Читать книгу Seefahrt - Abenteuer oder Beruf? - Teil 3 - Mario Covi - Страница 8

6. MARK KNOPFLER UND DIE NAVIGATION

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Vielleicht kennt ja der eine oder andere noch den Song "Sailing to Philadelphia", den Mark Knopfler und James Taylor singen. Ein Song ganz nach meinem Geschmack! Doch nicht nur das ‚Feeling‘, welches hier rübergebracht wird, ist packend. Jeder, den die Erkundung der Welt begeistert, sollte sich den Text des Stückes genau anhören.

„I am Jeremiah Dixon ...“ singt Mark Knopfler, und James Taylor übernimmt den Part des Charlie Mason. Sie segeln nach Philadelphia und vermessen zwischen 1763 und 1767 die ‚Mason-Dixon Line‘, jene geschichtsträchtige Grenze zwischen den damals noch britischen Kolonien Pennsylvania und Maryland. Viele Jahre später wurde diese Grenze zur Trennungslinie zwischen den Nord- und Südstaaten, zwischen Sklavenhaltern und Gegnern der Sklaverei.

Einige Jahre zuvor, genau am 6. Juni 1761, beobachteten die beiden Astronomen Mason und Dixon von Südafrika aus einen so genannten ersten Venusdurchgang. Hierbei wandert unser Nachbarplanet Venus zwischen der Erde und der Sonne vorbei. Die komplizierte Konstellation der drei Himmelskörper zueinander wiederholt sich im Abstand von acht Jahren, wobei es dann zum so genannten zweiten Venusdurchgang kommt. Allerdings ereignet sich diese astronomische Sensation - also das zweimalige Vorbeiwandern der kleinen Venus vor der riesigen Sonnenscheibe - leider nur alle hundert Jahre. Folglich waren damals – 1761 und 1769 – Astronomen und Seefahrer ganz heiß darauf, diese Venusdurchgänge weltumspannend zu verfolgen. Durch exaktes Beobachten ließ sich nämlich die Entfernung zwischen Erde und Sonne berechnen. Es ließ sich überhaupt einiges an Berechnungen anstellen, um der Lösung eines großen wissenschaftlichen Rätsels näher zu kommen.

Seinerzeit war es den Seefahrern durchaus möglich, die geographische Breite zu berechnen. Hierzu reichten Winkelmessungen der Sonne oder markanter Sterne, also das Messen ihrer Höhe über dem Horizont. So konnte man herausklamüsern, auf wie viel Grad und Minuten nördlicher oder südlicher Breite man sich befand. Aber bei der Bestimmung des Längengrades, der ja zur Bezeichnung eines genauen Standortes unerlässlich ist, kapitulierten Seefahrer, Wissenschaftler und Astronomen. Über Jahrhunderte bissen sich an der Lösung dieses Problems die schlauesten Genies die Zähne aus. Erst als es den Menschen gelang, das Verrinnen der Zeit zuverlässig zu messen, waren sie der Lösung des Rätsels näher gekommen. Denn, geographische Länge ist nichts weiter als Zeitunterschied!

Ich versuche, es simpel darzustellen: Ein Kreis hat 360 Grad. Der Erdumfang ist – logo – ein Kreis. Die Erde dreht sich in 24 Stunden einmal um sich selbst – also um 360 Längengrade. Nun teilen wir 360 durch 24 und erhalten 15, das heißt die Erde dreht sich in einer Stunde über 15 Längengrade.

Wenn es jetzt dem Seemann gelang, den genauen Zeitunterschied zum Nullmeridian, wo die ‚Mittlere Greenwich Zeit‘ gilt, zu berechnen, dann wusste er, auf welcher Länge er sich befand. Wenn er beispielsweise den höchsten Stand der Sonne - astronomisch 12 Uhr - um genau 13 Uhr MGZ feststellte, dann war er logischerweise eine Stunde vom Nullmeridian entfernt, wo die Sonne ja bereits vor einer Stunde ihren höchsten Stand erreicht hatte. Wir wissen, dass eine Stunde 15 Längengraden entspricht, also befand sich der Seemann auf 15 Grad westlicher Länge!


Um allerdings genaue Längenberechnungen durchführen zu können, waren Zeitmesser von höchster Präzision erforderlich. Und zwar so genannte Chronometer, die den Entdeckern von einst nicht zur Verfügung gestanden hatten. Sie hatten sich mit grober Sanduhrzeit zufrieden zu geben und waren trotz guter sonstiger Navigationsmittel ziemlich orientierungslos auf den endlosen Weltmeeren herumgesegelt. Man kann sagen, dass die großen Entdeckungen zu einem guten Teil vom Zufall bestimmt worden waren.

Ach ja! Die Navigation, diese bewundernswerte Kunst, sich in der Weite der See zurechtzufinden. Was waren wir glücklich, als zwei Freunde und ich während unseres Besuchs der (alten) Seefahrtschule (wo sich heute das 1. Polizeirevier versteckt) in Lübeck je einen alten Nonius-Sextanten aus dem Schulfundus erstehen konnten. Der Schuldirektor verlangte den seefahrtschülerfreundlichen ‚Schrottwert‘ von 25 Mark. Inzwischen werden die Dinger auf Flohmärkten für ein Vielfaches gehandelt!

Neidvoll hatten wir stets die Studenten der ‚Kapitänsfakultät‘ beobachtet, wenn sie vom Balkon der idyllischen Schule die Sonne schossen. Natürlich hatten wir Funker nur die simple Standortbestimmung mittels Funkpeilung erlernt. Oder wir errechneten Standlinien durch das Auszählen von Punkten und Strichen der urigen Consol-Funkfeuer.

Auf meinem ersten Schiff hatte ich Gelegenheit, an einem Navigationskurs teilzunehmen, den der Zweite für die Matrosen gab, die auf die Seefahrtschule gehen wollten. Zu jener Zeit gab es ja noch die fundamentale Ausbildung vom Schiffsjungen über den Matrosen bis zum Steuermann und Kapitän. Jedenfalls erfüllte es mich mit dem berauschenden Glücksgefühl eines Weltumseglers, als ich meine erste Mittagshöhe berechnen konnte. Freilich meilenweit entfernt von der Kunst einer exakten astronomischen Standortbestimmung!


Einem geheiligten Ritual glich es, wenn Kapitän, Erster, Zweiter und nach Möglichkeit noch der Dritte ‚Offi‘ nebeneinander standen und, mit dem Sextanten am Auge, den Seegang ausbalancierten. Sie waren dabei, den Winkel zu messen, mit dem die Sonne ihren höchsten Stand erreichte. Kulmination, Mittagshöhe. Und oft durfte ich auf das gebrüllte „Null!“ warten, gebannt die Zeiger des Chronometers verfolgend, damit die sekundengenaue Beobachtungszeit notiert werden konnte. Als Funkoffizier war ich sowieso für die Chronometerzeit verantwortlich, die täglich mit einem gefunkten Zeitzeichen verglichen werden musste. Es kam auf jede Sekunde an.

Wenn dann im Dämmerlicht bereits einer der hellsten Sterne am Himmel zu finden, die Linie des Horizonts aber noch zu sehen war, erfasste die Nautiker abermals Unruhe. Mit den Sextanten bewaffnet eilten sie zwischen Brückennock und Kartenraum hin und her. Immer wieder hörte man den Ruf „Achtung!“, und bei „Null!“ war wieder ein Stern, vielleicht der Beteigeuze oder der Antares, geschossen. Hierauf ging es mit komplizierten Formeln aus der sphärischen Trigonometrie zur Sache. Traditionsbeflissene behaupteten, nur mit dem ‚Semiversus‘ zu rechnen – was immer das verdammte Ding sein mochte. Die Benutzung so genannter ‚HO-Tafeln‘ war bei diesen Herren verpönt, obwohl damit die Berechnungszeit gut und gerne von einer Stunde auf ein Drittel heruntergeschraubt werden konnte. Aber welch ein Erfolgserlebnis, wenn sich die Standlinien von drei, vier oder noch mehr Sternen in einem nicht zu großen Fehlerdreieck kreuzten. Mit stillem Stolz durfte der Navigator dann behaupten: „Wir befinden uns im Augenblick genau hier!“

Was für ein Herumgerate aber, wenn Nebel oder Wolken dem menschlichen Auge den Blick zum Firmament verwehrten. Alles, was Jahrhunderte der Seefahrtsgeschichte überlebt hatte, kam dann zum Einsatz, von der Logge bis zum Schnuppern im Wind. Auch der gute alte Magnetkompass musste täglich befragt werden, ob der Kreiselkompass auch richtig anzeigte. Denn bei kurzfristigem Stromausfall konnten sich die Phasen verschieben, so dass der Kreiselkompass alles andere als den richtigen Kurs anzeigte.

Ich entsinne mich eines gemütlichen Brückenplausches während einer Nordatlantikfahrt. Typisch atlantikgraues Mistwetter herrschte, und der Wachhabende foppte mich: „Den Wetterbericht hast du aber auch ganz schön zusammengelogen.“

„Wieso?“

„Schau mal wie sich der Wind gedreht hat. Kommt ja jetzt total von Backbord rein!“

In der Tat hatte sich während unseres Schnacks die Wetterlage draußen völlig verändert. Natürlich wehrte ich mich gegen die Vorwürfe und fragte, ob es nicht eine Macke des Kreiselkompasses sein könnte. Der Steuermann wurde sofort hellhörig, und siehe da, der Frachter war durch die vom Kreiselkompass gesteuerte Ruderautomatik in eine um 120 Grad verschobene Himmelsrichtung geschickt worden. Wir wären irgendwo zwischen Grönland und Island gelandet!

Navigation ist, so spottete man gerne an Bord, wenn man trotzdem ankommt. Wenn also keine astronomischen Beobachtungen möglich waren, dann gisste man eben. Man wusste ja den Kompasskurs. Das war üblicherweise die vorgezeichnete Bleistiftlinie in der Seekarte. Und dann schätzte man eben, wie schnell der Kahn fuhr. Dann stellte man den Stechzirkel auf eine angenommene Strecke von 12 Meilen ein und klapperte die Kurslinie ab: eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, okay, nach vier Stunden Wache war man halt 48 Meilen weiter. Ganz logisch, nicht wahr? Nur, ob es stimmte, das war die Frage.

Selbstverständlich ließ sich die Ungewissheit spätestens in Küstennähe ausbügeln. Terrestrische Navigation war ja auch mit dem Radargerät möglich, sobald es einem die markanten Küstenlinien auf den Bildschirm zauberte. Auf hoher See war es allerdings auch gang und gäbe, dass man von anderen Schiffen in zufälliger Sichtweite angefunkt wurde, um unverhohlen nach einer Position zu fragen. Es war schon eigenartig, aber meist waren es Navigatoren mit eher levantinischem Akzent, die man, und jetzt wird's ein bisschen hämisch, als typische Positionsschnorrer bezeichnen möchte. Das spielte sich dann folgendermaßen ab: Auf Kanal 16 des UKW-Seefunkempfängers tönte es ununterbrochen: „Ship on my starboard-side, this is motorship (nennen wir’s halt mal) ‚Katastropholos‘, can you hear me?“ – Das hörte sich natürlich so an: „Schipp on mai starrr-borrrd-said ...känn ju chierrr mi?“

Meldete man sich, dann kam nach freundlichem Woher und Wohin garantiert die Frage: „Känn ju giff mi jorr posischonn – can you give me your position?“


Zugegeben, wir auf den deutschen Schiffen reagierten schon etwas hochmütig auf derlei Anfragen. Die Kollegen auf den Billigflaggen-Linern und den Zossen unter Schattenflagge nahmen es eben lockerer, und waren bestimmt auch schlechter ausgerüstet – oder auch schlechter ausgebildet. Ich erinnere an den abenteuerlichen Tatsachenbericht ‚Die riskierte Katastrophe‘ (Hoffmann und Campe). Darin schildert Christian Jungblut, wie es ihm gelungen ist, mit erschwindeltem Patent als falscher Steuermann sogar auf einem Supertanker anzumustern! Wer konnte wirklich wissen, was für verwegene Pfiffikusse mit gefälschten Papieren sich da von Position zu Position durch die Weltmeere logen?

Während meiner Schlepperfahrtzeit lernte ich, wie schwierig es war, bei wochenlanger Dauerbewölkung die wirkliche Geschwindigkeit des Schleppzuges abzuschätzen, um damit zu gissen. Es gab Schiffe, die pflegten die alte Methode, ein Log hinterher zu ziehen, um mit so einem Instrument die zurückgelegte Strecke durchs Wasser festzustellen. Während einer Schleppreise mit einem anderthalb Kilometer langen Anhang hatte der Alte folgende Idee: Auf Kommando wurde ein leeres Blechfass vom Bug geworfen. Auf dem Radarschirm verfolgte er den kleinen Punkt und stoppte die Zeit bis das Fass den Achtersteven des letzten Anhangs passiert hatte. Und schon ließ sich unsere Geschwindigkeit ausrechnen.

Zunächst waren es Gerüchte. Dann war irgendeiner schon mal auf einem Kahn gefahren, der so einen Wunderkasten hatte. So einen Satellitennavigator, der eigentlich für die elitären Yachtsegler gedacht war. Noch waren die Kisten zu teuer, und oft musste man ewig darauf warten, bis es einem Satelliten da oben genehm war, ein Schiff richtig zu orten. Vielen Nautikern ging es auch gegen den Strich, sich von der alten Kunst der Navigation zu verabschieden und das Erlebnis des sich in der Weite der See Zurechtfindens einem Knopfdruckgedöns zu überlassen.

Auf M/S "Tim-S" gab es natürlich keinen Satellitennavigator. Den sparsamen Liebreiz dieses fettgemachten Kümos habe ich ja schon zur Genüge beschrieben. Der Kahn war allerdings ein Joker für abenteuerlustige Trampfahrer. Im Seekartenschapp des Schiffes lag Navigationsmaterial für die entlegensten Ecken der Erde. Nur, jede neue Reise brachte den Wurstwagen garantiert in ein Gebiet, von dem natürlich kein Kartenmaterial an Bord war. Als ich damals zum ersten Mal auf der "Tim-S" einstieg, hatte ich wenigstens noch eilig besorgte Unterlagen für die Ansteuerung des Amazonas mit an Bord bringen können. Als ich später wieder einmal auf diesem Pott gelandet war und wir an der Dschungelküste Sumatras nachts aus Angst vor Piraten sämtliche Lichter löschten, wurden wir prompt auf die Philippinen umbeordert. Es war ein echter ‚Blindflug‘, den wir dann in die Bucht von Manila riskierten!

Eine andere Reiseorder schickte die "Tim-S" an die Ostküste Kanadas. Sie sollte nach Saint John, New Brunswick. Klar, keine einzige Karte der Bay of Fundy stand zur Verfügung, jener Bucht des Atlantiks, wo die höchsten Gezeiten der Welt gemessen werden. Auf über 16 Meter Höhenunterschied schaffen es dort Ebbe und Flut!

Allerdings haben es Seeleute gelernt, aus Scheiße Bontjes zu machen. Zufälligerweise hatte ich an Bord einen ‚Rand McNally Road Atlas‘ über das Straßennetz der USA, Kanadas und Mexikos liegen lassen. Mit der Seite von den Atlantischen Provinzen Kanadas gelang es den Nautikern dann, sich nach Saint John zu mogeln.

Leider war die Küstenwache misstrauisch geworden. Bei einer Kontrolle an Bord zeigte man den Coast-Guard-Leuten auf die Frage nach der Methode zur Standortbestimmung die Kästen mit den Sextanten. Mit dem Aufschrei: „Was? Wie Kolumbus?“, fielen die Kanadier hierauf entsetzt aus allen Wolken - und die Reederei wurde dazu verurteilt, sofort einen Satellitennavigator einbauen zu lassen.

Klar, dass wieder mal gespart wurde. Also installierte man das Gerät mit billigen Bordmitteln in Eigenregie. Als ich dann im verwegen-wüsten ‚Bombay-Business-und-Schmuggeldienst‘ zwischen Taiwan und den Philippinen landete, sollten wir über Monate mit der Ungenauigkeit dieser Billigkiste kämpfen. Unser junger Kapitän kam jedoch auf den Dreh, dass die Leitungen zur Satellitenantenne so bescheuert verlegt worden waren, dass uns das Display anstelle akkurater Koordinaten nur den sprichwörtlichen Stinkefinger zeigen wollte.

Mittlerweile hat GPS die Welt erobert. Navigationssysteme leiten Autofahrer durch unbekannte Städte und, wenn sie sich blind auf die weibliche Roboterstimme verlassen, auch schon mal heimtückisch ins Wasser. Trucker, einst als Kapitäne der Landstraße Symbolfiguren für Freiheit und Abenteuer, werden genauso von Satelliten überwacht wie die Kommandanten der 4.500-TEU-Schiffe auf ihrer Container-Rennstrecke ‚round the world‘. Big Brother Überwachung als Alltag einer Spaß-Gesellschaft. Jeder Blödmann, und dazu muss ich mich fairerweise inzwischen selber zählen, kann sich mit einer GPS-Armbanduhr in den Busch wagen, um den ultimativen Kick einer gekauften Abenteuerreise zu erleben.

Wir alten Hasen damals mochten ihn nicht, diese Art von Fortschritt! Wo blieb das Rätselhafte? Wo blieb diese prickelnde Bereitschaft zu einem Restrisiko? Wo blieb das Wissen und das Können, wo die Kunstfertigkeit sich zurechtzufinden? Wo das echte Abenteuer, das doch wirklich erst im Kopf – in der ‚Savvy-Box‘ da oben – entsteht? Fortschritt kann auch eine verdammt schmerzhafte Beschneidung der Freiheit sein!

Also, sing weiter, Mark Knopfler, von den Männern, die rätselten und forschten, die noch auf der Suche waren – und sich nicht längst Gefundenes als ultimativen Kick andrehen ließen.

Seefahrt - Abenteuer oder Beruf? - Teil 3

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