Читать книгу Daskind - Brandzauber - Angeklagt - Mariella Mehr - Страница 15
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ОглавлениеDas Herz des Wals wiegt 500 Kilo, sagt Kari Kenel zum Kind. Der Wal liegt auf einem langen, mit Planen ausgekleideten Eisenbahnwagen. Wäre das aufgerissene Maul nicht, das von Eisenstäben gestützt wird, könnte man meinen, das Tier schliefe. Wie ein riesiger, schwarz geteerter Neger, lacht der Gemeindepräsident, dem das Dorf dieses Ereignis zu verdanken hat. Sein Arm verschwindet im aufgerissenen Rachen. Die Kinder an den Händen ihrer Mütter sind ängstlich. Wissen nicht, ob sich das riesige Tier nicht doch plötzlich bewegt, aufersteht vom Tod, der ihm von Männern mit großen Harpunen zugefügt wurde. Tapfer schreien sie im Chor nach Mister Haroy, es hallt durch den Bahnhof, als würde eine Horde Wilder den Geist des toten Tiers beschwören. Daskind schreit nicht mit. Wagt sich näher an den Leib, will dem Tier in die Augen schauen. In den Augen des Wals muss seine Heimat zu sehen sein, meint Daskind, eine Landschaft aus Farben und Licht, mit geheimnisvollen Höhlen, von regenbogenfarbenem Licht durchflutete, moosüberwachsene Korridore, durch die ein Schwarm schwereloser, friedlicher Tiere dahingleitet, ein ruheloses, einander umwerbendes Gedränge aus kühlen, wendigen Leibern. Aber in den Augen des Wals ist die Heimat nicht abzulesen, die Daskind meint. In den Augen des Wals sieht es die Augen seiner Widersacher, und in deren Augen wiederum die Augen der Widersacher hinter diesen Widersachern, Jahrmillionen zurück, und immer der lachende Töter hinter dem lachenden Töter hinter dem Töter. Ein Schachteltraum bindet Daskind an den toten Wal. In diesem Traum sind sie beide Gejagte, Daskind findet sein Entsetzen in den Augen des Wals wieder, seine Angst und den hilflosen Zorn, der jedem Töter entgegenbrandet und doch, kurz vorm Zuschlagen, ungenutzt verebbt.
Daskind und der Wal sind eine Insel inmitten des Lachens und Schreiens. Die andern hauen dem Tier kameradschaftlich auf die präparierte Haut, stellen sich neben den Wal, ihn mit der einen Hand berührend, die andere in der Hüfte, als ob sie die Sieger wären. Tun, als hätten sie das Tier erlegt, jeder den andern in der Haltung übertrumpfend. Tun, als bedrohe sie das Tier noch immer, besonders die Kinder, die in gespielter Angst zurücktreten, wieder vorpreschen, Mister Haroy skandierend um den Wagen tanzen, bis sie vom wütenden Gellen der Eltern zurückgerufen werden, sich anständig aufzuführen, das sei ein feierlicher Augenblick. Aber die Kinder lassen sich nicht zähmen. Sie beschießen den Kadaver mit unsichtbaren Harpunen, können ihre Lust am eingebildeten Töten kaum unterdrücken.
Bis der Gemeindepräsident in die Hände klatscht, weil er eine Ansprache halten will. Er wirft sich in die Brust, wartet, bis auch das übermütigste Kind an der Hand der Mutter den Mund hält, breitet die Arme aus. Als Dank für das Vertrauen der Gemeinde, der er seine Wahl verdanke, habe er diesen Anlass ermöglicht. Es sei ein hartes Stück Arbeit gewesen, die Veranstalter zu überreden, einen kurzen Halt in ihrem Dorf einzuschalten. Die Reiseetappen des toten Wals seien von langer Hand vorbereitet gewesen, aber er habe doch den Wunsch gehabt, der Dorfjugend diesen einmaligen Anblick eines Riesenwals von sage und schreibe – er wiederholt ‹sage und schreibe› noch mehrere Male – 23 Metern Länge zu bieten. Man sei der Jugend etwas schuldig, wolle man sich ihrer als künftiger treuer Bürger vergewissern. Natürlich habe er eine bestimmte Summe aus der Gemeindekasse erbitten müssen, einen nicht unbedeutenden Anteil habe noch Moritz Schirmer beigesteuert, man solle ihn hochleben lassen. Sogleich brechen die Kinder in ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus, das mehrstimmige Hurra und Bravo wird von den Wänden zurückgeworfen, bis der Gemeindepräsident erneut in die Hände klatscht. Man solle nun auch der tapferen Männer gedenken, die diesen riesigen Wal erlegt und im Kampf mit dem Tier auf hoher See ihr Leben riskiert hätten. Der Wal wiege lebend ganze 55 Tonnen, 55 Tonnen geballter Kraft, der die mutigen Männer mit nichts als ihren Harpunen entgegengetreten seien. Aber der Mensch habe vom Herrgott auch einen Verstand mitbekommen, der mache wett, was ihm an Kraft fehle, um solch ein Untier zu erledigen. Schon wieder brandet der Beifall durch den Bahnhof, den nicht anwesenden Helden zu Ehren und dem Verstand, den sie alle vom Schöpfer erhalten haben. Die Ehrung will kein Ende nehmen, schulterklopfend feiert der Mut seine Stunde, die sonst verschlossenen Gesichter leuchten dem Redner entgegen, der sich zufrieden die Hände reibt.
Daskind lässt die Hurrarufe, das Gejohle und Gestampfe hinter sich, hat sich an den Schulter an Schulter stehenden Dörflern vorbeigezwängt und den Bahnhof verlassen. Das Dorf war menschenleer. Unschlüssig blieb Daskind stehen, wusste nicht recht, welchen Weg es nehmen sollte. Im Chalet Idaho, wusste Daskind, wütete Frieda Kenel mit ihren Pfannen, die Einzige, die sich nicht zu der um den Wal versammelten Menge gesellt hatte.
Das Chalet gehörte zu den besonderen Gefahrenzonen innerhalb der großen Gefahrenzone, in der Daskind lebte. Auch dann, wenn nur Frieda Kenel anzutreffen war. Die Pflegemutter. Ein langes Wort, denkt das mutterlose Kind, dem die vier Silben höhnisch durch den Kopf rollen, wie Marmeln in die falsche Richtung. Sind nicht aufzuhalten, die Silben im Kopf.
Daskind ist sich selbst ein vielfaches Wesen: Seiltänzerin, Menschenfresser, Rübezahl, Schneewittchen, Rosenrot und mehr. Der Trauer ist nicht standzuhalten, wenn dem Kind die Welt eindringt, die es nicht begreift. Dringt das Gift durch die Poren, durch alle Körperöffnungen, breitet sich fremde Welt aus im Kind, spürt sich Daskind zerfranst.
Über dem Kind kreist ein Mäusebussard. Ein Krähenschwarm versucht, ihn mit schrillem Gezeter abzudrängen. Die Straße zieht eine schnurgerade Linie durch die Landschaft, sie endet am Horizont. Durch die dünnen Schuhsohlen ist die Wärme des Asphalts zu spüren. Teergeruch vermischt sich mit dem Duft der blühenden Magerwiesen, die sich zu beiden Seiten der Landstraße ausbreiten. Gedankenlos kaut Daskind an einer Margeritenblüte, der säuerliche Geschmack überzieht den Gaumen mit luftiger Haut.
Lange wandert Daskind auf der Straße. Nun hat es den östlichsten Rand der Harch erreicht. Hinter dem letzten Dorf sind links der Straße die Kiesgruben am Hang zu sehen. Graue, ausgeschabte Wunden, um einen schrundigen Krater verteilt, der mit milchig schimmerndem Wasser gefüllt ist. Auf der Wasseroberfläche schwimmt Abfall. Eine tote Ratte streckt ihren aufgedunsenen Bauch in den Himmel. Über den beiden Gruben erstreckt sich ein langer Hügelkamm, der fast zur Gänze für den Kiesabbau freigegeben wurde. Baumstümpfe ragen in die Höhe, die gefällten Stämme haben eine tiefe Schleifspur in den Hang bis hinunter zur Straße gefressen.
Daskind sitzt am Kraterrand, die Füße baumeln über dem Wasser. Es könnte sich fallen lassen, denkt es, das Wasser würde in die Lungen eindringen, ihm den Atem nehmen. Es hat gehört, dass man beim Ertrinken als letztes Musik hört. Da es an Musikerinnerungen keine große Auswahl hat – außer Pflegemutters Fernimsüd vielleicht noch ein paar Kindermelodien, Zählreime und Spottlieder –, ist das keine Verlockung.
Träge schwimmt die Rattenleiche auf dem Wasser. Daskind angelt mit einem Stock nach ihr, erzeugt immer größer werdende Kreise um den Kadaver. Es schlägt nach ihm, erst gleichgültig, ungenau, dann bricht plötzlich die Wut durch. Daskind zerpflügt mit seinem Stock das Wasser. Die Ratte wird lebendig, schnappt mit ihren spitzen Zähnen nach den Füßen des Kindes, reißt ihren Raubtierrachen auf. Sieben Feuerzungen greifen nach dem Kind. Aus den Vorderbeinen werden grüne Drachenflügel, dann wächst dem Tier Kopf um Kopf aus dem Rumpf, erst sind es nur große Beulen, die platzen, ledrige Köpfe freilegen, die sofort ihre Mäuler mit den sieben Feuerzungen aufreißen, auf Daskind starren, das ums Leben kämpft. Schwerfällig erhebt sich der Drache aus dem Wasser, zieht einen engen Kreis über dem Krater. Daskind kann seinen fauligen Atem riechen, und den ledrigen Geruch seiner schuppigen Haut. Der lange Drachenschwanz peitscht die Wassermasse, die jetzt über den Kraterrand schwappt, mit einer gefräßigen Wellenbewegung Daskind erfasst, über ihm zusammenbricht, es in den Abgrund reißt. Da will Daskind schreien, aber seine Stimme gehorcht ihm nicht, es bleibt stumm. Verzweifelt greift es nach dem Drachenschwanz, zieht sich daran hoch, kriecht über den schartigen Kamm des Schwanzes zum Rücken, hält den Hals des Drachen umklammert. Der schwingt sich mit dem Kind auf dem Rücken hoch in die Luft, die von Fabelwesen erfüllt ist. Ihr Kreisen erzeugt ein melodiöses Sirren, dass im Kind die Wut abstirbt wie ein dürrer Ast an einem noch gesunden Baum. Lächelt Daskind. Der Himmel ist ein blaues Land, grenzenlos, Daskind kann endlich atmen.
Höher und höher steigt der Drache, Daskind schwimmt jetzt im gleißenden Licht der Sonne, fühlt sich in der Hitze gut aufgehoben. Bis sich ein schwarzer Schatten vor die Sonne schiebt. Da fürchtet es sich einen Augenblick lang, denn es hat gelernt, dass Überraschungen meist aus dem Hinterhalt kommen, zuschlagen, ehe man sich’s versieht. Doch dieser Schatten ist freundlich, ist der Wal, der sich in einem weiten, fröhlichen Bogen in die Höhe katapultiert, dann in einer eleganten Abwärtsbewegung am Rand des Horizonts verschwindet. Daskind auf dem Rücken des Drachen kann den orgelnden Lockruf des Wals hören, kann an diesem Samstagnachmittag die Sprache der Wale verstehen. An diesem Tag geht Daskind nicht unter. Ein Wal und ein Drache haben dem Kind den Tag gerettet.
Die rechte Straßenseite säumt Schirmers fruchtbarer Obstgarten. Hier reifen der Reihe nach Kirschen, Zwetschgen, Äpfel, Birnen und Nüsse, die Schirmer im eigenen Boot über den See in die benachbarte Kleinstadt bringt. Wenn die Früchte reif sind, achtet der Bauer darauf, dass sich kein Kind an einer Frucht vergreift. Dabei hilft ihm Zorro, der schwarze Dobermann mit den blutunterlaufenen Augen. Wenn der durch den Obstgarten jagt, wenn sich dem Hund das Fell über dem Rücken sträubt und er mordlustig die Zähne fletscht, hechten die Kinder über den Zaun, bleiben keuchend einen Augenblick stehen, ehe sie die Straße entlang zurückrennen.
Bauer Schirmer hat noch einen zweiten Verbündeten. Einen Stier, den er manchmal, nur so zum Spaß, mit einem Gewehrschuss über die Weiden hetzt, damit die Kinder vor Schreck erbleichen. Sein Gesicht glänzt vor schwarzer Freude, wenn eines der Kinder am Drahtzaun hängen bleibt und nur in allerletzter Minute die schützende Seite erreicht. Besonders, seit sein Sohn unter der Erde liegt. Das hat der Schirmer nie verwinden können. Hat lange mit Gott gehadert, die Schuld dem Mädchen gegeben, der Anni Bamert, dem sündigen Fleisch.
Weil Moritz Schirmer die umliegenden Kirchen mit großzügigen Legaten versorgt, übersieht man seine Bosheit. Und die Eltern wagen nicht, sich zu beschweren, einige von ihnen sind bei Schirmer hoch verschuldet. Unvorsichtig, sich mit dem Bauern anzulegen. Besser ist es, Schirmer noch beflissener, noch unterwürfiger zu grüßen.
An Schirmers stattlichen Besitz grenzt die gemeindeeigene Allmend mit der Kromenkapelle, die 1693 von Landammann Johann Krieg als Dank für die Bewahrung vor Raubüberfällen errichtet worden und der Heiligen Muttergottes von Loreto geweiht ist. Das Innere der Kapelle ist eine Nachbildung des heiligen Hauses von Nazareth, der Santa Casa, die nach der Legende Engel nach Loreto getragen haben. Über dem Engelsfenster, durch das der Engel Gabriel bei der Verkündigung eintrat, hatte sich ein Bienenschwarm niedergelassen und bildete eine schützende, dunkle Traube um die unsichtbare Königin. Das geschäftige Summen der Bienen erfüllte den rechteckigen Raum, als das Kind eintrat. Und im Summen der Bienen vermeinte es noch etwas von der Weite zu spüren, in die es mit dem Drachen aus dem Traum eingetaucht war wie in ein unverständliches Glück.
Stufen und Gitterschranke trennen den Raum mit dem Tonnengewölbe in das westliche Schiff mit dem Altar und den östlichen Chor, der ursprünglich im Hause von Nazareth die Küche mit einer Kaminnische, dem Santo Camino, bildete. Über der Nische ist die heilige Mutter mit dem Kind zu sehen, beide in kostbare, bestickte Gewänder gekleidet, einander liebevoll haltend. Ihre Gesichter und Gliedmaßen sind schwarz wie mattes Ebenholz, Mutter und Sohn lächeln sich zu.
Daskind setzt sich auf die Stufen. Die Arme um beide Beine geschlungen, kauert es lange vor dem Bild aus einer Welt, die ihm verschlossen bleibt. Warum nur ist so viel traurige Gewissheit im Kind? In einem Alter, das ein bunter Rausch sein könnte. Und da ist er wieder, der Zorn, der sich aus seinem Innern nach außen frisst, ein Ungeheuer, die Nachtseite des Drachen. Kann Daskind nicht an sich halten, muss Luft in die Lungen pumpen und schreien. Schreit den Zorn ins Gesicht von Mutter und Kind, schreit sich die geschundene Seele aus dem Leib. Bis es widerhallt von den Wänden, zu einem einzigen, schwarzen Schrei wird, während Daskind tanzt und stampfend den geheiligten Boden bearbeitet. Das will es nicht sehen, Daskind, diese Liebe im Gesicht der Mutter und die Liebe in den Augen des Kindes, das nicht. Bricht Hass aus im Kind ob der Liebe, die es sieht. An der es nicht teilhaben kann. Ist krank, Daskind, vor Lieblosigkeit krank. Winterkind.
Dann wieder Stille. So viel Kraft ist nicht im Kind, um all das Klagen, das Entbehren, das Nichtverstehen mit einer schützenden Haut aus Hass zu überziehen. Gehen die Schreie des Kindes in ein Wimmern über, in ein Katzengewimmer, das nicht mehr aufhören will. Sein Körper möchte sich teilen, auseinanderbrechen, den Zorn freigeben, diesen Klotz in der Mitte, an dem es erstickt. Doch es bricht nicht auseinander, noch nicht, im Gegenteil, der hässliche Klotz wird schwerer und schwerer, auch wenn sich Daskind kaum weiterschleppen kann unter seinem Gewicht. Der unsichtbare Buckel des Kindes, das kein Kind sein darf. Das nur eine Traumstunde lang den Drachen ritt.
Kindern, die nachts weinen und schreien, legen die Mütter in der Harch den «Schlaf» unters Kissen. Sie finden den Auswuchs der Rosengallwespe in den Hundsrosensträuchern. Soll der «Schlaf» seine Kraft behalten, darf er nicht berührt oder übers Wasser getragen werden. Wenn das Mondlicht in die Kinderstube fällt oder das Hemd des Kindes dem Mondlicht ausgesetzt ist, dann ist das Nachtweinen, so nennen sie es, unvermeidlich. Oder wenn sie beim Eintreten zuerst das Kind betrachten statt andere Dinge. Wenn der «Schlaf» seine Kraft verliert, gibt man den Nachtweinenden Bockshornsaft, oder man legt ihnen betäubenden Nachtschatten, wilden Hopfen und Spreu aus dem Schweinestall in die kleinen Betten. Einige beräuchern das Kind mit brennendem Zaunmoos, oder sie geben ihnen getrockneten Hühnerkot in die Milch. Das Moos vom Dach eines Kuhstalles dient zum Beräuchern nachtweinender Mädchen, das Moos vom Dach eines Ochsenstalles zum Beräuchern der Knaben. Oder man trägt die nachtweinenden Kinder in den Stall und legt sie auf das noch warme Lager eines Tieres. Wenn ein Kind das Nachtweinen hat, so soll die Mutter abends beim Gebetsläuten Hafer in ihre Schürze geben, darüber das Kind halten und dreimal sprechen: «Du Nachtmutter, gib deinem Ross ein Futter, dass dein Kind schreit und meines schweigt.» Drei Steinchen, während des Läutens unter der Dachtraufe aufgehoben und – ohne sich umzusehen – unter das Kissen des Kindchens gelegt, sollen auch helfen. Manche Mütter legen das weinende Kind auf ein Fell über der Türschwelle, schreiten dreimal darüber und sprechen dabei die Worte: «Welche dich geboren, die hat dich auch befreit.» Damit der Bann hilft, dürfen aber die Mütter nach Sonnenuntergang nichts mehr ausleihen. Wenn sie es nicht vermeiden können, muss es sich der Leihende gefallen lassen, dass ihm ein Stück von seinem Hemd abgerissen und dem Kind unter die Matratze gelegt wird. Manche Frauen waschen sich bei Sonnenaufgang die Brüste mit Weihwasser und lassen die Kinder nachts an den geweihten Brüsten einschlafen.
Dem Kind hilft keine Mutter. Wenn ein Kind wie Daskind nachts weint, hängt höchstens ein gleichgültiger Mond am Himmel, vielleicht schreit ein Kauz. Oder ein Hase hoppelt erschrocken ins Gebüsch. Wie jetzt, am östlichen Ende der Harch, als das Kind endlich die Kromenkapelle verlässt und nichts mehr anzufangen weiß mit den Sekunden.
Im Ausweglosen verstrickt.
In der ausweglosen Zeit, die sich in Ewigkeiten verwandelt.
In dieser Nacht voller schwirrender Narrenlichter.
Irrlichtert
Daskind mit dem Kind
über das Feld
hinter
der Kromenkapelle.
Trägt
am Buckel
Daskind.
Als der Knecht auf dem Hof am östlichsten Rand der Harch das Wimmern des Kindes vernimmt, glaubt er, eine junge Katze zu hören. Langsam sucht er das Feld ab, bis er in einer Ackerfurche ein Kind kauern sieht. Er habe geglaubt, dass dort ein verirrtes Kätzchen jammere, sagt der Knecht dem Bauern, als er Daskind auf seinen Armen in die Stube trägt. Der ruft nach der Bäuerin. Die schlägt beim Anblick des Kindes die Hände zusammen und kann nicht aufhören, ein ums andere Mal Armeskind zu sagen, so verloren.
Wem es gehöre, wird Daskind gefragt. Das aber stumm bleibt. Die Milch trinkt. Sich an der großen Brust der Bäuerin wärmt. Das springt nicht über den Abgrund Wort, um endlich anzukommen, eine Ordnung zu finden. Daskind bleibt unbehaust, trotz der Wärme im Raum und der Milch, keiner Verführung zugänglich ist Daskind.
An diesem Tag wird Daskind zweimal davongetragen. Erst vom Knecht in die fremde Stube. Dann vom Pflegevater in die Kinderkammer. Nachdem ein Hin und Her von Fragen die Herkunft des Kindes klärte. Des Hergelaufenen. Daskind hat sich nicht gewehrt. Ist im offenen Jeep unter Kari Kenels Gummimantel, auf den ein Sommerregen niederprasselte, nach Hause gefahren worden, in die Gefahrenzone aller Gefahrenzonen, wo Frieda Kenel herrscht. Und der Immergrüne. Auch Kari Kenel. Der heute keinen Ledergürtel aus den Schlaufen zerrt. Nur den Kopf schüttelt und «Warumkind» murmelt. An diesem Tag.