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Kapitel 4 Sunk Costs

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„Gibst du mir mal den Frischkäse?“

„Hm?“

„Jonas! Frischkäse!“

„Hm!“ Johannas jüngerer Bruder hob mühsam den Kopf, um die Hand, die er als Stütze genutzt hatte, frei zu haben. Seine Haare waren verstrubbelt, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen (was der Fall war) und sein T-Shirt war auf links gedreht. Mit halbgeschlossenen Augen tastete er auf dem Tisch herum, um Johanna schließlich eine Schale zu reichen.

„Erde an Jonas!“ Johanna sah zwischen ihrem Bruder, ihrer Scheibe Rosinenbrot und dem Frischkäse mit Frühlingszwiebeln hin und her.

„Oh, da hab‘ ich wohl den falschen erwischt!“, meinte Jonas und jetzt sah Johanna das schelmische Funkeln in seinen Augen, die genauso grau-blau waren wie ihre. Sie gab ihm unter dem Tisch einen leichten Tritt gegens Schienbein und beide mussten lachten.

„Ist denn gestern alles gut gelaufen?“, fragte ihre Mutter Jutta.

„Jo!“ Mehr würden sie nicht darüber erfahren, dass Jonas und ein Kumpel gestern in einem großen Club aufgelegt hatten, das war Johanna klar.

„War es denn voll?“, startete ihre Mutter aber einen weiteren Versuch, Konversation mit ihrem Sohn zu betreiben. Jonas nickte, während er konzertiert seinen Toast mit Erdnussbutter bestrich.

Johanna schmunzelte. Sie war schon immer ganz vernarrt in ihren kleinen Bruder gewesen, was am Altersunterschied von acht Jahren liegen mochte. Inzwischen war er natürlich schon lange nicht mehr ihre lebendige Puppe und sie fand es eigentlich schade, dass die beiden heute abgesehen von Johannas Besuchen zu Hause und gelegentlichen WhatsApp-Chats kaum etwas miteinander zu tun hatten. Aber ein neunzehnjähriger Bruder, der als DJ die Nacht zum Tag machte und nebenbei ein Freiwilliges Soziales Jahr im Sportverein absolvierte, und eine berufstätige Schwester, deren Interesse an Fußball gegen null tendierte, hatten einfach wenig gemeinsam.

„Wo ist Moritz denn, Hanna?“, wandte sich ihre Mutter jetzt resigniert an ihre Tochter.

Ehe Johanna antworten konnte, warf ihr Vater hinter der Zeitung hervor ein: „Habt ihr das von den Chinesen gehört?“ Alle gaben zustimmende Geräusche von sich, obwohl garantiert keiner von ihnen wusste, was genau er meinte. Das war aber auch nicht wichtig, denn Jens hatte sich bereits wieder in seinen Artikel vertieft.

Jutta, Jens, Johanna und Jonas - die Herzogs waren eine J-Familie, die gerade eines ihrer typischen Sonntagsfrühstücke erlebte. Im Garten der gemütlichen Altbauvilla im Hamburger Norden färbten sich bereits die ersten Blätter gelb, aber es war noch so warm, dass sie auf der Terrasse sitzen konnten. Wahrscheinlich das letzte Mal für dieses Jahr, überlegte Johanna und wurde wie immer seltsam wehmütig, wenn etwas zu Ende ging.

„Was ist denn jetzt mit Moritz?“, nahm Jutta den Faden wieder auf.

Johanna war über den Themenwechsel nicht unglücklich gewesen, antwortete aber trotzdem (da sie ja bereits mit Bus und Bahn hergefahren war, konnte sie ja schlecht wie ihr Bruder so tun, als würde sie noch schlafen). „Ihm ging es heute Morgen nicht so gut, da hab‘ ich ihm gesagt, er soll lieber zu Hause bleiben.“ Das war teilweise durchaus wahr (es ging ihm tatsächlich elend, was aber nur daran lag, dass er am Abend zuvor zu viel getrunken hatte), teilweise eine glatte Lüge (denn Johanna hatte ihm keinesfalls vom Mitkommen abgeraten, sondern ihn angefleht, sie endlich mal wieder zu begleiten). Aber ihr Freund fand so häufig Gründe, nicht zu erscheinen, dass es ihr gegenüber ihrer Familie schon unangenehm war.

„Sie wollen schon wieder eine Baustelle einrichten“, ließ Jens vernehmen und Jonas entgegnete abwesend:

„Es ist wirklich unglaublich, was die Politik so entscheidet.“ Das war seine Standardantwort, die in 90% der Fälle passte. Mutter und Tochter prusteten vor Lachen in ihren Orangesaft, was das Thema Moritz vorerst sowohl aus dem Gespräch als auch aus Johannas Kopf vertrieb.

„Wie läuft denn die Arbeit?“, erkundigte sich Jutta nach einer Weile.

Dieses Mal schaffte Johanna es, ein Seufzen zu unterdrücken, antwortete aber wenig enthusiastisch: „Ich denke, ich kann da viel lernen.“

„Jetzt erzähl‘ doch mal ein bisschen, du fängst ja schon an wie dein Bruder!“, ereiferte sich ihre Mutter. Johanna begann also von ihren Projekte zu berichten, von den Kollegen und von ihrem Chef, wobei sie in Bezug auf letzteren ehrlicher war, als sie es vorgehabt hatte.

„Dafür, dass wir alle arbeiten wie verrückt, behandelt er uns alle wie dumme, faule Kinder“, endete sie düster und stach mit ihrer Gabel so energisch in eine Tomate, dass die kleinen Kerne über den Tisch spritzten.

Ihr Vater hatte die Zeitung zur Seite gelegt und erwiderte aufmunternd: „Du schaffst das schon, Hanna. Schließlich weißt du ja, wofür du es tust. Jetzt hast du es schon so weit gebracht, das kann doch nicht alles umsonst gewesen sein.“

Johanna hatte genau diese Reaktion erwartet und nickte nur, während sie mit einem Finger die Tomatenkerne aufpickte. Auf dem weißen Tischtuch blieben blassrote Flecken zurück, die aussahen wie kleine Wunden.

Sunk Costs: Kosten, die bereits angefallen sind und nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

Diesen Begriff aus der Finanzwirtschaft hatte Johanna im Studium gelernt und jetzt fiel er ihr wieder ein, als sie in der U-Bahn saß, die sie nach dem Sonntagsfrühstück wieder in ihre WG bringen würde, wo trotz Wochenende eine Präsentation für Napoleon auf sie wartete. Das Konzept der Sunk Costs besagte, dass diese nicht in Entscheidungen miteinbezogen werden sollten, da sie ja - ganz egal, was man tat - sowieso verloren waren. Für Johanna war die Erkenntnis aber eine andere gewesen, auch wenn die Experten der Finanzwirtschaft sich bestimmt die Haare raufen würden: Es gab nur einen Weg, damit es überhaupt keine verlorenen Kosten gab:

Du darfst nicht scheitern.

Getreu diesem Motto war die Präsentation, die Johanna ihrem Chef am nächsten Tag vorlegte, perfekt. Selbst Hajo blieb nichts anderes übrig, als anerkennend zu nicken. „Johanna, du bist so weit“, verkündete er daraufhin. „Du hast die Arbeit gehabt, dann sollst du auch die Lorbeeren ernten.“ Nach einer effektheischenden Kunstpause fügte er hinzu: „Du präsentierst die Ergebnisse vor dem Kunden!“ Johanna platzte fast vor Stolz und freute sich gleichzeitig über diesen Beweis dafür, dass Hajo unter seiner napoleonischen Schale doch einen anständigen Kern hatte.

Als sie wenig später in den Konferenzraum der Kollberg AG trat, wandten sich zwölf Köpfe zu ihr um und betrachteten sie kritisch. Johanna musste sich aber nur noch einmal ihr stahlgraues Kostüm, die schwindelerregend hohen High Heels, den strengen Dutt und das makellose Make-Up vergegenwärtigen und schon prallten die Blicke an ihr ab. Ihr Outfit war ihre Rüstung und die war kugelsicher. Selbstsicherer und respektierter als in diesem Augenblick hätte sie sich gar nicht fühlen können. „Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Wir freuen uns, Ihnen heute unsere Ergebnisse vorstellen zu dürfen.“

Mit jedem Satz wurde sie lockerer und beantwortete souverän Zwischenfragen. Das dachte sie zumindest, bis Hajo sie mit jovialem Lachen unterbrach: „Das war jetzt vielleicht etwas übertrieben dargestellt. Was Frau Herzog sicherlich gemeint hat…“ Was sie angeblich gemeint hatte, nahm Johanna nicht mehr war, denn Napoleons Worte gingen in einem plötzlichen heißen Rauschen in ihren Ohren unter.

Sie wusste nicht, wie sie ihren Vortrag zu Ende gebracht hatte, aber irgendwann hörte sie sich sagen: „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Auch in den nächsten Wochen stehen wir Ihnen für Fragen…“

„Vielen Dank, vielen Dank!“, unterbrach Hajo sie erneut. „Wir sind uns sicher, dass zukünftig keine Probleme mehr auftreten werden. Empfehlen Sie uns gerne weiter!“

Wie konnte man sich in einem Moment so gut und schon im nächsten so gedemütigt fühlen? In Johanna flackerte ein irrwitziger Gedanke auf: Sie nahm ihre Notizen und zerriss sie vor Hajos Augen in winzige Stückchen, während sie dem Kunden erklärte, dass zukünftig garantiert wieder dieselben Probleme wie vorher auftreten würden, da Stegmann & Partner kaum mehr als einen Wimpernschlag lang in deren Lösung investiert hatte. „Ich kündige!“, sagte sie dann mit fester Stimme und schritt würdevoll aus dem Raum. Natürlich würde sie so etwas niemals tun, aber der bloße Gedanke half wenigstens ein kleines bisschen gegen die Hilflosigkeit.

* * *

Vielleicht wäre es aber auch viel stilvoller (und warum sollte sie sich denn auf Hajos Niveau herablassen?), nicht vor dem Kunden zu kündigen, sondern das Schreiben einfach kommentarlos auf den Schreibtisch im Glaskasten zu legen. Wenn Hajo es las, würde er entsetzt sein und alle könnten es durch die Scheiben sehen und ihn anstarren wie ein exotisches Tier…

Johanna saß auf der ausladenden Sofalandschaft in Moritz Wohnung und versuchte, noch ein wenig zu arbeiten. Nach dem heutigen Präsentationsdebakel hatte sie sich im Büro einfach nicht mehr konzentrieren können. Aber leider schweiften auch jetzt ihre Gedanken immer wieder ab und konstruierten diese absurden Szenarien, die komischerweise besser wirkten als eine starke Kopfschmerztablette.

„Was hast du?“, fragte Moritz, der mit einem Erdnussbutter-Toast aus der Küche kam (was fanden nur alle an diesem Zeug?).

„Nichts, ich war nur in Gedanken“, murmelte Johanna.

„Das solltest du lassen. Sieht nicht sehr sexy aus“, neckte Moritz sie. Johanna war sich jedoch nicht sicher, ob das wirklich als Scherz gemeint war. „Außerdem mag ich es gar nicht, wenn du nicht wirklich bei mir bist“, fügte er traurig hinzu und kuschelte sich an sie.

Johanna küsste ihn gerührt und entschied, ihm doch die Wahrheit zu sagen. Er liebte sie, da war das doch nur fair. „Weißt du, ich hatte nur gerade überlegt, ob es richtig ist, für Hajo zu arbeiten…“

„Klar, ist das richtig“, antwortete Moritz schulterzuckend. Jetzt wieder ganz munter streckte er sich entspannt auf dem Sofa aus, wobei etliche Ausdrucke und Notizzettel zu Boden segelten. „So ist doch der Plan. Du arbeitest da drei Jahre und dann geht die Karriere ab.“ Er knabberte an ihrem Ohrläppchen, dann fügte er hinzu: „Und ich will doch eine erfolgreiche, sexy Freundin. Also denk‘ nicht weiter über sowas nach!“

Natürlich hatte ihr Freund Recht, trotzdem war Johanna enttäuscht. Während sie sich wieder in ihrer Arbeit vergrub, verschwand er erneut in der Küche und hielt ihr kurze Zeit später ein Schokoladenherz unter die Nase. „Hier, Hanni-Bunny, du kannst wohl ein bisschen Aufmunterung gebrauchen.“

„Danke“, erwiderte Johanna und drehte die Süßigkeit in den Händen. Feinste Vollmilchschokolade. Sie hasste Vollmilch. Schon immer. Trotzdem war es ein Herz. Sie sollte sich wirklich mehr freuen. „Das ist lieb von dir!“

Sie versuchte, sich die erfolgreiche, sexy Variante von ihr vorzustellen, die Moritz sich wünschte. Es klappte nicht. Moritz schob ihr ein Stück Schokolade in den Mund und Johanna kaute es tapfer. Dieser Tag war sowieso ruiniert, da änderte auch die widerliche Süße der Schokolade nichts mehr. Oder die Tatsache, dass ihr Freund auch nach drei Jahren Beziehung noch nicht wusste, dass sie ausschließlich Zartbitterschokolade mochte. Während Johanna unter seinen Küssen tiefer in die Polster rutschte, lief in ihrem Kopf ungefragt ein weiterer Film ab:

Ihr imaginäres, selbstbewusstes Selbst packte seine Sachen und ging.

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