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Kapitel 3

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»Wer war das denn?«, fragte Clarissa, nachdem Max gegangen war.

»Der Vormieter sozusagen. Er hatte etwas vergessen.«

»Soso. Vergessen.«

»Ja, vergessen«, sagte ich und öffnete die Tür. Bevor sie mich mit weiteren Fragen löchern konnte, machte ich mich auf den Weg zur Waschküche. Ich wollte erst gar nicht in Versuchung geraten, mir Gedanken über Jungs zu machen. Die Waschküche war da schon wesentlich unverfänglicher. Einen freien und funktionstüchtigen Trockner gab es keinen, aber dafür etliche Wäscheständer und kreuz und quer gespannte Wäscheleinen mit lose baumelnden Klammern. Shirts und Hosen in allerlei Farben und Stoffen wehten dort vor einem gekippten Oberlicht wie bunte Gespenster. Ich schnappte mir einen freien Wäscheständer, der bei jeder Bewegung quietschte wie ein eierndes Fahrrad, und bestückte ihn mit meinen Sachen.

»Du schon wieder.« Hinter mir hörte ich ein Lachen. Ich drehte mich um und sah Max, der gerade einen Haufen Wäsche in die Maschine stopfte, die ich soeben geleert hatte.

»Scheint so.« Ich sah ihm dabei zu, wie er eine Verschlusskappe Weichspüler in die Kammer füllte. Bevor er die Klappe der Maschine schloss, zog er sein Shirt über den Kopf und stopfte es noch hinterher. Darunter trug er ein weißes Unterhemd, und beim Anblick seiner nackten Oberarme stockte mir für eine Sekunde der Atem. Meine Vermutung war also richtig gewesen: Er war durchtrainiert bis zu den Leisten, was mir angesichts seiner tief sitzenden Jeans, die er gegen seine Jogginghose getauscht hatte, nicht entging.

»Verrätst du mir deinen Namen?« fragte er beiläufig und stellte die Temperatur auf vierzig Grad.

»Harper.« Ich drückte einen nassen Pullover an mich und knautschte ihn in meinen Händen. Dieser Kerl konnte Frauen verrückt machen, das spürte ich auf Anhieb. Genauer gesagt: Er konnte mich aus der Fassung bringen. Wahrscheinlich wusste er das und spielte damit.

»Harper … Schön, dich kennenzulernen.« Max schenkte mir einen aufmerksamen Blick, der gefühlt einen Moment zu lang andauerte und mich nervös werden ließ, dann stellte er das Programm auf Buntwäsche ein und beschäftigte sich eingehend mit der richtigen Einstellung. Dafür, dass er die Maschine mit Sicherheit nicht zum ersten Mal benutzte, dauerte es auffällig lang.

Max war wirklich attraktiv. Seine charmante Art hatte etwas von dem stets verlegenen Mister Darcy aus der Verfilmung von Jane Austens Stolz und Vorurteil.

Bevor ich etwas erwidern konnte, stolperte der Typ zu uns herein, mit dem Clarissa zuvor gesprochen hatte. Statt Wäsche trug er einen Karton voller leerer Bierflaschen vor sich her. »Hermine Granger.« Er grinste. »Für Schmutzwäsche wurde wohl noch nicht der richtige Zauberspruch erfunden.«

Innerlich stöhnte ich auf. Ich wollte nicht für den Rest meines Studiums diesen Spitznamen tragen – schon gar nicht vor diesem Max. Auf ihn wirkte ich bestimmt auch so schon wie eine graue Maus, die zu allem Überfluss seinen Pullover trug. Trotzdem wollte ich nicht die Spielverderberin sein und lachte kurz.

»Hermine?« Max sah fragend von mir zu ihm.

»Wegen meiner Haare.« Ich fasste in meinen Wuschelkopf und zog an einer Locke, die sofort wieder zurückschnellte. »Und ich möchte einen guten Abschluss machen. Mehr nicht. Na ja, den besten«, gestand ich.

»Hm … guter Vorsatz.« Max nickte anerkennend. Obwohl ich dachte, er würde aufgrund meiner Ambition gleich losprusten, blieb er ernst.

»Hey, Max«, funkte der andere dazwischen. »Dass du sie mir nicht vom Lernen abhältst.«

»Witzig, Steve.« Max schien nicht beeindruckt, und Steve machte sich mit den klirrenden Flaschen durch den Hinterausgang aus dem Staub, um sie in den Tonnen zu entsorgen.

»Finde ich echt gut, dass du das Studium ernst nimmst«, nahm Max den Faden wieder auf. »Ich wünsche dir viel Erfolg, und wie der Dummkopf gerade sagte, ich habe nicht vor, dich vom Lernen abzuhalten. Also, man sieht sich.«

»Danke. Bis dann.« Ich sah ihm hinterher, bis mich ein kaltes Gefühl am Bauch ablenkte. Noch immer presste ich den gewaschenen Pullover an mich, der jetzt einen nassen Fleck hinterlassen hatte. Heute war wirklich nicht mein Tag, was saubere und trockene Kleidung betraf – hoffentlich kein schlechtes Omen. Den restlichen Sonntag würde ich mich von allem fernhalten, was nur im Geringsten mit Kleidung und Flüssigkeiten zu tun hatte.


Die erste Vorlesung fand direkt am nächsten Tag in Kommunikationswissenschaften statt und war ein totaler Reinfall. Der Professor hing wie ein Kartoffelsack am Rednerpult und führte uns in das Thema Digitalisierung ein. Nichts, was ich nicht schon im Rahmen meiner Vorbereitung gelesen hätte. Ich saß in der vierten Reihe von unten und rutschte auf dem unbequemen Klappstuhl alle paar Minuten vor und wieder zurück. Als ich mich umdrehte und meine Kommilitonen ansah, die sich aus einem ersten Impuls heraus wie eine Horde verschreckter Rehe auf die hintersten Bänke verzogen hatten, blickte ich nach gerade einmal vierzig Minuten Unterricht in gelangweilte Gesichter. Aufgestützte Arme, Gähnen im Wechsel, die hintersten Ränge spielten mit ihren Handys. Einer zog sich seine Kapuze über und legte den Kopf auf die Bank. Ich schnaubte, riss mich zusammen und widmete meine Aufmerksamkeit wieder Professor Bienberg. Noch immer monologisierte er vor sich hin, bis er von dem Knall der zufallenden Tür aufgeschreckt wurde. Max trat ein, duckte sich unter dem Beamer der Präsentation weg und winkte entschuldigend in Richtung unseres Professors.

»Mister Campbell«, donnerte der Professor und wirkte zum ersten Mal an diesem Tag lebendig; wenngleich sein Kopf so puterrot wurde, als würde er gleich explodieren. »Von Hunderten Studenten sind Sie der einzige, dessen Namen ich kenne. Bilden Sie sich nicht ein, das wäre von Vorteil.«

Max beeindruckte das wenig. Er sah sich in den Reihen um, dann erblickte er mich. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Professor Bienberg behielt ihn im Auge, bis sich Max neben mich gesetzt hatte.

»Hi«, flüsterte er und stellte seinen Rucksack ab.

»Hallo«, raunte ich steif zurück und sah zu Professor Bienberg. Entweder schielte er oder warf nun auch mir einen feindseligen Blick zu. Um keinen Preis wollte ich negativ auffallen – zumal ich Bienberg noch brauchen würde.

Als sich der Professor wieder mit beiden Händen auf das Pult stützte, das unter seinem Gewicht knarrte, wisperte ich zu Max: »Hör mal, ich finde dich echt nett, aber … du ruinierst meinen Ruf, noch bevor ich richtig angefangen habe.« Es sollte witzig klingen, nur ein kleiner Wink mit dem Zaunpfahl sein, aber anscheinend schwang doch zu viel unkontrollierbare Angst in meiner Stimme mit. Er lehnte sich zurück und sah mich schockiert mit großen Augen an, wodurch das Blau seiner Iriden noch besser zur Geltung kam. »Ich bin doch bloß ein paar Minuten zu spät gekommen.«

»Eine halbe Stunde«, korrigierte ich ihn mit Blick auf die Uhr.

»Auslegungssache«, konterte er ruhig. »Andere tauchen erst gar nicht auf oder schlafen während der Vorlesungen. Das ist auch nicht gerade besser. Ich habe nichts verpasst. Wetten?« Er sah mich belustigt an, als würde er gleich ein Ass aus dem Ärmel ziehen. »Lass mich raten: Er hat sich und seine Arbeiten vorgestellt und reitet seitdem auf den Anfängen der Digitalisierung herum. Bestimmt hat er auch Vergleiche zur industriellen Revolution gezogen, den Aufbruch des digitalen Zeitalters gegen Ende des 20. Jahrhunderts als verfrüht kritisiert und das Thema Cybersicherheit infrage gestellt. Habe ich recht? Warte. Sag nichts.« Er schloss die Augen und summte leise, als wäre er in Trance. Dann öffnete er sie wieder und sah mich grinsend von der Seite an. »Ich weiß, es ist so.«

Ich überflog meine Notizen, die ich mir an den Rand der PowerPoint-Präsentation gemacht hatte, und stellte fest: Er traf es auf den Punkt. Vielleicht nahm er das Studium ebenso ernst wie ich und könnte so etwas wie ein Verbündeter für mich werden? Ein angenehmer Gedanke, der jedoch so schnell wieder verflog, wie er gekommen war. Wenn Max das Zimmer vor mir bewohnt hatte, musste er in einem höheren Semester sein, und wenn er in dieser Vorlesung für Erstsemester saß, konnte das nur bedeuten, dass er die Prüfung wiederholen musste. Er war also das genaue Gegenteil von mir.

Den Rest des Vortrags verbrachten wir schweigend nebeneinander und machten uns Anmerkungen. Hin und wieder schielte er auf mein Blatt und schrieb sich meine Notizen ab. Entweder gefiel ihm, was ich schrieb, oder er war ein Tagträumer und tat nur so, als würde er aufmerksam zuhören. Die Idee eines verträumten Mister Darcys gefiel mir. So konzentriert wie vorher war ich allerdings für den Rest der Vorlesung nicht mehr. Ich roch sein Deodorant, und nachdem er mich zum ersten Mal mit seinem Arm gestreift hatte, hoffte ich darauf, den weichen Stoff seiner Sweatshirtjacke erneut auf meiner Haut zu spüren.

Gegen Ende der Vorlesung wurde Max allerdings immer unruhiger und wippte mit dem Bein nervös auf und ab, sodass sogar mein Klappstuhl leicht mitvibrierte. Kaum beendete Professor Bienberg die Vorlesung, stürmte er auch schon im Laufschritt nach draußen, ohne dass wir ein weiteres Wort gewechselt hatten. Ich fragte mich, ob ich etwas Falsches gesagt oder getan hatte, war mir aber keiner Schuld bewusst. Oder roch ich vielleicht streng? Subtil schnüffelte ich am Stoff meines Oberteils. Vielleicht hatte er es auch einfach nur eilig.

Da es bis zur nächsten Vorlesung noch etwas hin war und ich Professor Bienberg auf seine ausgeschriebene Stelle als Hilfswissenschaftlerin ansprechen wollte, packte ich meine Tasche bewusst langsam. Ich wollte nicht gesehen werden, wie ich mich um die Stelle bewarb. Zur unbeliebten Superstreberin musste ich nicht zwangsläufig aufsteigen. Außerdem visierte ich ein Gespräch unter vier Augen mit ihm an, damit ich nicht vor anderen in Verlegenheit geriet, sollte er mir eine Absage erteilen. Professor Bienberg schloss die Laschen seiner Ledertasche, die einige Kratzer und speckig glänzende Stellen aufwies. Hier und da zierten sie Kugelschreiberstriche.

»Entschuldigung.« Ich räusperte mich und trat zu ihm heran. Mein Herz klopfte schneller. Die Stelle bei ihm war aktuell die einzig ausgeschriebene, und ich brauchte sie unbedingt, wenn sich nicht die letzten zehn Dollar in meinem Geldbeutel wie auf wundersame Weise von selbst vermehren würden.

Er sah mich an und schob sich eine Pfeife aus dunkel poliertem Holz zwischen die Lippen, ohne Anstalten zu machen, sie anzuzünden. »Ja bitte? Sie wollen mir vermutlich kein Lob für meinen glorreichen Vortrag aussprechen?«, fragte er und die Pfeife wippte mit jedem Wort auf und ab. Ein wenig Tabak bröselte auf den Boden.

Ich schüttelte den Kopf und sah an ihm vorbei zur Tür. Dieser mürrische Mann würde mich sicherlich durch die Gegend scheuchen, aber ich brauchte das Geld, und die Stelle würde sich später in meinem Lebenslauf besser machen als ein Job als Kellnerin in einer Bar. Davon einmal abgesehen gab es hier mehr Studenten als Aushilfsjobs, und die Aussicht auf eine Anstellung war nicht gerade rosig.

»Ich habe gelesen, dass Sie noch eine Assistentin oder einen Assistenten suchen.«

Er nickte zustimmend. »Sie glauben, Sie sind die Richtige?« Abschätzig musterte er mich von oben bis unten, und ich ahnte, weshalb ausgerechnet diese Stelle als einzige noch nicht besetzt war.

»Ich schätze, ja.« Meine Stimme bebte vor Nervosität. Ich war eine blutige Anfängerin, und sicherlich empfand er es als anmaßend, dass ich mich bewarb – bei ihm, dem alteingesessenen Professor, der schon etliche Fachbücher veröffentlicht hatte. Sofort verspürte ich den Drang zurückzurudern. »Ich weiß, dass ich mich noch nicht unter Beweis stellen konnte und es vielleicht übereifrig erscheint«, sagte ich und versuchte, sein bejahendes Brummen zu ignorieren, »aber ich bin lernfähig und zielstrebig. Ich habe einen starken Willen und Ausdauer.« Mist. Das klang wie eine Musterbewerbung aus dem Internet.

Er verschränkte die Arme über seinem Bauch, nestelte an seinem krausen und teils ergrautem Bart herum und nickte noch immer. »Es wirkt in der Tat übereilt, und die Adjektive, mit denen Sie um sich werfen, habe ich schon mindestens tausendmal gehört – und genauso oft war es heiße Luft. Mein jetziger Assistent ist auch ein Luftikus von diesem Schlag. Schwach angefangen und stark nachgelassen.«

Darauf wusste ich keine Antwort. Ich wollte mich nicht anpreisen und ihn dann ebenso enttäuschen.

»Na ja, immerhin haben Sie keine große Klappe. Da sind Sie meiner jetzigen Hilfskraft schon eine Nasenlänge voraus.« Entweder brauchte er noch einen zweiten Lakaien, oder aber sein erster Assistent wollte das Handtuch werfen. Ich für meinen Teil schöpfte jedenfalls Hoffnung.

»Das heißt?«

»Das heißt, wenn Sie sich in den Vorlesungen gut anstellen und von Mister Campbell fernhalten, dürfte dieser Stelle nichts im Wege stehen.«

Die Anspielung auf Max machte mich stutzig. »Was genau meinen Sie damit?«

»Lassen Sie es mich so sagen: Keine Ahnung, was der Junge in seiner Freizeit treibt, aber man kann es sich denken. Sie werden noch sehen, was ich meine.«

Ich presste die Lippen aufeinander und nickte. »Gut zu wissen.« Unschlüssig, was ich mit der Information anfangen sollte, stand ich da. Max schien mir, bis auf das Zuspätkommen, ziemlich in Ordnung zu sein.

»Mein Wort in Gottes, oder besser gesagt, Ihrem Ohr.« Er tippte sich an sein Ohrläppchen, ehe er zur nächsten Vorlesung aufbrach.


Nach der ersten Vorlesung blieb Max spurlos verschwunden. In der Stunde zu Kommunikationsanalysen tauchte er auch nicht auf. Vielleicht ein gutes Zeichen, wenn er nur in einem Fach durchgefallen war. Bienberg galt laut Joshuas Vortrag vom ersten Tag sowieso als legendär, wenn es um strenge Benotungen ging. Auch mittags in der Mensa konnte ich Max an keinem der Tische ausmachen. Dafür entdeckte ich Clarissa gut unterhalten bei Steve, dem Maskottchen Greg und weiteren Studenten, die ich schon ein paarmal auf unserem Flur hatte hin und her gehen sehen. Ich pirschte drei Reihen hinter ihr vorbei, damit sie nicht auf die Idee kam, mich an ihren Tisch zu bitten, und setzte mich stattdessen an eine Fensterbank, wo eine leere Packung Eistee mit Strohhalm geparkt worden war. Als ich in meinem Nudelsalat herumstocherte, ärgerte ich mich, dass ich mir überhaupt die Mühe machte, nach Max Ausschau zu halten, so schnell, wie er die Kurve gekratzt hatte. Auch Bienbergs Worte blieben in meinen Gedanken präsent, und ich überlegte, was er damit gemeint haben könnte – ohne eine Lösung zu finden.

Ich ging davon aus, dass Max andere Fächer belegt hatte, vielleicht in einem anderen Gebäude, als er auch nach der Pause nicht in der nächsten Vorlesung saß. Immerhin konnte ich so allein sitzen und mich voll und ganz auf die Inhalte konzentrieren, die die Professorin zum Thema Kommunikationsstile zum Besten gab.


Erst als ich abends im Studentenwohnheim ankam, lief er mir im Treppenhaus wieder über den Weg. Abrupt blieb ich auf den Stufen stehen, während er am Geländer des Stockwerks über mir lehnte. Insgeheim freute es mich, ihn wiederzusehen, zumal ich nicht mehr mit ihm gerechnet hatte.

»Hey.« Er ließ die Hände in die Hosentaschen gleiten und lächelte mich offen an. Als er sich zu mir umdrehte und seine linke Gesichtshälfte offenbarte, klappte mir die Kinnlade herunter. Meine Freude wich Sorge und gleichermaßen einer Vorahnung, was Bienberg gemeint haben könnte.

»Was ist passiert?«, brach es aus mir heraus. Seine Lippe war aufgeplatzt, und auch sein linkes Auge sah aus, als würde es in den kommenden Tagen zu einem Veilchen anschwellen.

»Ach, das ist nichts. Ich hatte schon schlimmere Kratzer.«

»Wie meinst du das?«

»Das ist keine Seltenheit bei mir. Du wirst mich noch häufiger mit solchen Schrammen sehen.« Er spielte seine Verletzungen offensichtlich herunter, denn solche Wunden gingen nicht ohne Schmerzen einher. Ich erinnerte mich an das erste Mal, als mich die Faust eines Mannes getroffen hatte, die eigentlich meiner Mutter gegolten hatte. Ich konnte mich nicht einmal mehr an den Namen des Idioten erinnern, so sehr verdrängte ich diese Erlebnisse. Tagelang hatte ich den Angriff selbst beim kleinsten Wimpernaufschlag gespürt. Mich irritierte deshalb umso mehr, mit welcher Selbstverständlichkeit Max davon sprach. Waren Schlägereien bei ihm an der Tagesordnung? Hatte Bienberg das mit seiner Warnung gemeint? Eigentlich war es ungewöhnlich, dass ein Professor sich so weit aus dem Fenster lehnte und schlecht über einen Studenten sprach; noch dazu vor einer Studentin, die offenbar Kontakt zu der besagten Person hatte. Es musste sich also um etwas nicht Unerhebliches handeln, und vielleicht wurde der mürrische Bienberg von einer Art väterlichen Sorge angetrieben, mich zu warnen. Das Lächeln auf meinem Gesicht gefror. Unbewusst wich ich vor ihm zurück. Ich würde nicht die Fehler meiner Mutter wiederholen.

»Sag mal, könntest du mir vielleicht deine Notizen leihen?« Er kratzte sich am Hinterkopf und schien nicht zu bemerken, dass ich die Distanz zu ihm vergrößert hatte, obwohl ich inzwischen drei Stufen unter ihm stand. Seine Verlegenheit, die mir in der Waschküche so charmant erschienen war und mich an Mister Darcy erinnert hatte, durfte mich nicht über seine Probleme hinwegtäuschen. In meinem Inneren regten sich Enttäuschung und Ärger über mich selbst. Wie schnell war ich angesichts seines Erscheinens ins Schwärmen geraten, und das nur, um jetzt hart auf dem Boden der Tatsachen zu landen. Menschen, die Schlägereien suchten, besaßen ein gewisses Aggressionspotenzial, das ich nicht länger in meinem Leben dulden durfte, wenn ich meine Vergangenheit hinter mir lassen wollte. Jetzt, da ich ahnte, was er für ein Mensch war, musste ich mir eine harte Schale zulegen und ihn damit in den kommenden Tagen abwimmeln, bevor ich in dieselbe Falle tappen würde wie meine Mutter. Ich durfte kein Mitleid haben und mir keinesfalls einbilden, ihm helfen zu können. Niemand konnte einen Menschen verändern. Niemand. Solche Hoffnungen waren in Wahrheit nichts als selbst gebraute Enttäuschungen. Wie oft hatte ich schon gedacht, meiner Mutter einen Ausweg aus ihrer Sucht und ihren Problemen aufzeigen zu können? Wie oft war ich enttäuscht worden, wenn sie nach wenigen Tagen, manchmal Stunden, doch wieder in ihre alten Muster zurückfiel? Ich sah Max an und betrachtete ihn plötzlich mit völlig anderen Augen. Der Hauch von rosaroter Brille wich einem tristen Grau. Er würde mich nur mit in den Sumpf ziehen. Ich würde mich von dem Schlechten in meinem Leben nicht bis nach Michigan jagen lassen.

»Ich habe gesehen, dass wir dieselben Fächer belegt haben, und dachte, du könntest mir vielleicht aushelfen?«, kam er wieder auf seine Bitte zurück, als ich nicht reagierte. Er besuchte also doch keine anderen Fächer, sondern hatte einfach blaugemacht. Noch ein Zeichen, ihm besser aus dem Weg zu gehen. Zudem war er ein Semester über mir. In wie vielen Kursen musste er die Prüfungen wiederholen, wenn wir mehrere Fächer gemeinsam besuchten? Etwa in allen?

Eine Weile stand ich vor ihm und musterte seine Augen. Sie waren der Spiegel der Seele, und wären die Blessuren nicht gewesen, ich hätte nicht geahnt, wie er in Wahrheit tickte. Vermutlich hatte er sich unter Alkohol nicht unter Kontrolle; genau wie meine Mutter. Mein Leben lang hatte ich sie unterstützt, sie in Schutz genommen, wenn man schlecht über sie sprach, ihr Hilfe angeboten. Schlüsselerlebnisse erschienen vor meinem inneren Auge. Ich hatte in meiner Jugend eine Sache gelernt: Gibt man den kleinen Finger, reißt der andere an der ganzen Hand. Auch wenn ich Max vom ersten Moment an gemocht hatte, unter diesen Bedingungen musste ich den Kontakt zu ihm schleunigst abbrechen. Langsam, aber bestimmt schüttelte ich den Kopf.

»Es tut mir leid. Meine Unterlagen ersetzen die Vorlesungen nicht.«

»Das ist mir klar, aber dann kann ich alles nacharbeiten. Dieses Semester darf ich nicht noch mal vermasseln.«

Mit meiner Intuition lag ich also richtig.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee. Wäre es nicht das Beste, wenn du dich aktiv an den Vorlesungen beteiligst und dir den Stoff selbst erarbeitest? Die Zeit, die du dir scheinbar mit Prügeleien vertreibst, solltest du vielleicht in dein Studium stecken und nicht einfach so vergeuden.«

Sein Lächeln wich einer eisernen Miene. »Du weißt doch überhaupt nicht, wer ich bin; geschweige denn, wie ich lebe.«

Ich sah von einer Schramme zur nächsten. »Ich glaube, ich kann das, was ich da sehe, ziemlich gut einschätzen.« Autsch. Das klang schroff und untypisch aus meinem Mund, doch es gab keine Alternative. Ich musste alle Muster, die mich in meine Vergangenheit zurückkatapultieren konnten, von mir fernhalten. Dass mir die Worte dennoch leidtaten, schluckte ich hinunter. Ich musste mich vor niemandem rechtfertigen. Wenn er wüsste, wie ich bis vor wenigen Tagen gelebt hatte, würde er sich von mir vermutlich verstanden fühlen, und dann würde ich weder ihn noch meine Vergangenheit loswerden. Wir hielten Blickkontakt, bis ich ihm nicht mehr standhalten konnte und ausweichend auf den Boden sah.

»Weißt du, was?« Er klang genervt. »Vergiss es. Ich dachte, du wärst anders.«

Das dachte ich auch.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, rauschte er an mir vorbei und ich wusste nicht, wer von uns beiden enttäuschter war: er oder ich.

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