Читать книгу Daskind - Brandzauber - Angeklagt - Mariella Mehr - Страница 14
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ОглавлениеDas Gebrüll erstarb so plötzlich, wie es, nach einer Schrecksekunde bleierner Stille, durch die Fabrikhalle gedrungen war. Vielleicht hätte es immer im Dunkeln leben sollen, denkt Daskind, das den Daumen, den Zeigefinger und den Ringfinger der rechten Hand des schreienden, dann verstummten Arbeiters auf den Zementboden fallen sah. Der dem Kind zulächelte und dabei die für die Arbeit an der Blechschneidemaschine notwendige Vorsicht vergaß. Vielleicht hätte es den Augen verbieten sollen, das Erstaunen in den Augen des Verletzten zu sehen, ehe er schrie, dann verstummte und sich wie eine Marionette mit einer langsamen, stillen Bewegung zu Boden gleiten ließ. In kurzen Stößen floss das Blut, sammelte sich zu einem scharlachroten See um den Mann, dessen eben noch lächelndes Gesicht fahl wurde, der jetzt mit geschlossenen Augen dalag, stumm, gekrümmt wie ein Ungeborenes im Mutterleib.
An diesem Sonntagmorgen hatte Kari Kenel Daskind bei der Hand genommen, war mit ihm zum Bahnhof gegangen und in den Zug gestiegen, den er jeden Morgen nahm, um zur Arbeit zu fahren. Er musste die Sonntagsschicht beaufsichtigen, die in Sonderproduktion eine Serie verschieden großer Wannen für das Bezirksspital anfertigte. Es war einer jener Sonntage, an denen man die Vögel besonders fröhlich zwitschern zu hören meint, der Himmel wölbte sich in einem gleichmäßigen, etwas milchigen Blau über der Landschaft. Als der Zug einfuhr, empfing die beiden ein Blasorchester, das sich auf dem Perron zum Jahresausflug eingefunden hatte. Kari Kenel, mit seiner von Enttäuschungen vergifteten Vergangenheit, brachten auch die schmetternden Trompetentöne von Ich hatt’ einen Kameraden keinen Sonntagsfrieden. Daskind aber schwang sich auf den Rücken eines roten Milans und träumte. Hopste, als müsste es sich trotz der sommerlichen Hitze warm halten, unruhig auf der Stelle, tanzte zu den Klängen der Bläser mit nichts als sich zum Gefährten. Nahm sich vor, mit den Träumen aus Schwarz und Schmerz keine Nachsicht mehr zu haben.
Der Weg vom Bahnhof zur Fabrik führte an einer Wildrosenhecke vorbei, die Kari Kenel seinen geheimen Garten nannte. Hundsrosen, deren Duft besonders schwer und süß in der Luft schwebte, wenn sich ein Gewitter ankündigte. Sie nutzte Kari Kenel für die Veredlung seiner eigenen Pflanzen, obwohl unter Züchtern das Ansehen dieser bescheidenen, aber lieblichen Rose gelitten hatte, seit man über einfachere und erfolgreichere Methoden verfügte.
An solchen Tagen fühlte sich Daskind beinahe sicher. Ein Stück des fett und wächsern an der Seele haftenden Zorns hatte sich aufgelöst, ließ ihm ein Fenster zur Welt. Daskind fühlte Boden unter den Füßen. Aus den Augenwinkeln betrachtet es die schwere, an diesem klaren Morgen verlässlich wirkende Gestalt des Pflegevaters, probiert ein Gefühl aus, das Vertrauen heißen könnte. Weltvertrauen. Der Versuch gelingt nicht ganz, doch Daskind lässt sich nicht beirren. Es weiß, dass jeden Tag ein neues Ich aufkeimen kann, während ein anderes stirbt. Wie die Hundsrosen am Weg, einige erblühen, andere sterben ab. Daskind kennt sich da aus. Im Sterben. Im Sterben vor allem.
Aber manchmal geschieht’s, dass Daskind ohne Netz auf dem Seil tanzt. Dass es die gebotene Vorsicht vergisst. Dann kann auch ein Morgen wie dieser zur Katastrophe werden, wenn Daskind nicht aufpasst, die Zeichen übersieht, die jene Dinge ankündigen, von denen Daskind wissen müsste, dass sie jederzeit in sein Leben einbrechen, es in die kälteste Finsternis stoßen können. Daskind im papierdünnen Gewand.
Die Fabrikhalle vibriert vom Lärm der Maschinen. Von den Sägeblättern wirbelt Metallstaub auf, ein metallisch süßer, heißer Geruch dringt in die Lungen. Die Maschinen werden von Männern in blauen Überkleidern bedient. Der Staub überzieht ihre Gesichter. Sie sehen aus, als trügen sie silbern glänzende Masken. Ihre Augen hinter den gelben Brillen sind nicht zu sehen. Vorsichtig gleiten die Hände den Sägeblättern entlang, sie führen die großen, flachen Blechstücke mit fließenden Bewegungen über den Tisch. Die Sonne dringt durch die Fensterfront in die Halle, staubige Lichtbahnen ziehen durch den Raum. Das Kreischen der Maschinen zerreißt dem Kind fast das Trommelfell. Trödelt einer der Arbeiter, geht das Schrillen seiner Maschine in ein stotterndes Gewimmer über, das bald darauf mit einem miauenden Klagelaut erstirbt.
Nachdem der Mann dem Kind zugelächelt hat und die drei Finger seiner rechten Hand über den Zementboden gerollt sind, greift das Sägeblatt ins Leere, ehe der Klagelaut erstirbt. Wie auf ein verabredetes Zeichen verstummen auch die andern Maschinen, starren zwölf Augenpaare Daskind an, nicht den verletzten Mann. Bis einer der Arbeiter aufspringt, mit schweren Schritten die Halle durchquert, sich zum Ohnmächtigen hinunterbeugt, den Sirenenknopf bedient und hilflos stammelnd nach Kari Kenels Händen greift, als könne der das Unglück ungeschehen machen. Aber das kann Kari Kenel nicht, nicht er und kein anderer, nicht dieses Unglück, das vom Kind heraufbeschworene. Ein verstörter Ausdruck in den Augen des Pflegevaters, der sich rasch in Zorn verwandelt. Dann eine Bewegung, fast spielerisch. Daskind wirbelt durch die Luft, stürzt in wattige Nacht.
Da sitzt ihnen der Schrecken doppelt in den Gliedern, den Arbeitern. Erst der verletzte Mann, dann Daskind, das, die Arme schützend um den Kopf geschlungen, zwischen den Blechstücken liegt. Einer streicht dem Kind mit der Hand über die Stirn, dem Kind, das durch eine Nacht treibt, die kein Ende nimmt. Daskind träumt, dass es ganz und gar bei Gott ist, oder beim Satan, man kann das nie recht auseinanderhalten in der Nacht, die kein Ende nimmt. Beißt sich die Zunge wund, um nicht zu schreien. Hat einen roten Geschmack von zersägtem Blech auf der Zunge. Einen Essiggeschmack, saugt sich daran fest.
Kari Kenel wusste nicht, wie ihm geschah. Diese ohnmächtige Wut hatte er noch nie gefühlt, hatte nicht gewusst, dass ein Mordbube auch in ihm steckt. Nun hingen ihm die Arme wie große Schinken am Körper. Das hatte Daskind aus ihm gemacht, dieser hergeholte, stumme Balg, zu dem er keinen Zugang fand, an das er trotz allem gefesselt blieb. In Idaho hatte er vor langer Zeit ein zusammengewachsenes Paar gesehen. Von der Taille bis zu den Füßen waren die beiden unzertrennlich, sie bewegten sich zusammen auf drei Beinen. Gut aufeinander eingespielt, überwanden sie die täglichen Schwierigkeiten, die eine solchermaßen aufgezwungene Gemeinschaft mit sich brachte. Aber Kari Kenel erinnerte sich an den sehnsüchtigen Blick des einen Zwillings, wenn er sich nach der Vorstellung um den Bruchteil einer Sekunde später verbeugte als der andere. Sehnsucht und ein verzweifelter Hass lag in dem scheinbar freundlichen Gesicht. Einmal hatte sich Kari vorgedrängt, hatte die groteske Vorstellung des Zwillingspaars ganz nah auf sich einwirken lassen. Während die beiden auf drei Beinen über die Bühne steppten, traf ihn plötzlich ein Blick, der mörderischer nicht hätte sein können. Zu den Klängen einer Harmonika schrie sich der Verkrüppelte seinen Hass von der Seele, Kari Kenel konnte den Hass riechen, den Hass und die Not. Es war, als würde auf der Bühne Gott in den Boden gestampft, dieser unbegreifliche, sonderbare Gott, der einige mit Schönheit segnete und andere an Leib und Seele verkrüppelte. So erging es ihm oft beim Kind, dass er eine ohnmächtige, verzweifelte Wut spürte, die Sehnsucht, sich des Zwillings zu entledigen. Diese Sehnsucht war durch nichts zu besänftigen, auch nicht durch die Tränen, die er, über das nackte Gesäß des Kindes gebeugt, weinte, wenn er zuschlug. Die Sehnsucht war ein scharfer Luftzug im Gehirn, der alle andern Gefühle auf einen Haufen zusammenfegte, bis es einsam wurde im Kopf vor Kälte. Der Kälte folgte die Wut, eine Wut, an der er jetzt fast erstickte. Sie war anders beschaffen als alle Gefühle, die er kannte. Sie pflügte sich durch den Körper in die Fäuste, Kari Kenel konnte die Gelenke knacken hören, bevor er blitzschnell zum Schlag ausholte. Er war auf eine anstößige Weise in dieser Wut gefangen und fühlte gleichzeitig, dass er sich mit jedem Atemzug selbst verwundete, dass Daskind, weit von ihm entfernt, an andern Orten durch eine andere Nacht schwamm, er würde nicht mithalten können, nie würde er mithalten können mit dem Kind, das ihm so fremd geblieben war.
Es gab Zeiten, da hatte Kari Kenel Grund zur Hoffnung gehabt. Ärzte hatten Daskind untersucht und behauptet, es sei nicht wirklich stumm, es sei, im Gegenteil, sehr wohl imstande, seinem Alter entsprechend zu reden. Das war kurz nachdem Kari Kenel darauf bestanden hatte, Daskind zu sich nach Hause zu holen. Ermutigt durch die Ärzte, setzte sich Kari Kenel mit dem Kind in die Besenkammer, wo ein großer Stapel alter Zeitungen aufgeschichtet lag. Geduldig reihte er Buchstaben um Buchstaben zu einfachen Wörtern aneinander, bald war der Riemenboden mit ausgeschnittenen Buchstaben übersät. Aber Daskind schaute verstört auf die Wörter, als wären sie gefräßige Tiere, die jederzeit nach ihm schnappen konnten. Kari Kenel bemühte sich, sanfte Wörter zu finden, Wörter, die keine Angst verursachen sollten. Aber Daskind schien die Wörter nicht wirklich zu sehen, es lebte in einem Universum zwischen den Wörtern, sprang mit seinen Blicken an den Wörtern vorbei in eine geheimnisvolle Welt, die, so vermutete der Pflegevater, keiner Sprache bedurfte. Kari Kenel holte Blumennamen aus dem Gedächtnis hervor, von denen er wusste, dass sie Daskind kannte. Rosen, Margeriten, Ringelblumen und Königskerzen erstanden in der Kammer, doch Daskind tastete sich trotzig an ihnen vorbei in seine Welt, die keine Blumen kannte. Kari versuchte es mit den Vögeln, die er auf seinen Waldspaziergängen, Daskind an der Hand, mit Pfiffen, Trillern und Zirpen herbeilockte. Entmutigt sah er zu, wie Daskind teilnahmslos vor sich hin starrte.
An jenem Abend hatte Kari Kenel das erste Mal zugeschlagen, dem Kind befohlen, sich über den Stuhl des Immergrünen zu legen, eigenhändig das Hemd über das Gesäß des Kindes gestreift und den Gürtel aus den Schlaufen seiner Arbeitshose gezogen. Hatte ihn erst prüfend durch die Luft zischen lassen, dann ausgeholt und geweint. Wer sein Kind liebt. Wer sein Kind sprechen hören will. Der Züchtigung ging eine kurze Aussprache mit Frieda Kenel voraus. Die Daskind nie züchtigte, es nie berührte, nicht im Zorn, nicht in Zärtlichkeit. Die an der Nähmaschine saß und dem Zischen des Ledergurts lauschte, den Atem anhielt, die Hände ruhig im Schoß. In der Küche kaute der Immergrüne an einem Stück Käse, trank dazu dunkles Bier aus der Flasche und wischte sich nach jedem Schluck mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Wartete auf seine Beute, die ein andrer ihm zurichtete. Er roch förmlich, wie die Gier von seinen Lenden Besitz ergriff, gelb wie die tabakfleckigen Finger, die er in die Öffnungen des Kindes bohren würde.
Nach zwanzig Schlägen, die Daskind auf Geheiß des Pflegevaters mitzuzählen hat, wischt sich Kari Kenel, wie der Immergrüne unten in der Küche den Bierschaum, die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Wortlos verlässt er das Grünezimmer, schlurft die knarrende Treppe hinunter, wo er dem Immergrünen auf halber Höhe begegnet. Daskind auf dem Stuhl rührt sich nicht. Du hast mir Schande gemacht, hatte der Mann gemurmelt, bevor er das Zimmer verließ. Daskind wusste nichts von Schande, stumm hatte es die Schläge erlitten, nach keinem Grund gesucht. Seine Welt steckte voller Unbegreiflichkeiten, nach Erklärungen zu suchen war müßig, wenn eine strafende Hand die andere ablöste. Eine kalte Brise erfasst es. Daskind versucht, vom Kummer zu leben. Es wird gut daran tun, sich darin einzurichten, weiß Daskind. Das Leben ist eine nie heilende Wunde, die man sich selbst zugefügt hat.
Nach Kari Kenel versuchten die beiden Nonnen, dem Kind die Namen von Blumen, Vögeln oder süßen Speisen zu entlocken. Daskind blieb stumm, so sehr sie sich bemühten. Selbst Schwester Guido Marias sanfte Art, dem Kind das Sprechen beizubringen, blieb vergeblich.
Man hätte den Balg lassen sollen, wo er war, hieß es im Dorf. Daskind sei hier unglücklich, meinten einige freundlicher Gesinnte. Aber schon bald nahm man das stumme Kind hin, wie man ein Unwetter, eine kurze Unpässlichkeit hinnahm oder streunende Katzen, die man nur des Spaßes wegen, sie wegrennen zu sehen, mit Steinen vom Hof verjagt. Wenn selbst die Seelenärzte nicht helfen konnten, waren andere Mächte im Spiel. Dem Teufel ab dem Karren, man hatte es immer gewusst. Daskind hörte die Hinundherworte, die kleinen Wortbomben. Es lernte, nicht zusammenzuzucken, wenn sich die Dörfler bei seinem Anblick bekreuzigten. Wenn es von andern Kindern durch die Dorfstraße gejagt wurde, flüchtete sich Daskind in die Leere, die sein Gehirn jederzeit erzeugen konnte. Wenn Bannflüche nichts nutzten und die Wirklichkeiten durcheinandergerieten, hatte Daskind keine Gewalt über die Hände, die nach dem Tod griffen.
Keller wollte Daskind wie eine Laus zertreten. Schon immer. Seit dem Tag, als Daskind ins Haus geholt wurde. Alle hatten sie eine Strafe für Daskind, das fremde. Auch der Sigrist und Derpensionist, die Freudenstau, die auch. Und die Kinder, die es von ihren Eltern lernten. Daskind fühlte sich in der Falle. Später, dachte es, würde möglicherweise vieles anders, auch Daskind konnte gerettet werden, versprach Daskind dem Kind, es solle sich den Tod zum Sklaven machen. Aber solchen Befehlen ist schwer nachzukommen. Daskind weiß noch nichts von der Geduld des Wartens. Kennt den verkapselten Zorn zu wenig, noch trägt der Hass kein bestimmtes Gesicht. Das wird sich ändern, sagt es dem Kind ins Ohr, und dass der Hass ein strahlender Stern sei, ein schwarzes Licht hinter der Angst, die es quält.