Читать книгу No Pain, No Gain - No Love - Mariella Heyd - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеSie existierten wirklich, diese Tage, an denen Glück, Angst, Freude und Trauer nah beieinander lagen. Ich dachte, diese Mischung würde einem frühestens begegnen, wenn man sein erstes Kind in den Armen hielt und man einerseits vor Freude weinen, andererseits vor der Verantwortung davonlaufen wollte. Aber irgendwie war dieser Moment an jenem ersten September für mich auch ein bisschen wie eine Geburt; ein Neuanfang – nur ohne Kind. Noch nie zuvor hatte ich derart viel Freiheit und zeitgleich so viel Druck verspürt.
Die Träger des Rucksacks schnürten sich durch meinen Kapuzenpullover ins Fleisch, als ich vor den Hallen der University of Michigan stand. Seit Stunden schleppte ich mein Gepäck schon mit mir herum. Ich quetschte meine Finger zwischen Träger und Schultern, um meine Muskulatur wenigstens ein bisschen zu entlasten. Dafür spürte ich sofort meinen Puls in den Daumen, die nun das Gewicht meiner Lieblingsbücher und einer Wasserflasche tragen mussten, die wie ein Holzklotz mit jedem Schritt gegen meinen Rücken polterten. Durch den Stoff des Sweaters spürte ich die Dellen, die die Rucksackträger auf meiner Haut hinterlassen hatten; wie ein zu eng sitzender BH, nur schlimmer. Die Reise nach Ann Arbor fühlte sich für mich wie eine Weltumsegelung an. Doch je weiter ich von dem Ort entfernt war, den andere Zuhause nannten und der für mich eher einer Gefängniszelle glich, desto besser. Ich fragte mich dennoch, wie es manche Backpacker schafften, Wochen und Monate mit einem voll beladenen Rucksack um die Welt zu reisen.
Die Sporttasche, die ich schon zu Schulzeiten immer zum Schwimmen dabeigehabt hatte, stellte ich auf dem Boden ab, weil ich glaubte, mein Arm falle ab. Der Reißverschluss war während der Fahrt hierher aufgeplatzt und der Ärmel eines weinroten Sweatshirts ragte heraus. Inzwischen bereute ich es, dass ich mein ganzes Hab und Gut in zwei Taschen gestopft hatte und nun mit mir herumtragen musste. Vielleicht hätte ich einfach ein paar Dinge zu Hause lassen sollen, aber ich wollte alle Zelte abbrechen – am liebsten alle Spuren von mir verwischen. Ich bedachte die blau-weiß gestreifte Tasche mit dem abblätternden Markennamen mit einem nachdenklichen Blick. Irgendwie traurig, wenn ein ganzes Leben in eine Tasche und einen Rucksack passte. Wirklich viel zu verlieren hatte ich offenbar nicht, und damit meinte ich nicht nur materielle Dinge.
Ich kramte in meiner Jackentasche nach dem Brief – meinem Ticket in ein neues Leben. Neben einem angebrochenen Kaugummipäckchen, ein paar Krümeln und einem benutzten Papiertaschentuch wurde ich fündig. Das Schreiben der University of Michigan steckte noch immer im Originalumschlag, nur einmal in der Mitte gefaltet. Das Klarsichtfenster, unter dem meine alte Adresse zu sehen war, knisterte, als ich den Umschlag auseinanderfaltete. Seit die Post mir die Zusage für den Studienplatz für Kommunikationswissenschaften an der LSA, dem College für Literature, Science and Arts, zugestellt hatte, hütete ich das Dokument wie meinen Augapfel. Ich freute mich darüber mehr als Harry Potter über seine Einladung nach Hogwarts, denn es gab weitaus Schlimmeres, als unter einer Treppe hausen zu müssen.
Als erste Regentropfen auf meiner Eintrittskarte für eine zweite Chance landeten und wellige Kreise darauf hinterließen, steckte ich den Umschlag zurück in die Jacke, schwang mir meine Sporttasche über die Schulter und begab mich in Richtung der heiligen Hallen. Die Universität ragte vor mir auf wie ein Herrenhaus im gotischen Stil, mit zwei Türmen über dem Eingang. Die LSA befand sich allerdings in einem anderen Gebäude; der sogenannten Angell Hall mit meterhohen Säulen. In Gedanken strich ich ein L aus dem Namen und hoffte auf ein wenig himmlischen Beistand. Während ich über den Gehweg schlenderte, ließ ich die beeindruckende Architektur auf mich wirken. Ich wusste auch, dass sich hinter diesen meterdicken Mauern eine der größten Bibliotheken des Landes befand. Ein Traum für eine Leseratte wie mich, die pro Woche mindestens drei Bücher verschlang.
Regentropfen färbten die hellgrauen Steinplatten auf dem Boden dunkelgrau; immer schneller, bis der Regen die Baumkronen über mir zum Rascheln brachte und sich ein Wolkenbruch über Ann Arbor ergoss, begleitet von einem Donnergrollen. Ich suchte Schutz im Eingangsbereich der Universität. Hier drin war der Regen nur noch als Trommeln auf der Überdachung vor der Tür zu vernehmen. Eine hastig ausgedrückte Zigarette qualmte in einem der Aschenbecher vor der Flügeltür, bis sie von einem Tropfen erstickt wurde. In der dunkelgrün-braun gefliesten Aula war es kaum angenehmer als draußen. Pfeifend zog der Wind durch das Treppenhaus des Gebäudes, und mit jedem Studenten, der zur Vordertür hereinkam, blies mir eine kalte, ungemütliche Böe in den Nacken. Ich zog an den Schnüren meines Kapuzenpullovers, um mich vor der Kälte zu schützen. Links und rechts einer Treppe standen runde Tische, auf denen Flyer lagen, von denen es die meisten über den Boden fegte. Auf manchen waren schon die Abdrücke von Schuhsohlen zu sehen. Ich schlenderte zu einer Glasvitrine, deren Türen im Gegensatz zu den anderen Schaukästen voller gelber und rosafarbener Zettel mit Lerngruppenangeboten behangen waren. Sie war mit Gold- und Silberpokalen und Fotos der Footballmannschaft bestückt. Teams unterschiedlicher Jahrgänge strahlten mit ihren Helmen unter den Armen in die Kamera. Den Frisuren und der Bildqualität nach zu urteilen, mussten ein paar der sepiafarbenen Fotos aus den Siebzigerjahren stammen. Ich sah mir die einzelnen Auszeichnungen an, obwohl mich Sport nicht im Mindesten interessierte. So wirkte ich wenigstens beschäftigt und nicht wie ein Freshman, ein Frischling, der gerade von der Highschool kam und noch nicht wusste, was ihn hier erwartete. Auf allen Pokalen, Trikots und Urkunden fand sich das Logo der Universität: eine Wunderlampe. Vielleicht würde mir der Flaschengeist meinen sehnlichsten Wunsch erfüllen, sodass ich nicht mehr zurück in den Trailer Park musste. Die Wohnwagensiedlung hatte mich mein ganzes Leben lang begleitet, und ich würde sie nicht vermissen. Es gab nichts Tristeres als einen Ort voller mobiler, freiheitversprechender Heime, die niemals ihren Platz verlassen und etwas von der Welt entdecken würden. Dort geboren, wollte ich nicht auch dort noch das Zeitliche segnen. Dieses Studium war meine große Chance. Ich sagte es mir wie ein Mantra immer und immer wieder.
Hinter mir ertönte eine Vuvuzela, so laut, dass man damit gut und gern eine Schlacht in Mittelerde hätte ankündigen können. Vor Schreck machte ich einen Satz nach vorn und stieß gegen die Vitrine. Die Pokale wackelten gefährlich, doch bis auf ein gerahmtes Foto, das mit einem lauten Klong umkippte, blieb alles unversehrt. Mit erhobenen Händen ging ich zwei Schritte rückwärts und betete, dass nichts zu Bruch ging.
»Hermine Granger, bitte zur Gruppe, falls du eine der Neuen bist.«
Ich drehte mich um. Am Fuß der Treppe standen ein Junge und ein Mädchen, etwa in meinem Alter. Beide trugen blaue Pullover der Universität mit einem strahlend gelben M darauf. Es mussten die Sophomores sein, also Studenten des Jahrgangs über meinem, die uns Neulinge als Mentoren an das Leben hier am Campus gewöhnen sollten. Vor ihnen stand eine Traube junger Leute, die wie ich mit Taschen und Koffern bepackt waren und mich musterten. Ich hatte den Pulk, der nach mir eingetroffen sein musste, überhaupt nicht wahrgenommen. Na super. Kaum hier, schon stand ich auch schon im Mittelpunkt.
»Schlammblut«, raunte ein Typ, dessen Bauchansatz unter dem Saum seines Pullovers hervorlugte, mit aufgesetzt dunkler Stimme. Eindeutig der Typ Klassenclown.
»Sehr witzig«, murmelte ich leise und schloss mich den anderen Erstsemestern an. Nicht zum ersten Mal nannte man mich Hermine – aufgrund meiner braunen, wuscheligen Haare und den guten Schulnoten. Dabei waren meine Noten das Ergebnis harter Arbeit. Mathematische Gleichungen, chemische Formeln – all das waren nie intellektuelle Selbstverständlichkeiten für mich gewesen. Mit viel Disziplin habe ich für meine Noten gearbeitet, und diesen Biss hatte ich einzig und allein meiner Motivation zu verdanken: endlich meine Vergangenheit loszulassen und neu zu beginnen. Schon Carl Gustav Jung hatte gewusst: Ich bin nicht das, was mir passiert ist, ich bin, was ich beschließe zu werden.
»Alle herhören«, zog der Vuvuzelabläser die Aufmerksamkeit auf sich. »Sid und ich«, weiter kam er nicht, denn seine Begleitung stieß ihm in die Rippen und übernahm das Wort.
»Mein Name ist Sidney, und gemeinsam mit Joshua werde ich euch die Universität und eure Zimmer zeigen. Wir werden in den ersten Wochen eure Mentoren sein und euch beim Ankommen helfen.« Sie strahlte in die Runde und rückte dabei ihre Brille mit einem Naserümpfen zurecht. Zwei, drei Neulinge spendeten mageren Applaus, der schnell wieder verklang.
»Schön gesagt«, mischte sich Joshua wieder ein und schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln, auf das sie mit einem geflüsterten »Danke« reagierte. Sie betastete offensichtlich verlegen ihre Haarspange und korrigierte deren Sitz. Graues Mäuschen trifft auf Partyboy, schoss es mir durch den Kopf. Das Leben am Campus würde genau die Klischees hergeben, wie ich sie schon Tausende Male in Filmen gesehen hatte, da war ich mir sicher. Genauso sicher war ich mir, dass ich um diese Szene einen weiten Bogen machen würde – keine Partys, keine Jungs, kein Alkohol.
»Wer Party machen will, hält sich besser an mich. Fuck, yeah!« Joshua, als hätte er meine Gedanken gelesen, blies erneut in die Vuvuzela. Eine Tür flog auf und ein Mann trat fluchend heraus.
»Verflixt! Packen Sie endlich dieses verdammte Ding weg!«
Joshua versteckte das Instrument prompt hinter seinem Rücken und setzte eine Unschuldsmiene auf. »Shit, Bienberg«, flüsterte er. Der Professor streckte drohend den Zeigefinger nach ihm aus.
»Ich will nichts mehr hören.«
»Japp, Sir.« Er nickte ernst. »Halb so wild«, winkte er ab, als der ältere Mann wieder verschwunden war. »Bieni sucht übrigens gerade jemanden zum Rumscheuchen, falls ihr neben Zuckerbrot und Peitsche auch noch Geld braucht. Jetzt aber mir nach. Zeit, hier zu verschwinden. Bei Bienberg solltet ihr euch nicht unbeliebt machen.«
»Also tut am besten genau das Gegenteil von dem, was Joshua tut«, ergänzte Sidney grinsend.
Wir folgten den beiden durch Flure, über den inzwischen regennassen Campus, von einem Gebäude ins andere, bis niemand außer mir mehr so recht wusste, wo wir uns in Ann Arbor genau befanden. Zwar würde es auch bei mir ein paar Tage dauern, bis ich mich hier blind zurechtfand, allerdings kannte ich die Universität und ihre Geschichte jetzt schon besser als so mancher Dauerstudent, denn sie sollte mein neues Zuhause werden – mein erstes, richtiges Zuhause. Alle Zeichen standen für mich auf Neuanfang, und sobald ich das nötige Kleingeld zusammenhätte, würde ich mir sofort einen Universitätspullover als Zeichen meiner Zugehörigkeit kaufen. Doch davon war ich noch weit entfernt. Gegenwärtig hatte ich nicht einmal einen Job in Aussicht und keine Ahnung, wie ich mich hier über Wasser halten wollte. Während der Highschool hatte ich mit einer Menge Ehrgeiz um meine Bestnoten gekämpft und in den Ferien extra Leistungskurse belegt. Letztlich hatte ich dadurch nicht nur ein Empfehlungsschreiben, sondern auch ein Stipendium einheimsen können. Ohne das wäre ich heute nicht hier. Für mich hieß das allerdings auch: pauken, pauken, pauken. Sollte ich den Erwartungen meiner Förderer nicht gerecht werden, würde man mir die Zahlungen für die Studiengangskosten streichen, und schlimmstenfalls würde ich einen Teil zurückzahlen müssen. Für meinen Unterhalt musste ich selbst aufkommen, und das bedeutete, ich brauchte schnellstens einen Job.
»Da drüben ist unser Alpha-Chapter-Verbindungshaus«, erklärte Joshua und zeigte auf ein Gebäude, über dessen Eingang ein Banner mit der Aufschrift Phi Delta Phi hing. Die roten Pappbecher und eine abgerollte Toilettenpapierrolle ließen darauf schließen, dass hier wilde Partys stiegen. Ein Kerl, der in Embryonalhaltung auf einer Sonnenliege lag und offenbar seinen Rausch ausschlief, bestätigte meinen Verdacht. Es störte ihn offenbar kein bisschen, dass sich unter seinem Hintern eine Regenpfütze gebildet hatte und an ihm kein trockenes Fleckchen mehr war. Um dieses Gebiet würde ich einen großen Bogen machen. Ich hatte nur ein Ziel vor Augen: den besten Abschluss. Wenn ich es schaffte, besser abzuschneiden als alle anderen, war mir die ausgeschriebene Stelle hier an der Universität sicher, und ich würde nie wieder zurückmüssen. Wenn nicht … daran wollte ich keinen Gedanken verschwenden.
Um alle Schäfchen zusammenzuhalten, führte Joshua den Trupp weiter an, während Sidney auf die Nachzügler wartete. Als sie auf meine Höhe kam, winkte ich ihr kurz zu.
»Hi, kann ich dir helfen?«
»Ja, Joshua meinte vorhin, dass Professor Bienberg eine freie Stelle habe.«
»Bieni ist etwa alle sechs Monate mit seinen Hiwis unzufrieden und wechselt sie aus, wenn sie nicht von selbst die Flucht bei diesem Griesgram ergreifen. Interessierst du dich für den Job?«
»Kommt darauf an, was zu tun ist und wie gut er bezahlt.« Mein Zimmer auf dem Campus kostete mich jeden Monat eine Menge Geld, das ich nicht hatte.
»Zahlen tut er mehr als alle anderen.« Sidney nannte mir die Summe, die tatsächlich in Ordnung war. Mit der Bezahlung würde ich zwar jeden Cent zweimal umdrehen müssen, aber Hauptsache, die Miete war gesichert. »Dafür erwartet er aber auch, dass du jederzeit abrufbereit bist, wenn er nach dir pfeift«, fuhr Sidney fort. »Einmal hat ein Student behauptet, Bieni habe ihn nachts um drei aus dem Bett geklingelt. Keine Ahnung, ob das stimmt. Versuch doch einfach mal dein Glück.« Sie zwinkerte mir zu und machte sich auf zu den Trödlern.
Das Studentenwohnheim, in dem auch ich leben würde, lag am Rande des Campus. Es war ein unscheinbares Gebäude mit roten Ziegelsteinen, das von einer kleinen Baumallee umgeben wurde. Noch schlichter war der Raum im vierten Stock in der Größe eines Schuhkartons, in dem ich schlafen und für die Prüfungen büffeln würde. Mehr würde ich in den kommenden Semestern nicht brauchen. Das Zimmer hatte etwas Heimisches mit einem Baum direkt vor dem Fenster, der einen Blick in das Geäst erlaubte.
»Puh, wie soll man hier zu zweit schlafen?«, nahm ich eine Stimme hinter mir wahr.
Ich drehte mich zu der Blondine um, die hinter mir in das Zimmer kam. Sie warf ihre Handtasche auf den Stuhl, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um.
»Verzeihung, ich verstehe nicht ganz.«
»Na …«, sie ließ sich auf das Bett in der linken Zimmerhälfte fallen, »wir teilen uns die Bude hier.«
Mein Blick schweifte durch den Raum. Hinter der Tür stand tatsächlich noch ein weiteres Bett, das ich beim Hereinkommen nicht gesehen hatte. »Du meinst, das ist ein Doppelzimmer?« Für zwei Personen war das Zimmer doch recht beengt, aber immer noch mehr als das, was ich kannte.
»Nee, die Suite des Präsidenten.« Sie rollte mit den Augen, ohne dabei unfreundlich zu wirken, eher amüsiert. »Ich bin Clarissa. Und du bist …«
»Harper.« Ich streckte meine Hand zur Begrüßung aus. Clarissa grinste schief, legte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf das Bett und streckte sich ausgiebig. Dabei blitzte ihr gepiercter Bauchnabel unter ihrem Shirt hervor. Meine Hand zog ich wieder zurück.
»Studierst du auch Rechtswissenschaften?«
»Weit gefehlt. Kommunikationswissenschaften.«
»Reden kann ich wie ein Wasserfall. Was macht man damit nach dem Studium?«
»Meistens Unternehmens- und Organisationskommunikation. Im Prinzip kann man damit fast überall arbeiten.« Genau das hatte mir an dem Studiengang besonders gut gefallen. Die Wahrscheinlichkeit, danach arbeitslos zu sein, war extrem gering, und bei meiner Wahl für ein Fach war genau das mein wichtigster Faktor gewesen.
»Und was schwebt dir so vor?«
Über eine Antwort musste ich nicht lange nachdenken. »Die Uni hat nach jeder Kohorte eine Ausschreibung, weil das Institut für Öffentlichkeitsarbeit, Medien- und Meinungsforschung ausgebaut wird. Sie nehmen immer den Studiengangsbesten.«
»Klingt nach einem großen Plan.«
»Dafür werde ich auch einiges tun müssen. Bestimmt bin ich nicht die Einzige, die den Job ergattern will. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschung hat man gute Karten, dass man irgendwann promovieren kann.« In meiner Familie wäre ich dann nicht nur die Erste, die erfolgreich studiert, sondern auch die Erste mit Doktortitel.
Clarissa pfiff anerkennend durch ihre Zahnlücke.
»Was hast du denn vor?«, hakte ich bei ihr nach.
»Irgendwie durchkommen und meine Eltern zufriedenstellen.« Sie winkte ab. »Sag mal, hast du reiche Eltern, oder wieso dachtest du, du wohnst hier allein?«, nahm sie das Gespräch wieder auf und lenkte damit von sich ab.
Ich stellte meine Tasche und meinen Rucksack auf dem anderen Bett ab und schloss die Tür. Reiche Eltern … Wenn sie wüsste, dass dieses Zimmer das komfortabelste war, was ich je bewohnt hatte. Bislang kannte ich nur die Pritsche unseres Wohnmobils, und ab und an hatte ich draußen auf einem zerschlissenen Sofa genächtigt, dessen Metallfedern sich durch die Polster gebohrt hatten, wenn es drinnen nicht mehr auszuhalten war und ich eine Nacht im Freien vor unserem Camper vorzog.
»Nein, keine snobistischen Eltern«, entgegnete ich und schenkte ihr ebenfalls ein Lächeln. Hoffentlich genügte ihr diese Antwort. Ins Detail wollte ich keinesfalls gehen, denn ich wollte nicht als das bemitleidenswerte Mädchen aus dem Trailer Park abgestempelt werden, sondern einfach Harper sein; ganz ohne zentnerschweren emotionalen Ballast.
Unser Gespräch fand ein jähes Ende, als ihr Smartphone klingelte.
»Hi, Mom.« Sie sah mich an, wies auf ihr Handy und deutete mit einer Geste an, sich zu erwürgen. »Ja, Mom, angekommen. Nein, erste Sahne. Keine Jungs, keine Partys, kein Alkohol und natürlich kein Sex. Versprochen.« Nach ein paar weiteren Versprechungen zu ihrer Keuschheit legte sie auf und warf sich wieder auf die Matratze. Der Lattenrost federte quietschend zurück. »Hast du auch so nervige Eltern?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Das war nicht gelogen. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Schon immer, denn für mich interessierte sich schlicht und ergreifend niemand.
»Du hast es gut.«
»Hm. Das kann man so oder so sehen«, hielt ich es vage. Dass ich außer einer alkoholkranken Mutter keine Familie hatte, durfte hier niemand erfahren. Die anderen Studenten kamen sicherlich aus weitaus besseren familiären Situationen, was ich nicht zuletzt an deren Kleidung und Gesprächen festmachte, die ich während des Rundgangs aufgeschnappt hatte. Geburtstagspartys, Autos – das alles war mir fremd.
Clarissa rappelte sich auf und machte sich daran, ihre Koffer auszuräumen. Im Gegensatz zu mir war sie mit zwei roten Hartschalenkoffern und einer XXL-Handtasche angereist. Sie belagerte binnen zwei Minuten über die Hälfte des Kleiderschranks. Unwillkürlich fragte ich mich, zu welchen Gelegenheiten man so viele Kleider tragen wollte. Ich packte meinen Rucksack ebenfalls aus, allerdings nur die Bücher, die ich mitgenommen hatte. Ich stapelte sie auf dem Nachtschrank neben meinem Bett. Das Holz zierten einige Wasserränder sowie ein paar Kratzer und Kugelschreiberstriche. Der Platz würde niemals ausreichen für all die Geschichten, die ich für gewöhnlich verschlang, aber wer wusste schon, ob ich die hier überhaupt brauchen würde. Statt weiterhin in Tolkiens oder Rowlings Arme zu entfliehen, hatte ich eine echte Flucht geplant – und bis jetzt erfolgreich umgesetzt.
»Du liest freiwillig Bücher?« Clarissa zog die Nase kraus und widmete sich sofort wieder ihren Kleidern, die sie sorgfältig Teil für Teil zusammenlegte.
»Wieso nicht?« Bücher waren meine Ablenkung von der Realität gewesen, seit ich denken konnte. Wann immer meine Mutter betrunken auf dem Sofa lag oder lautstarke Streitereien mit einem ihrer Männer unseren Wohnwagen noch kleiner werden ließen, als er ohnehin schon war, hatte ich mich nach draußen auf den von Rost zerfressenen Klappstuhl verzogen, ließ meine Fußsohlen von dem darunter wachsenden Farn kitzeln und las mich in andere Welten. Fiktive Realitäten waren das Einzige gewesen, was mich den Knoten in meinem Magen und die heißen Tränen auf meinen Wangen für wenige Momente vergessen ließ. Die meisten Helden fingen schließlich auch ganz unten an und mussten sich nach oben arbeiten. Meine Lage war somit prädestiniert für eine Heldenreise.
»Wir müssen in den kommenden Semestern genug lesen, findest du nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Dazu bin ich hier.«
»Also ich«, sie grinste, als hätte sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, »will feiern, Jungs kennenlernen, mich richtig betrinken, und nebenbei mache ich den Abschluss, damit meine Eltern Ruhe geben. Zum Schluss schaut doch sowieso keiner mehr auf die Noten. Aber wenn du uuunbedingt lernen willst.« Sie neigte den Kopf und sah mich mit großen Augen an, als würde sie mich einer Lüge überführen wollen.
»Will ich wirklich«, hielt ich dagegen und verzog keine Miene, damit sie verstand, wie ernst es mir war.
»Na schön. Ich werde dich nicht davon abhalten, denn du wirst mich hier so gut wie nie sehen. In diesem Kabuff hält man es keine zwei Sekunden aus. Die Luft steht jetzt schon«, nörgelte sie und stöpselte das Akkuladegerät ihres Smartphones in einer Steckdose ein. »Aber mit der Einstellung werden wir bestimmt keine besten Freundinnen.« Sie lachte über ihren Scherz, ohne zu ahnen, dass ich wirklich keine Freundschaften schließen wollte. Natürlich wünschte ich mir Anschluss, jemanden zum Reden, aber für keine Freundschaft dieser Welt durfte ich meinen Abschluss riskieren. Als Studiengangsbeste war mir die Vollzeitstelle an der Uni als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Verwaltung so gut wie sicher, und dieser Einstieg ins Berufsleben würde meine Zukunft in Michigan finanziell absichern. Ich hatte nur diese eine Chance. Außerdem: Auf welchem Fundament sollte eine Freundschaft stehen, wenn ich vorhatte, aus meiner Vergangenheit ein Buch mit sieben Siegeln zu machen? Natürlich waren Freundschaften etwas Wundervolles; wenn sie so abliefen wie in Filmen oder Serien. Meine letzte Freundschaft hätte mich allerdings beinahe ins Gefängnis gebracht, aber das war ein Thema, das in meinem neuen Leben keinen Platz mehr haben sollte.
»Gut. Ich will nicht so sein. Stehen deine Koffer noch unten? Ich helfe dir beim Tragen.« Clarissa deutete auf die Tür, an der noch immer die Kanten eines abgerissenen Posters unserer Vorgänger klebten.
Ich deutete auf die Sporttasche und klopfte auf meinen inzwischen fast leeren Rucksack. »Das hier ist alles.«
»Was?« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Das war’s schon? Damit wirst du hier keine drei Monate überleben. Du brauchst doch Pyjamas, eine Kuscheldecke, Hausschuhe, Ausgehsachen, Pullover und Mäntel, wenn es kalt wird. Am besten auch einen Morgenmantel, denn ich glaube kaum, dass dieser winzige Heizkörper das Zimmer auch nur annähernd auf Temperatur bringt.«
Ich überlebte damit schon wesentlich länger. Manche der Sachen waren schon so alt, dass sie am Saum der Ärmel ganz ausgefranst waren. »Ich bin nicht so die Shoppingqueen«, redete ich mich heraus. War ich in der Tat nicht, denn dazu fehlte mir schlicht und ergreifend das Geld. Alles, was ich mir je durch Nebenjobs hinzuverdient hatte, hatte ich für Rechnungen wieder ausgeben müssen, die meine Mutter nicht begleichen konnte. So war uns wenigstens die meiste Zeit der Schuldeneintreiber vom Hals geblieben, der beständig mit einer Gefängnisstrafe drohte, wenn wir das Geld nicht zusammenkratzen konnten oder nichts Pfändbares auffindbar war.
»Wenn du willst, kannst du dir jederzeit Klamotten von mir ausleihen, bis du shoppen warst. Aber hey, nimm mich mit, denn ich brauche auch noch ein paar neue Teile für den Winter«, bot mir Clarissa an. In meinem Kopf ratterte es schon jetzt auf der Suche nach Ausreden. Ich musste zuerst einmal einen Job finden, um mir überhaupt das Leben am Campus finanzieren zu können. An Klamotten oder sonstige Luxusartikel war nicht zu denken.
»Danke, das ist sehr nett von dir«, erwiderte ich stattdessen nur.