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4. EIN VERHÄNGNIS

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Die Lieblingsbeschäftigung von Trampfahrern, wenn eine Reisecharter zu Ende gegangen war, bestand im Rätseln, Hoffen und Träumen. Die Hoffnung auf den Traumtrip, ach ja, man gab sie niemals auf!

Wir waren von Mersin kommend am Kap Anamur vorbei gen Westen gedampft. Ein Anschlusstörn vom Schwarzen Meer nach Bordeaux war im Gespräch. Dann würfelte man am ‚Traumtrip‘ Ravenna-Tripolis. Es herrschten schlechte Zeiten für die Reeder, zweifelsohne. Beim damaligen Frachtenverfall und Tonnage-Überangebot glaubten das sogar die Seeleute. Selbst die kürzesten Reisecharterverträge wurden angenommen, um wenigstens die Unkosten der Schiffe aufzufangen. Es hatte sich dann entschieden, dass wir Konstruktionsteile für Supermarkthallen nach Libyen bringen sollten, eine sperrige und schwere Ladung aus unzähligen Eisenträgern, Stahltraversen und Betonplatten.

Mitte Juni 1982 lag dann die "Marlene-S" an der Pier von Tripolis. Sämtlicher Alkohol war verschlossen worden, wir hatten nicht eine einzige Buddel Bier behalten dürfen. Jede Illustrierte, die nur im Entferntesten nacktes Weiberfleisch zeigte, war im Zollstore eingeschlossen worden. Da war so mancher Packen deftiger Pornohefte aufgetaucht. Ebenso waren sämtliche Devisen auf Heller und Pfennig anzugeben. Wer schlau war, hatte nicht alles gemeldet, denn in solchen Ländern gab es zwangsläufig einen schwarzen Markt für Devisen. Natürlich waren auch die Sender der Funkstation versiegelt worden. Ich hätte ja auf den Gedanken kommen können, den Israelis Länge und Breite von Tripolis durchzufunken!

Dann gab es endlich Landgangserlaubnis. Ich schaute mir Tripolis an, das ich vor vierzehn Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Im Hafen, wo Südkoreaner als Gastarbeiter ihren disziplinierten Dienst verrichteten, wirkte alles dem deutschen Gütesiegel ‚Sauber-und-Ordentlich‘ entsprechend. Für Freunde handfester Abstraktion ein klarer Beweis für die Unfähigkeit dieser Muftis und Kameltreiber. Entlang der Straße zum Hafentor standen auf Sockeln grüne Leuchttafeln. Darauf mahnten Sprüche aus Gaddafis grünem Buch der Revolution, dass „Repräsentation“ eine Verfälschung der Demokratie sei, dass man Partner und nicht Lohnarbeiter sei, dass die „El Fatah for ever“ leben möge. Einige der islamisch-grünen Kernsätze hätten auch unseren alternativ-grünen Hausbesetzern gefallen: „Land ist niemandes Eigentum“ und „Das Haus ist für seine Bewohner da – the house is for it’s occupant“, was sich sogar als Transparentparole mit „Das Haus gehört seinem Besetzer“ hätte übersetzen lassen können...

Die Altstadt war eine wehmütige Enttäuschung. Sicherlich, der Bogen des Marc Aurel, den fußballspielende Lausbuben als Tor benutzten, würde vielleicht noch Jahrtausende überdauern. Doch sonst kroch das Elend aus dem geschichtsträchtigen Gemäuer. Im Souk, den ich als brodelnden orientalischen Basar in Erinnerung hatte, waren fast sämtliche Geschäfte aufgegeben worden und verbarrikadiert. Der Basar war tot, bis auf die Gassen mit den hämmernden Kupferschmieden und den kabinenkleinen Läden der Silberhändler. Die bauchigen, innen verzinnten Kupferkessel waren Standardstücke eines jeden Haushalts, und Silberschmuck gehörte zur arabischen Welt wie die Oase zur Wüste. Hier existierte noch etwas von der Atmosphäre, derentwegen es einen in die Medina zog. Beduinenfrauen in weißen Überwürfen verscherbelten hier ihre massiven Armreifen, schweren Ohrgehänge und Amulette. Es war Not, die sie dazu zwang, denn Muammar al-Gaddafis verhängnisvolle Politik hatte den kleinen Leuten keinen Segen gebracht. Das Angebot auf den Lebensmittelmärkten war so dürftig, dass man an eine Hungersnot glauben mochte.

Ich traf einen Amerikaner, der draußen in der Wüste auf den Ölfeldern arbeitete.

„Für wen ich eigentlich tätig bin, weiß ich nicht“, sagte er. „Aber solange ich mein Geld bekomme...“ Und er bestätigte die Misere des Landes: „Wovon die Menschen hier leben, ist mir schleierhaft. Es gibt nichts zu essen, kein Obst, kein Gemüse, Grundnahrungsmittel in kleinsten Rationen. Die Leute hungern!“

Im Schaufenster eines Silberschmiedes, dem ich ein paar urige Beduinenamulette abgekauft hatte, entdeckte der Amerikaner ein altes amerikanisches Silber-5-Cent-Stück. Der junge Händler, der in London studiert hatte, schenkte es dem Fremden und spottete: „Wenn das Gaddafi wüsste!“ – Alle lachten, wohl wissend, wie verzerrt die Situation im Lande war, wo alles Amerikanische leichthin auch als Erzfeind-Jüdisches verfemt wurde. Der Genuss von Coca-Cola kam schon fast einem Landesverrat gleich.

Offiziell sollte der Dinar etwa acht Mark wert sein. Auf dem Schwarzmarkt – zugegebenermaßen ein risikoreiches Abenteuer – bekam man weitaus günstigere Kurse, die bis zur Basis von einem Dollar gleich einem Dinar rutschen konnten. Doch mehr als Silber für Sammler bot sich dem Käufer nicht, was mir allerdings die Enttäuschung über den toten Basar erträglicher machte.

Abends süffelten wir in gewohnter Runde heimlich heimliche Bestände. Wie Kinder, die geklaute Äpfel naschen, ließen wir uns kichernd die Drinks schmecken, die uns eine bevormundende Diktatur verweigern wollte. Gaddafi, du scheißt doch keinen Seemann an!

Das Rufzeichen unseres Frachters war in der ‚Traffic-List‘ von Norddeichradio, die ich über den nicht versiegelten Empfänger abhören konnte. Es lag demnach entweder ein Telegramm oder eine Funkgesprächsanmeldung bei Norddeichradio. Wir standen vor einem echten Problem. Unsere Charter ging hier zu Ende und wir lauerten auf einen Anschlussjob, dessen Einzelheiten uns nun allem Anschein nach mitgeteilt werden sollten. Indes, die Funkstation war versiegelt, jegliche Benutzung ein Verbrechen gegen die Sicherheit der „Sozialistischen Libysch-Arabischen Volksöffentlichkeit“, ein Vabanquespiel mit der Chance, in grausigen Verließen zu enden.

Aber, wir riskierten es! Der Chief und ich bastelten so lange an der Sendestation herum, bis wir sie trotz Versiegelung in Betrieb nehmen konnten. Einer stand Schmiere – falls sich plötzlich an der Pier Verdächtiges ereignen sollte – und dem Funkkontakt mit dem fernen Deutschland stand nichts mehr im Wege. Das Siegel war unverletzt geblieben: Jungfräulichkeit soll ja nicht immer ein Garant für Unberührtheit sein!

Die neue Order besagte, dass wir erst mal Richtung Gibraltar dampfen, und auf weitere Anordnungen lauern sollten.

Drei Tage später wussten wir weiter: Die "Marlene-S" war für eine Reise von Port Saint Louis du Rhône nach Mersin verchartert. Als wir am 20. Juni 1982, einem Sonntag, das kleine Nest an der Rhônemündung erreicht hatten, machte ich mit dem Chief eine Wanderung durch den sommerheißen Busch und das mückenschwirrende Marschland. Erinnerungen kamen hoch, denn vor etwa 22 Jahren war ich mit meinem Schulfreund Andreas im Faltboot den malerischen Fluss stromab bis ins Mittelmeer gepaddelt. In der Camargue hatten wir damals bei Strandzigeunerleben und Stierspielen unsere ersten jugendlichen Träume von Freiheit und Abenteuer verwirklichen können.


Wir sollten Röhren laden. Zum größten Teil zwei Tonnen schwere Stücke von 91 Zentimeter Durchmesser. Aber auch eine Reihe kleineren Durchmessers war darunter. Da es sich um eine Partie handelte, die vollzählig mitgenommen werden sollte, war der Erste Offizier dauernd mit Berechnungen beschäftigt. Da es geheißen hatte, es sei möglich, wollte er diesem theoretischen Diktat natürlich nachkommen. Zumal der Chartervertrag längst abgeschlossen worden war. Es war wieder einmal bezeichnend, wie Theorie und Praxis aufeinander stießen, wie die Männer an Bord bei der theoretischen Vorausberechnung erst gar nicht zu Rate gezogen wurden. Man hatte sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt.


Chief-Mate Schlüter, Chief Thiele und ich saßen am Abend des 22. Juni noch gemütlich bei einem Bierchen mit Kapitän Ruhnau zusammen, und wir ließen uns über ähnlich gelagerte Probleme aus. Schlüters spöttisches Fazit zu unserem Röhrenproblem: „Sobald diese verfluchten Dinger gestaut sind, lass ich mich schnellstens ablösen!“

Am folgenden Tag waren die Räume vollgeladen. Nun musste der Rest an Deck untergebracht werden. Die südfranzösischen Schauerleute klotzten ran wie die Verrückten, so, als arbeiteten sie auf Akkordbasis. Schließlich türmten sich die 91-Zentimeter-Röhren sieben Lagen hoch auf der Luke. Achtern waren die Arbeiter bereits fertig. Das Laschen der Ladung war, laut Chartervertrag, Aufgabe der Schiffsbesatzung.

Gegen halb zwölf Uhr nahm das Verhängnis seinen Lauf: Mit Donnergepolter brachen die trapezförmig übereinandergeschichteten Lagen zusammen. Uns erstarrte das Blut zu Eis. Das, was wir alle innerlich befürchtet hatten, war eingetreten. Ich rannte auf die Brücke und starrte auf die Katastrophe: Kreuz und quer lagen die Eisenröhren an der Pier, hatten sich zwischen Schiff und Kränen verkeilt und waren zum Teil weit über die Mole verstreut. Vor einer Viertelstunde noch hatte ich etwa zehn Mann auf den hochgetürmten Rohrlagen herumturnen sehen. Wo waren sie? Als ich mich über die Nock beugte, sah ich wie mehrere Männer einen Verletzten aus dem Wasser zwischen Pier und Schiff zogen. Unsere Crew war längst unten, ich überwand meinen Schrecken und rannte ebenfalls los, immer noch im Glauben, dass da mehr als zehn Menschen unter die Röhren gekommen sein mussten.


Doch an der Gangway wurde mir erklärt, dass die Schauerleute bereits vorne gearbeitet hatten als die Ladung achtern zusammengestürzt war. Der da unten an der Pier lag, mit grauenhaft abgewinkeltem, gebrochenem Bein, zerschlagen und Blut spuckend, war unser Erster, Schlüter!

Beim Laschen der Ladung war es passiert. Als die Röhren ins Rutschen kamen, konnte sich einer unserer spanischen Matrosen von ganz oben durch einen Sprung aufs Winschendeck retten. Unten, im Gangbord, arbeitete Armando, ein portugiesischer Matrose, neben Chief-Mate Schlüter. Armando rief noch: „Runter! Runter!“, und duckte sich unter das Lukensüll. Der Erste aber sprang zur nahen Treppe, die vom Hauptdeck auf das Achterdeck führte. Er musste sich bereits in Sicherheit gefühlt haben, als er sich auf dem oberen Absatz umdrehte. Wahrscheinlich hatte er sehen wollen, was da eigentlich passierte. In diesem verhängnisvollen Augenblick rutschte eine Röhre schräg heraus, drückte unseren Steuermann über das Treppengeländer und schleuderte ihn zwischen Pier und Schiff in die ölige Hafenbrühe. Ein Hafenarbeiter sprang spontan ins Wasser und erwischte den Ohnmächtigen noch rechtzeitig.


Der portugiesische Matrose kam aus dem tödlichen Röhrendurcheinander hervorgekrochen und brach in den Armen herbeieilender Kameraden zusammen: vom Schock gezeichnet – aber unversehrt!

Unser Erster jedoch starb, wenige Minuten nach der Einlieferung ins Krankenhaus von Arles, an inneren Blutungen.

Der Tod des Ersten Offiziers hatte uns tief erschüttert. Immer wieder musste ich auf die Stelle an der Pier starren, wo er sterbend gelegen hatte, sein Kopf im Schoss unseres Kapitäns gebettet: ein noch junger Seemann Ende dreißig, verheiratet, Vater zweier kleiner Kinder. Es war ja noch gar nicht lange her, dass er zum zweiten Mal Vater geworden war. Uns allen war wieder einmal gezeigt worden, wie zerbrechlich der Mensch ist und wie wahllos das Schicksal einen treffen und zerschmettern kann.

Natürlich war nach dem tragischen Unfall die Hölle los an Bord: Polizei, Presse, Versicherung, Gewerkschaft, die Interessenvertreter sämtlicher an Schiff und Ladung beteiligter Gruppen und und und.

Nun, nachdem das Verhängnis über uns hereingebrochen war, schienen alle schlauer zu sein. Die Gewerkschaft beispielsweise erließ rigorose Vorschriften über das Wie der Beladung, so, als ob sie das Wort ‚Sicherheit‘ gerade erst erfunden hätte. Aber auch von anderer Seite klingelte es mir selbstgerecht in den Ohren: „Safety first!“ - Ich fragte mich ganz allgemein, was wohl geschehen wäre, wenn ein verantwortlicher Schiffsoffizier die Beladung eines Frachters hätte unterbrechen lassen, weil er die Sicherheit nicht gewährleistet sah? Trotz der lächelnden Erklärungen der Stauerei, dass sie es – im tagtäglichen Umgang mit der Materie – schließlich besser wissen müsse.

Mir schien es allerdings auch ein Erfahrungswert zu sein, dass Fahrlässigkeit in 999 von 1000 Fällen gut ging – und folglich so lange ‚bewies‘ dass die Sicherheit gewährleistet war, solange nichts passierte!

Die gesamte Ladung mitzunehmen schafften wir natürlich nicht! Statt sieben Lagen hoch türmten sich letzten Endes die Röhren in fünf akkurat gestapelten Schichten, gut und sicher verkeilt, abgesichert und gelascht. Eine saubere Arbeit – doch für welchen Preis!


Schließlich erreichten wir Mersin. Die Röhren waren für den Irak bestimmt. Eine abenteuerliche Karawane bunt bemalter Lastwagen sammelte sich jeden Tag im Hafen, um im Konvoi die Fahrt in diese unruhige Region zu bewältigen. Auch im Libanon herrschte Krieg. Für die Vertreter des libanesischen Charterers, zwei junge Männer, vermittelte ich tagtäglich auf umständlichen Wegen Funkgespräche in das von Bomben, Granaten und Ideologien zerstörte Beirut.

An Land kam ich mit einem deutschen Ehepaar ins Gespräch, das zum ersten Mal in einem vom Islam geprägten Land Urlaub machte. Ihr Fazit über die Türkei: Es gibt hier kein Eisbein mit Sauerkraut, und überhaupt keine Bratwürste!

Seefahrt - Abenteuer oder Beruf? - Teil 3

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