein schien.
„Ich bin …“ Sie zögerte und schwankte wie so oft zwischen Johanna und Hanna, bis sie sich schließlich selbst sagen hörte: „Ich bin Janna.“ Das war überraschend spontan und klang irgendwie aufregend fremd, aber sie war durchaus nicht unzufrieden. Schließlich befand sie sich ja gerade auch in einer vollkommen ungeplanten Situation und plauderte mit einer völlig Fremden. Die Stute Carrie knabberte jetzt gemütlich an etwas Heu, Evi hatte sich ins Gras fallen lassen und Johanna kam es ganz natürlich vor, sich zu ihr zu setzen.
„Carrie mag dich“, meinte Evi.
„Ach, das kann ich mir gar nicht vorstellen. So gut kenne ich mich mit Pferden gar nicht aus“, wiegelte Johanna ab.
„Damit hat das auch nichts zu tun. Manche Menschen haben einfach ein Gespür für Pferde und du scheinst dazuzugehören. Ich hab‘s auf jeden Fall noch nie erlebt, dass gerade Carrie zu jemandem so schnell Vertrauen gefasst hat. Sie ist normalerweise sehr misstrauisch. Kannst dir auf jeden Fall was drauf einbilden.“ Johanna lächelte verlegen und sie schwiegen eine Weile, was aber nicht unangenehm war.
„Bist du nicht enttäuscht?“, fragte Johanna irgendwann.
„Enttäuscht? Warum?“
„Du hast bestimmt hart für dieses Turnier trainiert und dann konntest du nicht starten“, erklärte Johanna.
„Doch, ich hätte antreten können, aber das wäre nicht gut gewesen, vor allem nicht für Carrie. Deswegen habe ich entschieden, es zu lassen. Aber enttäuscht bin ich nicht, so ist einfach das Leben“, erwiderte Evi und Johanna hatte keinerlei Zweifel, dass sie das genauso meinte.
Die Sonne sank immer tiefer und tauchte den Derbypark in warmes Licht. Johanna und Evi aber redeten und lachten immer weiter, ohne sich darum zu kümmern. Johanna ignorierte auch ihr Handy, das in ihrer Tasche schon mehrfach vibriert hatte. Es war unglaublich, wie viel sie sich zu sagen hatten, obwohl sie sich doch gerade erst kennen gelernt hatten. Irgendwann wurde das Vibrieren aber zu einem Dauergeräusch, als würde jemand pausenlos versuchen, sie anzurufen. Johanna wusste, dass nur einer so penetrant sein konnte. „Ich glaube, ich muss mal los“, sagte sie schweren Herzens. Der Augenblick war so unverhofft schön, dass sie ihn gar nicht beenden mochte.
„Ja, mach‘ das“, stimmte Evi ihr zu, ohne dass man hätte sagen können, ob auch sie das Ende der Unterhaltung bedauerte.
„Mach’s gut, Carrie!“ Johanna kraulte dem Pferd ein letztes Mal den Hals und drehte sich dann wieder zu Evi. „Darf ich dich noch eine Sache fragen?“
„Schieß los!“
„Ist es wirklich so fantastisch, wie es aussieht?“
„Was?“
„Das Gewinnen“, erklärte Johanna, aber Evi zuckte nur mit den Schultern und lächelte wissend.
„Komm‘ uns doch mal besuchen“, sagte sie stattdessen und reichte ihr eine Visitenkarte. Johanna nahm sie erfreut entgegen, auch wenn sie das Angebot nur für eine höfliche Geste hielt.
„Es war schön, dich getroffen zu haben, Evi!“
„Gleichfalls! Wir sehen uns, Janna!“ Eine klassische Abschiedsfloskel. Evi nickte ihr zu, dann wandte sie sich dem LKW zu.
Johanna saugte noch einmal die Szene in sich auf: Das majestätisch schöne Pferd, dessen Fell in der Abendsonne glänzte, daneben die elfenhafte Reiterin, die ihr genauso mysteriös wie liebenswert erschien, alles umgeben von der ausgelassenen Stimmung des Hamburger Springderbys. Dann wandte auch sie sich um und ging. Ihr kleines Abenteuer war zu Ende. Hastig kaufte sie sich eine große Portion Wok-Nudeln, denn ihr Magen hing ihr inzwischen in den Kniekehlen. Mit der dampfenden Pappbox in der Hand eilte sie Richtung S-Bahn-Station, aber nicht ohne am Eingang des Derbyparks noch einmal kurz innezuhalten, wie um sich zu verabschieden. Im nächsten Jahr würde sie wieder hier sein!
Mithilfe eines kurzen Sprints erreichte sie die S-Bahn, die gerade einfuhr, als sie um die Ecke bog. Außer Atem ließ sie sich auf die abgenutzten Polster eines freien Sitzes fallen und angelte ihr Handy aus der Tasche. Wie erwartet hatte sie unzählige verpasste Anrufe und WhatsApp-Nachrichten von Moritz: „Wo bleibst du???“ in allen Variationen, einige schmeichelhaft, andere eher weniger. Johanna seufzte. Sie wusste, dass ihr Freund sich schlecht mit sich selbst beschäftigen konnte, und es war ja auch lieb, dass er sie vermisste. Sie seufzte noch einmal. Schon immer hatte sie sich gut in andere einfühlen können. Ihre Empathie war ihre große Stärke, sagten andere, aber Johanna selbst war sich da manchmal nicht so sicher. Manchmal nervte es einfach, dass sie nie jemandem böse sein konnte, weil sie immer irgendwie Verständnis für alle hatte. Dabei gefiel es ihr gar nicht, dass Moritz sie so abrupt und selbstsüchtig wieder in den Alltag zurückkatapultiert hatte. So lange hatte sie sich auf diesen Tag gefreut und jetzt war er schon wieder vorbei. Sie zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern und betrachtete sie kritisch. Die blonden Strähnen und das ständige Glätten hatten die Spitzen zweifellos geschädigt. Wenn sie solche Haare wie Evi hätte, könnte sie sich das sparen. Aber obwohl man ihre Haare auch als dunkelbraun bezeichnen würde, waren sie ganz und gar nicht so - mehr wellig als glatt, mehr scheckig als glänzend.
Evi…und Carrie. Auch wenn Johanna die beiden höchstwahrscheinlich nie wieder sehen würde (denn sie würde das Besuchsangebot natürlich genauso höflich nicht annehmen, wie Evi es ihrer Meinung nach ausgesprochen hatte), war sie froh, sie getroffen zu haben. Eine glückliche Begegnung an ihrem Glückstag. Sie wusste zwar gerade nicht wofür, aber das musste einfach ein gutes Omen sein.