Читать книгу Die dunkle Arena - Mario Puzo - Страница 6
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ОглавлениеDie Morgensonne eines frühen Junitages leuchtete in alle Winkel des Bahnhofs, der kein Dach besaß, und verwandelte ihn in ein riesiges, ungedecktes Stadion, und als Mosca aus dem Zug stieg, sog er gierig die Frühlingsluft ein und roch dabei den scharfen Staub, der sich aus dem Schutt und den Trümmern der dahinterliegenden Stadt erhob. Soldaten in olivgrauen Uniformen formierten sich längs des Bahnsteiges zu Zügen. Gemeinsam mit den anderen Zivilbeamten folgte er einem Führer zu einem draußen wartenden Omnibus.
Wie Eroberer bahnten sie sich ihren Weg durch die Menge, so wie sich in früheren Zeiten die Reichen ihren Weg durch die Armen gebahnt hatten; sie blickten nicht nach links und nicht nach rechts, denn sie wußten, daß man ihnen Platz machen würde. Mit ihren abgetragenen Kleidern, ihren ausgehungerten Gestalten und hageren Gesichtern erweckten diese Massen den Eindruck von Männern und Frauen, die es gewohnt waren, in Pennen zu schlafen und in Suppenküchen zu essen; mürrisch und gehorsam wichen sie zur Seite und starrten die gutgekleideten, gutgenährten Amerikaner neidisch an.
Sie kamen auf einen großen Platz. Gegenüber befand sich der Rotkreuzklub, und auf den Stufen lungerten bereits GIs in olivgrauen Uniformen herum. Rund um den Platz standen wiederaufgebaute Hotels, in welchen die Besatzungstruppen und die Verwalter untergebracht waren. Hier kreuzten sich verschiedene Straßenbahnlinien, und Taxis und Autobusse der Militärverwaltung füllten die breiten Straßen. Schon zu dieser frühen Stunde saßen die GIs auf den Bänken rund um den Bahnhof, und neben jedem von ihnen ein Fräulein mit ihrem unvermeidlichen Köfferchen. So wie früher, dachte Mosca, es hat sich nichts verändert. Die Gis erwarteten die ankommenden Züge, so wie Hausfrauen in den Vororten auf ihre pendelnden Ehemänner warten, suchten sich ein hübsches Mädchen aus und stellten es mehr oder minder plump vor die Alternative, die Nacht auf einer Bank innerhalb des kalten, schmutzigen Bahnhofs zu verbringen, um rechtzeitig den Frühzug zu erreichen, oder nach einem guten Abendessen bei Likör und Zigaretten in einem warmen Bett. Für die meisten bedeutete das einen satten, vergnügten Abend; schlimmstenfalls mußte sie in der Nacht eine gewisse Belästigung in Kauf nehmen. Üblicherweise trafen die Mädchen eine vernünftige Wahl.
Auf den in den Platz einmündenden Straßen standen die Bauernfänger, die Schwarzmarkthändler und die Kinder, alle darauf bedacht, den so umsichtigen GIs Fallen zu stellen, wenn diese, wachsam wie alte Goldschürfer mit Säcken voll Gold in der Hand, ganze Kartons Schokolade, Zigaretten und Seife in den Armen, aus dem PX kamen.
Mosca, der darauf wartete, in den Bus steigen zu können, spürte eine Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um und blickte in ein dunkles, knochiges Gesicht unter einer Wehrmachtsmütze, der üblichen Kopfbedeckung deutscher Männer.
»Haben Sie Dollar?« fragte der Mann mit leiser, drängender Stimme. Mosca schüttelte den Kopf, wandte sich ab und spürte abermals die Hand auf seiner Schulter.
»Zigaretten?«
Mosca wollte in den Bus steigen. Noch fester umklammerte die Hand seine Schulter. »Haben Sie irgend etwas zu verkaufen? Ganz gleich, was?«
»Nehmen Sie Ihre Hände sofort weg!« wies Mosca ihn auf deutsch schroff ab.
Der Mann trat verdutzt zurück, und auf seinen Zügen erschien ein Ausdruck von Haß und stolzer Verachtung. Mosca stieg in den Bus und setzte sich. Er sah, wie der Mann ihn durch das Fenster musterte, ihn und seinen grauen Gabardineanzug, die weiße Pracht seines Hemdes, die bunten Streifen seiner Krawatte. Und weil er die Verachtung im Blick des Mannes fühlte, wünschte er sich einen Augenblick lang, wieder in seiner olivgrauen Uniform zu stecken.
Langsam verließ der Bus den Bahnhofsplatz und bog in eine der vielen Straßen ein. Es schien, als täte sich eine andere Welt vor ihnen auf. Außerhalb des Platzes, der an eine Festung in der Wildnis erinnerte, zogen sich, so weit das Auge reichte, Ruinen hin. Nur da und dort war noch ein Haus zu sehen, eine unbeschädigte Mauer, eine Tür, die ins Leere führte, ein zum Himmel ragendes Stahlskelett, an dem Ziegel, Mörtel und Glas hafteten.
Der Bus setzte die meisten Zivilisten in den Vororten Frankfurts ab und fuhr dann mit Mosca und einigen Offizieren zum Wiesbadener Flugplatz weiter. Außer Mr. Gerald war Mosca der einzige Zivilbeamte, dem schon in den Staaten ein Betätigungsfeld zugewiesen worden war. Die anderen mußten in Frankfurt auf endgültige Befehle warten.
Als man auf dem Flugplatz endlich seine Dokumente überprüft hatte, mußte er noch bis nach dem Mittagessen auf die Maschine nach Bremen warten. Und als das Flugzeug von der Rollbahn abhob, hatte er nicht das Gefühl, die Erde zu verlassen, fürchtete er nicht, daß die Maschine über den Rand des Kontinents hinausschießen könnte, und dachte er auch nicht an die Möglichkeit eines Absturzes. Er sah, wie die Erde sich schrägstellte, sich ihm zuneigte, so daß sie sich wie eine braune und grüne Mauer vor ihm aufrichtete; dann legte sich das Flugzeug in eine Kurve, und der Kontinent wurde zu einem endlosen, unermeßlich tiefen Tal. Nun war die geheimnisvolle Wandlung vollzogen, das Flugzeug flog in gerader Linie, und sie blickten wie von einem Balkon auf die flachen, schachbrettartig gemusterten Felder hinab.
Jetzt, da er seinem Bestimmungsort so nahe, seine Rückkehr fast vollendet war, dachte er an die letzten Monate zu Hause zurück, an die Geduld, die seine Familie ihm gegenüber gezeigt hatte. Er empfand ein unbehagliches, undefinierbares Schuldgefühl, nicht aber den Wunsch, auch nur einen von ihnen je wiederzusehen. Er verspürte zunehmende Ungeduld mit der Langsamkeit der Maschine, die regungslos in der Grenzenlosigkeit des frühlingsklaren Himmels zu verharren schien, und erkannte plötzlich, daß die Wahrheit, die er seiner Mutter gesagt hatte, Lüge war. Daß er, so wie seine Mutter geahnt hatte, dieses deutschen Mädchens wegen zurückkehrte – aber nicht in der Erwartung, sie wiederzufinden, nicht in der Hoffnung, daß ihre Lebenswege nach diesen Monaten der Trennung wieder zueinanderfinden könnten, sondern weil er in jedem Falle auf diesen Kontinent zurückkehren mußte. Er nahm nicht an, daß sie auf ihn gewartet hatte. Man wartet nicht auf jemanden, der einen ohne Proviant und Waffen in einem wilden Dschungel zurückläßt. Und als er so dachte, fühlte er Übelkeit in sich aufsteigen. Scham und Trauer beschlichen ihn, wie Galle stieg es ihm in den Mund. Deutlich sah er ihren Körper, ihr Gesicht, ihr Haar vor sich; zum erstenmal, seitdem er sie verlassen hatte, dachte er intensiv an sie, und schließlich, klar und entschieden, so als ob er ihn laut ausgesprochen hätte, auch an ihren Namen.
Kurz vor Mittag jenes heißen Sommermorgens vor knapp einem Jahr war das Polizeipräsidium in die Luft geflogen; Mosca, der in seinem Jeep in der Hochallee saß, spürte, wie die Erde bebte. Wenige Minuten später kam der Offizier, auf den er gewartet hatte, ein jüngst aus den Staaten angekommener junger Leutnant, aus dem Haus; sie fuhren zum Sitz der Militärregierung auf der Contrescarpe zurück. Jemand rief ihnen die Nachricht zu, und sie fuhren zum Polizeipräsidium weiter. Die Militärpolizei hatte das Gebiet bereits abgesperrt; ihre Jeeps und ihre weißen Helme blockierten alle Straßen, die zum Platz führten. Moscas Leutnant zeigte seinen Ausweis vor, und sie durften passieren.
Das massive, dunkelgrüne Gebäude stand auf einer kleinen Anhöhe in der Straße am Wall. Es war groß und quadratisch und besaß einen Innenhof, der als Abstellplatz für Fahrzeuge diente. Immer noch strömten deutsche Beamte mit staubbedeckten Gesichtern und Kleidern aus dem Haupttor. Einige Frauen, die offenbar einen Schock erlitten hatten, weinten hysterisch. Die Polizei bemühte sich, eine Menschenmenge vom Gebäude fernzuhalten; das Haus selbst wirkte seltsam lautlos und unbewohnt.
Mosca folgte dem Leutnant zu einem der kleinen Seitengänge. Es war ein überwölbter Torweg, in dem der Schutt fast bis zur Decke lag. Sie kletterten darüber und gelangten in den Innenhof.
Der große Innenhof war jetzt ein Berg von Trümmern. Gleich den Masten versunkener Schiffe in seichtem Wasser ragten die Oberteile verschiedener Gefährte, Jeeps und Lastwagen hervor. Die Explosion hatte die Innenmauern bis zu einer Höhe von drei Stockwerken weggerissen, und nun boten sich die Schreibtische, Stühle und Wanduhren der einzelnen Büros nackt ihren Blicken dar.
Mosca hörte einen Ton, den er noch nie zuvor gehört hatte, der aber in den großen Städten des Kontinents zu etwas Alltäglichem geworden war. Einen Augenblick lang schien er von allen Seiten zu kommen, ein dumpfer, gleichbleibender, monotoner, tierischer Schrei, der nicht als menschlicher zu erkennen war. Als er dann doch feststellen konnte, wo der Schrei herkam, kletterte und kroch er über den Trümmerhaufen, bis er die rechte Seite des Platzes erreichte und den dicken, roten Hals sah, den der grüne Kragen einer deutschen Polizeiuniform umschloß. Hals und Kopf waren schlaff und leblos; der Schrei kam von unterhalb des Körpers. Mosca und der Leutnant versuchten, die Ziegelbrocken wegzuräumen, aber immer wieder deckte frischer Schutt den Toten zu. Der Leutnant kroch durch den Torweg zurück, um Hilfe zu holen.
Und nun begannen Befreier und Retter, die aus den vielen Seitengängen kamen und sich über das schwer beschädigte Mauerwerk herabließen, den Hof zu füllen. Militärärzte aus den Standortlazaretten, GIs, deutsche Sanitäter und Arbeiter, die die Leichen ausgraben sollten. Mosca kroch durch den Torweg auf die Straße zurück.
Hier war die Luft frisch und rein. In einer langen Reihe waren Krankenwagen aufgefahren, und ihnen gegenüber standen deutsche Feuerwehrfahrzeuge. Schon waren Arbeiter damit beschäftigt, die Eingänge frei zu machen und den Schutt auf bereitstehende Lastwagen zu laden. Auf dem Gehsteig gegenüber dem Gebäude war ein Tisch als Befehlsstand eingerichtet worden, und Mosca sah seinen Oberst, der, von einer Gruppe jüngerer Offiziere umringt, geduldig zu warten schien. Belustigt stellte Mosca fest, daß sie alle ihre Stahlhelme aufgesetzt hatten. Einer der Offiziere winkte ihn heran.
»Gehen Sie hinauf, und bewachen Sie unser Nachrichtenbüro«, befahl er ihm und gab ihm seinen Pistolengürtel. »Sollte es noch eine Explosion geben, bringen Sie sich, so schnell Sie können, in Sicherheit.«
Mosca betrat das Gebäude durch den Haupteingang. Das Treppenhaus war halb zerstört; langsam und vorsichtig stieg er hinauf. Mit einem Auge zur Decke spähend und darauf bedacht, Stellen auszuweichen, wo sie durchhing, ging er den Gang hinunter.
Das Nachrichtenbüro lag in der Mitte des Ganges, und als er die Tür öffnete, sah er, daß der Raum nur noch zur Hälfte vorhanden war; die andere Hälfte lag aus Schutt und Geröll im Hof. Außer einem versperrten Aktenschrank gab es nichts mehr zu bewachen. Aber von hier hatte er einen guten Ausblick auf das Drama, das sich unten abspielte.
Er setzte sich bequem auf einem Stuhl zurecht, holte eine Zigarre aus der Tasche und zündete sie an. Sein Fuß stieß an etwas an, und überrascht sah er zwei Flaschen Bier auf dem Boden liegen. Er hob eine auf, sie war mit einer Kruste aus Mörtel und Ziegelstaub überzogen. Mosca öffnete sie am Türschloß und setzte sich wieder auf seinen Sessel zurück.
Das Szenenbild unten im Hof veränderte sich kaum, und die staubgetränkte Luft verlieh ihm einen traumartigen Charakter. Neben dem toten Polizisten, den er gefunden hatte, waren jetzt deutsche Arbeiter damit beschäftigt, schön langsam, wie in Zeitlupe, Ziegel und Ziegelbrocken wegzuräumen. Sie um Kopfeslänge überragend, stand ein amerikanischer Offizier und wartete geduldig; allmählich färbte der Staub seine grüne Uniform weiß. Den runden Zylinder mit Blutplasma in den Händen, hatte sich ein Sergeant neben ihm aufgepflanzt. Und so standen sie überall im ganzen Hof. Über ihnen allen schwebte der zu Staub zerfetzte Beton in der sonnenbeschienenen Luft und färbte Haar und Kleidung in sanftem Herabfallen weiß.
Mosca trank das Bier und rauchte seine Zigarre. Er hörte jemanden den Gang herunterkommen und ging hinaus, um nachzusehen.
Taumelnd kam eine kleine Gruppe von deutschen Männern und Frauen aus den dunklen Tiefen den Präsidiums den endlosen Gang entlanggewankt, der dort endete, wo Fußboden und Decke fast zusammentrafen. Von Schock und Entsetzen geschwächt und geblendet, schwankten sie, ohne ihn zu sehen, an ihm vorbei. Die letzte in der Reihe war ein schmächtiges Mädchen in khakifarbenen Skihosen und einer wollenen Bluse. Plötzlich stolperte sie und fiel zu Boden, und als keiner ihrer Landsleute sich umdrehte, um ihr zu helfen, kam Mosca hinter der Tür hervor und half ihr auf die Beine. Sie würde ihren Weg fortgesetzt haben, aber Mosca streckte den Arm aus, die Bierflasche noch in der Hand, und hielt sie auf. Sie hob den Kopf, und Mosca sah, daß ihr Gesicht und ihr Hals weiß und die Augen vom Schock geweitet waren. »Bitte lassen Sie mich hinaus, bitte«, sagte sie auf deutsch und mit weinerlicher Stimme. Mosca ließ seinen Arm fallen, und sie ging an ihm vorbei den Gang hinunter. Aber schon nach wenigen Schritten brach sie zusammen.
Mosca beugte sich über sie und sah, daß ihre Augen offenstanden. Weil er sich nicht anders zu helfen wußte, hielt er ihr die Bierflasche an den Mund, aber sie stieß sie fort.
»Nein«, sagte sie, »ich habe nur Angst, weiterzugehen.« Er verstand sie kaum, aber er hörte die Scham aus ihren Worten heraus. Er zündete eine Zigarette an und steckte sie ihr zwischen die Lippen, hob den schmächtigen Körper vom Boden auf und setzte ihn auf einen Stuhl im Nachrichtenbüro.
Mosca öffnete die zweite Flasche, und diesmal trank sie ein wenig. Die Vorgänge unten hatten an Tempo zugenommen. Mit geschäftigen Händen standen die Ärzte über die Opfer gebeugt; die Soldaten mit den Plasmabehältern knieten im Schutt. Mit plattgedrückten, von Staub und Mörtel bedeckten Leichen auf ihren Tragbahren, kletterten die Sanitäter über Schutt und Geröll und verließen durch die verschiedenen Torbögen den Innenhof.
Das Mädchen stand auf. »Jetzt geht es schon wieder.« Sie wandte sich zum Gehen, aber Mosca verstellte ihr den Weg.
»Warte mir draußen«, sagte er in seinem holprigen Deutsch. Sie schüttelte den Kopf. »Du brauchen Drink«, fuhr er fort, »Schnaps, richtiges Schnaps, warm.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Keine krumme Tour«, sprach er jetzt englisch weiter. »Ich meine es ehrlich, Hand aufs Herz!« Scheinheilig schlug er sich mit der Bierflasche an die Brust. Sie lächelte und schob sich an ihm vorbei. Er sah der schlanken Gestalt nach, die langsam, aber mit festem Schritt den Gang entlang zum zerstörten Treppenhaus ging.
So begann es. Während der Ziegelstaub auf ihren Augenlidern
haftenblieb, wurden unten die Toten hinausgetragen, die der Sieger wie auch der Besiegten. Ihr schmächtiger Körper und ihr dünnes Gesicht ließen Mitgefühl und eine seltsame Zärtlichkeit in Mosca wach werden. Abends saßen sie in seinem Zimmer bei einem kleinen Radio, führten sich eine Flasche Pfefferminzlikör zu Gemüte, und als sie gehen wollte, hielt er sie unter allen möglichen Vorwänden hin, bis das Ausgangsverbot in Kraft war und sie bleiben mußte. Sie hatte ihm den ganzen Abend nicht erlaubt, sie zu küssen.
Sie entkleidete sich unter der Bettdecke, und nachdem er eine letzte Zigarette geraucht und den Rest des Likörs getrunken hatte, kam er zu ihr. Die Intensität ihrer Leidenschaft, mit der sie ihn empfing, überraschte und entzückte ihn. Viele Monate später gestand sie ihm, daß sie schon fast ein Jahr lang mit keinem Mann zusammengewesen war, und er hatte gelacht. »Wenn ein Mann das sagt«, hatte sie mit einem traurigen Lächeln hinzugefügt, »bedauert man ihn; über eine Frau lacht man.«
Aber er hatte es schon in der ersten Nacht verstanden, das und noch mehr. Daß sie vor ihm, dem Feind, Angst gehabt hatte; daß aber die zärtliche Musik im Radio, der süffige Likör, die aromatischen und nervenberuhigenden Zigaretten, die dem Küchenbullen herausgelockten leckeren Sandwiches – seit langem entbehrte Köstlichkeiten – sich mit ihrem körperlichen Verlangen verflochten hatten; und daß sie ein Spiel spielten, in dem sie die Zeit ausschalteten, bis es für sie zu spät war, um das Haus noch verlassen zu können: Es war alles ganz unpersönlich gewesen, aber das hatte ihren Genuß nicht geschmälert; es mochte aber auch daran gelegen haben, daß sie im körperlichen Sinn zueinander paßten. So wurde die Nacht zu einer langen Folge sinnlicher Freude, und in den grauen Morgenstunden, bevor noch der Tag anbrach, sagte sich Mosca: Die muß ich mir halten! Sie schlief, und er rauchte, und von Mitgefühl und Zärtlichkeit und ein wenig Scham bewegt, dachte er daran, wie er mit ihrem zarten Körper umgesprungen und auf welch unerwartete Zähigkeit er gestoßen war.
Als Hella später aufwachte, bekam sie Angst; einen Atemzug lang wußte sie nicht, wo sie war. Dann schämte sie sich, daß sie sich so leichtfertig und hemmungslos und noch dazu einem Feind hingegeben hatte. Doch Moscas Beine, die in dem schmalen Bett in die ihren verschlungen waren, erfüllten ihren ganzen Körper mit warmer Sinnenfreudigkeit. Sie stützte sich auf, um ihm ins Gesicht zu sehen, denn mit einem neuerlichen Anflug von Scham mußte sie sich eingestehen, daß sie kein wirklich klares Bild von seinen Zügen hatte, daß sie einfach nicht wußte, wie er aussah.
Der Mund des Feindes war dünn und nahezu asketisch, das Gesicht schmal und kräftig und auch im Schlaf nicht entspannt. Starr lag er in dem schmalen Bett; er hielt sich steif und schlief so lautlos, kaum atmend, daß sie den Verdacht schöpfte, er stelle sich vielleicht nur schlafend, um sie dabei zu beobachten, wie sie ihn beobachtete.
So leise sie nur konnte, stieg Hella aus dem Bett und kleidete sich an. Sie war hungrig, und als sie Moscas Zigaretten auf dem Tisch sah, nahm sie eine und zündete sie sich an. Sie schmeckte sehr gut. Erst als sie aus dem Fenster sah und keinen Lärm von der Straße hörte, merkte sie, daß es noch früh war. Eigentlich wollte sie gehen, hoffte aber, er würde noch irgendwo eine Konservendose haben und ihr etwas zu essen anbieten, wenn er je aufwachen sollte. Das habe ich mir doch gewiß verdient, dachte sie halb verschämt, halb belustigt.
Sie warf einen Blick auf das Bett und stellte überrascht fest, daß die Augen des Amerikaners offen waren und er sie prüfend musterte. Sie stand auf und streckte ihm, von kindlicher Scheu befallen, die Hand hin, um sich zu verabschieden. Er lachte, ergriff ihre Hand und zog sie zu sich auf das Bett. »Dazu sind wir schon zu gute Freunde«, sagte er scherzend auf englisch.
Sie verstand ihn nicht, aber sie wußte, daß er sich über sie lustig machte. »Ich muß jetzt gehen«, sagte sie zornig auf deutsch. Aber er ließ ihre Hand nicht los.
»Zigarette«, sagte er. Sie zündete ihm eine an. Er setzte sich auf, um zu rauchen. Die Bettdecke fiel zurück, und sie sah die gezackte weiße Narbe, die von seiner Leistengegend bis zur Brustwarze reichte. »Kriegsverletzung?« fragte sie auf deutsch.
Er lachte, deutete auf sie und sagte: »Von dir.« Einen Augenblick lang schien es Hella, als beschuldige er sie persönlich, und so wandte sie den Kopf zur Seite, um die Narbe nicht sehen zu müssen.
Er versuchte es mit seinem holprigen Deutsch. »Du hungrig?« fragte er. Sie nickte. Nackt sprang er aus dem Bett. Schamhaft senkte sie den Blick, während er sich ankleidete. Mosca kam das sehr spaßig vor.
Als er fertig war, küßte er sie zärtlich und sagte auf deutsch: »Geh zurück in Bett.« Sie ließ nicht erkennen, ob sie ihn verstanden hatte, aber er wußte, daß es so war und daß sie aus irgendwelchen Gründen seiner Aufforderung nicht Folge leisten wollte. Er zuckte die Achseln, ging aus dem Zimmer und lief die Treppe hinunter zur Fahrbereitschaft.
Er fuhr zur Kantine und kehrte mit einer Feldflasche Kaffee, Brateiern und Sandwiches zurück. Er fand sie am Fenster sitzend, immer noch angekleidet. Er gab ihr das Essen, und sie tranken beide aus der Feldflasche. Sie bot ihm eines der Sandwichs an, aber er schüttelte den Kopf. Belustigt nahm er zur Kenntnis, daß sie es ihm, nach einer zögernden Geste, kein zweites Mal anbot. »Du kommen abend?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Sie blickten sich an, und sein Gesicht blieb unbewegt. Sie merkte, daß er sie kein zweites Mal fragen würde, daß er bereit war, sie aus seinen Gedanken und aus seiner Erinnerung zu verbannen, die Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, aus seinem Gedächtnis zu streichen. Und weil das ihren Stolz verletzte und weil er ein zärtlicher Liebhaber gewesen war, antwortete sie: »Morgen« und lächelte. Sie nahm einen letzten Schluck Kaffee, beugte sich über ihn, um ihn zu küssen, und ging.
Das alles hatte sie ihm nachher erzählt. Waren es drei Monate gewesen? Vier? Eine lange Zeit, erfüllt von Behagen und Wohlbefinden und Sinnenlust. Und als er eines Tages ins Zimmer kam, fand er sie in der klassischen weiblichen Pose: sie stopfte seine Socken.
»Aha«, machte er, »du gute Hausfrau.«
Hella lächelte verlegen und sah ihn an, als wollte sie seine Gedanken lesen, als wollte sie ergründen, welchen Eindruck diese Szene auf ihn gemacht hatte. Das war der Anfang einer Kampagne, in ihm den Wunsch laut werden zu lassen, sie nicht zu verlassen, mit ihr, einer Feindin, im Feindesland zu bleiben – und obwohl er sie gut verstand, störte es ihn nicht.
Und dann, später, der oft erprobte Frontalangriff, die tödliche Waffe der Schwangerschaft, aber er hatte weder Mitgefühl noch Verachtung für sie empfunden; er empfand es nur als Belästigung.
»Laß es dir wegmachen«, riet er ihr. »Wir gehen zu einem guten Arzt.«
Hella schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete sie, »ich will es behalten.«
Mosca zuckte die Achseln. »Ich fahre heim; davon kann mich nichts abhalten.«
»In Ordnung«, sagte sie. Sie bettelte nicht. Sie gab sich nur völlig in seine Hand und gab ihm auf jede erdenkliche Weise nach, bis er ihr eines Tages sagte, es ihr sagen mußte, obwohl er wußte, daß er log; »Ich komme zurück.« Sie blickte ihn forschend an und wußte, daß er log, und er sah, daß sie es wußte. Und das war von Anfang an ein Fehler gewesen. Denn in der folgenden Zeit wiederholte er diese Lüge immer wieder, zuweilen sogar mit leidenschaftlicher Glut, bis es schließlich soweit war, daß sie beide daran glaubten. Sie mit einer angeborenen, halsstarrigen Zuversicht, einer Entschlossenheit, die ihr in vielen Dingen eigen war.
Als er am letzten Tag in sein Zimmer zurückkam, hatte sie bereits seinen Seesack gepackt. Wie eine ausgestopfte grüne Schaufensterfigur stand er aufrecht am Fenster. Es war nach dem Mittagessen, und die Oktobersonne schien ins Zimmer. Der Bus vom Hafen würde erst nach dem Abendessen kommen.
Er wußte nicht, wie er die Stunden bis dahin mit ihr verbringen sollte. »Gehen wir spazieren«, schlug er vor. Sie schüttelte den Kopf.
Sie winkte ihn heran, und beide entkleideten sich. Er sah die sanfte Wölbung des werdenden Kindes. Er spürte kein Verlangen, aber er erzwang es und schämte sich, als sie ihn mit ungezügelter Leidenschaft empfing. Als es Zeit zum Abendessen war, kleidete er sich an und half ihr beim Anziehen.
»Ich möchte, daß du jetzt gehst«, sagte er. »Ich möchte nicht, daß du mit mir auf den Bus wartest.«
»Gut«, sagte sie gehorsam, packte ihre Kleider zu einem Bündel zusammen und stopfte sie in ihren kleinen Koffer.
Bevor sie ging, gab er ihr noch alle Zigaretten und alles, was er an deutschem Geld hatte; sie verließen das Haus gemeinsam. Auf der Straße sagte er »Leb wohl« und küßte sie. Er sah, daß sie nicht sprechen konnte, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen, aber sie ging, ohne sich umzudrehen, blind, von der Contrescarpe bis zur Straße am Wall hinunter.
Er sah ihr nach, bis sie seinen Blicken entschwunden war. Er zweifelte nicht daran, daß er sie nie wiedersehen würde, und empfand eine vage Erleichterung, daß nun alles vorbei war, daß es so leicht, ohne großes Getue gegangen war. Aber dann fiel ihm ein, was sie ihm vor einigen Tagen gesagt hatte, auf eine Weise gesagt hatte, daß es unmöglich war, an ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln. »Mach dir keine Sorgen um mich und das Baby«, hatte sie gesagt. »Belaste dich nicht mit Schuldgefühlen; wenn du nicht zurückkommst, wird mich das Baby glücklich machen, wird mich immer daran erinnern, wie glücklich wir waren. Komm nicht zu mir zurück, wenn du es nicht wirklich willst.«
Das, wie er glaubte, falsche Pathos ihrer Worte irritierte ihn, aber sie fuhr fort: »Ich werde mindestens ein, vielleicht sogar zwei Jahre auf dich warten. Aber wenn du nicht kommst, werde ich trotzdem glücklich sein. Ich werde einen anderen Mann finden und mir mein Leben einrichten; so sind die Menschen. Ich habe auch keine Angst; keine Angst, das Baby zu kriegen, und keine Angst, allein mit dem Kind durchzukommen. Verstehst du, daß ich keine Angst habe?« Er hatte verstanden. Daß sie keine Angst vor Schmerz und Leid hatte, das er ihr zufügen mochte, und auch nicht vor der Rücksichtslosigkeit und der mangelnden Zärtlichkeit, die nun einmal Teil seiner Persönlichkeit waren; und er hatte begriffen, was sie selbst nicht verstand und er ihr neidete, daß sie keine Furcht vor ihrer eigenen Wesensart empfand, daß sie die Grausamkeit und Böswilligkeit der Welt akzeptierte und an dem Glauben an die Kraft der Liebe festhielt – und daß sie ihn mehr bedauerte als sich selbst.
Eine braungrüne Wand hob sich ihm entgegen und benahm ihm die Sicht, und als ob sie in Augenhöhe auf der Seite lägen, tauchten Häuser vor ihm auf und winzige Flecken, die zu Menschen wurden. Die Maschine ging in die Horizontale, und Mosca sah die sauberen Konturen des Flugplatzes, die kleine Gruppe von Flugzeughallen und das langgestreckte Verwaltungsgebäude, das weißlich in der Sonne schimmerte. Am fernen Horizont hoben sich die Silhouetten der wenigen hohen Häuser ab, die in Bremen noch standen. Mißtrauisch, behutsam setzte das Fahrwerk auf, und mit einemmal überkam ihn das heftige Verlangen, das Flugzeug endlich verlassen zu können, vor einer Tür zu stehen und auf Hella zu warten. Nun, da er sich zum Aussteigen bereit machte, war er ganz sicher, daß sie ihn in der Halle erwartete.