Читать книгу Daskind - Brandzauber - Angeklagt - Mariella Mehr - Страница 12
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ОглавлениеAls die Pfarrkirche aus Anlass der Restaurierung auch einen restaurierten Schutzheiligen bekam, der heller glänzte als der alte und, so schien es jedenfalls den Betrachtern, Beelzebub noch mutiger bekämpfte, organisierte das Dorf ein Fest. Von überall her kam das Volk, Gläubige und Ungläubige, um den heiligen Michael bei Gebeten, Bier und Würsten zu feiern. Kräftige Männer trugen den Bannerträger Gottes auf einer Lade durch die Straßen, hell glänzte das aufgefrischte Gold auf den weit ausladenden Flügeln des Erzengels, auf dem heiligen Schwert Gottes brach sich das Licht der Frühsommersonne und löste sich in eine Vielzahl tanzender Farbpartikelchen auf. Das Schwert selbst schien zu tanzen, schien tänzelnd seinen Weg zu suchen, hinab in die Eingeweide Luzifers, des von Gott Abgefallenen, der sich, künstlich mit Grünspan überzogen, gar jämmerlich verteidigte und vergeblich das Maul aufriss, um den obersten Himmelsstreiter zu verschlingen. Das Volk jubelte seinem Schutzpatron zu, Schulkinder streuten Wiesenblumen: Margeriten, Wegwarte, Johanniskraut und Ringelblumen.
Nach einem feierlichen Hochamt und der offiziellen Einweihung der Kirche durch den Bischof ging man zu den weltlichen Freuden über. Vom Dröhnen der Michaelsglocke begleitet, machte sich das Volk über die Tische her, besetzte die Holzbänke und Stühle, die den Kirchplatz füllten. Bald ging das verordnete fromme Jubilate in ein bierseliges Lachen und Johlen über. Die Härchler nutzten jede Gelegenheit, um sich ausgiebig zu betrinken. Während der Fastnachtszeit gab es keine Wirtschaft in der Harch, die nicht von Schlägereien und Randalen zu berichten wusste. Hinter Masken und Hexenfratzen tobten sich Genusssucht und Streitlust aus. Man hieb mit Säublattern aufeinander ein, schlug sich mit hölzernen, dem Morgenstern ähnlichen Knüppeln die Schädel blutig. Vor allem aber soff einer den anderen unter den Tisch, um hinterher, grölend und torkelnd, irgendein Hundsloch aufzusuchen, wo sich der gewaltige Fastnachtsrausch ausschlafen ließ. In der Harch war die Fastnacht Männersache, ein archaischer Trieb schletzte die Männer in Horden durch die Straßen und Kneipen, bis nichts mehr ganz blieb. Das bekamen auch die Frauen zu spüren, wenn sie sich, angeekelt vom wilden Treiben, nicht hingeben wollten. Da wurde nicht lange gefackelt, die Frau mit Gewalt aufs Kreuz gelegt und grob genommen. An der Fastnacht lernten sie die Männer erst richtig kennen, die fremden und die eigenen, denn beim Kopulieren war man nicht wählerisch, auch des Nächsten Weib genoss an diesen Tagen keine Schonzeit. Es schwängerte der Nachbar des Nachbarn Weib ebenso, wie er sich an der eigenen Frau, den Mägden oder an halbwüchsigen Mädchen verging. Hinter den holzgeschnitzten Masken hoben sich die Gesetze auf, der Alkohol riss alle Dämme nieder. Da nützte keine Predigt, kein gut gemeinter Aufruf der Gemeindebehörden, Fastnacht ist Fastnacht, dachten sich die Härchler, man könne danach noch immer die Scherben wegkehren.
Auch die Kinder wurden von dem groben Treiben nicht verschont. Durch ihre Träume geisterten noch lange, nachdem die Fastnacht von der Fastenzeit abgelöst worden war und das Dorf der Erlösung durch den Auferstandenen entgegenharrte, Hexen, Gnome und Trolle.
Das Einweihungsfest gelangte erst zur vollen Reife, nachdem der Bischof, den Dorfpfarrer im Schlepptau, seine Kinder im Herrn verließ. Dabei tat sich der Gräbertoni besonders hervor. Mit wuchtigen Faustschlägen auf die Tischplatte begleitete er seine obszönen Lieder, bis Jakob Gingg dem Treiben Einhalt gebot. Das hätte er lieber nicht tun sollen, der Sigrist, das nicht, denn einem besoffenen Gräbertoni, nüchtern eine Seele von Mensch, ist in diesem Zustand nicht beizukommen. Mit der bedächtigen Langsamkeit eines Ochsen glotzt der dem Freund ins Gesicht. Von tiefer Empörung durchdrungen, stemmt der Totengräber seinen massigen Körper aus der Bank, pflanzt sich vor dem Sigristen auf. Rasch will Gingg beschwichtigen, streckt die Hand nach der Schulter des Freundes aus, um ihn zu beruhigen. Zu spät. Toni, im Suff die Geste des andern falsch einschätzend, sie als Angriff taxierend, holt aus, platziert einen rechten Schwinger auf dem Kinn des Unglücklichen, dass es kracht. Als fege ein Sturm durch lotteriges Gebälk, knirschen dem Taumelnden die Knochen unter der geplatzten Haut, bricht die Architektur des Gesichts ein, ehe Jakob Gingg in die Knie geht, lang hinfällt und den Geist vorübergehend seinem Gott empfiehlt.
Einen kurzen Augenblick lang hält der Schreck die Feiernden im Griff, vom Saufen trüb gewordene Augen glotzen den Gräbertoni an. Verloren hängen die Grabschauflerhände am Tonikörper, als wüsste der gute Toni nicht, wie ihm geschehen ist. Schwer lastet die Mittagsstille über der Versammlung. Bis ein Grollen die Luft zerreißt und die Festgemeinde von der Spannung befreit. Es ist Gotthold Schätti, der eine Schlägerei auslöst, die in der Kirchengeschichte ihresgleichen sucht. Durch den jämmerlichen Anblick Jakob Ginggs geradezu zur Rache verpflichtet, schlägt er seinerseits den Ochsner Toni nieder, bis, angestachelt vom fließenden Blut, des Schulwarts Fäuste auf den Bedauernswerten niederprasseln. Von da an gehorcht die Prügelei ihren eigenen Gesetzen. Während die Frauen kreischend das Weite suchen, fällt Mann über Mann her, sogar der Ordnungshüter schlägt drein, was das Zeug hält. Ein Durcheinander von schwitzenden, nach Kuhdung, Brissago, Stumpen und Schweinestall stinkenden Körpern ergießt sich über den Kirchplatz, Stöhnen, Flüche und Schmerzensschreie wetteifern mit dem plötzlich einsetzenden Dröhnen aller drei Kirchenglocken. Ihren Einsatz verdankten die Glocken dem Sigristen Gingg, der sich aufgerappelt hatte und schmerzgepeinigt die Empore erklomm. Von heiligem Zorn beflügelt hängte er sich in die Seile, bis die Glockenklänge mächtig über den Kirchplatz schallten.
Da endlich besinnen sich Herren und Knechte. Benommen weicht einer des andern Blick aus, stumm gehen sie auseinander, um sich daheim die blutenden Wunden vom angetrauten Weib verbinden zu lassen.
Die unfromme Prügelei hatte ein Nachspiel. Ortsfremde Polizisten, im Dorf immer ungern gesehen, knöpften sich noch am selben Tag Mann um Mann vor, die jedoch einmütig schwiegen. Nur den Toni, von Reue gequält, trieb es unaufgefordert vor den Kadi, er wollte sein Gewissen erleichtern. Er habe doch dem Sigristen Gingg, der sein zuverlässiger Partner sei, zumindest, was Begräbnisse betreffe, nichts anhaben wollen, er wisse selbst nicht, was über ihn gekommen, welcher Teufel in seine Fäuste gefahren sei.
Nach einem kurzen Aufenthalt im Bezirksgefängnis und einer im Spital zelebrierten Versöhnung blieb Toni nur noch, auch die Strafe der Kirche zu tragen. Pfarrer Knobel verdonnerte den Reuigen zu zwanzig Rosenkränzen, die jedoch nicht etwa vor der Mutter Gottes in der Pfarrkirche zu beten seien, sondern im Beinhaus, wo es Toni nun gar nicht hinzog.
Das Beinhaus klebte wie ein lästiges Insekt an der Rückseite der Pfarrkirche. Über dem reich verzierten, verfallenen Portal drohte ein furchterregendes Jüngstes Gericht dem verstockten Sünder mit ewigen Höllenqualen. Mit einem furchtbaren Richterauge, das andere hatte die Zeit zerstört, schickte der Allmächtige die Verdammten in die Flammen zurück, denen sie verzweifelt zu entkommen suchten. Erbarmungswürdig ihr Flehen, ihre zum Himmel gereckten Hände, ihre nackten, geschundenen Körper, ihre von Angst und Grauen zerfressenen Gesichter.
Den Verdammten gegenüber mit leuchtenden, einfältigen Gesichtern die Seligen. Von übergewichtigen Engeln begleitet, strebten sie dem Himmel zu, einem einst azurblauen, doch vom Zahn der Zeit ins Schmutziggraue geschliffenen Vakuum, das den wallenden Bart und das strähnige Haupthaar Gottvaters wie eine Aura umgab. Gottvaters unversöhnlichem Blick auf die Verdammten dieser Erde ungeachtet, brachten die seligen Frauen ihre schwellenden Brüste, ihre unverhüllte Wollust, ihr Begehren dem einen himmlischen Bräutigam dar. Ihre Jungfrauengesichter ließen noch immer das Karminrot erahnen, mit dem der Künstler ihre Wangen bemalt hatte. Und wie zum Hohn war die Farbe ihrer luftigen Bekleidung, die sie als Lohn für ihre frommen Bemühungen, im Gegensatz zu den Unglücklichen am andern Bildrand, tragen durften, abgeblättert, sodass sie nackter schienen als die zur Nacktheit verdammten Höllenbewohner.
Der Boden des überwölbten Innenraums bestand aus grob behauenen Kalksteinquadern. Ein schwerer Eisenring war in eine der Platten eingelassen, sodass man sie mit etwas Anstrengung heben und zur Seite schieben konnte. Eine Holzleiter erleichterte den Abstieg in den Totenkerker, den jedoch Toni, eine Taschenlampe zwischen den Zähnen, jeweils mit einem gewagten Sprung in die Dunkelheit hinter sich brachte. Je mehr Mut man zeige, meinte er, umso weniger könnten die da unten einem etwas anhaben. Dort lagen sie, die Gebeine der Toten, von Toni aus ihren Gräbern geschaufelt, nun säuberlich zu Knochenbündeln verschnürt. Weiß wie die Seelen der Seligen blinkten sie dem Betrachter entgegen, geheimnisvoll verwiesen sie auf die Vergänglichkeit aller Gelüste nach Ruhm und Bestand. Der Ort war ungeeignet, Lebensfreude zu verbreiten. Trotzdem zog es die Nachkommen der Verblichenen immer wieder hierher, um ihrer Toten zu gedenken, sie gnädig zu stimmen, auf dass sie nicht als Wiedergänger die Lebenden heimsuchten. Toni verfluchte den Pfarrer und seine Vorliebe für makabre Bußhandlungen, die ihn zwang, im Beinhaus zwanzig Rosenkränze zu beten. Wieder nüchtern, schien es ihm, dass ein Gott so viel Rache nicht ersinnen könne, der gleichzeitig als der Allgütige angebetet und verehrt werden wollte. Die schwarzen Holzperlen des Rosenkranzes durch die schwieligen Hände gleiten lassend, streifte ihn trotz allem ein Hauch jener Kälte, die Gottes Rache, laut Pfarrer Knobel, unmissverständlich ankündige. Man war ja nicht unempfindlich für die düsteren Geheimnisse der Heimsuchungen, die Gott auch für einen wie Toni bereithielt, sollte er nicht gehorchen. Also ergab sich der Totengräber ins Schicksal und leierte eifrig die Rosenkränze herunter.