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Leutnant Gustl

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Indem die Leser Gustls Gedankenstrom folgen, erschließen sich ihnen Persönlichkeit und gesellschaftliche Wirklichkeit dieses jungen Offiziers der k. u. k. Armee, der in dieser Nacht eine existenzielle Krise durchlebt, am nächsten Tag jedoch sein Leben fortsetzen wird, als sei nichts geschehen.

Arthur Schnitzler nennt den Vornamen des Protagonisten schon im Titel der Novelle und macht damit deutlich, welchen hohen Stellenwert diese Hauptfigur einnimmt. Gleichzeitig wertet der Autor damit von vornherein den Infanterie-Leutnant ab: Die Leser erfahren nur seinen verniedlichenden Gustl = KosenameKosenamen, eben »Gustl«; sein richtiger Vorname lautet vermutlich entweder Gustav oder August.

Leutnant Gustl stammt eventuell aus Kleinbürgerliche Verhältnisse?kleinbürgerlichen Verhältnissen:

»Über die soziale Herkunft Gustls herrscht in der Forschungsliteratur Uneinigkeit. Zum Teil wird die Position vertreten, der Protagonist stamme aus dem Kleinbürgertum […]. Zuweilen wird auch der familiäre Hintergrund einer ›höheren Grazer Beamtenfamilie‹ […] konstatiert. Exakt bestimmen lässt sich die soziale Herkunft des Protagonisten letztlich nicht, da der Text dafür keine genügend präzisen Informationen vergibt«.2

Seine Familie lebt in Graz in der Steiermark. Im Verlauf der Novelle erinnert sich Gustl an wichtige Wichtige LebensstationenStationen seines Lebens, das bereits einige Kränkungen für ihn bereithielt: Sein Vater, ein Beamter, wurde vorzeitig pensioniert, weshalb Gustl das Gymnasium verlassen musste. Wohl aus finanzieller Not – vielleicht aber auch, weil er den Anforderungen nicht gewachsen war – wurde der Junge »in die Kadettenschul’ gesteckt« (S. 12), die ihm immerhin einen bescheidenen Status als Infanterie-Offizier gewährleistet. Hätte der Junge sein Abitur machen können, wäre sein Ziel ein Studium gewesen: »Ich hätt’ Ökonomie studiert, wär’ zum Onkel gegangen … sie haben’s ja alle wollen, wie ich noch ein Bub war …« (S. 28). Gustl hat also seine bescheidene militärische Laufbahn alles andere als freiwillig absolviert oder gar aus einer patriotischen Gesinnung heraus. Obendrein blieb ihm der Weg in die prestigeträchtige Kavallerie verwehrt, weil er sich kein Pferd leisten konnte und sein Vater ihn nicht unterstützen wollte: »Schad’, dass ich nicht zur Kavallerie gegangen bin … aber das hat der Alte nicht wollen – wär’ ein zu teurer Spaß gewesen« (S. 30).


Abb. 4: Lukas Watzl als Leutnant Gustl in der virtuellen Theatererfahrung Inside Lieutenant Gustl (Regie/Bearbeitung: Sebastian Brauneis) – © Studio Brauneis / Poesie Media

Diese Demütigungen sind auch mitverantwortlich für seinen Gustls SozialneidSozialneid gegenüber Vermögenden, Gebildeten und Juden. So sind ihm die »Einjährigen« (S. 22), die aufgrund ihrer höheren Schulbildung nur ein statt drei Jahre zu dienen haben, ein Dorn im Auge, weil sie seine Statusangst schüren. Die Einjährig-Freiwilligen, die am Ende ihres Wehrdienstes Reserveoffiziere sind, genießen die gleichen Privilegien wie die Berufsoffiziere: »Wir müssen uns jahrelang plagen, und so ein Kerl dient ein Jahr und hat genau dieselbe Distinktion wie wir … es ist eine Ungerechtigkeit!« (S. 22)

Trotzdem ist das Sinnstifter MilitärMilitär für Gustl der einzige Halt. Stolz berichtet er, was für ein erhebendes Gefühl es war, als er zum ersten Mal seine Uniform anzog: »Wenn ich mich so erinner’, wie ich das erste Mal den Rock angehabt hab’, so was erlebt eben nicht ein jeder …« (S. 12). Gustls Status als Offizier der k. u. k. Armee dient ihm fortan als Leitfaden seines Denkens und Handelns, weil der militärische Dienst ihm ein sinnhaftes Dasein suggeriert. Er definiert sich über den militärischen Ehrenkodex und wacht argwöhnisch darüber, ob andere diesen Status angemessen würdigen.

Vor allem gilt es, die Gustl und die EhreOffiziersehre gegen jegliche Angriffe zu verteidigen. Wer Gustls Ehre missachtet, sollte nach den Normen des Standesdenkens dafür geradestehen. Doch als der Bäckermeister ihn entehrt und es für Gustl keine Möglichkeit gibt, entschlossen auf den Affront zu reagieren, sieht er als einzig akzeptablen Ausweg seine Selbsttötung. Gustls Ehrenhaftigkeit steht nun auf dem Prüfstand. Wie konsequent kann und will er seine Ehre – und die seines Standes – verteidigen? Vor diese Frage sieht sich der junge Leutnant in dieser Nacht gestellt und scheitert an einer klaren persönlichen Haltung, zumal er einen Typus präsentiert, der nur wenige individuelle Züge besitzt; er ist und bleibt ein naiver und »dummer Bub« (S. 15).

Der gesamte Gedankenstrom, aus dem die Novelle besteht, offenbart seine Der überforderte LeutnantHilflosigkeit in seiner Krise, der ersten existenziellen Herausforderung in seinem Leben. Das verwundert nicht: Er ist von Jugend auf indoktriniert worden zu einer Ideologie aus Nationalismus, Antisemitismus und -sozialismus sowie Militarismus, die ihn völlig beherrscht und aus der er sich nicht befreien kann. Hätte er wenigstens einen klugen und erfahrenen Menschen, einen Freund oder eine Freundin, um Rat fragen können, hätte der ihm vielleicht die Einseitigkeit, die Enge, die Verlogenheit seines Welt- und Menschenbildes erklären und ihn so zu besinnender Selbsterkenntnis, vielleicht auch zu einem stabilen Selbstvertrauen bringen können. Stattdessen kreist er hilflos in den anerzogenen Begriffen von Ehre und Mannesstolz – das Opfer einer vieljährigen Militärdressur, die er im Kreis Gleichgesinnter, also ohne ausreichend Kontakt zu anderen Menschen und ohne differenzierte Denkanstöße, durchlaufen musste.

Gustl ist immer darauf angewiesen, sich sein Verhalten von anderen Figuren bestätigen zu lassen, weil er kein ausgeprägtes Selbstbewusstsein besitzt. Eigene Zu keiner Selbstkritik fähigSchwächen gibt er nicht zu, projiziert sie vielmehr immer auf andere Figuren; selbst für seine Langeweile während des Oratoriums sucht er Schuldige: Sein Kamerad Kopetzky ist zunächst dafür verantwortlich, weil er ihm die Eintrittskarte geschenkt hat, dann ist Steffi schuld, weil er ursprünglich mit ihr verabredet war (S. 8 f.), wenig später ist sein Kamerad Ballert der Bösewicht, weil dieser Gustl am Vorabend beim Kartenspiel 160 Gulden abgenommen hat und Gustl deswegen für einige Zeit die Finger vom Glücksspiel lassen muss (S. 9 f.).

Gustls »Und was habʼ ich denn vom ganzen Leben gehabt?«Langeweile, die ihn nicht nur im Konzert plagt, wird schon im ersten Satz der Novelle – »Wie lang wird denn das noch dauern?« (S. 7) – als wichtiges Motiv seines Lebens thematisiert. Sie ist – unabhängig vom Oratorium – das Resultat seines monotonen Militärdienstes, der völlig ritualisiert ist und ihm keine existenzielle Erfüllung bietet. Stattdessen ergeht er sich – als Ersatzbefriedigung – in zahllosen kurzen Frauenabenteuern und in seiner Spielsucht. Auch seine Aggression, die er im Dienst nicht ausleben kann, eher von diesem sogar geschürt wird, reagiert er spontan ab, etwa am Bäckermeister und am Doktor, mit dem er sich am folgenden Tag duellieren möchte. Das Einzige, was Gustls Leben noch Sinn geben könnte, wäre ein Krieg: »Etwas hätt’ ich gern noch mitgemacht: einen Krieg – aber da hätt’ ich lang’ warten können …« (S. 31).

Gegen einen Krieg und seinen möglichen Tod in einer Schlacht hat er nichts einzuwenden, wenn wir ihm glauben dürfen, weil er dann auf dem vermeintlichen »Feld der Ehre« (S. 40) fallen würde. Aber vor seinem Selbstmord hat er fürchterliche Angst vor der SelbsttötungAngst; sie macht ihn kopflos; plötzlich bekommt er »so ein blödes Herzklopfen« (S. 36). Gustl versucht kurzfristig, sein Angstgefühl einer anderen Ursache als dem Selbstmordvorhaben zuzuschreiben: »Das wird doch nicht deswegen sein … Nein, o nein … es ist, weil ich so lang’ nichts gegessen hab’.« Aber sofort ist das blanke Entsetzen wieder da: »Angst hast Du – Angst« (S. 36).

Glimpfliches EndeAls der Leutnant im Kaffeehaus vom plötzlichen Tod des Bäckermeisters erfährt, kommt eine Selbsttötung für ihn nicht mehr in Frage; die wäre aber immer noch nötig, um seine militärische Ehre wiederherzustellen: Seine Entehrung ist durch den Tod von Habetswallner noch nicht aus der Welt. Damit hat der Leutnant seine eigene Definition von Ehre ad absurdum geführt: Gustl gibt zunächst vor, unter Ehre ein Gut zu verstehen, das dem Individuum nicht in erster Linie durch eine urteilende Gesellschaft zugeschrieben wird, sondern vor allem auf einer Selbstbeurteilung beruht. Er behauptet, in seiner Ehre vornehmlich deshalb verletzt zu sein, weil er seinen eigenen an sich selbst gerichteten Ansprüchen nicht gerecht geworden ist (»Ich weiß es doch, und das ist die Hauptsache!« [S. 19], »so weiß ich’s … ich weiß es … und ich bin nicht der Mensch, der weiter den Rock trägt und den Säbel, wenn ein solcher Schimpf auf ihm sitzt!« [S. 21]), verdeutlichen die letzten Seiten der Novelle: Gustl ging es vielmehr darum, seine Ehre als Wert, der ihm von seinem Umfeld zuerkannt wird, zu retten: Sobald feststeht, dass die Außenwelt von seinem unehrenhaften Verhalten nicht mehr erfahren kann, sieht Gustl keine Notwendigkeit mehr, seine Entschlossenheit und Tapferkeit durch einen Suizid unter Beweis zu stellen.

Lieutenant Gustl von Arthur Schnitzler: Reclam Lektüreschlüssel XL

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