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Aufmerksam betrachtet Daskind die Kiesel. Der Dorfbach macht hier keine großen Sprünge, sanft umspült er Stein um Stein. Umsichtig beleckt er die Wurzeln der Butterblume, sättigt großzügig das blühende Moos. Bunt leuchten die Kiesel im Bach, vom Wasser zurechtgeschliffene Werkzeuge, deren das Kind bald bedarf.

Im Rücken des Kindes das Haus der Waldfrau. Unter dem Giebel haben wie jedes Jahr Schwalben genistet. Daskind weiß nicht, wann die jungen Schwalben verschwanden, aber das aufgeregte Flattern und Jammern des Vogelpaars war tagelang zu hören. So ist’s im Wald, sagt die Waldfrau, frisst jeder jeden, je nach Bedarf. Sie greift ins Innere des Hasen, tastet nach Lungen und Herz. Legt das stumme ­Hasenherz zu den zierlichen Nierchen auf einen Bakelitteller. Füllt den nun leeren Hasenbauch mit Kräutern und Knoblauch, streicht ihm sanft über die prallen Schenkel, ehe das Tier im Ofen verschwindet. Die Lunge landet hinter dem Haus im Brombeergestrüpp. Für den Waldschrat, lacht die Waldfrau. Daskind will nichts hören vom Schrat, denkt, wenn die Frau lacht, dass sie den Wald mit dem Waldschrat teilt und ihn mit der Lunge des Hasen zufrieden stimmt, damit er unsichtbar bleibt. Grad so wie der Immergrüne im nächtlichen Dunkel verschwindet, wenn er mit dem Gewicht seines Körpers die Lungen des Kindes zerquetscht und den Schleim zwischen die magern Schenkel des Kindes gespuckt hat.

Daskind könnte auf das Hausdach der Waldfrau klettern, sich einfach und heiter hinunterfallen lassen. Das wäre ein Staunen im Auge des Immergrünen, sähe er die gebrochenen Schenkel, die zerfetzte Haut. Könnte Daskind auflachen, jubeln vor Freude. Hätte Daskind eine Frist zu nutzen. Doch Gott sieht alles, sagen sie im Dorf, wenn eines der Kinder Schlechtes treibt, und dass ihnen der Leib von Gott gegeben, der allein ihn zurücknehmen darf. Am Herzen Jesu bergen. Das Herz Jesu will keine gebrochenen Schenkel, keine zerfetzte Haut, keinen besudelten Leib. Lacht da der Immergrüne und jubelt.

Endlich findet Daskind den Stein. Der graue Kiesel liegt gut in der Hand. Zärtlich betrachtet Daskind die Maserung, misst mit geübtem Blick die Rundung des Funds. Mit Schleuder, Stein und Ziel zu verwachsen, hat es gelernt, dann verwittert das Herz nicht beim Schuss. Und dass das Ziel eines ganz bestimmten Steins bedarf.

Daskind wandert mit dem Stein und der Schleuder in den Wald. Ums Kind wimmelt’s von Absicht. Da ist ein Leben und Leben im Wald, das zueinanderdrängt und findet. Dornige Ranken zerkratzen die nackten Beine des Kindes. Vögel schrecken auf und fliegen hoch aus dem Niedergehölz. Das Beben der Luft will überall sein, ein Überallbeben berührt Daskind. Das ist nun im Wald aufgehoben, mit sich und mit dem Stein in der Hand.

Das klare Gesicht des Waldes verdunkelt sich zur Waldmitte. Hier stehen sie, Stamm an Stamm, die hohen, schlanken Tannen. Das kräftige Wurzelwerk ist unter dem Nadelteppich zu sehen. Eine feuchte, dunkle Weiblichkeit erfüllt diesen Teil des Waldes, den Daskind Nimmerwald nennt, im Gegensatz zu den andern Waldgegenden, die fürs Kind keine Namen haben. Die Waldfrau hingegen nennt den Ort Feenrausch, weil die Waldfeen an dieser Stelle vor langer Zeit ihre ­Feste gefeiert haben sollen. Trunken vom Nektar, hätten sie sich im Reigen gewiegt und gesungen. Die Tannen, bei Festen immer zugegen, hätten sie mit ihrem Rauschen begleitet. Doch einmal seien die Feen vom Tanz in die Ekstase nicht mehr zurückgekommen, obwohl die Tannen zur Rückkehr mahnten. Seither habe niemand mehr die Feen gesehen. Traurig seien die Tannen allein in den Wald zurück­gekehrt. Seither herrsche der Schrat im Wald, mit dem sei nicht zu spaßen. Die Bäume aber seien zum Himmel gewachsen, um ab und zu einen Glanz auf den Flügeln der Feen zu erhaschen.

Daskind umarmt den traurigen Baum. Das kann es verstehen, dass da eine Trauer ist, die nie mehr vergeht, wenn keine Feen im Feenrausch tanzen. Das kann es verstehen, Daskind, dass da keine Freude ist, wo die Feen fehlen und der Schrat sein Unwesen treibt. Es ist an der Zeit, flüstert Daskind. Da ist der Stein in der Hand und die Schleuder. Daskind hat sein Geschick, kann nicht aus der Haut. Jetzt hört es die Amsel im Gezweig des Baums, hört im Gezweig das Necken und Rufen. Nimmt still die Schleuder zur Hand. Fühlt die Kraft im Arm, als es langsam den roten Gummi spannt. Denkt, dass es verwachsen muss mit dem Stein und der Schleuder, dem Ziel. Tut es probeweise, hält inne, nimmt sich Zeit. Moosbewachsene Zeit zieht ins Kind ein, in den Bauch, macht ihn weich und fügsam. Warm.

Fest Jetzt Die Hand Ums Gegabelte Holz Spannt Jetzt Den Schlauch Fühlt Ziel In Der Hand Im Stein Liegt Gut In Der Hand Im Leder Der Schleuder Spannt Fester Noch Fester Fühlt Stein Fühlt Hand Die Schleuder Das Ziel Kann Jetzt Das Sirren Des Steins Und Zugleich Das Locken Der Amsel Kann Das Hören Fühlen Schwarz ­Explodiert Sonne Im Bauch Und Ein Ziehen Das Sirren Lauter Dann Dumpf Und Schneller Der Fall Still Liegt Vogel Tot Kann Nicht Fragen Kein Vogelfragen Hat Stille Daskind Hat Stille Im Wald Daskind Kehrt Zurück Moosgrüne Zeit.

Kind Ohneschuld, eingesponnen in eine feuchte Träumerei, beachtet den Vogel nicht, braucht den nutzlosen Kadaver nicht, um das Träumen in Schwung zu halten. Sitzt unter den Tannen, die Hände im Schoß gefaltet, lauscht es dem fernen Gesang der Feen, weiß sich vorm Schrat beschützt. In seinem Traum sind alle Vögel unterwegs, trennen mit ihren Schnäbeln die Welt vom Rumpf der Nacht.

Im Chalet sah man die Spaziergänge des Kindes zur Waldfrau nicht gern. Eigentlich waren sie verboten, aber dem Kind wurde nie gesagt, weshalb. Über die Waldfrau, Kari Kenels ledige Schwester, wurde ohnehin nicht mehr gesprochen, seit sie die Eltern verließ und in den Wald zog. Das war nach der Zeit, als Kari Kenel, den der Krieg in die Heimat zurückrief, die Störschneiderin Frieda Rüegg ehelichte und ihr das Chalet Idaho baute. Die Eltern starben kurz nach seiner Heirat, gramgebeugt, wussten die Dörfler, weil ihnen die Tochter die geschuldete Treue verweigerte. Das hatte es im Dorf noch nie gegeben, dass eine unverheiratete Tochter Haus und Herd verließ, um ­allein in einer alten Holzerhütte zu leben. Doch die Waldfrau, die Leni, habe ja vom Schaffen nie viel gehalten. Die habe beizeiten vom Schaffen nicht viel gehalten. Oft habe man sie am Waldrand sitzen ­sehen, gefaulenzt habe sie, obwohl das Gras hochgestanden sei und die Säue in den Koben vor Hunger schrien. Umso mehr hätten die betagten Eltern zugepackt, auf den Sohn sei ja auch kein Verlass mehr gewesen. Der mit seiner Auswanderei und den teuren Postkarten, die er von drüben schickte. Der Hof ging an Neuzuzüger, an Ambachs aus dem Nachbardorf, weil die Leni nicht zu bewegen gewesen sei, ihn wenigstens an einen Einheimischen zu verpachten. Auch der Kari habe seine Stelle als Vorarbeiter in der Aluminiumfabrik nicht aufgeben und den Hof nicht bewirtschaften wollen. So sei der Leni ein stattlicher Batzen ausbezahlt worden, mit dem sich’s gut leben lasse. Aber dass da eine dem Herrgott die Zeit stehle, das sei ein Ärgernis. Die hause im Wald, als sei sie vom Bessern.

Andere wussten von den Spaziergängen der Waldfrau zu berichten. Kraut um Kraut nehme sie zur Hand, einige trage sie gebündelt nach Hause. Man könne nur ahnen, was daraus zusammengebraut werde. Gescheites könne es nicht sein, bei so einer.

Andere wollten sie bei Vollmond im Wald gesehen haben. Oft mit nackten Füßen und nur in ein weißes Hemd gekleidet. In so einem Dorf wird halt viel geredet, wer weiß schon, was an den Geschichten wahr ist, die sich die Frauen beim Warten aufs Anprobieren in Frieda Kenels Nähstube erzählen.

Daskind wusste von den Erzählungen. Ging hin, auch wenn es verboten war.

Das erste Mal hatte sich Daskind verirrt. Es war aufgebrochen, die Puppe zu suchen, seine Puppe, die Frieda Kenel in den Dorfbach geworfen hatte. Die Puppe war ein Geschenk der Kellers nebenan. Ei­gent­lich kein Geschenk, eher ein Lohn, denn für die Stoffpuppe musste Daskind der Keller Marie wöchentlich dreimal das lange, wirre Haar bürsten. Vorsichtig hatte es durch das Haar zu fahren, vorsichtig Knoten um Knoten zu lösen, bis das Haar glatt und glänzend über die Schultern des Mädchens floss. Das Haar roch nach Kakao und Kuchen. Wenn Daskind unvorsichtig wurde und an den hellen Haaren riss, schlug Marie es ins Gesicht oder – noch schlimmer – Marie weinte so lange, bis die Keller vom Laden hochkam und Daskind laut schimpfend aus dem Haus jagte. Oder Anton Keller selbst kam und nahm Marie in den Arm. Nach dem Bürsten besah sich Daskind seine Hände. Nie hatte das Gold des Haars Spuren hinterlassen, die Handteller blieben weiß.

Einmal hatte es das Haar der Keller Marie besonders vorsichtig gebürstet. Seidenweich war es anzufühlen. Marie ließ sich und ihre Haarpracht kokett bewundern. Da griff die Keller in eine Spielzeugtruhe und holte die Puppe hervor. Da nimm, armes Ding, und dass du morgen wiederkommst.

Die Stoffpuppe wurde in die Überlebensstrategie des Kindes eingebaut. Von allem Überflüssigen befreit, schien sie dem Licht zu­gehörig, in das die Tannen getaucht waren, wenn sie dem Glanz der Feenflügel nachtrauerten. Dann war auch jenes dunkle Rauschen zu hören, das jetzt Daskind beim Anblick der Puppe zu hören glaubte. Vorsichtig löste es den schwarzen Faden aus dem Stoff, an dem vermutlich das eine Auge befestigt war. Dann kratzte es die rote Farbe weg, die einmal ein Lippenpaar markierte. Der Mund, nur noch eine zarte, kaum sichtbare Kerbe in der unteren Hälfte der runden Gesichtsscheibe, lächelte weltentleert.

Die Hände und Füße der Puppe zeigten Zerfallserscheinungen. Finger und Zehen fehlten ganz. Wolle quoll aus den Wunden hervor, Daskind stopfte sie in die Öffnungen zurück. Der Rumpf war in ein Tuch von undefinierbarer Farbe eingenäht. Lose baumelten die Beine am Rumpf. Daskind schwang die Puppe im Kreis, bis es im Schultergelenk knackte. Dann riss es der Puppe die baumelnden Beine in den Spagat und bohrte mit dem Zeigefinger ein Loch in den brüchigen Stoff. Schließlich fand es einen geeigneten Knebel, um Kellers ­Geschenk aufzuspießen, und lief, die Trophäe hoch erhoben, nach Hause.

Wenn mich die Keller Marie jetzt schlägt, werde ich der Puppe Nadeln ins Gesicht stecken, dort, wo die Augen waren. Und ins Herz, in den Bauch. Ich werde keine Stelle auslassen, denkt Daskind. Keine Stelle, auch nicht die Stelle mit dem Loch.

Und auf dem Stuhl im Grünenzimmer werde ich an die Puppe denken, denkt Daskind, und nachts, wenn der Immergrüne … Dann auch.

Aber nun war die Puppe weg, und Daskind machte sich auf, sie zu suchen. Nachts zuvor war wieder der Immergrüne ins Kind eingebrochen. Daskind hatte lange die Puppe gequält und sie schließlich an einen Nagel gehängt, dass der Stoff im Rücken riss.

Weggeworfen. In den Bach, hatte die Pflegemutter gesagt. Also lief das Kind zum Bach. Es war ein schwieriges Suchen, denn Daskind wusste nicht, an welcher Stelle Frieda Kenel die Puppe in den Bach geworfen hatte. Auch konnte der Bach die Puppe mitgenommen haben, davongetragen wie die Äste und Steine, die er nach Gewittern auf die Dorfstraße spülte.

Daskind trottet dem Bach entlang dem Wald zu. Es weiß, wo die Pflegemutter die wilden Beeren holt, die sie für den Winter zu Kompott verarbeitet. Im Keller stehen die Gläser auf den rohen Holzbrettern. Nach einiger Zeit sind sie von klebrigem Staub überzogen, dann sieht man die Schrift nicht mehr und muss an der Farbe des Eingemachten erraten, was man auf Geheiß der Pflegemutter in die Küche hochschleppt. Ist es das Falsche, muss Daskind wieder in den Keller steigen, obwohl es sich fürchtet vor dem Dunkel und den großen Spinnen. Oft glaubt es, die Spinnen auf dem Gesicht zu spüren oder Spinngewebe, das von der Decke hängt. Dann schreit es laut im Dunkel des Kellers, weil es den Lichtschalter nicht berühren darf. Das hat die Pflegemutter verboten, dass Daskind Licht macht, wenn es in den Keller hinuntersteigt. Das hat sie verboten, und dass Daskind schreit. Aber Daskind kann nicht aufhören zu schreien, obwohl es Angst hat, dass ihm eine Spinne in den Mund klettert und dort ein Netz spannt, an dem Daskind ersticken muss.

Jetzt hat es die Stelle erreicht. Hier ist der Bach ein friedliches Ge­murmel, schön anzuschauen mit den bunten Steinen und den Blu­men, die am Bachrand blühen: Dotterblumen, weiße Waldanemo­nen und Engelwurz. Ein gelbes Licht verzaubert das Gebüsch, Frieda Kenels Gebüsch, Frieda Kenels Beeren, die sie in kleinen Körben nach Hause trägt. Daskind muss die Puppe finden. Starrt angestrengt in den Bach. Sucht mit weiten Augen das Wasser ab, das Ufer. Im Moos liegt die Puppe, der Bach hat sie nicht fortgetragen, hat sie achtlos ans Ufer gespült, wo sie sich in abgebrochenen Zweigen verfing. Von den Zweigen gehalten, liegt sie im Moos, sanft gleiten kleine Wellen über ihren Stoffkörper, manchmal verschwindet der Kopf in den Wellen. Daskind klettert vorsichtig die Böschung hinunter, greift nach der nassen Puppe, zieht sich wieder hoch. Mustert die Puppe, schüttelt sie und schwingt sie in der Luft. In den Wassertropfen bricht sich das Licht, kleine, regenbogenfarbene Kugeln, ein lebendiger Kreis um Daskind und die Puppe.

Aber Daskind verlässt den Kreis, will nicht vom Regenbogen, nicht vom Licht und den Farben gefangen werden. Nimmt einen dicken Prügel und die Puppe, läuft hastig in den Wald. Dort, weitab vom Bach, haut Daskind auf die Puppe ein, langsam, entschlossen. Blind. Findet den Rücken der Puppe blind. Schreit und haut. Jedem Schrei folgt ein tiefes Knurren aus dem Innern des Kindes. Prügelt die Puppe in den weichen Waldboden. Kann nicht aufhören, muss und muss. Schreit und knurrt. Das hat es von den Wölfen gelernt, dass da kein Erbarmen ist, wo Blut fließt. Schlägt jetzt schneller, Daskind, verbeißt sich im Stoff, zerreißt den Fetzen Stoffleib, bis nicht mehr zu sehen ist, was es war.

Pocht das Herz rasend.

Ist ein Zorn im Kind.

Zittert Daskind.

Schreit weiter, Daskind.

Bis eine Hand es streift und seine schreiende Stimme in der ruhigen Stimme der fremden Waldfrau verschwindet.

Starren sich an, die Frau und Daskind. Fremdlinge im Wald, der ein Tor ist zu den Gesängen der Fee. Führt eine Einsamkeit die andre durchs Tor, ein Fremdling den andern, eine Not die andere Not, führt eine Hand die andere tief in den Wald, wo das Holzhaus steht. Jetzt beide stumm.

Kocht die Waldfrau Kakao. Stellt Kuchen auf den Tisch. Bittet das Kind zuzugreifen. Nie hat jemand Daskind um eine Gefälligkeit ­gebeten, nicht am Tisch und nicht in der Nacht ohne Sinn. Daskind stopft sich den Kuchen ins Maul. Schluckt süß und süß, will wiederkommen. Bald.

Daskind - Brandzauber - Angeklagt

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