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Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst
Оглавление5. Pluvis
Lord Gleinleigh ist nicht beim Frühstück. Wie unhöflich von ihm! Der Hausdiener sagt, dass er nicht oft Frühstück einnimmt. Ich frage mich, ob er überhaupt schon wach ist? Er verbringt einen Großteil seiner Zeit auf dem Kontinent. Vielleicht hat er sich die kontinentale Gewohnheit zugelegt, lange wach zu bleiben. Ich habe mein Bestes getan, um so lange auszuschlafen, bis es die meisten Leute als zivilisierte Zeit erachtet hätten, aber nachdem ich so viel von meinem Leben mit Papa und Mama auf Schiffen verbracht habe, ist die Gewohnheit, bei Tagesanbruch aufzuwachen, schwer abzulegen.
Irgendjemand muss jedoch auf sein, ansonsten haben die Bediensteten etwas Essen gemopst, weil sie annahmen, dass niemand es essen würde. Wer sonst ist hier, frage ich mich?
Später
Gut, jetzt sind mehrere Fragen gleichzeitig beantwortet. Aber was ich von der Antwort halte, da bin ich mir noch nicht sicher.
Als ich mit dem Frühstück fertig war, ging ich direkt zur Bibliothek, wo, wie Lord Gleinleigh versprochen hatte, die Tafeln für mich ausgelegt sein würden. Ich war halb überzeugt, dass er vergessen hätte, das zu tun – oder vielleicht »vergessen« –, weil er sie mich sicher nicht sehen lassen konnte, ohne dass er anwesend wäre, um über seinen Trophäen zu thronen. Aber da waren sie, in einer ordentlichen Reihe auf einem Tuch ausgelegt, um den langen Tisch zu schützen, der die Mitte des Raums beherrscht. (Warum hat ein Mann, der sich so wenig um echte Gelehrsamkeit schert, eine so gewaltige und gut ausgestattete Bibliothek? Prestige, nehme ich an.)
Ich steckte mein Haar hoch und fing an, die Reihe zu untersuchen. Jener Raum braucht eine bessere Beleuchtung. Ich habe den Hausdiener bereits gebeten, mir eine Lampe mit einem ausreichend langen Kabel zu bringen, damit ich sie herumzerren kann, wie ich sie brauche. Für den Anfang allerdings musste ich eine der Tafeln zum Fenster tragen, damit ich sie deutlich sehen konnte.
Und dann stellte ich fest, dass ich grinste wie ein Affe, denn da stand ich, mit einem unbezahlbaren Schatz in meinen Händen! Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass ich einen drakoneischen Text in der Hand halte. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem Großpapa mir zum ersten Mal eine Tontafel in die Hände gelegt und mir erklärt hat, dass ich wahrlich Geschichte in den Händen hielt. Ich war fünf, denke ich, was die Leute immer entsetzt, wenn sie es hören – was, wenn ich sie hätte fallen lassen? Die Tafel war nur eine Steuerliste. Trotzdem ein Verlust, wenn ich sie zerbrochen hätte, ganz klar, aber keiner, der mich bis an mein Lebensende verfolgt hätte.
Es würde mich bis an mein Lebensende und darüber hinaus verfolgen, wenn ich eine von diesen hier fallen ließe. Unsere modernen Drakoneer wissen nicht alles über ihre Vorfahren, die Anevrai, genauso wenig, wie ich weiß, was antike Scirländer oder Utalu getan oder gedacht haben. Wir haben nur diese Fragmente, die Texte, die zufällig den Niedergang ihrer antiken Zivilisation überlebt haben. Ich bin sicher, dass die Menschen, die gegen die Anevrai-Herrschaft rebelliert haben, sehr vernünftige Gründe dafür hatten – aber wenn ich könnte, würde ich in der Zeit zurückreisen und sie bitten, dabei nicht so viel zu zerstören. Egal wie tyrannisch ihre Herrscher waren, was gab es damit zu gewinnen, Paläste und Städte niederzubrennen? Wer hatte etwas davon, dass sie die Texte zerschmetterten, die alles Wissen ihrer Welt enthielten? Sie haben sich selbst in eine so tiefe Finsternis gestürzt, dass wir gerade erst anfangen, die naheliegendsten Ecken davon mit Lichtern zu beleuchten.
Das Stück Ton, das ich heute in meinen Händen hielt, könnte sich vielleicht als wirklich sehr helles Licht erweisen. Ich neigte es vor und zurück, ließ das Tageslicht die schwachen Abdrücke herausbringen, wo die Finger des Schreibers einst die Kanten angefasst hatten, bevor es gebrannt worden war. Ich wäre die Erste, die seine Worte lesen würde!
… das dachte ich zu dem Zeitpunkt zumindest.
Ich hatte mich gerade mitten an den Tisch gesetzt, um einige vorläufige Notizen aufzuschreiben, als hinter mir jemand sagte: »Das ist mein Stuhl.«
Wenn ich diese Geschichte später erzähle, will ich mich selbst beschreiben, wie ich mich mit makelloser Haltung und gefasst umdrehe, aber in Wahrheit habe ich gekreischt. Die Sprecherin war ein Mädchen – nun, ich nenne sie ein Mädchen. Ich denke, sie ist nur wenige Jahre jünger als ich. Aber sie war sehr schlicht gekleidet, in ein taubengraues Kleid, das, wie ich gesagt hätte, schlecht passte. Erst später wurde mir bewusst, dass den Schneider keine Schuld traf. Sie hielt sich so ungelenk, dass es das Kleid wie einen Sack wirken ließ. Und weil ich eine schreckliche Beurteilerin von Mode bin, kann ich mir nur vorstellen, dass sie eine furchtbare Zeit erleben wird, wenn sie in die Gesellschaft eingeführt wird – falls sie das überhaupt je wird.
»Das ist mein Stuhl«, wiederholte sie, während sie ein Notizbuch an ihre Brust drückte.
Sie war eindeutig keine Bedienstete. Ich stand auf und sagte: »Sind Sie … Lord Gleinleighs Tochter?« Er ist nicht verheiratet, aber sie hätte wohl sein uneheliches Kind sein können. Nur gibt es keine höfliche Art zu fragen, ob jemand ein Bastard ist.
»Ich bin sein Mündel«, sagte sie. »Ich sitze da jeden Tag, während ich an der Übersetzung arbeite.«
»An der …« Das wurde zu einem weiteren Kreischen, nur dass dieses hier entschieden zorniger war.
Ich dachte – Simeon war sehr deutlich –, diese Aufgabe sollte meine sein! Es ist eine Sache, wenn Lord Gleinleigh mir dieses Mädchen als Assistentin aufdrängt, ohne auch nur um Erlaubnis zu fragen. Aber es ist ein Schlag ins Gesicht, dass er sie mit der Arbeit anfangen lässt, bevor ich auch nur ankomme! Und warum hat er gestern Abend nichts davon zu mir gesagt? Wahrscheinlich weil er wusste, wie ich reagieren würde, und als der Feigling, der er ist, ist er dem Problem ausgewichen, indem er mich über diesen Eindringling stolpern ließ, während er noch in seinem warmen Bett war.
Sie hielt einen Stapel aus Büchern und Notizzetteln an ihre Brust gedrückt. Jetzt sah ich den Raum in einem neuen Licht: den Tisch mit seinem schützenden Tuch und der Reihe aus Tafeln. Lord Gleinleigh hatte sie nicht ausgelegt. Dieses Mädchen hatte das getan. Und sie hatte auf genau dem Stuhl gesessen, den ich gewählt hatte, und begonnen, die Geheimnisse dieses Horts zu entschlüsseln, was meine Verantwortung und mein Privileg sein sollte.
Ich weiß, dass es schrecklich von mir ist, es so zu schreiben. Wenn Großmama hören würde, dass ich ein solch gieriger kleiner Draken bin, würde sie mich für eine Woche ohne Bücher in mein Zimmer sperren. Außer dass sie auch weiß, wie wütend es einen macht, wenn einem der angemessene Respekt verweigert wird – und wenn es nicht dieses unbeholfene Mädchen gewesen wäre, das mir den Rang abgelaufen hatte, denke ich, dass ich vielleicht völlig die Beherrschung verloren hätte. (Wenn es Lord Gleinleigh gewesen wäre … Tja, dann hätte ich ihn wohl mit Gelächter aus dem Raum vertrieben, weil ich weiß, dass er kein Fünkchen Talent für diese Aufgabe besitzt. Aber irgendein anderer Mann wie er? Ich wäre rasend vor Wut gewesen.)
Jedenfalls kann ich nicht behaupten, dass ich sehr höflich war. »Dann lassen Sie mich sie sehen«, sagte ich und streckte eine Hand aus.
»Was sehen?« Aber der Art nach zu urteilen, wie sie ihren Stapel fester hielt, wusste ich, dass sie verstanden hatte, was ich meinte.
»Die Übersetzung«, sagte ich. »Ich nehme an, Sie sind die Assistentin, die Lord Gleinleigh mir gegenüber erwähnt hat«, wobei ich das Wort »Assistentin« betonte. Unter keinerlei Umständen hatte ich vor, mich in eine untergeordnete Stellung zwingen zu lassen. »Weil Sie so freundlich waren, bereits mit der Arbeit anzufangen, werde ich sie mir ansehen.«
Ihr Kinn verspannte sich zu einer sturen Linie, aber sie stellte ihren Stapel ab und holte einige Blätter aus einer Mappe. Ich war erleichtert, als ich sah, dass es so wenige waren: Ich hatte halb Angst, dass sie bereits alles durchgegangen war, obwohl ich wusste, dass das nicht möglich war. Ich setzte mich ganz betont auf den Stuhl, den sie für sich beansprucht hatte, und begann zu lesen.
Die Seiten waren ein völliges Chaos, mit durchgestrichenen Zeilen gefüllt, wo sie es sich ständig anders überlegte, also brauchte ich einige Momente, um mir überhaupt meinen Weg durch das Gewirr zu suchen und festzustellen, was sie geschrieben hatte – und dann noch einige weitere Momente, um die Absurdität dessen zu verdauen, was ich gerade gelesen hatte. Es war ein solch unglaubliches Desaster, dass ein Teil von mir in Gelächter ausbrechen wollte. Aber weil es so kurz nach meiner Schmach kam, war es schwierig für diesen Impuls, sich durchzusetzen, und im Ergebnis saß ich nur da und starrte die Seiten noch lange an, nachdem ich zu lesen aufgehört hatte, während ich darüber nachdachte, was ich sagen sollte.
Natürlich konnte ich nicht ewig dort sitzen. Schließlich blickte ich auf – immer noch ohne die geringste Idee, was ich sagen würde – und stellte fest, dass sie wartete, ihr Körper steif in jenem schlichten grauen Kleid.
Niemand, der intelligent genug war, selbst diesen Murks aus einem drakoneischen Text zu produzieren, konnte ansatzweise dumm genug sein, um sich nicht bewusst zu sein, wie schlecht dieser war. Ich sah in der Haltung ihres Kinns eine Art Herausforderung, als würde sie darauf warten, zu sehen, was ich sagen würde. Würde ich Höflichkeitsfloskeln nutzen, als würde sich ihr Werk nicht lesen, als sei es von einer Fünfjährigen geschrieben? Oder würde ich auf sie losgehen, weil sie so furchtbare Arbeit geleistet hatte?
Ich stellte fest, dass ich nichts davon tun konnte. Die Sanftheit meiner eigenen Stimme überraschte mich, als ich sagte: »Haben Sie je zuvor antikes Drakoneisch übersetzt? Oder die moderne Sprache?«
Die Antwort kam als angespanntes kleines Kopfschütteln. Dann fügte sie hinzu, während ich wieder nach Worten suchte: »Onkel hat gesagt: Du liest gerne und du magst Rätsel. Du solltest das hier versuchen.«
Als würde eine Vorliebe für Rätsel einen dafür qualifizieren, mit einer toten Sprache zu arbeiten! Aber es klang genau wie etwas, das Lord Gleinleigh sagen würde. »Haben Sie überhaupt schon viel übersetzt?«
»Ich spreche Thiessois und Eiversch«, sagte sie.
Wenn sie nur annähernd wie andere junge Damen ist, spricht sie sie nur gut genug, um einige Lieder zu singen. »Aber keine Übersetzung? Ich meine lange Passagen.« Als sie wieder den Kopf schüttelte, sagte ich: »Es ist eine ziemliche Herausforderung, und obwohl es manchmal ein wenig wie ein Rätsel ist, ist es auch ganz anders. Sie … haben hier einen guten Anfang gemacht.«
Sie biss wieder die Zähne zusammen. Dann sagte sie offen: »Es ist furchtbar.«
Angesichts einer derartigen Aussage konnte das Taktgefühl meine natürliche Ehrlichkeit nicht länger niederringen. »Es ist furchtbar«, stimmte ich zu. »Aber sogar es so weit zu schaffen, ist eine Leistung.«
Sie starrte auf ihre Schuhe. Ein Lächeln begann, an meinem Mundwinkel zu zupfen – ich konnte es nicht unterdrücken. Dann fing sie an zu lachen, und das überrumpelte mich, und die Anspannung in mir löste sich.
Als wir endlich aufhörten zu lachen, stand ich auf, um ihr einen Stuhl zu holen. Nur dass sie, als ich mich wieder umdrehte, meinen Stuhl eingenommen hatte – ihren Stuhl, meine ich, denn ich habe das Gefühl, dass ich, wenn es darum geht, gegen den Wind segle. Mir schien es nicht mehr wert, darüber zu diskutieren, also setzte ich mich auf den, den ich herangezogen hatte.
»Ich bin Cora«, sagte sie.
»Und ich bin Audrey Camherst.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich meine, das habe ich mir gedacht. Onkel hat gesagt, dass du kommen würdest. Aber du siehst nicht aus wie eine Scirländerin.«
Die meisten Leute sagen es mir nicht so ins Gesicht, obwohl ich weiß, dass sie das denken. »Das bin ich zur Hälfte«, sagte sie. »Meine Mutter ist eine Utalu. Aus Eriga.«
Den letzten Teil fügte ich an, weil die meisten Scirländer dazu neigen, Eriga als undifferenzierte Masse zu betrachten, einen ganzen Kontinent, der unter einem Namen zusammengefasst wird, und die Talu-Union nicht auf einer Karte finden könnten, wenn man ihnen damit drohte, sie für ihr Scheitern kielzuholen. Aber Cora nickte, ehe ich es überhaupt ganz klargestellt hatte. »Du bist die Enkelin von Lady Trent. Und dein Großvater, dein Stiefgroßvater meine ich, ist derjenige, der Drakoneisch entschlüsselt hat.«
»Na ja, er und ein Haufen anderer Leute. Es ist nicht so, dass er es einfach eines Tages angesehen und gerufen hat: Ha! Ich hab’s! Aber ja, er ist derjenige, der den Kataraktstein übersetzt und die Theorie aufgestellt hat, dass die Sprache mit Lashon und Akhisch verwandt ist. Und dann hat Großmama bewiesen, dass er recht hatte.«
»Hast du irgendwelche Drakoneer getroffen?«
»Oh ja, ganz viele. Ich war sogar schon im Refugium.« Ich erschauderte bei der Erinnerung. »Die Leute sind liebenswert, aber was sie dort ›Sommer‹ nennen, würde hier kaum als kühler Frühlingstag durchgehen.«
Cora sagte: »Ich war noch nie außerhalb von Scirland. Ich glaube nicht, dass es mir sehr gefallen würde, aber Onkel verreist andauernd. Meistens nach Thiessin und Chiavora – Akhien hat ihm nicht gefallen.«
Alle möglichen unhöflichen Antworten schossen mir dabei durch den Kopf, aber ich schluckte sie hinunter.
»Wenn du nicht willst, dass ich dir helfe«, fuhr Cora fort, »dann sag es mir. Onkel hat gesagt, dass ich tun soll, was auch immer du sagst.«
Als sei sie irgendeine Bedienstete! Oder noch schlimmer, eine Sklavin. »Ich möchte deine Hilfe«, sagte ich. »Aber nur, wenn du helfen willst.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wie ich das kann. Du hast gesehen, was passiert ist, als ich es versucht habe. Und es hat dich wütend gemacht, nicht wahr? Dass ich versucht hatte, etwas zu übersetzen.«
Höflich wäre es gewesen, zu lügen. Aber Cora ist so direkt, dass ich feststellte, dass ich genauso antwortete. »Nun ja, ein wenig. Aber ich hätte nicht wütend sein sollen. Was das Übersetzen betrifft, braucht es gewöhnlich Jahre des Studiums, bis jemand bereit ist. Es gibt allerdings andere Dinge, die du tun kannst – und um ehrlich zu sein, wäre ich dafür dankbar. Dein Onkel will, dass das hier sehr schnell erledigt wird, sodass es mein Leben viel einfacher machen würde, wenn mir jemand bei all den Nebenaufgaben helfen würde.«
Sie nickte und war nicht überrascht. »Als die Tafeln angekommen sind, hat er gesagt, dass sie alles verändern würden.«
Tagebuch, ich sage dir: Lord Gleinleigh hat eine sehr hohe Meinung über die Wichtigkeit seines Fundes, und ich fange an, mich zu fragen, warum. Er hat einen langen Erzähltext entdeckt, und das ist sehr aufregend, wenn man sich viel aus der antiken drakoneischen Zivilisation macht. Wir haben zuvor einige Gedichte entdeckt, wenige, kurze mythische Legenden oder Auszüge aus der Geschichte, jedoch nichts, was diesem Maßstab nahekommt. Aber zu sagen, dass es alles verändern wird? Das scheint mir unangebracht, wenn wir noch nicht einmal wissen, was da steht.
Was mich dazu bringt, mich zu fragen, ob er es irgendwoher doch weiß. Nur dass ich mir nicht vorstellen kann, wie er das überhaupt könnte! Es ist leicht genug, den Sinn einer Steuerliste auf den ersten Blick zu erkennen, aber eine Erzählung ist viel schwieriger, und selbst einige Minuten des Betrachtens sagen mir, dass diese hier wirklich kompliziert ist. Die Sprache ist so archaisch, dass mir nicht viele Leute einfallen, die überhaupt wüssten, was sie damit anfangen sollten, und die Besten von ihnen könnten sie nicht einfach überfliegen und einem erklären, was da steht, nicht im Detail. Ich habe Lord Gleinleigh erzählt, dass ich zwei Tafeln pro Monat durcharbeiten kann. Ich hoffe nur, dass ich mein Wort halten kann. Wie also könnte er – ein Mann, der wahrscheinlich nicht einmal weiß, was ein Determinativ ist – auch nur anfangen vorauszusagen, welche Wirkung das hier haben wird?
Pah. Ich zäume den Drachen vom Schwanz auf. Lord Gleinleigh hat nur eine übersteigerte Meinung von sich selbst, also muss natürlich alles, was er findet, gewaltig wichtig sein.
Natürlich habe ich nichts davon zu Cora gesagt. Ich bin nicht so hirnrissig. Ich sagte nur: »Gut, wir werden sehen. Es wird viele Arbeitsstunden dauern, ehe wir irgendeine echte Ahnung haben, was hier steht.«
Dasselbe sagte ich erneut beim Abendessen heute Abend, um zu sehen, ob Lord Gleinleigh reagieren würde, aber das tat er nicht. Wir haben alleine gegessen, ohne Cora. Als ich fragte, warum, antwortete er nur, dass »sie nicht gerne in Gesellschaft speist«. Dann, während ihm Missbilligung aus jeder Pore strömte, sagte er: »Ich habe gehört, dass Sie den ganzen Nachmittag im Garten waren.«
Er dachte, ich drücke mich! Ich sagte: »Ja, weil ich heute mit dem Kopieren angefangen habe. Ich weiß nicht, warum, aber ich finde, dass natürliches Licht am besten dafür ist, mich die Inschrift deutlich sehen zu lassen – Lampen sind einfach nicht dasselbe.«
»Kopieren?«, wiederholte er.
Er versuchte nicht einmal, nicht misstrauisch zu klingen. Ich seufzte und erklärte in meinem diplomatischsten Tonfall: »Die Tafeln sind zwar zum größten Teil in einem guten Zustand, aber das werden sie nicht lange bleiben, wenn ich sie ständig anfasse. Es ist viel besser, mit einer Kopie zu arbeiten – einer exakten Zeichnung der Symbole, wie der Schreiber sie geschrieben hat – und das Original nur zu konsultieren, wenn ich denke, dass da vielleicht ein Fehler ist. Sobald das erledigt ist, werde ich den Text transkribieren …« Ich sah, dass ich ihn verloren hatte. »Die Laute in unserem Alphabet aufschreiben«, sagte ich. »Das sind notwendige Schritte, mein Lord, das versichere ich Ihnen. Fragen Sie jeden Übersetzer, und er wird Ihnen dasselbe erzählen.«
Lord Gleinleigh verwarf das mit einem kurzen Wink. »Nein, nein, ganz richtig. Ich stelle Ihre Methoden nicht infrage, Miss Camherst.« (Doch, das tat er … aber das stellte ich nicht heraus.)
Der Hausdiener servierte den Suppengang. Etwas muss ich Lord Gleinleigh zugutehalten: Er tischt ein gutes Festmahl auf. Allerdings habe ich bei Suppe immer Angst, dass ich schlürfe und mich blamiere. Der Graf widmete sich ganz ruhig seiner eigenen Schüssel und richtete sich dann genug auf, um zu fragen: »Wie kommen Sie voran?«
»Bis jetzt gut. Ich habe heute gute Fortschritte mit dem Kopieren der ersten Tafel gemacht.« Ich lachte. »Jedoch wäre ich weiter gekommen, wenn Ihre Gärtner und Bediensteten mich nicht ständig unterbrochen hätten, um mir einen Sonnenschirm anzubieten. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das direkte Licht für meine Arbeit brauche, aber sie haben es immer weiter versucht!«
»Sie sorgen sich nur um Ihre Gesundheit«, sagte er.
Und um meinen Teint, da bin ich sicher – als sei der nach scirländischen Standards nicht bereits auf verlorenem Posten. Aber meine Güte, das hier ist nicht Eriga oder die akhische Wüste. Ich glaube nicht, dass mich die Sonne hier verbrennen könnte, wenn sie es den ganzen Sommer lang versuchen würde – noch viel weniger mitten im Winter.
Dann räusperte Lord Gleinleigh sich und fragte: »Und was ist mit dem Text selbst? Ich weiß, dass Sie gesagt haben, dass diese anderen Schritte zuerst kommen, das Kopieren und so weiter, aber …?«
Wenn ich ihn lasse, wird er mich dazu drängen, das hier völlig halbgar zu machen, statt den richtigen Standards zu folgen. Tja, ich werde ihn nicht lassen – und ich habe gute Gründe dafür. »Das ist schwer zu sagen. Wissen Sie«, (ich bezweifle, dass er irgendetwas Derartiges weiß), »dass es in der drakoneischen Schrift ein Zeichen gibt, das genutzt wird, um Wörter zu trennen, gerade so, wie wir ein Leerzeichen nutzen? Das ist eine spätere Innovation in ihrer Schrift. Frühere Texte haben es nicht, und das hier ist definitiv ein früherer Text. Während ich also hier und da ein Wort herauslesen kann, sind wesentlich mehr so gut wie miteinander verschwommen, sodass ich nicht sicher bin, ob da zašu kīberra oder zašukī berra steht. Ich fürchte, es wird einige Zeit dauern, bevor ich etwas habe, das klar genug ist, um es mit Ihnen zu teilen.«
»Kann Cora nicht helfen? Sie arbeitet schon an den Tafeln, seit diese angekommen sind.«
Offensichtlich hat er sich nichts von ihrer Arbeit angesehen, sonst wüsste er die Antwort darauf. Nun, ich hatte nicht vor, ihm zu erklären, dass ihre Mühen uns beide zum Lachen gebracht hatten. Ich sagte bloß: »Wir werden sehen«, und beließ es dabei.
(Wenn ich zurück auf das blicke, was ich geschrieben habe, kann ich Großmama hören, wie sie über mich mit der Zunge schnalzt. »Ihr jungen Leute und eure Duzerei! Ihr kanntet einander kaum drei Minuten, bevor ihr miteinander gesprochen habt wie beste Freundinnen.« Tja, ich habe nicht vor, jedes Mal »Miss Fitzarthur« zu schreiben, wenn ich mich auf Cora beziehe, und ich glaube nicht, dass es sie stört. Das ist ihr Familienname – sie muss die Tochter von Lord Gleinleighs Bruder sein, weil sie ihn »Onkel« nennt. Mir war jedoch nicht bewusst, dass er einen Bruder hat. Es ist wirklich schockierend, wie wenig ich über den scirländischen Hochadel weiß, obwohl ich eines Tages Großmamas Baronie erben werde.)