Читать книгу No Pain, No Gain - No Love - Mariella Heyd - Страница 9

Kapitel 4

Оглавление

In der Vorlesung von Professor Bienberg am nächsten Tag hielt ich die Augen nach Max offen. Mit jedem Zentimeter, den sich der Uhrzeiger auf den Beginn der Vorlesung zubewegte, wurde ich nervöser. Kam er oder nicht? Eigentlich sollte es mir egal sein, aber während mein Verstand mich warnte, malte sich mein Herz romantische Tagträumereien aus, in denen er mich verliebt ansah oder wir uns zufällig berührten. Allein der Gedanke daran versetzte mich in Hochstimmung, und immer wieder musste ich mich bei solchen Schwärmereien zur Vernunft rufen. Jedes Mal, wenn ich auf mein Herz gehört hatte und meiner Mutter helfen wollte, war ich kläglich gescheitert. Hingegen war jede Kopfentscheidung von mir die richtige gewesen: gute Noten, Zelte abbrechen, Studium. Es wäre dumm von mir, nicht auch hier auf meinen Verstand zu zählen. Zehn Minuten später hatte ich Gewissheit: Er war wieder nicht da, und ich fühlte mich in meiner Entscheidung bestärkt. Ich hatte ihn also nicht zu Unrecht verurteilt. Ein Stein fiel mir vom Herzen, weil ich rechtzeitig erkannt hatte, was hinter seiner attraktiven Fassade steckte, aber dafür landete ein anderer Stein auf derselben Stelle: Wohin mit meinen Gedanken, die automatisch immer wieder zu ihm zurückkehrten? Als wären wir telepathisch vernetzt, platzte er genau in dem Moment in die Vorlesung. Der Professor schnaufte. Wenn Blicke töten könnten.

»Mister Campbell, brauchen Sie wieder eine Sondereinladung?«

Jetzt war es an Max, zu stöhnen. »Kommen Sie, ich bin zwei Minuten zu spät.« Er warf die Arme in die Luft, als stünde er unschuldig am Pranger.

»Jetzt sind es zwei Minuten, beim nächsten Mal zwölf, dann zwanzig. Was glauben Sie, wozu es Uhren gibt?«

»Um die Zeit zurückzudrehen? Sie haben in diesen zwei Minuten bestimmt noch nicht inhaltlich gearbeitet, oder?« Max stand immer noch mit ausgebreiteten Armen vor dem Pult und wartete ab. Die Menge hinter ihm raunte. Max hielt die Vorlesung auf und Bienberg würde jede Minute gnadenlos von der Pause abziehen.

»Das ist nicht der Punkt. Das Semester ist noch keine zwei Tage alt und schon strapazieren Sie meine Nerven. Setzen Sie sich jetzt endlich. Ihre Kommilitonen, die pünktlich angefangen haben, sollen Ihretwegen nicht länger bleiben müssen.«

Max steuerte den freien Platz rechts neben mir an.

O nein … Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt.

Demonstrativ stellte ich meinen Rucksack darauf, doch davon ließ er sich nicht beirren.

Nein, nein, nein, wiederholte ich innerlich die flehende Bitte, er möge sich woanders hinsetzen. Es waren doch genug freie Plätze vorhanden. Bienberg hatte die Situation genauestens im Blick und tippte sich an sein Ohrläppchen, um mich an seine Worte zu erinnern. Max steuerte zielstrebig auf mich zu. Er packte meinen Rucksack, stellte ihn auf dem Boden ab und setzte sich neben mich.

»Hier war eindeutig besetzt.«

»Hab ich gesehen.« Den Blick auf die Präsentation gerichtet, packte er Block und Stift aus und notierte sich Stichpunkte zu den Folien. Als er kein Interesse an einem weiteren Gespräch mit mir zeigte und mich nicht einmal ansah, tat ich es ihm gleich. Wenn er keine Unterhaltung wollte, weshalb hatte er sich überhaupt neben mich gesetzt? Die stille Nähe zu ihm löste ein innerliches Kribbeln in mir aus und lenkte mich von dem Vortrag ab. Wieder stellte ich mir vor, er würde meinen Arm streifen, und die leise Hoffnung, er würde doch noch ein Wort sagen, ließ sich nicht abschütteln. Ein bitter-süßer Zwiespalt in mir. Ich musste mir bald eingestehen, dass Bienbergs Präsentation wirklich einschläfernd war. Leidglich sein mahnender Blick, den er Max ab und an zuwarf, rüttelte mich wieder wach.

»Wieso sitzt du ausgerechnet neben mir? Es sind genug andere Plätze frei«, flüsterte ich nach der Hälfte der Vorlesung, als ich das Schweigen nicht mehr ertrug. Irgendetwas in mir suchte den Kontakt zu ihm.

»Damit du mich genau das fragen kannst.« Er lachte in sich hinein und markierte einen Satz in seinen Aufzeichnungen mit einem gelben Textmarker.

»Kannst du den Scherzkeks bitte in der Tasche lassen?« Ich wollte die Situation klären, ehe es zu irgendwelchen Missverständnissen kam und ich mich in einer Geschichte verhedderte, mit der ich nichts zu schaffen haben wollte – außer in meiner Fantasie.

»Na schön. Ich sitze hier bereits seit dem letzten Semester. Stammplatz sozusagen.« Er sah mich abwartend an und wippte mit seinem Kugelschreiber zwischen Zeige- und Mittelfinger auf und ab. »Im Grunde hast du dich zu mir gesetzt.« Er grinste keck.

»Wie lange studierst du denn schon hier?«

»Das ist mein zweites Semester. Da Bienberg mich allerdings auf dem Kieker hat, muss ich die Prüfungen wiederholen. Tja, deshalb sitze ich hier … und noch in ein paar anderen Nebenfächern.« Er schnaufte und fuhr sich durchs Haar, als hätte er sich an etwas Unangenehmes erinnert. »Wie dem auch sei, ich sitze jedenfalls nicht hier, weil ich dich ärgern will, wenn du das denkst. Wobei … ein bisschen vielleicht schon.«

Seine Frechheit brachte mich zum Schmunzeln. Dennoch musste ich ernst bleiben und mein Vorhaben untermauern. »Weißt du, ich will einfach nur in Ruhe studieren, keinen Ärger bekommen, mich nicht ablenken lassen …« Ich zuckte mit den Achseln. »Das ist doch nicht zu viel verlangt.«

Max zuckte ebenfalls mit den Schultern. »Und was habe ich mit der Sache zu tun?«

Ich betrachtete seine Hände. Echte Pranken, raue Haut und die Knöchel geschwollen, mit Schrammen übersät von der letzten Prügelei. »Du siehst einfach nach Ärger aus, und mein Gefühl sagt mir, ich sollte einen Bogen um dich machen.«

»Pfff …« Er lehnte sich glucksend zurück und zog durch sein Lachen die Aufmerksamkeit von Bienberg und ein paar Kommilitonen auf sich. Als sich alle wieder der Vorlesung widmeten, flüsterte er etwas leiser: »Ist dein Gefühl«, er malte Anführungszeichen in die Luft, »etwa ein sechzigjähriger Professor mit Wampe, schütterem Haar und Mundgeruch nach Spiegelei, Pfeife und Bacon? Falls ja, tippe ich auf Bieni da vorn.«

»Mag sein, dass er mich vor dir gewarnt hat.« Es sprach nichts dagegen, mit offenen Karten zu spielen.

»Oho, gewarnt auch noch. Bin ich so gefährlich?« Er sah mich mit schief gelegtem Kopf an, als wartete er auf eine Einschätzung von mir.

»Na ja …« Ich musste einfach auf seine Fingerknöchel und die Schrammen in seinem Gesicht sehen. »Ganz ohne bist du scheinbar nicht.«

Max öffnete den Mund, doch ehe er etwas erwidern konnte, schlug Bienberg mit der flachen Hand auf den Tisch. »Genug da drüben! Campbell, ich wusste, Sie sorgen für Ärger. Verlassen Sie sofort meine Vorlesung.« Sein autoritärer Tonfall duldete keine Widerrede.

»Ganz toll«, brummte Max, stopfte seinen Block in den Rucksack und schwang ihn sich im Gehen über die Schulter. Ohne Kontra verließ er den Raum. Für Außenstehende erweckte sein Verhalten bestimmt den Eindruck, als habe er den Rauswurf provozieren wollen, dabei war das Gespräch zwischen uns auf meinen Mist gewachsen. Demnach hatte ich für Ärger gesorgt.

Den Rest der Vorlesung verbrachte ich mucksmäuschenstill auf meinem Platz. Auch die restlichen Studenten gaben keinen Laut von sich. Das höchste aller Gefühle waren ein Husten, das Zischen einer Colaflasche, ein Schnäuzen und zuletzt ein klingelndes Handy, das hektisch in der Tasche gesucht und sofort leise gestellt wurde.

Nach der Vorlesung fasste ich mir ein Herz. Ich wollte mich bei Bienberg für die Störung entschuldigen. Das musste ich sogar, wenn ich die Stelle wollte.

»Entschuldigen Sie?« Ich stellte mich neben ihn und klammerte mich an die Träger meines Rucksacks. Außer ihm und mir war niemand mehr im Hörsaal. Aus dieser Perspektive wirkte der Raum noch viel größer. Die halbrunden Reihen der hintereinander aufgetürmten Holzstühle mussten besetzt die reinste Studentenmauer bilden. Kein Wunder, dass der Professor sich ärgerte, wenn gequatscht oder an Handys gespielt wurde. Von hier aus entging ihm nichts.

»Ja bitte?« Er sah mich an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen.

»Ich wollte mich bei Ihnen für die Störung vorhin entschuldigen.« Ich wartete ab, wie er darauf reagierte. Er nahm aus seiner Tasche einen Plastikbeutel mit Tabak und stopfte seine Pfeife für später.

»Ich habe Ihnen ja gesagt, der Junge macht nur Ärger. Ohne ihn würden Sie nicht hier stehen und sich entschuldigen.«

Zwar wollte ich Max nicht die Schuld in die Schuhe schieben, weil immer zwei zu einem Gespräch gehörten, aber es stimmte. Hätte er sich nicht neben mich gesetzt und so laut gelacht, wäre es nicht zu der Störung gekommen. Vielleicht musste ich endlich aufhören, die Schuld immer bei mir zu suchen. In der Vergangenheit hatte ich mich oft genug für meine Mutter entschuldigt, obwohl ich nichts dafür konnte, wenn sie an der Supermarktkasse gestanden und zu wenig Geld dabeigehabt hatte oder die Zeche in der Bar prellte.

»Mir ist die Stelle bei Ihnen wirklich außerordentlich wichtig.«

»Wenn das so ist.« Er wühlte wieder in seiner Tasche. »Haben Sie Feuer?«

»Leider nein. Ich rauche nicht.«

»Ist auch besser so. Regel Nummer eins: Halten Sie immer ein Feuerzeug für mich bereit.«

Ich verstand nicht.

»Wenn man vom Teufel spricht.« Bienberg sah in Richtung der Tür. Ich drehte mich um. Hinter uns betrat Max den Hörsaal. Bienberg wirkte nicht sonderlich erfreut. Max kam näher und reichte ihm ungefragt ein Feuerzeug. »Zumindest das hat der Junge begriffen.«

Max stemmte die Hände in seine Hosentaschen. »Der Teufel möchte sich entschuldigen. Prof, Sie wissen, ich komme nicht zu spät, um Sie zu ärgern.«

»Aus Ihrem Mund höre ich das nicht zum ersten Mal. Es fehlt mir nur ein guter Grund, um das glauben zu können.« Er rieb sich die Augen, offenbar müde von den sich wiederholenden Entschuldigungen. »Mir tut es auch leid, dass nun Ihre kleine Freundin die Stelle hat.«

»Wie bitte?«, fragten Max und ich wie aus einem Mund. Max sah mich mit erstauntem Gesichtsausdruck an, und auch ich registrierte, dass ich nicht nur soeben den Job bei Bienberg ergattert, sondern damit Max um seine Position gebracht hatte.

An Max gewandt stammelte ich: »Ich wusste nicht, dass du bei ihm angestellt bist.«

»Tzz …« Max warf mir einen enttäuschten Blick zu und verließ ohne ein weiteres Wort den Hörsaal.

»Der kriegt sich schon wieder ein.« Bienberg wirkte unbeeindruckt. Er schnippte an dem Feuerzeug, das nur Funken von sich gab. »Nicht mal ein anständiges Feuerzeug hat er besorgt. Sie wissen, was Ihre erste Aufgabe ist.« Er schenkte mir zum ersten Mal ein Lächeln und drückte mir das leere Feuerzeug in die Hand. Sein Amüsement erreichte sogar seine Augen und ich erkannte einen gewissen Schalk dahinter. Vielleicht hatte der Griesgram ja einen weichen Kern. »Wie heißen Sie überhaupt, und wie kann ich Sie erreichen?«


Wir klärten die groben Eckdaten, dann machte ich mich auf den Weg zur nächsten Vorlesung. Mein erstes Ziel, die Stelle als Hilfswissenschaftlerin, hatte ich erreicht; jedoch mit fadem Beigeschmack. Max hatte ich die Stelle nie wegschnappen wollen. Mein schlechtes Gewissen geißelte mich für den Rest des Tages.

Selbst nach den Vorlesungen konnte ich an nichts anderes denken. In meiner Verzweiflung schüttete ich sogar meiner Mitbewohnerin mein Herz aus. Clarissa, die genervt über Übungsaufgaben brütete, konnte mein Problem nicht nachvollziehen.

»Du hast die Stelle, die du wolltest und die er anscheinend nicht gut genug ausgefüllt hat. Die Position war schließlich schon vor deiner Ankunft ausgeschrieben. Wo ist das Problem? Hättest du sie nicht gekriegt, dann ein anderer. Er wäre sie so oder so los gewesen. Und da du nichts mit ihm zu tun haben möchtest, wie du selbst sagst, kann es dir auch egal sein, wenn er beleidigt ist.«

»Du hast recht. Trotzdem fühle ich mich so, als hätte ich ihm etwas weggenommen.«

Sie sah von ihren Aufgaben zu mir auf und richtete ihre Schreibtischlampe auf mein Gesicht, als säße ich bei einem Verhör.

»Für mich klingt das ganz so, als würdest du wollen, dass er dich mag. Und jetzt hast du Angst, dass du bei ihm unten durch bist.«

»Will ich nicht. Nicht so richtig jedenfalls. Es ist sogar besser, wenn er mich nicht leiden kann, dann lässt er mich wenigstens in Ruhe und ich bekomme keinen Ärger.«

»Dann erklär mir, wo dein Problem liegt.«

»Wenn ich das nur wüsste.«

Sie warf mir einen wissenden Blick zu. »Wenn du mich fragst, liegt die Lösung auf der Hand, du willst sie nur nicht sehen. Du. Magst. Ihn.«

»Tue ich nicht.«

»Tust du doch. Ich habe vielleicht keine Ahnung von dem hier«, sie deutete auf ihr Notizheft, »aber Menschenkenntnis habe ich dafür eine ganze Menge.« Sie schob ihre Lernutensilien zur Seite und setzte sich auf ihr Bett. »Harper, du kannst so tun, als hättest du kein Interesse an ihm, aber ich durchschaue dich. Ich habe doch gesehen, wie du ihn angeblickt hast. Da waren förmlich Herzchen in deinen Augen zu sehen.«

»Das ist jetzt aber ein wenig übertrieben.«

»Übertrieben vielleicht, aber es ist wahr. Ich habe eine Art Gabe dafür, zu sehen, wenn Menschen eine Sehnsucht in sich tragen, und in dir sehe ich ein großes Verlangen nach einer Schulter zum Anlehnen. Niemand kann sich rund um die Uhr hinter Büchern vergraben wollen.«

Um Clarissa nicht noch mehr Stoff zum Nachbohren zu geben, fragte ich stattdessen: »Wer hat dir dieses Talent denn in die Wiege gelegt?«

»Das liegt wohl an meiner Erziehung. Wer weiß, wie sich Sehnsucht nach etwas anfühlt, der sieht sie auch automatisch bei anderen.« Zum ersten Mal wirkte Clarissa nicht quietsch-überdreht, sondern fast schon in sich gekehrt. Damit warf sie meinen ersten Eindruck des verwöhnten Partygirls prompt über den Haufen. »Weißt du, ich wurde total streng erzogen. Mein Vater ist so etwas wie ein Patriarch. Solange man die Füße unter seinen Tisch hat, hat man nichts zu melden und muss sonntags zur Kirche, während andere den Rausch der Party vom Vorabend ausschlafen. Kannst du dir vorstellen, wie blöd ich mir vorkam, jede Feier abzusagen, weil mein ehrenwerter Vater es für unangemessen hielt? Die ganze Highschool hat über mich gelacht. Aber weißt du, was? Jetzt bin ich hier, frei und unkontrolliert. Ich werde alles nachholen, was ich in den letzten Jahren verpasst habe, und das empfehle ich dir auch.« Für einen Moment stimmte mich Clarissa nachdenklich. Unter all den normalen Jugendlichen auf meiner Highschool hatte ich mich immer wie das schwarze Schaf gefühlt, aber vielleicht waren deren Biografien doch nicht so einwandfrei, wie ich immer geglaubt hatte. Vielleicht hatte auch Max seine Gründe dafür, weshalb er lebte, wie er lebte. Aber genau da biss sich die Katze in den Schwanz. Während ich alles dafür unternahm, mein Leben zu verändern, wirkte Max ganz so, als sei alles in bester Ordnung.

Nach fünf Minuten hin und her diskutieren, wer wen mochte oder auch nicht, verlor Clarissa den Spaß daran und verabschiedete sich in das Stockwerk über uns. Die Aussicht auf Jungs und Bier reizten sie mehr als ein Essay zum Thema Strafrecht und eine Mitbewohnerin in einem moralischen Dilemma. Ich nutzte die Ruhe und übertrug meine Notizen aus den Vorlesungen in Schönschrift in mein Heft. Eine zeitraubende Arbeit, aber durch die Wiederholung haftete das Wissen besser in meinem Kopf. Das einzige Manko war das Getrampel über mir, gepaart mit tiefen Bässen, die selbst die Nagellacke auf der Fensterbank zum Vibrieren brachten. So konnte doch kein Mensch lernen. Ich wollte keine Spielverderberin sein, aber unter diesen Umständen musste ich handeln – und nebenbei meinem Ärger über mein Gefühlswirrwarr Luft machen. Also zog ich mir Sneaker an und begab mich eine Etage höher.


Die Studenten über uns hatten die ganze Etage in eine Disco verwandelt. Überall standen Bierflaschen, halb leere Plastikbecher und Schüsseln mit Chips herum, von denen die Hälfte zertrampelt neben Luftschlangen auf dem Boden lag. Das Verhältnis Luftschlangen zu Alkohol zeigte deutlich, dass Letzterer Fokus der Party war. Die Gäste feierten bereits ausgelassen. Ein Kerl lag auf einem Billardtisch zwischen Queue und Kugeln. Vier Studenten, mit Burger-King-Kronen gekrönt, standen um ihn herum und feuerten ihn dabei an, wie er Bier über einen Plastikschlauch trank. Dabei prustete er immer wieder Alkohol auf die anderen. Sein Shirt war bereits klatschnass. Bevor ich etwas abbekam, schlug ich eine andere Richtung ein.

Im nächsten Zimmer dienten gleich drei Tische Beerpong-Duellen. Auch Clarissa stand unter den Zuschauern und feuerte einen blonden Studenten an, der geschickt einen Ball nach dem anderen in einen der roten Becher warf. Ich nutzte die abgelenkte Meute und schlich unauffällig zu der Musikanlage, die die ganze Etage versorgte. Ich musste nur herausfinden, wo man den Bass leiser stellen konnte, und schon wäre das Problem gelöst. Wenn ich den richtigen Moment zwischen zwei Songs abpasste, würde nicht einmal jemand bemerken, dass das Wummern fehlte. Ratlos stand ich vor dem Gerät. Drei Knöpfe schloss ich in die engere Wahl, wagte es jedoch nicht, mich daran zu schaffen zu machen. Es wäre mir total peinlich, wenn ich die ganze Anlage außer Kraft setzen würde. Pläne und Vorhaben waren das eine – es wirklich durchzuziehen das andere. Lächerlich, dass ich den Mut besaß, mich von meinem Leben loszusagen und komplett neu anzufangen, und nun an einer Musikanlage scheiterte. Vielleicht hielt mich auch das Gefühl ab, etwas Falsches zu tun. Wollte ich wirklich anderen Leuten, denen es womöglich ähnlich wie Clarissa ergangen war und die erstmals ihre Freiheit genießen wollten, die gute Laune verderben, indem ich mich wie ein konservatives Mütterchen aufspielte? In einem anderen Leben würde ich jetzt auch Beerpong spielen anstatt zu lernen. Die Überwindung war nicht nötig, denn plötzlich griff jemand über mich hinweg und schaltete die Anlage mit einem Klick aus. Die Musik verstummte. Max stellte sich mit verschränkten Armen neben mich. Alle drehten sich zu uns um und beschwerten sich lauthals. Buhrufe ertönten, und jemand, den ich in der Menge nicht ausmachen konnte, warf sogar einen halb vollen Plastikbecher nach uns, den Max gekonnt abwehrte. Mein Gesicht musste knallrot sein, denn ich schämte mich bei all der negativen Aufmerksamkeit in Grund und Boden.

»Max, komm schon!« Steve drängte sich durch die Reihen und wankte auf ihn zu. Er breitete die Arme aus, als würde er eine göttliche Botschaft empfangen. »Sei kein Spielverderber, nur weil du nicht eingeladen wurdest.«

»Ich pfeife auf eure Partys. Das weißt du.« Max war nicht zu Scherzen aufgelegt. Dabei hatte ich gerade ihn für einen Partylöwen gehalten und nicht für den Partycrasher, der die Musik abdrehte. Andererseits gab es wohl einen triftigen Grund, weshalb ausgerechnet er nicht eingeladen worden war.

»Haltet euch einfach an die Regeln. Nach zweiundzwanzig Uhr keine Musik mehr über Zimmerlautstärke. Den Lärm hört man von der Straße aus. Willst du, dass die Profs demnächst eine Razzia veranstalten?«

Steve verdrehte die Augen. »Du machst selbst dann noch Probleme, wenn man dich auslädt.«

»Wird nicht nötig sein.« Ohne mich eines Blickes zu würdigen, machte er sich aus dem Staub. Steve wandte sich an mich, während er die Musik wieder anstellte und trotz der Buhrufe auf Zimmerlautstärke beließ.

»Was ist mit dir, Hermine? War es dir auch zu laut?«

Es kostete mich Mut, ehrlich zu sein. »Genau genommen, ja.«

Steve lachte. »Nimm dir ein Bier und feiere einfach mit. Dich werden wir vermutlich nicht mit vier Mann nach draußen begleiten müssen.«

»Musstet ihr bei Max etwa eingreifen?« Ich stellte mir vor, wie er völlig austickte, alles kurz und klein schlug und nur mit Mühe und Not nach draußen bugsiert werden konnte.

Steve rieb sich über die Stoppeln an seinem Kinn. »Er ist nicht wie wir. Er hat Probleme, die wir hier nicht haben.«

Ich nickte nur, auch wenn es mir nicht gefiel, dass Max hier offenbar ausgegrenzt wurde. Schließlich wusste ich nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn man niemanden zum Reden hatte und von allen Feiern ausgeschlossen wurde, als sei man Luft. Dennoch: Max’ Probleme waren nicht meine, und ich würde mich auch nicht einmischen. Das endete nur wieder in einem Trailer Park und einem verkorksten Leben. Ich verzichtete auf das angebotene Bier und zog mich in mein Zimmer zurück.

An Lernen war nicht mehr zu denken. In meinem Kopf drehte sich alles um Max – und mein zukünftiges Dasein als Spaßbremse. Genau genommen war ich ein bisschen wie Max: nämlich auch nicht wie die anderen, und deshalb musste ich härter arbeiten als so mancher Schnösel, der nur Partys im Sinn hatte. Eine Gemeinsamkeit, die mir Angst machte. Gleich und gleich gesellte sich schließlich gern.

No Pain, No Gain - No Love

Подняться наверх